VAKUUMBLUMEN - Michael Swanwick - E-Book

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Michael Swanwick

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Beschreibung

Während die Menschen im Weltraum – zwischen Mond und der Oort'schen Wolke – in zahllosen Gruppen und Gesellschaften ein mehr oder weniger individualisiertes Leben führen, kam es auf der Erde zu einer folgenschweren Entwicklung: Die Milliarden Erdbewohner sind zum EINSCHLUSS geronnen, einem zentralgesteuerten Kollektivwesen mit ungezählten Augen, Ohren und Händen, Dieses Wesen wacht eifersüchtig über seine Einflusssphäre und greift nicht selten in selbstmörderischen Aktionen darüber hinaus, um so an Daten zu gelangen und an Einfluss zu gewinnen.Dies ist die Geschichte von Rebel Elisabeth Mudlark, der geklonten 'Tochter' einer bio-genetischen 'Zauberkünstlerin'. Im Auftrag ihrer 'Mutter' kommt sie von den Kometenwelten der Oort'schen Wolke ins Innere Sonnensystem. Nach einem Unfall findet sie sich im Körper von Eucrasia Walsh wieder, einer Testperson der Deutsche Nakasone GmbH, die ihre Persönlichkeit aufzeichnen und daraus ein neues Persönlichkeitsprofil für Millionen potentielle Käuferinnen entwickeln will, was selbstverständlich Rebels Tod bedeuten würde. Auf der Flucht vor den Häschern der Deutschen Nakasone gerät sie in die Auseinandersetzung zwischen Raumbewohnern und dem EINSCHLUSS, der seine Aktivitäten bis zu den Marsmonden und den Asteroidensiedlungen ausdehnt...Michael Swanwicks zweiter Roman Vakuumblumen, erstmals im Jahr 1987 veröffentlicht, ist ein farbenprächtiger, tempo- und einfallsreicher Cyberpunk-Abenteuerroman, der überdies die Genres Space-Thriller und Erotik virtuos miteinander kombiniert und der die raumfahrende Menschheit völlig anders darstellt als die Hochglanz-Prospekte der NASA und der Langrange-Gesellschaft.

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MICHAEL SWANWICK

Vakuumblumen

Ein Cyberpunk-Roman

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch

Der Autor

VAKUUMBLUMEN

1. Rebel

2. König Jonamons Hof

3. Sturmfront

4. Londongrad

5. Volks-Sheraton

6. Orchidee

7. Billy Überläufer

8. Korridor der Illusion

9. Deimos

10. Snows Schatten

11. Zwischen Mond und Erde

12. Das Ödland

13. Die Insel

14. Das kleine Mädchen

15. Tirnannog

Norman Spinrad: Weltraumträume - Ein Nachwort

Das Buch

Während die Menschen im Weltraum – zwischen Mond und der Oort'schen Wolke – in zahllosen Gruppen und Gesellschaften ein mehr oder weniger individualisiertes Leben führen, kam es auf der Erde zu einer zu einer folgenschweren Entwicklung: Die Milliarden Erdbewohner sind zum EINSCHLUSS geronnen, einem zentralgesteuerten Kollektivwesen mit ungezählten Augen, Ohren und Händen, Dieses Wesen wacht eifersüchtig über seine Einflusssphäre und greift nicht selten in selbstmörderischen Aktionen darüber hinaus, um so an Daten zu gelangen und an Einfluss zu gewinnen.

Dies ist die Geschichte von Rebel Elisabeth Mudlark, der geklonten 'Tochter' einer bio-genetischen 'Zauberkünstlerin'. Im Auftrag ihrer 'Mutter' kommt sie von den Kometenwelten der Oort'schen Wolke ins Innere Sonnensystem. Nach einem Unfall findet sie sich im Körper von Eucrasia Walsh wieder, einer Testperson der Deutsche Nakasone GmbH, die ihre Persönlichkeit aufzeichnen und daraus ein neues Persönlichkeitsprofil für Millionen potentielle Käuferinnen entwickeln will, was selbstverständlich Rebels Tod bedeuten würde. Auf der Flucht vor den Häschern der Deutschen Nakasone gerät sie in die Auseinandersetzung zwischen Raumbewohnern und dem EINSCHLUSS, der seine Aktivitäten bis zu den Marsmonden und den Asteroidensiedlungen ausdehnt...

Michael Swanwicks zweiter Roman Vakuumblumen, erstmals im Jahr 1987 veröffentlicht, ist ein farbenprächtiger, tempo- und einfallsreicher Cyberpunk-Abenteuerroman, der überdies die Genres Space-Thriller und Erotik virtuos miteinander kombiniert und der die raumfahrende Menschheit völlig anders darstellt als die Hochglanz-Prospekte der NASA und der Langrange-Gesellschaft.

Der Autor

Michael Swanwick, Jahrgang 1950.

Michael Swanwick ist ein US-amerikanischer Fantasy- und Science-Fiction-Schriftsteller, der u.a. mehrfach mit dem Hugo-Award für die beste Kurzgeschichte/Erzählung ausgezeichnet wurde.

Er begann seine literarische Karriere im Jahre 1980 mit der Veröffentlichung der Erzählungen Ginungapap (dt. Ginungapap, 1991) und The Feast Of St. Janis (dt. Das Fest der Heiligen Janis, 1991).

In seinem Roman Die Todesschneise (In The Drift, 1985 – dt. 1993) schildert Swanwick die Auswirkungen eines Katastrophe, welche jene von Harrisburg im AKW Three Mile Island (1979) noch übertrifft; in Vakuumblumen (Vacuum Flowers, 1987 – dt. 1990) zeichnet er ein Bild der Menschheit, die zum 'Einschluss' erstarrt ist, einem zentral gesteuerten kybernetischen Kollektivwesen; In Zeiten der Flut (Stations Of The Tide, 1991 – dt. 1997) hat einen Bürokraten zum Protagonisten, der auch im gesamten Buch nur 'der Bürokrat' genannt wird: Dieser jagt mit Hilfe seiner Aktentasche einen Zauberer, der 'verbotene Technik' nutzt. In Zeiten der Flut gewann 1991 den Nebula-Award und wurde 1992 sowohl für den Hugo- als auch den Campbell Award nominiert; 1993 wurde der Roman überdies für den Arthur-C.-Clarke-Award nominiert.

In Die Tochter des stählernen Drachen (The Iron Dragon's Daughter, 1994 – dt. 1996) beschreibt Swanwick eine Welt, in der die Elfen Mode von Armani tragen und Drachen kybernetische Flugmaschinen sind, und die Piloten sich mit dem Bewusstsein des Drachen verkoppeln können. Auch dieser Roman wurde im Jahre 1994 für diverse Literatur-Preise nominiert: für den Clarke-, den Locus-Award in der Kategorie Fantasy und den World Fantasy-Award.

Swanwicks Roman Jack Faust (1997) wiederum ist eine Adaption des Faust mit moderner Technik und Wissenschaft – und brachte ihm erneut Nominierungen für den BSFA-Award (1997) sowie für den Hugo und Locus (beide 1998) ein.

Viele seiner Kurzgeschichten sind ebenfalls gewürdigt worden: Er gewann den Theodore-Sturgeon-Memorial-Award für The Edge of the World (1989), den World Fantasy-Award für Radio Waves (1996) sowie mehrfach den Hugo-Award für The Very Pulse of the Machine (1999), Scherzo with Tyrannosaur (2000), The Dog Said Bow-Wow (2002), Slow Life (2003) und Legions in Time (2004).

Darüber hinaus hat Michael Swanwick Sachbücher über Science-Fiction- und Fantasy-Literatur geschrieben. So schrieb er The User's Guide to the Postmoderns (1986) über den aktuellen Stand der Science Fiction und In The Tradition... (1994) über jenen der Fantasy. Das erste Werk ist nicht unumstritten, weil er neue SF-Autoren in die Kategorien Cyberpunk und literarische Humanisten einsortierte. 1997 wurden beide Bücher in The Postmodern Archipelago zusammengefasst.

2001 veröffentlichte Swanwick ein buchfüllendes Interview mit Gardner Dozois unter dem Titel Being Gardner Dozois.

Besondere Aufmerksamkeit wurde auch seiner gemeinsam mit William Gibson verfassten Kurzgeschichte Luftkampf (Dogfight, 1985 – dt. 1989) zuteil.

Seine aktuellsten Werke sind die Romane The Dragons of Babel (2008) und Dancing With Bears (2011) sowie The Best Of Michael Swanwick (2008), eine Zusammenstellung von Kurzgeschichten und Erzählungen.

VAKUUMBLUMEN

Danksagung

Dank gebührt Marianne für den Namen der Pequod (für das Gewebe, das sich zu undifferenzierten Zellen zurückbildet, und für die ersten Spuren von Leben in einem Tropfen abgestandenen Wassers), Jack Dann für das Puschkin-Zitat, Bob Walters für die Plesiosaurier und das Design von Wyeths Raumanzug, Greg Frost und Tim Sullivan für ihre Ratschläge in letzter Minute, Tom Purdorn für das Bier zum Frühstück, Gardner Dozois aus den üblichen Gründen und Virginia Kidd für ihre Geduld. Finanzielle Unterstützung erhielt ich vorn M. C. Porter Endowment for the Arts.

Und besonderen Dank schulde ich Maria Rups, Ed Bryant und Don Keller für ihre nervtötenden Bemerkungen.

Gardner Dozois gewidmet.

  1. Rebel

Sie hatte keine Ahnung, dass sie gestorben war.

Tatsächlich war sie bereits zweimal gestorben - beim ersten Mal durch einen Unfall, später jedoch durch Selbstmord. Jetzt hatte das Unternehmen, dessen Eigentum sie war, beschlossen, dass sie noch einmal sterben sollte, um in den nächsten paar Monaten als Brennstoff für eine Million Wegwerfleben zu dienen.

Aber davon wusste Rebel Elizabeth Mudlark nichts. Sie wusste nur, dass etwas nicht in Ordnung war und dass niemand mit ihr darüber sprechen wollte.

»Warum bin ich hier?«, fragte sie.

Über ihr tauchte das Gesicht des Arztes auf. Es war schmal und von einer Dämonenmaske aus roter und grüner Wetware-Farbe bedeckt, die sie beinahe identifizieren konnte. Es trug dieses fürchterliche programmierte Lächeln zur Schau, das beruhigend wirken sollte. Die Mundwinkel schoben seine Wangen zu kleinen runden Kugeln zusammen. Er sah sie mit diesem zähnebleckenden Totenkopfgrinsen an. »Ach, darüber würde ich mir keine Gedanken machen«, erwiderte er.

Eine Reihe von Nonnen schwebte über ihr vorbei. Ihre Brüste wippten unschuldig, und ihre Schleier waren gestärkt und weiß. Sie trieben in der Magnetstrecke längs der Achse des Stadtkanisters dahin, so anmutig wie kleine Schiffe. Es war ein durchaus normaler Anblick, sogar irgendwie gemütlich. Aber dann schaltete Rebels Wahrnehmung abrupt um, und die Nonnen waren unsagbar fremdartig, wie sie da mit dem Kopf nach unten vor den riesigen Fensterwänden vorbeitrieben, hinter denen die endlosen Weiten in Nachtdunkel gebetteter heller, glitzernder Sterne eine kalte Pracht entfalteten. Sie musste so etwas schon tausendmal gesehen haben, aber jetzt schrie ihr Geist ohne Vorwarnung fremdartig! fremdartig! fremdartig!, und sie konnte sich keinen Reim aus dem machen, was sie sah. »Ich kann mich an nichts erinnern«, sagte Rebel. »Manchmal weiß ich nicht mal genau, wer ich bin.«

»Also, das ist völlig normal«, beruhigte sie der Arzt, »unter diesen Umständen.« Er verschwand hinter ihrem Kopf. »Schwester, würden Sie sich das mal anschauen?« Jemand, den sie nicht sehen konnte, gesellte sich zu ihm. Sie berieten sich leise.

Rebel knirschte mit den Zähnen und sagte: »Ich nehme an, sowas erleben Sie jeden Tag.«

Sie beachteten sie nicht. Der Duft der Rosen in den Trennhecken war schwer und unangenehm und so dick, dass er einem die Luft raubte. Der Verkehr an der Achse entlang ging weiter.

Wenn sie auch nur imstande gewesen wäre, einen Arm zu bewegen, hätte Rebel gewartet, bis der Arzt sich zu dicht über sie beugte, und dann versucht, die  Wahrheit aus ihm herauszuwürgen. Aber sie war bewegungsunfähig; sie konnte nicht einmal den Kopf drehen. Sie konnte nur zu den vorbeischwebenden Personen und den Sternen hinaufstarren, die monoton vorüberzogen. Die Wohnstreifen auf beiden Seiten über ihr waren mit Plattformen und falschen Hügeln versehen, die sich wie Inseln aus einem Sternenmeer erhoben. An ihren Küsten wagten sich hin und wieder Gruppen von Ausflüglern auf den Fensterboden, schwarze Pünktchen, die man nur sehen konnte, wenn sie Sterne oder andere Kanisterstädte verdeckten. Der fremde Planet zog wieder vorbei.

»Wir werden mit der Operation noch einen Tag warten müssen«, meinte der Arzt schließlich. »Aber ihre Persönlichkeit hat sich hervorragend stabilisiert. Wenn sich ihr Zustand nicht wesentlich ändert, können wir morgen schneiden.« Er ging zur Tür.

»Warten Sie einen Moment!«, rief Rebel.

Der Arzt blieb stehen, drehte sich um und sah sie an. Tote, von Farbe umschlossene Augen unter einem Schopf roter Haare.

»Habe ich meine Einwilligung zu dieser Operation gegeben?«

Wieder sah er sie mit diesem beruhigenden Lächeln an, das sie rasend machte. »Oh, ich glaube nicht, dass das wichtig ist«, sagte er. »Sie etwa?«

Bevor sie antworten konnte, war er fort.

Als die Schwester die Haftscheiben an Rebels Stirn und hinter ihren Ohren befestigte, beugte sie sich kurz in Rebels Sichtfeld. Sie war eine Nonne, eine massige Frau mit einem Doppelkinn und Augen, in denen Visionen von Gott brannten. Früher, als Rebel noch groggy und nur halb bei Bewusstsein gewesen war, hatte sie sich als Schwester Mary Radha vorgestellt. Jetzt sah Rebel, dass die Schwester an ihrer eigenen Wetware herumgebastelt hatte - ihre mystischen Funktionen waren so weit aufgerissen, dass sie kaum noch funktionsfähig war.

Rebel wandte den Blick ab, um ihre Gedanken zu verbergen. »Bitte einschalten«, murmelte sie. Das flache Video am Fußende ihres Bettes ging an; es zeigte den enzyklopädischen Eintrag für medizinische Codes. Hastig schaltete sie auf etwas Harmloses um. Einfach strukturierte atmosphärische Methan-Ökologien. Sie tat so, als ob sie von dem Text völlig in Anspruch genommen sei.

Als die Schwester schließlich gehen wollte, sagte Rebel beiläufig: »Schwester? Das Video hat einen ungünstigen Winkel für mich. Könnten Sie's ein bisschen nach vorn kippen?«

Die Nonne gehorchte.

»Ja, so. Nein, noch ein bisschen... perfekt.« Rebel lächelte warm, und Schwester Mary Radha badete einen Moment lang in dieser Manifestation allumfassender Liebe. Dann schwebte sie hinaus.

»Verfickte Betschwester«, murmelte Rebel. Dann sagte sie zu dem Video: »Danke.«

Es schaltete sich aus.

Die Frontfläche des Geräts war glatt und poliert. Sobald es abgeschaltet war, spiegelten sich darin dunkel das Fußende von Rebels Bett und die medizinische Codeliste, die dort hing.

Rebel entschlüsselte rasch die seitenverkehrten Symbole. Dort waren zwei vereinfachte Persönlichkeitsräder; an dem einen stand Original, an dem anderen Gegenwärtig. Sie sahen sich nicht im Geringsten ähnlich. Ein weiteres Symbol für die Vorbereitung zur Wetware-Operation und drei weitere, die zusammengefasst bedeuteten, dass sie keine besondere ärztliche Behandlung brauchte. Und darunter eine einzige Zeile in Druckschrift, wo ihr Name hätte stehen sollen. Rebel las es zweimal, Buchstabe für Buchstabe, um sich zu vergewissern, dass sie sich nicht irrte:

EIGENTUM VON: DEUTSCHE NAKASONE GMBH

Wut stieg in Rebel hoch wie ein wildes, weißglühendes Tier. Sie biss die Zähne zusammen, zog die Lippen zurück und versuchte nicht, dagegen anzukämpfen. Sie wollte diese Wut spüren. Sie war ihr Verbündeter, ihr einziger Freund. Sie tobte durch ihren gelähmten Körper, ein heißer Sturm von Fangzähnen und Klauen und Gewalt.

Dann überschwemmte die Wut ihre Selbstwahrnehmung und riss sie in die Tiefe. Sie ging unter und wurde in das dunkle Chaos der Hilflosigkeit dort unten hinabgetragen, in die trübe Verzweiflung, die keinen Namen und keinen Sinn hatte, wo sie ihr Gesicht, ihren Körper und ihr innerstes Ich verlor. Sie war ein Dämon, der blind zusah, wie Menschen durch die Luft strömten und Sterne zur Seite glitten, und der sie alle hasste; der den Wunsch verspürte, sie samt und sonders in ihren Händen zu zerquetschen, Städte und Sterne und Menschen gleichermaßen, und sie zu einem breiigen kleinen Klumpen zu kneten, während sie lachte und schwarze Tränen von ihren Augen herabrannen...

Als sie aus ihrer Fugue herauskam, fühlte sie sich schwach und deprimiert.

»Sag mir bitte, wie spät es ist«, verlangte sie, und das Video gehorchte. Vier Stunden waren vergangen.

Eine Frau betrat die Nische, ein hageres Geschöpf mit grünem Gesicht und einem Ledergeschirr mit Werkzeug, irgendeine untergeordnete Biotechnikerin. Vor sich hin summend begann sie die Wände zu pflegen. Sie arbeitete methodisch und wie besessen; ab und zu hielt sie inne, um eine Rose wieder an ihren Platz zu zupfen.

»He, Kumpel«, sagte Rebel. »Tu mir einen Gefallen!« Ihre Lethargie schwand, als das Adrenalin zu fließen begann. Sie warf der Frau ein Lächeln zu.

»Hmm? Ah! Äh... was ist?« Mit einer sichtlichen Anstrengung ließ die Frau von ihrer Arbeit ab.

»Ich komm in ein paar Stunden raus, und niemand hat sich drum gekümmert, dass ich was zum Anziehen kriege. Könnten Sie beim Rausgehen mal da vorbeischauen, wo immer das ist, und mir was rüberschicken lassen?«

Die Frau machte ein erstauntes Gesicht. »Oh. Äh... klar, ich glaub schon. Sollte sich Ihre Schwester nicht darum kümmern?«

Rebel rollte die Augen. »Die sieht eine universelle Bestimmung in den Sternen und den Sinn des Lebens im Wachstum einer Rose. Beim Kleinkram ist sie nicht so gut. Wissen Sie, was ich meine?« Keinem, der in einem Krankenhaus arbeitete, wo Ordensschwestern den Pflegedienst versahen, würde es schwerfallen, das zu glauben.

»Tja... Okay, warum auch nicht?« Die Frau machte sich wieder an ihre Arbeit, sichtlich erleichtert, dass die Unterhaltung vorbei war. Zweige und Blätter rieselten von ihren Fingern herab. Als sie ging, war Rebel sicher, dass die Frau ihr Versprechen vergessen hatte.

Aber eine Stunde später kam ein Pfleger herein und legte wortlos einen Umhang auf den Tisch neben ihrem Bett. »Scheißkerl«, sagte Rebel leise. Sie würde tatsächlich aus dem Laden hier abhauen!

Rebel schlief ein wenig. Als sie aufwachte, brachte sie eine qualvolle Stunde damit zu, auf die Leute zu starren, die durch das ewige Zwielicht schwebten, bevor Schwester Mary Radha zurückkam. Der Bauch der Nonne hing über ihren Gürtel, und sie war derart mystisch aufgedreht wie immer.

»Schwester«, sagte Rebel, »die Leitungen in meinen Haftscheiben haben sich verstellt. Würden Sie sich die mal ansehen?« Dann, als die Hände der Frau tief in den Drähten steckten, sagte sie: »Wissen Sie, es gibt einen Vers von einem Ihrer Propheten, der mir durch den Kopf gegangen ist. Aber ich  hab' einen Teil davon vergessen. Er fängt so an:

Von Seelendurst schier ausgebrannt,

Wankte ich hin auf Wüstenpfaden.

Ein Seraph mit sechs Flügeln stand

Am Kreuzweg meinem Schritt entgegen.

Kennen Sie den? Dann geht es weiter...«

Sie schloss die Augen, als ob sie versuchte, sich die Worte ins Gedächtnis zu rufen...

»Sein Finger, der dem Traume glich,

Mir über meine Augen strich,

Die zu Seherkraft er erweckte,

Sowie beim Aar, den Grauen schreckte.

Er rührte an mein taubes Ohr...

und den Rest  hab' ich vergessen.«

Schwester Mary Radhas Hände hörten auf, sich zu bewegen. Einen stillen, ausgedehnten Moment lang sagte sie nichts. Dann schaute die Nonne in die unendlichen Tiefen der Nacht hinauf und murmelte: »Sankt Puschkin.« Ihre Stimme hob sich.

»Er rührte an mein taubes Ohr...

Da ward's erfüllt vom Engelchor

Und ich vernahm der Himmel Beben,

Der Meeresungeheuer Sprüh'n,

Der duft'gen Reben Auferblüh'n,

Und überird'scher Geister Schweben.

Ihm klaffte offen mein Gebiss,

Draus er die sünd'ge Zunge riss...«

   Sie bog den Rücken durch und erbebte in religiöser Ekstase. Ihre Hände zuckten krampfhaft. Eine der Haftscheiben wurde seitwärts weggerissen, und Rebels Kopf fiel zur Seite. Aber sie war immer noch gelähmt.

»Schwester«, sagte Rebel leise. »Schwester?«

»Mmm?«, erwiderte die Nonne verträumt.

»Der Doktor wollte, dass Sie meine Lähmung jetzt aufheben. Wissen Sie noch? Er hat mich gebeten, Sie daran zu erinnern.« Rebel hielt den Atem an. Dies war der Augenblick, wo sie entweder die Freiheit gewann oder alles verlor. Es hing nur davon ab, wie lange Schwester Mary Radha brauchte, um wieder in die Realität zurückzufinden.

»Oh«, sagte die Nonne. Sie fummelte an einem Schalter herum und veränderte zögernd zwei Einstellungen. So langsam wie eine Schlafwandlerin nahm sie die Scheiben ab. Dann schüttelte sie den Kopf, lächelte vage und schlenderte hinaus.

Rebel atmete aus. Sie konnte sich bewegen! Aber für eine lange Minute tat sie es nicht, sondern entschied sich stattdessen dafür, blicklos nach oben zu starren. Die Erinnerung an ihr Spiegelbild auf dem Video, so verkürzt und verzerrt es auch gewesen war, erfüllte sie mit Furcht und nagelte sie auf das Bett. Endlich sammelte sie ihren Mut, hob behutsam und stockend einen Arm und hielt ihn vor ihre Augen. Sie drehte ihn langsam.

Der Arm war heil, und seine Muskeln bewegten sich geschmeidig. Die Haut war von weichem, italienischem Braun, ohne Narben, aber mit einem leichten Flaum feiner dunkler Haare bedeckt. Die Finger waren kurz, die Nägel von einem perlmuttartigen Rosa. Entsetzt richtete sich Rebel kerzengerade auf und schaute auf ihren Körper hinunter.

Ihre Brüste waren rund und voll. Ihre Schenkel waren ein bisschen dick, aber trotzdem muskulös. Das Krankenhaus hatte ihr aus Gründen des Anstands ihr cache-sexe angelassen, aber darüber marschierte eine Linie schwarzer Haare wie Ameisen über ihren Bauch nach oben. Ihre Beine waren kurz, funktionell und kräftig. Es war ein guter, gesunder Körper.

Es war jedoch nicht ihr Körper. Rebel Elisabeth Mudlarks Körper war lang und hager, mit knubbeligen Ellbogen und Knien. Ihre Haut war so weiß wie Porzellan, und sie hatte mausbraune Haare. Ihre Hände und Füße waren lang und schmal; sie hatte die Finger eines Künstlers und die Zehen eines Konzertpianisten. Fast das genaue Gegenteil des Körpers, den sie jetzt besaß.

Ich drehe durch, dachte Rebel. Gleich schreie ich. Aber sie tat keins von beidem. Sie stand auf und prüfte ihre Bemalung in der Obsidian-Fläche des Videos. Sie ignorierte das fremde runde Gesicht mit der Stupsnase und den dunklen Augen - Augen, aus denen ihr eine animalische Angst entgegenblitzte. Eine rote Linie ging von einem Ohr zum anderen, wie eine Maske, mit spitzen Flügelkonturen, die sich über die Brauen nach oben schwangen.

»Bitte einschalten«, sagte sie und schlug es unter den Wetware-Codes nach. Logischerweise identifizierte die Bemalung sie als Krankenhauspatientin, die für eine Wetware-Operation vorbereitet wurde.

Die Bemalung verschmierte. Sie brauchte nur eine Sekunde, um die Zeichnung zu Patientin vor der Entlassung nach einer Wetware-Operation zu ändern. Jetzt erstreckten sich zwei kleine Antennen von ihren Augen nach unten, und ein zweites Flügelpaar wuchs auf der Stirn. Sie legte den Umhang um, setzte die Kapuze auf und trat aus ihrer Nische auf einen gepflasterten Gehweg.

Der Weg führte zwischen hohen, ineinander verwinkelten Rosenhecken hindurch. Rebel wurde von einem Strom von Krankenhauspersonal in Gewändern mitgeschwemmt, die zu ihren aufgemalten Gesichtsmasken passten - Grün für Chirurgie, Blau für Diagnostik, Rot für Wetware -, sowie von einem Rinnsal von Zivilisten mit ihren Umhängen. Sie schritten energisch und mit ausdruckslosen Mienen dahin, so in sich selbst versunken wie Roboter. Rebel bewegte sich unsichtbar in ihrer Mitte; sie glitt auf Zehenspitzen dahin, da es ein Bereich mit niedriger Schwerkraft war.

Zunächst bewegte sie sich voller Selbstvertrauen; der Umhang flatterte hinter ihr her. Dann teilte sich der Gehweg erst einmal, dann noch einmal, und sie verirrte sich hoffnungslos in dem Rosenlabyrinth zwischen den Hunderten von Nischen, wo die Patienten so dichtgedrängt wie Larven in einem Bienenstock lagen. Sie fühlte sich übergangslos nackt und bloßgestellt und konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie man ging. All diese komplexen Bewegungen. In Panik zog sie den Umhang fester um sich und stolperte.

Die Zombies strudelten an ihr vorbei und traten geschickt beiseite, während sie darum kämpfte, das Gleichgewicht zu halten. Kalte Gesichter warfen ihr rasche Blicke zu und schauten dann weg.

Als sie gerade hinfallen wollte, streckte sich ein Arm aus und packte ihren Ellbogen, und sie wurde unelegant auf die Beine gezerrt. Sie drehte sich um und stellte fest, dass sie in ein schmales Fuchsgesicht schaute, über das sich eine einzelne schräge, orangerote Wetware-Linie zog. Der Fremde lächelte mit verkniffenem Mund und scharfen kleinen Zähnen. Der Griff, mit dem er ihren Arm direkt über dem Ellbogen festhielt, tat weh. »Hier entlang«, sagte er.

»Ist schon in Ordnung, Kumpel«, sagte Rebel rasch. »Ich bin bloß gestolpert. Zeigen Sie mir, wo's rausgeht, und ich bin Ihnen dankbar.«

»Ach, Blödsinn«, sagte der Mann. »Die hätten dich längst erwischt, wenn schon jemand wüsste, dass du vermisst wirst.«

Rebel riss ihren Arm los und merkte, dass ihr neuer Körper, mit dem sie noch nicht vertraut war, von der Adrenalinausschüttung zitterte.

Der Mann lächelte herablassend. »Hör zu, ich kenne jemand, der dir aus diesem Schlamassel raushelfen kann. Willst du sie kennenlernen oder nicht?«

Sie befanden sich auf dem Gebirgsgrat ihrer Wohninsel, wo die riesigen Druideneichen wuchsen. Eine davon breitete ihre Äste über das Labyrinth von Geschäften und Gaststätten gleich neben dem Krankenhaus aus. Ihr Stamm reichte halbwegs bis zur Achse. Während sie dahinschlenderten, schaute Rebel hinauf und sah ganz oben Sterne blinken; sie tauchten in den Lücken zwischen den Blättern auf und verschwanden wieder. »Tolle Nummer, aus einer vollständigen therapeutischen Lähmung heraus abzuhauen«, sagte der Mann. »Ich wüsste liebend gern, wie du das angestellt hast.« Dann, als sie nicht antwortete: »Hey. Ich heiße Jerzy Heisen.«

Zwischen den Ästen segelten ganz langsam Blätter herab. Sie bewegten sich kaum in dem Staub, der in der Luft hing, als ob diese dicker geworden sei, um sie aufzuhalten. In dem weichen Licht waren der Staub und die Blätter in einer Reglosigkeit vereint, die in Wirklichkeit eine langsame, niemals ermüdende Bewegung war, ein endloses Kreisen, so schwerfällig und unvermeidlich wie die Rotation von Spiralgalaxien.

»Ach, wirklich?« Rebel wünschte, sie könnte auf den Baum klettern, in die Zweige und die welken Blätter hinein, die schwerelos in der Luft hingen und den gewaltigen Gezeitenfronten zu Hause so sehr ähnelten. »Ihren wissenden Andeutungen nach kann ich mir die Mühe sparen, mich vorzustellen.«

»Oh, ich weiß alles über dich.«

Sie kamen zwischen Schaukästen mit Körperschmuck durch; versilberte Armbänder, von denen einige mit funkelnden Monddiamanten, Prallsmaragden und sogar kolumbianischem Turmalin besetzt waren, schimmerten weich unter blauen Punktstrahlern.

»Du bist eine Persönlichkeits-Streunerin. Im Moment leidest du unter einer schweren Persönlichkeitslöschung - die du dir übrigens selbst zugefügt hast - und wirst von einer prototypischen Identitätsüberlagerung aufrechterhalten, die strenggenommen Eigentum der Deutsche Nakasone Gesellschaft ist. Dein Name ist Eucrasia Walsh.«   

»Nein, ich heiße...« Sie hielt verwirrt inne. Der Name klang auf verrückte Weise tatsächlich vertraut, als ob Heisen allem Hässlichen in ihr einen Namen gegeben hätte, allem Selbstmitleid und verletztem Hass, worin sie versank, wenn sich ihre Stimmung trübte. Der schale, staubige Geschmack der Niederlage und eines müden Schuldgefühls stieg in ihr hoch, und sie zog den Kopf ein.

Heisen ergriff ihren Ellbogen und schob sie weiter. »Wir sind ein bisschen durcheinander, was? Na, das ist völlig normal«, sagte er, »unter diesen Umständen.«

Daraufhin sah sie ihn direkt an, und etwas an seinem kleinen, verkniffenen Gesicht, der langen, schmalen Nase, diesem Schopf roter Haare... Sie kannte dieses Gesicht. Es erforderte nur ein wenig Phantasie, um es sich unter einer Dämonenmaske aus roten und grünen Linien vorzustellen. »Sie sind mein Arzt!«

»Dein Wetware-Chirurg, ja.«

Der Weg führte über einen Teich hinweg, der dicht mit Wasserlilien bedeckt war. Pierrots bedienten an Tischen am Rand des Gewässers.

»Aber keine Sorge, ich bin programmfrei. In meiner Freizeit würde ich nicht mal meinen schlimmsten Feind an diese Scheißkerle von Deutsche Nakasone ausliefern. Nicht, dass ich die Wahl hätte, wenn ich programmiert bin...«

Die Menge verdichtete sich, wurde langsamer und blieb stehen.

»So. Jetzt fahren wir nach Downtown.«

Die Fahrstühle befanden sich am Stamm des Druidenbaums. Der Vakuumschacht war ein Tunnel, der direkt durch das Gewirr der Wurzeln führte. Die Kabinen waren schmutzig und grell beleuchtet, und eine Wolke von Urin und abgestandenem Schweiß stieg aus ihnen auf. Als die Menge vorwärtswogte, schaute Rebel sehnsüchtig nach oben, und in ihrer Phantasie lief ein rascher Film ab: Sie würde sich aus dem Gedränge freikämpfen und so flink wie ein Eichhörnchen am Baumstamm hochklettern, immer schneller, je höher sie kam und je geringer die Schwerkraft wurde, während sie sich von Ast zu Ast schwang. Und wenn sie dann ganz oben angelangt war, würde sie die Knie an die Brust ziehen, die Zehen in die Rinde stemmen und springen...

...würde sich mit straff gespanntem, gestrecktem Körper hoch in die Luft aufschwingen, wobei sie immer langsamer wurde, bis sie im letzten Moment die Achse berührte, wo sie die Magnetstrecke erfassen und in der Zeit, die man zum Luftholen brauchte, zu einem weit entfernten Ort mitnehmen würde.

(Aber sie hatte weder die Armbänder noch die Beinringe, die man brauchte, um vom Magnetfeld erfasst zu werden. Sie würde wie ein Stein hinunterfallen, zuerst mit quälender Langsamkeit, dann immer schneller, ein flügelloser Ikarus, der im Bogen in die Tiefe stürzte und zerschmettert auf den Gehwegen der Stadt liegenblieb. Es war ein dummer Wachtraum.)

»Deutsche Nakasone wird dich suchen. Ist dir das klar?«

Sie stiegen zusammen mit hundert anderen in eine Kabine. Die Türen schlossen sich seufzend, und der Boden sank nach unten.

»Sie wollen eine saubere Aufzeichnung von deiner Persönlichkeit haben. Und dann wollen sie dich wieder zu Eucrasia Walsh machen. Aus reiner unternehmerischer Herzensgüte, fragst du? Quatsch! Sie machen sich bloß Sorgen, dass sie ihr Copyright behalten.« Heisens Gesicht war so nah an ihrem, dass sich ihre Kapuzen berührten. Sein Atem roch sauer, als er ihr ins Ohr flüsterte: »Es ist ihnen völlig egal, dass es für dich - für dein gegenwärtiges Ich, für den Menschen, für den du dich hältst - dasselbe sein wird, als ob du stirbst.«

Eine Kabine blieb zurück, um Passagiere aussteigen zu lassen; die übrigen fuhren weiter nach unten. Ein schwarzweiß bemalter Rude Boy mit einem Metallstern um den Hals machte Rebel an; er stemmte eine Faust in die Hüfte und schlug seinen Umhang zurück, um einen körperlangen Streifen nackter Haut zu entblößen.

Sie wandte den Blick ab und zog ihren Umhang fester um sich, und er lachte. »Aber warum? Warum tun sie mir das an?«

Heisen seufzte. »Die Sache ist ganz einfach«, sagte er, »wenn auch hässlich. Erinnerst du dich daran, dass du Eucrasia warst? Dass du als Persönlichkeits-Streunerin gearbeitet hast?«

Die Erinnerung war da, aber sie war schmerzhaft, und Rebel scheute vor ihr zurück. Sie war mit der selbstmörderischen Raserei gekoppelt, in die sie früher verfallen war, und sie wollte davon Abstand halten. Aber wie eine Zunge, die immer wieder an einem schmerzenden Zahn herumtastet, hatten ihre Gedanken einen eigenen Willen. »Mein Gedächtnis ist ein einziges Durcheinander.«

Eine weitere Kabine blieb stehen, dann noch eine. Sie traten zurück. Heisen ließ seinen Blick über die ausdruckslosen Gesichter um sie herum schweifen. »Ich sag dir was, lass uns das hier nicht vertiefen. Könnte sein, dass es jemand hört. Ich erzähl dir die ganze Geschichte, wenn wir bei Snow sind.«

Der Fahrstuhl öffnete sich. Warme, dampfende Luft schlug Rebel entgegen. So weit unten war die Schwerkraft höher als der normale Greenwich-Wert, und sie kam sich unbeholfen und tapsig vor. Sie wurden in eine weite Höhle ineinander verschachtelter Tang-Bars und Salons für kosmetische Chirurgie, Spielhallen und Messerbasare geschoben. Ein wehendes Holobanner fiel ihr ins Auge, und sie zuckte zusammen. Drei Melodien prallten aufeinander; die unterschwelligen Einlagerungen machten sie nervös und unruhig. Schweiß trat ihr aus allen Poren.

Ich war schon mal hier, dachte sie. Nein, war ich nicht.

»In die Bakuninstraße«, sagte Heisen.

Fern von den Aufzügen zur Oberstadt wurden die Geschäfte spärlicher; dazwischen erstreckten sich ebenholzfarbene Flächen mit Häuserfundamenten und Wohnbereichsträgern. Gleißendes Licht strahlte auf, als sie an einem Wetware-Einkaufszentrum vorbeikamen, und Heisen blieb stehen und zeigte hinein. Rebel machte große Augen: Kunden schoben sich durch schmale Gänge und wühlten mit langsamen Händen in den endlosen Regalen. Ab und zu hob jemand einen Wafer hoch und steckte ihn in eine der Programmierzellen, die die Rückwand säumten. Werbeholos leuchteten über ihren Köpfen auf: SUZY VAKUUM hieß eines. Sie sah aus wie eine Amazone. Der schönste Junge, den Rebel je gesehen hatte, schwebte über dem einzelnen Wort ANGELUS. Und dann entdeckte sie das Rebel-Elisabeth-Mudlark-Banner. Vor einem Sternenhintergrund hob sich eine Frau ab, die nicht sie war, und tat etwas, was sie nie tun würde. Rebel starrte das Holo entsetzt an.

»Siehst du die kleinen Kometen im Hintergrund? Ihr Baumhänger seid in dieser Saison groß in Mode.«

Rebel wandte Heisen ihr verblüfftes Gesicht zu.

Er zuckte die Achseln. »Eine Vorankündigung. Sie haben eine Menge Geld in dich investiert. Ich wollte, dass du siehst, was für ein kostspieliges kleines Stück Entwicklungs-Wetware du bist. Komm!«

Es ging durch einen Gleitweg in einen Zugangskorridor mit langen Strecken aus schwarzem Spannbeton. Im unteren Bereich waren Parolen in Farben, die im Dunkeln leuchteten, primitiv mit Permaspray aufgesprüht, eine über der anderen, ein wirres und fast unzusammenhängendes Durcheinander. BLEIB Du SELBST, GOTT HASST DICH wurde überlagert von FREIERGEISTFREIERGEISTFREIERGEIST, was über HIRNE BRENNEN HELL weg tobte, bevor es in ZUR HÖLLE MIT FORMWANDLERN GESICHTSTÄNZERN WERWOLFVAMPIREN hineinkrachte. Jemand hatte sich echt Mühe gegeben, ein Kreislogo mit den Worten ERDE FREUND darüber zu beseitigen. Unter dem Graffiti saß ein Arbeiter mit dem Gesicht zur Wand auf einer Kiste. Er hatte eine Abdeckung abgenommen und war zu einem Cyborg geworden, der an ein Gewirr farbig codierter Leitungen angeschlossen war.

Hinter einer Ecke kamen sie an einer Schlingenstadt vorbei. Die Ausgebrannten taumelten auf der Suche nach milden Gaben auf sie zu. Sie plapperten endlos und monoton vor sich hin; in ihren verfaulten Gehirnen war nur noch Platz für Gott, Sex und banalste Informationen, ihre Reflexe waren zerrüttet, ihre Augen leer, und ihre Gesichter zuckten.

Heisen zischte und beschleunigte seine Schritte. »Abschaum!«, keuchte er, sobald sie sicher an ihnen vorbeigekommen waren. »Man sollte sie...«

Sie bogen in einen noch engeren Gang ein, wo der auf dem Boden liegende Abfall dünn abgedeckt war und zu gären begann. Der Gestank von verfaulendem Tintenfisch und altem Fett hing in der Luft, und Rebels Schuhsohlen wurden schwarz.

Rebel warf Heisen einen Blick zu und sah erschrocken, dass der Mann zitterte. Schweiß lief über sein Gesicht, das so weiß wie ein Fischbauch war. »Verdammt noch mal, Mann«, sagte sie. »Was ist los mit Ihnen?« »Ist bloß die Wetware.«

Heisen zeigte mit einer Hand auf sein Gesicht. »Ich  hab' die imaginativen Prozesse immer weit aufgerissen, damit ich die große Chance schnell ergreifen kann, okay? Macht mich aber ein bisschen... ah... paranoid.«

Sie kamen durch einen schräg nach unten führenden Korridor, wo die meisten Deckenlampen eingeworfen oder gestohlen waren. Lüftungsventilatoren brummten im Schatten. Ein schwarzes Kabelgewirr hing von der Decke herunter; sie mussten sich bücken, um unter den untersten Schlaufen durchzukommen.

»Zum Teufel mit ihr«, sagte Heisen verärgert, »sie muss ihr Büro nicht hier unten haben. Sie will einfach all diesen Raum haben. Ich wünschte...«

Sie bogen um die letzte Ecke, und er zeigte auf eine Tür, die vom Schmutz der Stadt ganz grau war. »Hier.«

Über dem Türrahmen hing ein flackerndes Neon-Springmesser, ein Stück antiker Technologie, dessen Restaurierung ein Vermögen gekostet haben musste. Es summte und knisterte und färbte die Schatten rot. Die Klinge des Messers blinkte auf und erlosch, als ob es aus dem Griff springen und wieder einschnappen würde. Mitten auf die Tür war ein kleines weißes Rechteck geklebt, eine Geschäftskarte:

snow

die schneide

kropotkin-korridor, bei der berkman-galerie downtown east

neu-hoch-kamden, E. K.

»Snow?«, sagte Heisen unsicher.

Die Tür ging auf, und sie traten ein.

Was immer Rebel erwartet haben mochte, das war es nicht: ein Raum, der so groß und leer war, dass sie seine Größe nicht abschätzen konnte. Wände aus eierschalenartigem Material, weiß und ohne irgendwelche Merkmale. Keine Möbel. Der einzige Gegenstand im ganzen Raum war ein kleiner Gebetsteppich in der Mitte. Eine einsame Gestalt kniete darauf; sie hatte die Kapuze abgenommen und den rasierten Kopf gebeugt. In dem Raum war es so kühl, dass die Temperatur nach einem Augenblick der Erleichterung so bedrückend war wie die Hitze draußen.   

Sie gingen weiter. Das war die äußerste Form der Protzerei bei Technologie-Freaks - ein so umfassendes und ausgeklügeltes System zu besitzen, dass nichts davon zu sehen war; keine Geräte, keine Leitungen, keine Bedienungselemente. Der Raum musste von einem unsichtbaren Flechtwerk von Triggerstrahlen, Richtmikrophonen und Scannern für unhörbar ausgesprochene Worte durchzogen sein. Hier war Macht, wenn man ihre Geographie kannte.

Die Frau hob den Kopf und fixierte Rebel mit einem kalten Schlangenblick. Ihr Schädel war so weiß wie Marmor, und ihr Gesicht war mit einem sechseckigen Muster bemalt, das an Sonneneruptionen und Eiskristalle erinnerte. »Was hast du diesmal für mich gestohlen, Jerzy?«

Heisens Gesicht hatte wieder Farbe bekommen. Er zeigte erneut seine Zähne, schlug mit einer übertriebenen Geste seinen Umhang zurück und erlaubte sich eine schwungvolle, spöttische Verbeugung. »Darf ich vorstellen«, sagte er, »das einzige existierende saubere Exemplar des Hauptartikels, den Deutsche Nakasone nächsten Monat herausbringen wird.«

Die Frau bewegte sich dabei nicht. »Wie ist das passiert?«

»Wie schön, dich zu sehen, Jerzy, willst du nicht Platz nehmen?« Der kleine Mann grinste keck. »Wolltest du das nicht gerade sagen, Snow? Oder sollen wir auf dem Fußboden sitzen?«

Snow bewegte leicht den Kopf, eine Bewegung, wie sie eine Eidechse an einem kalten Morgen nach einer überlangen Starreperiode machen könnte. »Hinter euch.« Rebel drehte sich um und stolperte fast in einen Queen-Anne-Sessel. Sein Zwillingsstück stand ordentlich daneben. Sie trat unwillkürlich zurück. Auch Heisen sah entnervt aus. Mit welchem Taschenspielertrick die Sessel auch ins Dasein gebracht worden sein mochten, der Effekt war so rein und sauber wie bei einem mittelalterlichen Wunder.

Sie setzten sich, und als sie Snow wieder ansahen, war ein seltsames Glitzern in ihren Augen. Rebel fragte sich, ob es Belustigung war. Wenn ja, dann lag sie tief drinnen begraben. Heisen räusperte sich und sagte: »Das ist Rebel Elisabeth Mudlark. Vor zwei Tagen war sie noch eine Persönlichkeits-Streunerin namens Eucrasia Walsh. Eucrasia war gerade mit den Pre-Tests für eine Reihe von Wetset-Optionen beschäftigt, als sie auf dem Mudlark-Wafer durchbrannte und ihre Basis löschte. Sie landete in Unserer Lieben Frau der Rosen, und...«

»Jetzt drück mal die Stopptaste, Idiot!« sagte Rebel ärgerlich. »Spul's zurück und erzähl's mir noch mal, aber ohne das Ärztelatein.«

Heisen warf Snow einen Blick zu, und sie nickte leicht. Er fing von vorne an. Diesmal waren seine Worte an Rebel gerichtet. »Deutsche Nakasone prüft täglich einen Haufen Wetware. Das meiste wird nie benutzt, aber es muss alles ausgewertet werden. Für die erste Durchsicht heuern sie Persönlichkeits-Streuner an. Ist nicht viel dabei. Sie verkabeln dich, unterdrücken deine Persönlichkeitsbasis - also Eucrasia -, programmieren eine neue Persönlichkeit ein, testen sie, deprogrammieren sie und programmieren dich dann auf deine eigene Basis zurück. Und fangen wieder von vorne an. Kommt dir das bekannt vor?«

»Ich... ich glaube, ich erinnere mich jetzt«, antwortete Rebel. Dann sagte sie drängend: »Aber es fühlt sich nicht so an, als hätte ich jemals irgendsowas gemacht. Es ist so, als ob das alles jemand anderem passiert wäre.«

»Darauf komme ich noch«, sagte Heisen. »Das Problem ist, dass Persönlichkeits-Streuner alle notorisch instabil sind. Sie sind allesamt selbstmordanfällige, unglückliche Menschen - deshalb landen sie schließlich auch bei diesem Job, verstehst du? Sie sind auf der Suche nach der optimalen Persönlichkeit. Aber der Witz ist, sie haben so miserable Erfahrungsstrukturen, dass sie niemals so glücklich wie andere Menschen sind. Die Erfahrung dominiert immer, wie wir sagen.« Er hielt einen Herzschlag lang inne und sah Snow triumphierend an. »Nur diesmal eben nicht.«

Snow sagte nichts. Nach einer unbehaglichen Pause fuhr Heisen fort: »Ja. Wir haben die Ausnahme, die die Regel widerlegt. Unsere Eucrasia machte mit aller Kraft weiter, probierte die neue Persönlichkeit aus - und sie gefiel ihr. Sie gefiel ihr so sehr, dass sie ein Glas Wasser ins Programmiergerät goss und es mit einem Kurzschluss lahmlegte. Damit zerstörte sie nicht nur die Sicherheitskopie ihrer eigenen Persönlichkeit, sondern auch das einzige existierende Exemplar des Mudlark-Programms.«

Wieder diese kleine Eidechsenbewegung. »Dann...«, sagte Snow. »Ja. Ja, ich verstehe. Interessant.« Mit dem leisen, elektrisierenden Kitzel der Erinnerung an etwas, was sie unmöglich wissen konnte, erkannte Rebel, dass Snow sich Zugang zu ihrem System verschaffte, dass eine stark gebündelte Schallquelle oder ein subkortikales Implantat sie mit Daten versorgte.

»Wie hast du's geschafft, sie zu klauen?«, fragte Snow.

Heisen zuckte die Achseln. »Pures Glück. Sie ist selbst ausgebrochen, und ich bin zufällig vorbeigekommen.« Er erzählte, was er über ihre Flucht wusste.

»Na, das ist wirklich interessant.« Die Frau erhob sich.

Sie war groß und dünn, geradezu ätherisch. Wie ein Gespenst in Weiß hielt sie ihren Umhang fest umklammert. Zwei lange, fleischlose Finger streckten sich geisterhaft aus und berührten Rebels Stirn. Sie waren hart und trocken wie Pergament, und Rebel erzitterte bei der Berührung. »Mit was für einem Geist haben wir es hier zu tun?« Snow verstummte.

»Schau dir ihre Spezifikationen an.« Heisen zerrte einen Aktenkoffer aus einer Tasche seines Umhangs und ließ ein verästeltes holographisches Wetware-Diagramm erstehen. Es hing in der Luft, eine verschlungene grüne Kugel, die in jeder Hinsicht wie ein Büschel Steppengras aussah. Oder wie ein weit entfernter kugelrunder Baum... Es sah genau wie Rebels heimatliche Dyson-Welt aus, und das Bild traf sie hart. »Okay, das ist eine grobe Darstellung«, sagte Heisen eifrig. »Aber schau mal - siehst du, wo der n-Zweig sich in drei Äste spaltet? Da ist ein sehr starker...«

Die grüne Kugel stand leuchtend in der Luft, wie eine Vision des Grals, und Rebel schaltete blitzartig zu jenem lichterfüllten Moment um, als ihre Persönlichkeit in ihren Schädel geflutet war, als sie das Glas in die Hand genommen und es über dem Programmiergerät ausgeleert hatte. Das Wasser wand sich glitzernd durch die Luft, und die aufsichtführende Wetware-Technikerin drehte sich entsetzt um, ihr Mund klappte auf und Panik trat in ihren Blick, als Rebel den Kopf zurückwarf und fühlte, wie sich das volle, warme Lachen in ihrer Kehle bildete. Es war schön, am Leben zu sein, die Gedanken zu spüren, die das Gehirn wie Sonnenschein wärmten, und zu wissen, was sie zu tun hatte. Aber noch während das Wasser in das Haltegestell des Wafers spritzte und die Technikerin kreischte: »Was tun Sie...?«, erkannte sie, dass die Programmierleitungen immer noch mit ihrem Kortex verbunden waren. Der Wafer ging mit einem Zischen hoch, als sie danach griff, der Gestank von brennendem Plastik stieg ihr in die Nase, als sie ihn zu erwischen versuchte, ziellose statische Entladungen sprangen an den Leitungen entlang und warfen sie zur Seite, Hände rissen die Leitungen einen Moment zu spät heraus, als das Universum weiß wurde und erlosch...

Die Erinnerung brach ab, und Rebel zitterte. Wo war sie? Im Krankenhaus? Wieder eingefangen?

Heisen und Snow unterhielten sich immer noch. Die hochgewachsene, dünne Frau schaute teilnahmslos auf den ungestümen kleinen Mann hinunter, und dann wusste Rebel wieder, wer sie waren. Keiner der beiden hatte bemerkt, dass sie sich ausgeklinkt hatte; es musste eine kurze Episode gewesen sein.

»Für die Sache hier krieg' ich Punkte«, sagte Heisen. »Hörst du, Snow? Ich will Punkte.«

»Vielleicht ist sie zu groß für uns?« Snow ging einen Moment mit sich zu Rate. »Na schön, versuchen wir's.« Sie wandte sich direkt an Rebel. »Ich will dir einen hypothetischen Fall erzählen. Stell dir vor, eine kleine Firma, die Billigkopien von kommerziell erfolgreichen Persönlichkeiten herstellt, wendet sich an dich. Angenommen, man bietet dir...« - sie legte den Kopf ein wenig schief - »...drei Punkte für deine Hilfe bei der Erstellung einer sauberen Aufzeichnung. Damit wärst du für Deutsche Nakasone wertlos. Kein Wert, kein Interesse – sie würden dich in Ruhe lassen. Wenn du nun im Kopf behältst, dass sie dich ohne diesen Deal zur Strecke bringen und aus deinem eigenen Gehirn löschen werden... was würdest du sagen?«  

Die Episode hatte einen schlechten Nachgeschmack in Rebels Geist hinterlassen. Oder vielleicht waren es auch nur die Ereignisse des Tages, die sie schließlich eingeholt hatten. Es fiel ihr schwer, sich zu konzentrieren. Sie schüttelte den Kopf. »Ich verstehe nicht... Billigkopien?«

»Na, sagen wir mal, der momentane Bestseller ist...« - Snow lauschte - »...ein junger Mann mit dem unglaublichen Namen Angelus. Er ist... sensibel, romantisch und schüchtern. Die Räder der Publicity mahlen, und auf einmal will jeder Vierzehnjährige im Cluster sensibel, romantisch und schüchtern sein. Für diese Persönlichkeit gibt es folglich einen großen Markt. Wir klauen ein frühes Exemplar, nehmen genug Veränderungen vor, um einer Strafverfolgung zu entgehen, und werfen hunderttausend Wafer auf den grauen Markt. Diese Persönlichkeiten sind nicht genau wie Angelus, aber sie sind sensibel, romantisch und schüchtern. Und billig. Die großen Jungs machen ihren großen Profit, und wir hängen uns dran und stauben ein paar Krümel ab.«

»Nur werden wir diesmal zuerst auf dem Markt sein«, sagte Heisen, »und die ganze Publicity umsonst kriegen. Sie werden sich an unseren Wafer anhängen müssen, und sie sind einfach nicht darauf eingestellt, so schnell zu sein wie wir. Wir können eine gute Woche lang den Spitzenprofit absahnen, bevor...« Rebels bekam eine Gänsehaut bei dem Gedanken, dass hunderttausend Fremde die gleichen Gedanken, das gleiche Gesicht und die gleiche Seele hatten wie sie. Dass sie ihre verborgensten Gefühle, ihre tiefsten Emotionen miterlebten. Sie sah sie als käseweiße Insekten vor sich, die blind in Scharen herumschwärmten, biologische Maschinen ohne Willen oder Individualität.

»Nein«, sagte sie. »Vergesst es. Ich will meinen Geist nicht wie eine Hure verkaufen.«  

»Nein, aber verdammt, du hast keinen Platz, um...« Heisen sprang auf und griff nach Rebel, und sie fuhr hoch. Sie fand ihr Gleichgewicht und holte mit einer Faust aus. Sie war nie in Kampftechniken bei hoher Schwerkraft ausgebildet worden, aber die Muskeln ihres neuen Körpers arbeiteten hervorragend zusammen, und sie bezweifelte nicht, dass sie Heisen auf der Stelle zu Boden schicken konnte. Schlag ihm zuerst die Nase ein, und dann...

»Halt!« Snows Arm schoss unter ihrem Umhang heraus (ein Aufblitzen von leichenblasser Haut, die sich straff über Knochen spannte, kleine schwarze Brustwarzen auf fleischlosen Brüsten) und bildete eine Barriere zwischen ihnen. Der Arm war lang, mager und von einem silbernen Hautskelett filigraner Muskelverstärker überzogen. Wenn es aktiviert war, würde sie ohne nachzudenken mit der Faust eine Betonwand durchschlagen oder Knochen brechen können. »Bis jetzt habe ich hypothetisch argumentiert. Das war kein Angebot.« Die starren Augen richteten sich auf Rebel, als ob sie ein Geheimnis sei, das sie durch schiere Willenskraft ergründen könnten. Ohne den Kopf zu drehen, sagte sie: »Sie könnte eine Falle sein, Jerzy. Hast du daran nicht gedacht?«

Heisens Gesicht verzerrte sich. »Nein, ich - aber es könnte sein, oder nicht?« Er trat blitzschnell vor und stieß mit einem Finger auf das schwebende Wetware-Diagramm. »Schau dir das an! Diese Abspaltung im r-Zweig!« Dann beruhigte er sich ein wenig. »Nein, sowas kann man nicht fälschen. Sie muss echt sein.« Aber auf seiner Stirn glänzte frischer Schweiß, und in seinen Augen stand ein wachsamer Blick.

Snow zog ihren Arm in den Umhang zurück. Sie tat das Diagramm mit einem Achselzucken ab. »Was der Sache näherkommt: Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass eine Persönlichkeits-Streunerin auf einmal Glück und Zufriedenheit in einer neuen Persönlichkeit findet. Das ist ein Märchen.« Anmutig wie eine Geisha glitt sie zu ihrem Gebetsteppich zurück. »Ich fürchte, Kindchen, wir sind im Augenblick nicht bereit, ein Geschäft zu machen. So gern ich auch herausfinden würde, was in deinem faszinierenden Geist drin ist.« Heisen zitterte an ihrer Seite wie ein Hund an der Leine. Sie schüttelte den Kopf. »Wir haben so viel herausgefunden, wie wir können, ohne uns die Finger zu verbrennen.«

In der Stille, die darauf folgte, flüsterte eine von Snows verborgenen Lautsprechernadeln Rebel mit einer Stimme ins Ohr, die der von Snow glich und doch auch wieder nicht: »Die Gorillas von Deutsche Nakasone werden jeden Moment hier sein.« Ein Laser schoss Holo-Bilder auf eine ihrer Netzhäute: eine verworrene Karte der umliegenden Straßen und Korridore. Zwei blinkende Lichter krochen auf Snows Büro zu. »Jerzy wird geopfert werden müssen, aber wenn du dich draußen links hältst und wie der Teufel rennst, müsstest du entkommen.« Die Karte verschwand. »Geh, wohin du willst. Wir werden Bescheid wissen, ob du entkommst. Und wenn du bereit bist, ein Geschäft mit uns zu machen, wird einer von uns Kontakt mit dir aufnehmen.«

Snow selbst hatte nicht gesprochen. Sie stand schlank und einsam wie eine Madonna da. Laut sagte sie: »Die Tür ist hinter dir.«

Rebel drehte sich um und floh.

Draußen lief sie blindlings durch die warmen, schweren Korridore von Downtown. Sie floh aufs Geratewohl durch belebte Gänge und leere Gassen, bis sie keuchend nach Luft rang und in Schweiß gebadet war und bis die Angst in ihr hochstieg und sie verschlang.

  2. König Jonamons Hof

Später, viel später entdeckte Rebel mitten auf einem gefliesten Hof eine Ansammlung von Dataports. Sie hatte keine Ahnung, wo sie war. Irgendwo in der Stadtmitte, der Schwerkraft nach zu urteilen. Dschungelvögel flatterten zwischen vollen Boutiquen herum. Ein Wasserfall ergoss sich in einen seichten Teich. Am Rand verkaufte ein Händler Kupfermünzen, die man ins Wasser werfen konnte.

Ohne, dass Rebel ihrem Körper den Befehl dazu gegeben hätte, wurde dieser zu einem Dataport hingezogen. Ihr war schwindlig, und sie fühlte sich benommen, als ob ihr Kopf jemand anderem gehörte. Aus gewaltiger Entfernung heraus sah sie zu, wie ihre Finger den Bildschirm zweimal berührten und ihn damit für Echtzeit-Kommunikation programmierten. Sie tippten einen Zugangscode ein, und Rebel fragte sich, für wen.

Ein männliches Gesicht erschien in dem Port. Es schwebte in der Schwärze, ohne sichtbaren Hintergrund. Die Augenbrauen unter einer aufgemalten Konstellation fünfzackiger goldener Sterne hoben sich überrascht. »Ist lange her.«

Rebel hörte innerlich distanziert, aber gleichwohl fasziniert zu, wie eine schrille Stimme aus ihrem eigenen Mund hastig sagte: »Ich muss mich verstecken. Ich kann mein Gesicht nirgends sehen lassen. Ich muss weg von hier.« Ihr Gesicht begann zu weinen. »Ich  hab' kein Geld, und ich kann keinem Menschen vertrauen, und ich brauch deine Hilfe.«

Das Gesicht des Fremden veränderte sich; es sah überrascht und erschrocken aus. »Mein Gott, was hast du mit dir angestellt, Eucra...?«

»Sprich meinen Namen nicht aus!«

Blankes Erstaunen. Dann setzte der Mann unvermittelt wieder eine andere Miene auf und grinste. »Kapiert, Sunshine. Hör zu, meine Schicht hat gerade angefangen, aber vielleicht solltest du trotzdem herkommen. Ich bin im Moment ein Vakuum-Streuner. Ich schneide Blumen. In den Steinbrocken wird dich niemand suchen. Glaubst du, du findest den Weg zur Arbeitsvermittlung mit den öffentlichen Verkehrsmitteln?«

Rebel verstand kein Wort von der Unterhaltung. Ihr Kopf nickte.

»Okay, wenn du da bist, geh zum Schalter für Lagerarbeiter und Wartungspersonal. Sag ihnen, du suchst Arbeit als Schnitterin. Wir sind immer knapp an Leuten. Sie werden dich einstellen. Sag ihnen meinen Namen, damit sie dich in den richtigen Trupp stecken. Wir arbeiten im Akkord; es ist ihnen scheißegal, ob du eine ganze Schicht durchziehst. Ich sorge dafür, dass sie dir auf meine Rechnung einen Raumanzug geben. Alles klar? Glaubst du, du schaffst es?«

Ihr Körper holte ganz tief Luft. »Ja«, sagte ihre Stimme.

Rebel schnitt Vakuumblumen auf der Oberfläche von Eros, als sie von unten heraufkam.

Es war eine stumpfsinnige, unangenehme Arbeit. Die glänzenden blauen Blüten waren überraschend schwer auszumachen. Ihre Sichtscheibe polarisierte das grelle Licht und verwandelte die leuchtenden Blumen in ein Feld schwarzer Sterne. Sie musste in die Dunkelheit greifen, um sie zu finden. Ihre Stiele waren so dünn wie Drähte, nur viel fester. Und was das Schlimmste war: Die Schwerkraft war so niedrig, dass sie bei einer unvorsichtigen Bewegung ein paar Meter wegflog. Sie hing über dem Felsgestein und hielt sich mit ganz leichten Stößen von Zehen und Fingern in der Schwebe, während sie ihre Schere unter jede Blüte praktizierte. Ihre Muskeln taten von der Anspannung und vor Müdigkeit weh.

Das Innere ihres Raumanzugs stank, und ihr Sammelbeutel war erst halbvoll. Er schleifte wie der Hinterleib einer Bienenkönigin hinter ihr her. In ihrem Helm herrschte ein Durcheinander von Stimmen; der Arbeitstrupp tauschte auf dem Intercom-Kanal Klatsch aus. »...kein Spruch, ich schwör's euch«, sagte eine männliche Stimme gedehnt, »ich war die Liebenswürdigkeit in Person. Sie geben einem ein Kompaktpaket Benimm in die Persönlichkeit rein, versteht ihr? Ich weiß also, welche Gabel man nimmt, um sich in der Nase zu bohren, und all sowas. Und ich war nicht nur draußen in der Öffentlichkeit liebenswürdig, ich war's auch hinterher, als es zur Sache ging.«

»Ach ja? Vielleicht sollt' ich's mal mit dir probieren«, sagte eine belustigte weibliche Stimme.

»Tamara, Schätzchen, es gibt nur eins, was noch unwahrscheinlicher ist, als dass ich dich aufreißen will, nämlich dass ich's zugeben würde.« Lautes Gejohle. »Aber du kannst ja einen deiner Freunde dazu bringen, dieses Programm zu testen. Ganz im Ernst.«

»Zum Teufel«, sagte eine zweite weibliche Stimme, »wenn einer von Tamaras Freunden liebenswürdig wird, dann...«

Sie schaltete das Intercom ab. Etwas veränderte sich in ihr, und sie wusste nicht, wer sie war, Eucrasia oder Rebel. Rebel oder Eucrasia. »Lass los!«, flüsterte sie grimmig, und sie war wieder sie selbst: Rebel. Aber eine Spur ihres anderen Ichs blieb zurück und schwebte über ihr. Sie zog die Schultern ein, ignorierte es, so gut sie konnte, und fuhr fort, Blumen zu schneiden.

Die Arbeit war beruhigend. Ihre Finger bewegten sich wie aus eigenem Antrieb, schnitten Blumen ab und stopften sie in regelmäßigem, effizientem Tempo in den Netzbeutel. Vor ihr dehnte sich ein endloses Meer von Vakuumblumen bis zum Horizont. Jede Blüte hatte die Größe eines menschlichen Kopfes, war jedoch so zerbrechlich, dass sie bei der Berührung eines Handschuhfingers zu nichts zerfiel.

Das Gefühl einer anderen Gegenwart wollte trotzdem nicht weichen, bis ihr ganzer Rücken vom Blick eingebildeter Augen juckte und sie über die Schulter nach hinten schaute.

Es war niemand da. Nur ein Streifen nackten Felsgesteins und harter Schatten sowie - in der Ferne - ein paar flache Nutzbauten und etliche Frachtparzellen. Diese Parzellen waren einfach Areale, wo man das Felsgestein zu Lagerzwecken abgetragen und geglättet hatte. Einige waren leer. Auf anderen stapelten sich orangerote, grüne und gelbe Kisten bis in Wolkenkratzerhöhe. Maschinen mit so zarten Gliedmaßen wie Mücken kletterten an den Stapeln nach oben, fügten Kisten hinzu und nahmen welche weg. Unter ihnen holten Vakuum-Streuner weitere Kisten mühsam von Magnetkissen herunter oder schleppten sie in Aufzüge; dann traten sie zurück, als die Lasten im Eiltempo nach oben befördert wurden.

Was willst du noch hier?, dachte Rebel zornig. Ihr war nach Weinen zumute, aber sie unterdrückte es mit aller Macht - im Raumanzug waren Tränen etwas Scheußliches. Ich werde nicht für dich beiseitetreten. Das ist jetzt mein Geist.

Ein Stück Abfall schlug dicht bei Rebel sanft auf die Oberfläche, prallte nach oben ab und schwebte orangegelb und rot und glitzernd langsam wieder nach unten. Eine zerknüllte Verpackung von etwas, das irgendwo in der Nähe im Orbit konsumiert worden war. Rebel langte nach unten, versuchte zu viele Blüten auf einmal zu packen und bekam einen leichten Schlag durch ihre Arbeitshandschuhe, als es in den Blumen einen Kurzschluss gab. »Oh, Shit!« Sie warf die Dinger angewidert weg und setzte sich auf. Eine Kanisterstadt stieg über den von Blumen schimmernden Horizont herauf. Durch eine Fensterwand konnte sie die willkürlich verstreuten Lichter von Wohnbereichen sehen, klein und hell wie innere Sterne. Und jetzt wurde Rebel klar, dass sie auf dem seltsamen Planeten war, den sie vom Krankenhaus aus gesehen hatte. Eros. Sie war auf dem Asteroiden Eros im Zentrum des Eros-Clusters.

Ebenso plötzlich war Eucrasias Geist fort, verschwunden wie eine Seifenblase im Vakuum.

Rebel schlang die Schleppleine ihres Beutels über einen Felsauswurf, zurrte sie fest, rollte sich auf den Rücken und ließ das Licht über sich hinweg und durch sich hindurchfluten.

Sie starrte in den Cluster und empfand erneut eine Mischung aus Vertrautheit und Ehrfurcht. Vor der Sternenlandschaft erstreckte sich eine künstliche Galaxis aus kreisenden Rädern, Fabriken mit variabler Schwerkraft, geodätischen Städten, Speichergittern, Zylindern mit Schlackendecken und Landwirtschaftskugeln... eine unendliche Vielfalt von Gebilden, alle mit kilometerbreiten Superzeichen bemalt und so hell wie kleine Sonnen. Entgegen der Drehrichtung, am nachhängenden Rand des Clusters, waren die Reihen der Raffineriespiegel verschwenderisch in Licht gebadet. In Richtung der Sterne flogen Robotschiffe mit Lichtsegeln im Zickzack-Kurs und setzten über Hindernisse hinweg, um halb verarbeitete Erze hereinzubringen. Ganz in der Nähe wanden sich Zubringerboote und Raumwerker in ihren Anzügen durch die dünnen Linien von Verkehrshologrammen. Einen Moment lang schnürte ihr all diese Schönheit und Komplexität fast die Kehle zu. Sie wollte lachen oder weinen. Und dann...

»Kopf hoch, Sunshine!«

Eine behandschuhte Hand tätschelte ihren Helm und schaltete das Intercom ein. Rebel schoss hoch, überschlug sich und wurde von einem Mann in einem Raumanzug mit Blumenmuster wieder heruntergezogen. Gelbe Sterne mit fünf Spitzen, angeordnet wie das Kreuz des Nordens, dominierten das Muster. In der goldenen Sichtscheibe des Helms sah sie ihr Spiegelbild mit einem kleinen, verzerrten Abbild des Mannes in ihrer eigenen Sichtscheibe. Er reckte einen Daumen nach oben. »Die Schicht ist um. Zeit, sich auf den Heimweg zu machen.«

Der Mann sprang mit langsamen, drolligen Hüpfern davon, wie man es bei geringer Schwerkraft machte, und Rebel folgte ihm. Er war hochgewachsen und schlaksig, mit schmalen Hüften und straffen kleinen Haarknoten.

Die Arbeiter des Trupps kamen aus allen Richtungen herbeigesprungen und sammelten sich an dem schäbigen Aufzug. Einer nach dem anderen schoben sie ihre Erntebeutel in das Feld, sahen zu, wie diese nach oben gerissen wurden, und folgten selbst dichtauf. Ihre Arbeitskleidung war mit schillernden Planetenlandschaften, Wolken und Regenbögen sowie falschen Mondrians, Pollacks und Van Goghs individuell aufgemacht. Rebel schaute auf ihren eigenen Anzug hinunter. Silbrig und ohne jede Kennzeichnung.

»Du bist dran, Sunshine. Mach das an die Schleppleine.« Der Mann gab ihr eine Eisenscheibe mit einem Loch in der Mitte. Sie befestigte sie an der Leine und zerrte ihren Beutel nach vorn. Er verschwand.

»Hör zu«, sagte sie, »ich muss mit dir reden.«

»Ja, aber nicht hier.« Er legte ihr die Hand aufs Kreuz und schubste sie in den Aufzug.

Das Feld erfasste sie. Der Asteroid unter ihr schrumpfte so plötzlich, dass ihr fast das Herz stehenblieb. Sie konnte ihn wieder im Ganzen sehen, so wie von Neu-Hoch-Kamden aus, eine plumpe unsymmetrische Spindel von einem Planeten mit Kontinenten, die in metallischem Blauweiß brannten, und tintenschwarzen Meeren. Die Meere waren Gebiete, auf denen alle Blumen geschnitten waren. Ein Verkehrslenker ergriff sie, der Asteroid schwenkte wild ab, und die Geodäte

der Arbeitsvermittlung explodierte ihr ins Gesicht. Sie pflügte in das Magnetkissen, wurde langsamer, stoppte und wurde sanft zu einer Luftschleuse geschoben.

In der Börse wimmelte es von Arbeitern. Rebel schwebte hinein, vorbei an neuen Schichten, die sich ankleideten und das Gebäude verließen. Fertige Schichten stießen sich irgendwo ab und trieben lachend und schwatzend vorbei, klappten Helme zurück und zogen ihre Anzüge aus. Sie folgte einem Anzug mit Regenbogenaufdruck, der in ihrem Arbeitstrupp gewesen war, und nahm eine Magnetstrecke zum Schalter für Lagerarbeiter und Wartungspersonal. Eine Zahlmeisterin mit großen Brüsten saß dort in Knieringen und hielt eine Gehaltsmaschine auf dem Schoß.

»Komm her!«, fauchte sie.

Rebel zog hastig einen Handschuh aus und steckte die Hand in das Gerät. Es las ihre Fingerabdrücke, berechnete die Menge der geschnittenen Blumen und spuckte ein dünnes silbernes Armband aus. Es fühlte sich seltsam an, als sie es um ihr Handgelenk legte. Sie stieß sich ab, und der Regenbogenanzug war nirgends zu sehen. Sie hatte keine Ahnung, wohin sie jetzt gehen sollte.

Dann stieß jemand leicht gegen sie und schubste sie in eine Magnetstrecke. »Wir sehen uns auf der anderen Seite, Sunshine«, sagte er, und sie schoss durch einen Eingang. Derselbe Mann. Am Ende der Strecke hätte sie beinahe die Griffstange verfehlt, weil sie sich den Hals verrenkte und vergeblich einen Blick auf sein Gesicht zu erhaschen suchte.

Sie folgte einer stämmigen Frau in den Umkleideraum und machte ihr alles nach: Sie legte den Anzug zusammen, stopfte ihn mit ihrem cache-sexe und dem billigen Satz Arm- und Beinbänder, den man ihr gegeben hatte, in den Helm und warf alles in einen Reinigungsschacht. Dann stieß sie sich ab und schwebte in den Duschraum. Sie reinigte sich mit einem Seifentuch, wusch sich mit einem nassen Lappen ab und kickte sich wieder in den Umkleideraum zurück.

Dieser war eine fünfeckige Röhre mit Spinden an allen Wänden. Rebel schwebte zwischen den lachenden, schwatzenden Frauen und konnte sich nicht entsinnen, welcher Spind der ihre war. Aber die Erinnerung war da, auch wenn sie nicht an sie herankam. Ihr Körper wusste, was er zu tun hatte. Sie ließ ihn dorthin treiben, wohin er wollte, und kam an einen Spind, der sich auf ihre Berührung hin öffnete. Im Innern waren ihre Kleider und ihr Arbeitszeug, alles frisch gereinigt.

Sie verankerte sich in einem Fußring und zog das cache-sexe sowie die Reisebänder an. Dann schlüpfte sie in die Knieringe und klappte einen Spiegel auf. Dasselbe beunruhigende Gesicht mit der Stupsnase starrte sie aus dem Spiegel an.

Überall um sie her zogen sich Frauen um, reprogrammierten sich und bemalten ihre Gesichter auf eine Weise, die ihren neuen Persönlichkeiten entsprach. Der Raum war voller Marilyns und Pollyannas; hier und da gab es auch Zeldas und sogar eine Suzy Vacuum. Eine Xaviera, die sich vor Unschlüssigkeit reglos in der Luft hängen sah, hörte auf, sich die Lippen in Vulva-Pink zu bemalen, und bot ihr ihren Wafer an. »Hier nimm, Schätzchen! Sei ganz offen und probier's mal!«

Rebel errötete und wandte den Blick ab, und die Frau johlte vor Lachen. Sie ergriff ihre Sachen und floh. Ihr Gesicht war so nackt wie am Tag ihrer Geburt.

Draußen packte sie ein Mann am Ellbogen, und sie schlug ihm in den Magen, ohne auch nur nachzudenken. Er krümmte sich in seinem Umhang zusammen und trieb mit völlig verblüffter Miene rückwärts davon.

Dann sah Rebel die aufgemalten Sterne im Gesicht des Mannes und erkannte, dass dies der Fremde war, den sie angerufen hatte. Verwirrt streckte sie die Hand aus, um ihm Halt zu geben, aber er hatte bereits eine Griffstange gepackt und beobachtete sie mit einem verschlossenen und wachsamen Gesichtsausdruck.

»Hör mal, es tut mir leid«, sagte Rebel. »Ich wollte dich nicht schlagen. Es tut mir leid, dass ich dich überhaupt angerufen habe. Warum geben wir uns nicht einfach die Hand und gehen unserer Wege?«

Der Fremde musterte sie ruhig. »Du bist nicht mehr Eucrasia, oder?«

Sie erwiderte seinen Blick. Seine Augen waren grün. »Nein.«

Das Gesicht des Mannes wurde einen Moment lang ausdruckslos, als ob er mit sich selbst im Widerstreit läge. Dann hellte es sich auf, und er sagte: »Hör zu! Ich wohne in König Jonamons Hof, Tank Vierzehn. Das ist wahrscheinlich der beste Ort, wo du hingehen kannst, wenn du vor irgendwas wegläufst. Da gibt's ein paar leere Hütten. Komm mit, und ich streck dir die Miete für die erste Woche vor.«

»Warum solltest du sowas für mich tun?«, fragte Rebel misstrauisch. »Wer bist du überhaupt?«

»Ich bin... ein alter Bekannter. Ein Arbeitskollege.« Er tippte sich hinter das eine Ohr, und Rebel sah dort eine kleine, kreisrunde Abschürfung. »Wir Persönlichkeits-Streuner müssen zusammenhalten, stimmt's?«

»Ich...« Rebel zog sich in die Falten ihres Umhangs zurück. »Pass auf. Es tut mir leid. Es ist nur so, dass einige Leute in letzter Zeit erhebliches Interesse an meinem

Fall zeigen. Ich  hab' sie nicht drum gebeten. Und ich will es auch nicht.«

»Okay. Also dann.« Er zuckte die Achseln und wandte sich ab.

In diesem Moment kam ein Gefühl der Verzweiflung aus Rebels tiefstem Innern hoch, und sie rief: »Warte!«

Der Mann drehte sich wieder um. Dieser reservierte Gesichtsausdruck.

Sie errötete, weil sie keine Ahnung hatte, warum sie aufgeschrien hatte. Um es zu überspielen, sagte sie: »Vielleicht war ich ein bisschen voreilig.«

Wieder eine plötzliche Änderung seines Gesichtsausdrucks, und der Mann lachte herzlich. »Du machst mich echt fertig, Sunshine.«

»Nenn mich nicht so!«

»Na schön. Dann Eucrasia.«

Ihr Gesicht fühlte sich kalt und hart an. »Mein Name ist Rebel«, sagte sie. »Rebel Elisabeth Mudlark.«

»Wyeth.« Ein schiefes Grinsen und ein Achselzucken besagten, dass dies sein ganzer Name war.

Sie nahmen eine billige Fähre zu den Tankstädten, in der sie dicht an dicht mit zwanzig anderen saßen, fast zu dicht, um noch Luft zu bekommen. Sie brachte sie in den Schatten des Londongrad-Kanisters, wo eine Ansammlung fünfzig Jahre alter Tanks schwebte. Es waren riesige Dinger, allesamt groß genug, um unter Druck die komplette Atmosphäre einer Kanisterstadt zu halten, und sie waren nachträglich mit primitiven Schleusen und Andockeinrichtungen ausgestattet worden. Leichte Rostspuren zogen sich an den Rändern der Schleusen entlang, wo das leise Flüstern des durch Lecks austretenden Sauerstoffs über das Metall geisterte.

»Himmel, ist das heiß hier drin«, brummte Rebel. »Ich hätte einfach allein in meinem Anzug herkommen sollen.«

»Wie war das?«, fragte Wyeth und sagte, als sie es wiederholte: »Tankstädte haben keine Magnetkissen. Das hier sind Slums der übelsten Sorte.«

Der Pilot der Fähre legte mit einem heftigen Ruck an einem Dock an und brüllte: »Tank Vierzehn!«, und sie zwängten sich hinaus.