Eines Greifen Ei - Michael Swanwick - E-Book

Eines Greifen Ei E-Book

Michael Swanwick

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Beschreibung

Allein auf dem Mond

Gunther Weil arbeitet als Wissenschaftler auf dem Mond. Als auf der Erde ein Atomkrieg ausbricht, werden auch die Mondbewohner in den Konflikt mit hineingezogen: zum einen ist die Basis auf Nachschublieferungen von der Erde angewiesen, zum anderen setzt ein Terrorist ein Kampfgas frei, das fast die gesamte Besatzung verrückt werden lässt. Gunther ist einer der wenigen, die von dem Gas verschont geblieben sind, weil er zum Zeitpunkt des Anschlags auf der Mondoberfläche unterwegs war. Zusammen mit seinen Kollegen sucht er nach einem Gegenmittel – und findet es auch. Doch dieses Mittel könnte jeden, der es einnimmt, radikal verändern …

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MICHAEL SWANWICK

 

 

 

EINES GREIFEN EI

 

Roman

 

 

 

 

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Das Buch

Gunther Weil arbeitet als Wissenschaftler auf dem Mond. Als auf der Erde ein Atomkrieg ausbricht, werden auch die Mondbewohner in den Konflikt mit hineingezogen: zum einen ist die Basis auf Nachschublieferungen von der Erde angewiesen, zum anderen setzt ein Terrorist ein Kampfgas frei, das fast die gesamte Besatzung verrückt werden lässt. Gunther ist einer der wenigen, die von dem Gas verschont geblieben sind, weil er zum Zeitpunkt des Anschlags auf der Mondoberfläche unterwegs war. Zusammen mit seinen Kollegen sucht er nach einem Gegenmittel – und findet es auch. Doch dieses Mittel könnte jeden, der es einnimmt, radikal verändern …

 

 

 

 

Der Autor

Michael Swanwick wurde am 18. November 1950 in Schenectady im US-Bundesstaat New York geboren. 1973 zog er nach Philadelphia, um Schriftsteller zu werden, doch es sollte sechs Jahre dauern, bis er seine erste Story beendete. 1980 veröffentlichte er seine ersten beiden Kurzgeschichten, die für den Nebula Award nominiert wurden. 1985 folgte sein Debütroman, »Die Todesschneise«, in dem der Unfall im Atomkraftwerk Three Mile Island deutlich nachhallt. »In Zeiten der Flut« gewann 1991 den Nebula Award. Michael Swanwick wurde zudem mit dem Theodore Sturgeon Memorial Award, dem World Fantasy Award und insgesamt fünf Hugo Gernsback Awards ausgezeichnet. Neben Science-Fiction- und Fantasy-Romanen schreibt Swanwick Reviews für die Zeitschrift New York Review of Science Fiction und veröffentlichte mehrere Biografien, Essays und Monografien zum Genre. Er lebt mit seiner Frau Marianne Porter und dem gemeinsamen Sohn Sean in Philadelphia.

 

 

 

 

 

www.diezukunft.de

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Titel der Originalausgabe

GRIFFIN’S EGG

Aus dem Amerikanischen von Irene Bonhorst

 

Überarbeitete Neuausgabe

Copyright © 1990 by Michael Swanwick

Copyright © 2016 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Covergestaltung: Das Illustrat

Satz: Winfried Brand

 

ISBN 978-3-641-20093-0 V002

Dieses Buch ist den ›Loud Philadelphians‹ gewidmet:

 

Tess Kissinger, Bob Walters, Susan Casper, Gardner Dozoin, Marianne Porter, Mike Ford emeritus, Greg Frost, Joanne Burke, David Axler, Ray Ridenour (hon.), Tim Sullivan emeritus, sowie gelegentlich Janet und Karl Kofoed.

Der Mond? Er ist eines Greifen Ei,

ausschlüpfen wird er morgen Nacht.

Und die kleinen Buben geben Acht,

bejubeln mit entzücktem Geschrei,

wie er die Schale knackt und zappelt,

und über die Himmelsbahn krabbelt.

Die Buben lachen. Die Mädchen, möcht’ ich meinen,

verstecken sich und werden vielleicht weinen …

 

- VACHEL LINDSAY

Die Sonne blitzte hinter den Bergen auf. Gunther Weil hob eine Hand zum Salut, dann zuckte er zusammen, als der grelle Schein genau in dem Moment seine Augen traf, den sein Helm zum Polarisieren brauchte.

Er transportierte Brennstäbe zur Industrieanlage des Kraters Chatterjee. Im Reaktor B von Chatterjee hatte es vierzig Stunden vor dem Morgengrauen einen Störfall gegeben, der fünfzehn ferngesteuerte Komponenten und ein Mikrowellenrelais zerstört und eine gewaltige Energiewelle ausgelöst hatte, durch die in allen Fabriken auf dem Gelände gleichartige Schäden verursacht worden waren. Zum Glück war ein Schmelzen, wie es immer wieder vorkam, von vornherein im System eingeplant. Als die Sonne über dem Hochland des Rätikon aufging, war ein neuer Reaktor gebaut und inzwischen soweit fertig gestellt worden, dass er in Betrieb genommen werden konnte.

Gunther fuhr, ohne sich bewusst darauf zu konzentrieren, während er die Entfernung nach Bootstrap anhand der Menge des Mülls ermaß, der die Straße zum Mare Vaporum säumte. In der Nähe der Stadt waren ausrangierte Produktionsmaschinen und beschädigte Montagewerker in Vakuum-Speichern zwischengelagert und warteten auf eine mögliche Entsorgung. Zehn Kilometer außerhalb war ein Transporter mit Druckbelüftung explodiert und hatte Maschinenteile und riesige Würmer von Isolierschaum über die Landschaft verteilt. Etwa bei Kilometer fünfundzwanzig hatte ein schlecht ausgebautes Stück Straße vom Durchgangsverkehr jede Menge Frachtpaletten und zerschmetterte Positionslampen gefordert.

Vierzig Kilometer weit draußen jedoch war die Straße frei von Unrat, eine gerade, saubere Spur durch den Steinschutt. Er achtete weder auf die Stimmen in Innern seine Kopfes noch auf das Rattern des Verkehrs und die automatisch durchgegebenen Sicherheitsmeldungen, die der Wagen routinemäßig in seinen Mentalkommunikations-Chip fütterte, sondern ließ die topographischen Details auf dem Armaturenbrett ablaufen.

Ziemlich genau hier musste es sein.

Gunther bog von der Straße zum Mare Vaporum ab und zog von nun an Spuren in jungfräulichem Boden. »Sie haben die vorgegebene Route verlassen«, sagte der Wagen. »Abweichungen vom Plan sind nur mit der ausdrücklichen und aufgezeichneten Genehmigung des Speditionsleiters zulässig.«

»Na ja, schon.« Gunthers Stimme schallte laut in seinem Helm, der einzige von einem lebendigen Körper erzeugte Laut in einem Geisterbabel. Er hatte die Druckanlage in der Kabine nicht eingeschaltet, und die Isolierschichten seines Anzugs glichen sogar das Holpern der Gleitflächen aus. »Du weißt genauso gut wie ich, dass Beth Hamilton überhaupt nichts dagegen hat, wenn ich zwischendurch ein bisschen herumstreune, solang ich mit dem Fahrplan nicht allzu sehr in Verzug gerate.«

»Sie haben die sprachlichen Fähigkeiten dieses Geräts überschritten.«

»Alles ist in Butter, mach dir nichts draus.« Geschickt befestigte er den Schalter des Gegensprechanlage mit einem Stück Draht in der Aus-Stellung. Die Stimmen in seinem Kopf verstummten sofort. Jetzt war er vollkommen von allem abgeschieden.

»Sie haben versprochen, das nie wieder zu tun.« Die Worte, die direkt in seinen Mentalkom-Chip gesendet wurden, dröhnten so tief und hallend wie die Stimme Gottes. »Die Richtlinien von Generation Fünf verlangen ausdrücklich von allen Fahrern die ständige Aufrechterhaltung der Sprechver …«

»Heul nicht. Das macht dich nicht sonderlich reizvoll.«

»Sie haben die sprachlichen Fähigkeiten dieses Geräts …«

»Oh, halt’s Maul!« Gunther fuhr mit einem Finger über die topographischen Karten und verfolgte die Strecke, die er sich in der Nacht zuvor ausgedacht hatte: dreißig Kilometer über Sinter-Gelände, ein Terrain, das noch von keinem Menschen und keiner Maschine je überquert worden war, und dann nach Norden auf der Straße nach Murchison. Mit etwas Glück könnte es ihm sogar gelingen, Chatterjee vor der Zeit zu erreichen.

Er schwenkte in die Lunarebene ab. Felsen schwebten beidseitig an ihm vorbei. Vor ihm entzogen sich die Berge allmählich der Wahrnehmung. Abgesehen von den immer kleiner werdenden Spuren der Gleitflächen hinter ihm gab es von Horizont zu Horizont nichts, das darauf hinwies, dass die Menschheit je existiert hatte. Die Stille war absolut.

Gunther lebte für Augenblicke wie diesen. Beim Eintritt in diese unberührte, öde Leere empfand er eine überwältigende Erweiterung des Seins, als ob alles, was er sah – Sterne, die Ebene, Krater und alles –, in ihm selbst enthalten wäre. Bootstrap City war nur ein verblassender Traum eine ferne Insel auf der sanft wogenden Oberfläche eines Steinmeeres. Niemand wird hier je wieder der Erste sein, dachte er. Das ist allein mir vorbehalten.

Eine Erinnerung aus seiner Kindheit schwappte in ihm hoch. Es war am Heiligen Abend, und er befand sich im Wagen seiner Eltern auf dem Weg zur Mitternachtsmesse. Schnee fiel, dicht und ohne Luftbewegung, und machte aus all den vertrauten Straßen Düsseldorfs etwas Sauberes und Reines unter einer weißen Decke. Sein Vater saß am Steuer, und er beugte sich vom Rücksitz aus nach vorn, um voller Faszination in diese friedliche, verwandelte Welt vor ihnen zu starren. Die Stille war absolut.

Er fühlte sich von der Einsamkeit tief berührt und geheiligt.

Der Wagen pflügte durch einen Regenbogen von sanften Grau-Nuancen, unterdrückte Farben, eher sanft anklingend als grell tönend, als ob etwas Strahlendes und Prächtiges sich unter einer Staubschicht verborgen hielte. Die Sonne schien ihm auf die Schulter, und als er die Vorderachse herumriss, um einem Geröllberg auszuweichen, drehte sich der Schatten des Wagens im Kreis und griff nach der Unendlichkeit. Er fuhr mit automatischen Bewegungen, hypnotisiert von der herben Schönheit der vorbeiziehenden Landschaft.

Mittels eines entsprechenden Gedankens veranlasste er seinen PeCe, Musik auf seinen Chip zu legen. ›Stormy Weather‹ erfüllte das Universum.

 

Er kam einen langen, fast nicht wahrnehmbaren Abhang herunter, als die Hebel in seiner Hand den Dienst versagten. Der Wagen fuhr mit höchster Kraft nach unten und hielt mit einer Vollbremsung an. »Verdammt, du Arschloch von einer Maschine!«, schnaubte er. »Was soll das nun wieder?«

»Das Gelände vor uns ist nicht passierbar.«

Gunther schlug mit der Faust auf das Armaturenbrett, so dass die Karten tanzten. Die Landschaft vor ihm war ebenmäßig und sanft hügelig; jeder Ansatz von Schroffheit war vor Äonen durch die Explosion des Mare Imbrium geglättet worden. Alberner Kinderkram! Er trat mit dem Fuß die Tür auf und kletterte hinunter.

Der Wagen war durch ein dürftiges Rinnsal aufgehalten worden: eine schlangenartige Vertiefung, die sich im Zickzack quer über seine vorgesehene Route wand und für das menschliche Auge wie ein ausgetrocknetes Flussbett aussah. Er machte einen Satz zu seinem Rand hin. Es war fünfzehn Meter breit und an der tiefsten Stelle drei Meter tief. Gerade eben so flach, dass es auf den topografischen Darstellungen nicht erschien. Gunther ging zum Wagen zurück und schlug die Tür hinter sich geräuschvoll zu.

»Hör mal, die Ufer sind nicht sehr steil. Ich bin schon hundertmal schlimmere Hänge hinuntergefahren. Wir werden es einfach langsam und lässig angehen, okay?«

»Das Gelände vor uns ist unpassierbar«, wiederholte der Wagen. »Bitte kehren Sie zum ursprünglich vorgesehenen Kurs zurück.«

Jetzt war Wagner an der Reihe. Tannhäuser. Ungehalten schaltete er ihn per Gedanken ab.

»Wenn du so verdammt heuristisch bist, warum lässt du dich dann niemals von Vernunftgründen überzeugen?« Er biss sich ärgerlich auf die Lippe und schüttelte hastig den Kopf. »Nein, eine Umkehr würde uns weit vom Plan abbringen. Das Rinnsal wird nach ein paar hundert Metern versickern. Wir wollen ihm einfach bis dahin folgen und dann nach Murchison abbiegen. Wir sind in Null Komma nichts am Ziel.«

 

Drei Stunden später traf er endlich auf die Straße nach Murchison. Inzwischen war er nassgeschwitzt und stank nach Schweiß, und seine Schulter schmerzte vor Anspannung. »Wo sind wir?«, fragte er missmutig. Dann fuhr er fort, bevor der Wagen antworten konnte: »Annullier das.« Der Erdboden war plötzlich schwarz geworden. Das war vermutlich der gefächerte Auswurf der Sony-Reinpfaltz-Grube. Deren Schienenschleuder war ziemlich direkt nach Süden gerichtet, um die Fabriken zu verschonen, die zu ihren Kunden gehörten, und deshalb bekam die Straße die erste Ladung ihrer Grubenspreu ab. Das bedeutete, dass er nicht mehr weit entfernt war.

Murchison war nicht viel mehr als ein Durcheinander von zusammentreffenden Lastwagenpisten, eine holperige, unbefestigte Gleitbahn, die mit grell orangefarbenen Farbklecksen auf Steinen in Randnähe markiert war. In kurzen Abständen kam Gunther an einer Reihe von Streckenmerkmalen vorbei: Harada-Werke, Sturmsee-Makrofaktur, Krupp Fünfzig. Er kannte sie alle. G5 war für die Robotertechnik des ganzen Haufens zuständig.

Ein leichter Flachbett-Wagen, der mit einem zu verfrachtenden Bulldozer beladen war, raste mit hoher Geschwindigkeit an ihm vorbei und wirbelte eine Wolke von Staubpartikeln auf, die so schnell zu Boden fielen wie Kieselsteine. Der Ferngesteuerte, der das Gefährt lenkte, winkte ihm mit einem dürren Arm zum Gruß zu. Er winkte automatisch zurück und fragte sich, ob es sich wohl um jemanden handelte, den er kannte.

Die Landschaft ringsum war geprägt von Kerben und Rillen, Staub und achtlos zu Haufen und Hügeln aufgeschichteten Steinen sowie den gelegentlichen Gerätestationen oder den Sauerstoff-Notspeicher-Plattformen, die in den Steilfelsen eingehauen worden waren. Ein Schild schwebte vorbei: TOILETTE MIT SPÜLENTSORGUNG 500 METER. Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Dann fiel ihm ein, dass seine Gegensprechanlage noch immer ausgeschaltet war, und er schob die Drahtschlaufe vom Aus-Schalter weg. Es war Zeit, sich wieder in die wirkliche Welt zu begeben. Sofort drang die Stimme seiner Speditionsleiterin schimpfend und voller Störgeräusche aus seinem Mentalkom-Chip.

»…eißkerl! Weil! Wo, zum Teufel, steckst du?«

»Hier bin ich, Beth. Ich bin ein bisschen spät dran, aber ich bin genau da, wo ich planmäßig sein soll.«

»Scheiß…« Die Bandaufnahme brach ab, und Beth Hamiltons Stimme ertönte, live und voller Bissigkeit. »Du wirst dir in diesem Fall eine gute Erklärung einfallen lassen müssen, mein Süßer.«

»Ach, du weißt doch, wie das ist.« Gunther wandte den Blick von der Straße ab, hin zu den staubigen jadegrünen Bergen. Er würde am liebsten dort hinaufklettern und niemals wieder herunterkommen. Vielleicht würde er Höhlen finden. Vielleicht gab es dort Ungeheuer: Vakuumgnome und Monddrachen mit trägen, behäbigen Stoffwechselabläufen, die Jahrhunderte brauchten, um sich um eine Körperlänge zu bewegen, Wesen aus einer hyperdichten Materie, die durch Stein schwimmen konnten, als ob es Wasser wäre. Er stellte sich bildlich vor, wie sie tauchten, den Fährten einer Magnetkraft folgend, tief, tief in Diamant- und Plutoniumadern hinein, die Köpfe zurückwerfend und singend. »Ich habe eine Anhalterin mitgenommen, und wir sind irgendwie aneinandergeraten.«

»Versuch, das der Ismailowa zu erzählen. Sie hat eine Stinkwut auf dich.«

»Wer?«

»E. Ismailowa. Sie ist die neue Demontage-Expertin, aufgrund eines multikorporativen Vertrages hierher versetzt. Vor fast vier Stunden hat sie ein Schnellbergungsfahrzeug bereitstellen lassen, und seither wartet sie auf dich und Siegfried. Wie ich annehme, hast du sie noch nicht kennengelernt.«

»Nein.«

»Na ja, ich habe sie jedenfalls kennengelernt, und du tust gut daran, im Umgang mit ihr auf der Hut zu sein. Sie ist genau die Art von Flintenweib, die über deine Späßchen nicht lacht.«

»Ach was, sie ist nichts anderes als ein weiteres Rädchen im Getriebe, oder? Ich unterstehe ihr nicht. Und sie kann mir nichts anhaben.«

»Träum weiter, Kleiner. Es bedarf keiner großen Anstrengung, dir so etwas wie eine Rückversetzung zur Erde einzubrocken.«

 

Die Sonne stand erst einen Fingerbreit über dem Hochland, als Chatterjee A undeutlich in Sicht kam. Gunther blickte von Zeit zu Zeit aufmerksam hin. Da sein Visier auf die Wellenlänge H-Alpha justiert war, stellte es eine strahlendweiße Kugel dar, bedeckt mit langsam wabernden schwarzen Sprenkeln: stärker granuliert als sonst. Die Tätigkeit der Sonnenflecken schien sehr rege zu sein. Er wunderte sich, dass der Strahlungs-Vorhersage-Dienst hier keine Oberflächenleitstelle eingerichtet hatte. Die Burschen vom Observatorium hatten im Allgemeinen doch immer alles im Griff.

Chatterjee A, B und C bildeten eine Dreiergruppe von einfach Kratern direkt unterhalb von Chladni, und während die beiden kleineren von geringerer Bedeutung waren, war Chatterjee A das Kind eines Meteors, der die imbrianische Basaltschicht bis zu einer Aluminiumerz-Ader durchschlagen hatte, die zum feinsten gehörte, was das Hochland zu bieten hatte. Da die Förderung in dieser Anlage so überaus bequem war, war sie der Liebling der Geschäftsleitung, und Gunther überraschte es nicht zu erfahren, dass Kerr-McGee alles daransetzte, ihren Reaktor wieder in Betrieb zu nehmen.

Im Gelände wimmelte es von gleitenden Robotern und Stelzläufern und mobilen Werkern. Sie verteilten sich über die gesamte Produktionsstätte mit den Blasenkuppeln, die Schmelzöfen, die Ladedocks und Vakuumhallen. Sternbilder aus blauen Funken blinkten, während größere Anlagen abgebaut wurden. Flotten von schwerbeladenen Wagen schwärmten fächerförmig in die Mondebene aus und wirbelten Staub hinter sich auf. Fats Waller stimmte den Song an ›The Joint is Jumping‹, und Gunther lachte.

Er schaltete in den Kriechgang herunter, holte zu einem großen Bogen aus, um einer Gaspresse auszuweichen, die mit viel Geschrei auf einen Flachlader gehievt wurde, und bog in die Straße ein, die zur Rampe von Chatterjee B führte. Eine neue Landeplattform war direkt unter der Felskante aus dem Gestein gesprengt worden, und eine Traube von Leuten drängte sich um einen Bergungs-Automaten, der dort aufgestellt war. Ein Mensch und acht Ferngesteuerte.

Einer der Ferngesteuerten sprach und vollführte mit dem Arm abgehackte kleine Bewegungen. Einige standen untätig da, miteinander identisch wie so viele Telefone der alten Zeit, von der Geschäftsleitung auf der Erde nicht beansprucht, aber in Bereitschaft gehalten für den Fall, dass weitere Leitstellen in Betrieb genommen werden müssten.

Gunther löste Siegfried vom Dach der Fahrerkabine und lenkte ihn in Richtung Schnellbergungs-Springer, wobei er in einer Hand die Fernsteuerung und in der anderen die Kabelspule hielt.

Das menschliche Wesen trat vor und kam ihm entgegen. »Sie! Warum kommen Sie so spät?« E. Ismailowa trug einen wildgemusterten roten und orangefarbenen Wolga-Studio-Boutique-Anzug, der einen krassen Gegensatz bildete zu seinem Werksanzug mit dem G5-Schriftzug auf der Brust. Er konnte ihr Gesicht hinter dem golden glänzenden Visierglas nicht sehen. Doch er hörte es aus ihrer Stimme: stechende Augen, schmale Lippen.

»Ich hatte eine Reifenpanne.« Er entdeckte einen glatten Steinbrocken und legte die Kabelspule dort ab, wobei er sie ein paar Mal hin und her schob, um sicherzugehen, dass sie eben lag. »Wir haben so etwa fünfhundert Meter abgeschirmtes Kabel. Reicht Ihnen das?«

Ein kurzes, angespanntes Nicken.

»Okay.« Er nahm sein Bolzengewehr aus der Halterung. »Treten Sie zurück.« Er kniete sich hin und verankerte die Spule im Stein. Dann überprüfte er schnell hintereinander die Funktionen des Aggregats. »Wissen wir, wie es im Innern aussieht?«

Ein Ferngesteuerter regte sich, trat vor und stellte sich als Don Sakai vor, Mitglied des Krisenmanagements von G5. Gunther hatte schon mal mit ihm zusammengearbeitet: kein schlechter Bursche, doch wie die meisten Kanadier war er von einer übertriebenen Angst vor der Kernenergie durchdrungen. »Miss Lang von Sony-Reinpfaltz hat ihr Aggregat darauf angesetzt, doch die Strahlung war so stark, dass sie nach einer ersten Voruntersuchung die Kontrolle darüber verlor.« Ein zweiter Ferngesteuerter nickte zur Bestätigung, doch die Schaltzeit nach Toronto war so lang, dass Sakai es nicht bemerkte. »Der Ferngesteuerte lief einfach weiter.« Er hüstelte nervös und fügte dann überflüssigerweise hinzu: »Die autonomen Kreise waren zu empfindlich.«

»Nun, dieses Problem wird es bei Siegfried nicht geben. Er ist gefühllos wie ein Stein. Auf der Evolutionsskala maschineller Intelligenz liegt er entschieden näher bei einem Brecheisen als bei einem Computer.« Zweieinhalb Sekunden vergingen, dann lachte Sakai höflich. Gunther nickte der Ismailowa zu. »Leiten Sie mich bitte durch diesen Vorgang. Sagen Sie mir, was ich tun muss.«

Die Ismailowa trat neben ihn, und ihre Anzüge drückten sich einen Moment lang aneinander, als sie eine Koppelung in seine Fernbedienung stöpselte. Verschwommene Formen flackerten über die Außenseite ihres Visiers wie die Schatten von Träumen. »Weiß er, was er tut?«, fragte sie.

»He, ich …«

»Halt den Mund, Weil«, raunte Beth Hamilton ihm über einen privaten Schaltkreis zu. Offen sagte sie: »Er wäre nicht hier, wenn die Gesellschaft nicht volles Vertrauen zu seinen technischen Fähigkeiten hätte.«

»Ich bin überzeugt davon, dass nie ein Zweifel darüber …«, setzte Sakai an. Er versackte in Schweigen, als ihn Beth Hamiltons Worte mit Verzögerung erreichten.

»Auf dem Springer ist ein Demontagegerät«, sagte die Ismailowa zu Gunther. »Übernehmen Sie es.«

Er gehorchte und änderte Siegfrieds Konfiguration für eine kleine, dichte Last um. Das Aggregat beugte sich tief über das Bergungsfahrzeug und schloss die großen, empfindsamen Hände um das Gerät. Gunther wandte Druck an. Nichts geschah. Ein hartnäckiger Brocken. Langsam, vorsichtig gab er Kraft zu. Siegfried straffte sich.

»Die Straße rauf, dann rein und runter.«

Der Reaktor war nicht mehr zu erkennen, geschmolzen, verdreht und zusammengefaltet, ein Haufen Schlacke mit verbogenen Röhren, die aus den Rändern herausragten. Gleich zu Anfang des Vorfalls hatte es eine Explosion im Kühlsystem gegeben, und eine Wand des Kraters glitzerte von zerstäubtem Metall. »Wo ist das radioaktive Material?«, fragte Sakai. Obwohl er eine Drittelmillion Kilometer weit entfernt war, hörte er sich gespannt und aufmerksam an.

»Alles ist radioaktiv«, antwortete die Ismailowa.

Sie warteten. »Ich meine … Sie wissen schon. Die Brennstäbe?«

»In diesem Moment befinden sich Ihre Brennstäbe wahrscheinlich dreihundert Meter in der Tiefe und sind immer noch in Betrieb. Wir sprechen von spaltbarem Material, das eine kritische Masse erreicht hat. In einem sehr frühen Stadium des Prozesses werden die Brennstäbe zusammengeschmolzen sein zu einer Art superheißer Pfütze, die fähig ist, sich durch Felsgestein hindurchzubrennen. Stellen Sie es sich als einen dichten, schweren Wachsklumpen vor, der sich langsam einen Weg zum Mondkern bahnt.«

»Mein Gott, ich liebe die Physik«, sagte Gunther.

Der Helm der Ismailowa drehte sich zu ihm um, plötzlich ausdruckslos. Nach einer langen Pause schaltete er sich wieder ein und wandte sich ab. »Wenigstens ist die Straße nach unten sauber. Führen Sie Ihr Aggregat ganz bis zum Ende. Dort geht zur einen Seite ein Erkundungsschacht ab. Aus alten Zeiten. Ich möchte wissen, ob er noch offen ist.«

»Wird das eine Gerät ausreichen?«, fragte Sakai. »Um den Krater zu reinigen, meine ich.«

Die Aufmerksamkeit der Frau war darauf konzentriert, wie Siegfried vorankam. Zerstreut entgegnete sie: »Mr. Sakai, es würde ausreichen, eine Kette vor die Zugangsstraße zu spannen, um dieses ganze Gelände zu reinigen. Die Kraterwände würden jeden, der in der Nähe arbeitet, gegen die Gamma-Strahlen abschirmen, und es würde keinerlei Mühe bereiten, die Wegführung von Springern so umzuleiten, dass die Passagiere ihnen nicht ausgesetzt sind. Die größte biologische Gefahr beim Schmelzen eines Reaktors kommt von der Alpha-Strahlung, die von Teilchen-Radioisotopen in der Luft oder im Wasser stammt. Wenn sie im Körper konzentriert sind, können Aussender von Alpha-Strahlen beträchtlichen Schaden anrichten; anderswo nicht. Alpha-Teilchen können mit einem Blatt Papier aufgehalten werden. Solang man einen Reaktor aus dem Ökosystem fernhält, ist er so sicher wie jede andere größere Maschine. Einen zerstörten Reaktor zu begraben, nur weil er radioaktiv ist, ist unnötig und, wenn Sie mir diesen Ausdruck verzeihen, abergläubisch. Aber ich bin nicht für Politik zuständig. Ich jage das Zeug nur in die Luft.«

»Ist das der Schacht, um den es Ihnen geht?«, fragte Gunther.

»Ja. Gehen Sie bis zum Ende durch. Es ist nicht weit.«

Gunther schaltete Siegfrieds Brustlampe an und ließ ein Rollrelais hinunter, damit sich das Kabel nicht verhedderte. Sie stiegen hinunter. Endlich sagte die Ismailowa: »Halt! Das ist weit genug.« Er setzte das Gerät sanft ab und schlug nach ihrer Anweisung mit einem Ruck den Armierungsknebel herum. »So, das hätten wir«, sagte sie. »Bringen Sie Ihr Aggregat zurück. Ich habe Ihnen eine Stunde eingeräumt, um eine gewisse Entfernung zwischen sich und den Krater zu bringen.« Gunther bemerkte, dass sich die Ferngesteuerten bereits in Gang gesetzt hatten und sich entfernten.

»Ähm … ich muss noch Brennstäbe laden.«

»Nein, heute nicht. Der neue Reaktor ist wieder zerlegt und aus der Explosionszone gebracht worden.«

Gunter dachte jetzt an all die Gerätschaften, die abmontiert und aus dem Industriegelände entfernt worden waren, und zum ersten Mal kam ihm die außerordentliche Dimension des Unternehmens zu Bewusstsein. Üblicherweise wurden nur die empfindlichsten Apparaturen aus einem explosionsgefährdeten Gebiet weggeschafft. »Moment mal! Was für einen gewaltigen Sprengstoff planen Sie eigentlich einzusetzen?«

Die Miene der Ismailowa drückte so etwas wie selbstbewusste Arroganz aus. »Keinen, mit dem ich nicht umzugehen wüsste. Hier handelt es sich um ein Gerät der Diplomatenklasse, von der gleichen Bauart, wie ich vor fünf Jahren eins in Aktion gesehen habe. Annähernd einhundert individuelle Anwendungen, ohne ein einziges mechanisches Versagen. Das macht es zur zuverlässigsten Waffe in der Geschichte der Kriegsführung. Sie sollten es als eine besondere Gunst erachten, dass Sie die Gelegenheit bekommen, mit einer davon zu arbeiten.«

Gunther spürte, wie sein Fleisch zu Eis erstarrte. »Jesus Maria«, sagte er. »Sie haben mich mit einer Aktentaschen-Atombombe umgehen lassen.«