In Zeiten der Flut - Michael Swanwick - E-Book

In Zeiten der Flut E-Book

Michael Swanwick

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Beschreibung

Vor der Großen Flut

Der Planet Miranda hat einen so exzentrischen Orbit, dass seine Polkappen alle zweihundert Jahre schmelzen und den gesamten Planeten überfluten. Die einheimische Flora und Fauna ist an das Leben zu Land wie zu Wasser hervorragend angepasst, die Siedler von der Erde jedoch nicht. Als erneut eine Große Flut bevorsteht, werden die Kolonisten evakuiert. Doch Gregorian, der auf Miranda als Zauberer gilt, verspricht gegen Zahlung einer gewaltigen Geldsumme die Menschen so umzuwandeln, dass auch sie im Wasser überleben können. Die Abteilung für Techniktransfer vermutet, dass sich der ehemalige Wissenschaftler geheime Technik angeeignet und sie illegal nach Miranda gebracht hat. Sie schickt den Bürokraten aus, um Gregorian zu stellen. Doch dem Bürokraten bleibt nicht viel Zeit, denn die Flut rückt immer näher …

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MICHAEL SWANWICK

 

 

 

IN ZEITEN DER FLUT

 

Roman

 

 

 

 

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Das Buch

Der Planet Miranda hat einen so exzentrischen Orbit, dass seine Polkappen alle zweihundert Jahre schmelzen und den gesamten Planeten überfluten. Die einheimische Flora und Fauna ist an das Leben zu Land wie zu Wasser hervorragend angepasst, die Siedler von der Erde jedoch nicht. Als erneut eine Große Flut bevorsteht, werden die Kolonisten evakuiert. Doch Gregorian, der auf Miranda als Zauberer gilt, verspricht gegen Zahlung einer gewaltigen Geldsumme die Menschen so umzuwandeln, dass auch sie im Wasser überleben können. Die Abteilung für Techniktransfer vermutet, dass sich der ehemalige Wissenschaftler geheime Technik angeeignet und sie illegal nach Miranda gebracht hat. Sie schickt den Bürokraten aus, um Gregorian zu stellen. Doch dem Bürokraten bleibt nicht viel Zeit, denn die Flut rückt immer näher …

 

Der Autor

Michael Swanwick wurde am 18. November 1950 in Schenectady im US-Bundesstaat New York geboren. 1973 zog er nach Philadelphia, um Schriftsteller zu werden, doch es sollte sechs Jahre dauern, bis er seine erste Story beendete. 1980 veröffentlichte er seine ersten beiden Kurzgeschichten, die für den Nebula Award nominiert wurden. 1985 folgte sein Debütroman, »Die Todesschneise«, in dem der Unfall im Atomkraftwerk Three Mile Island deutlich nachhallt. »In Zeiten der Flut« gewann 1991 den Nebula Award. Michael Swanwick wurde zudem mit dem Theodore Sturgeon Memorial Award, dem World Fantasy Award und insgesamt fünf Hugo Gernsback Awards ausgezeichnet. Neben Science-Fiction- und Fantasy-Romanen schreibt Swanwick Reviews für die Zeitschrift New York Review of Science Fiction und veröffentlichte mehrere Biografien, Essays und Monografien zum Genre. Er lebt mit seiner Frau Marianne Porter und dem gemeinsamen Sohn Sean in Philadelphia.

 

 

 

 

 

www.diezukunft.de

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Titel der Originalausgabe

STATIONS OF THE TIDE

Aus dem Amerikanischen von Norbert Stöbe

Überarbeitete Neuausgabe

Copyright © 1991 by Michael Swanwick

Copyright © 2016 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Covergestaltung: Das Illustrat

Satz: Winfried Brand

ISBN 978-3-641-20076-3V002

randomhouse.de

Für meine Mutter,

Mrs. John Francis Swanwick,

in Liebe

Inhalt

 

1 – Der fliegende Leviathan

2 – Hexenkulte der Weißmarsch

3 – Der Tanz der Erben

4 – Sibyllen aus Stein

5 – Hunde in den Rosen

6 – Im Pilzregen verirrt

7 – Wer ist das Schwarze Tier?

8 – Unterhaltungen im Palast der Rätsel

9 – Das Wrack der Atlantis

10 – Eine Messe für die Toten

11 – Mitternachtssonne

12 – Über den alten Damm

13 – Weiter Ausblick

14 – Der Tag der Flut

Danksagungen

 

Der Autor ist folgenden Personen zu Dank verpflichtet: David Hartwell für seine Hinweise, worauf ich zu achten habe, Stan Robinson für den Alraune-Trick, Tim Sullivan und Greg Frost für ihre Anmerkungen in einem frühen Stadium und abermals Greg Frost für die Erfindung der Aktentaschen-Nanotechnik, Gardner Dozois für seine Erzählung ›Die Ketten der See‹ und dafür, dass er dem Bürokraten Nachhilfe in Überlebenstechnik gegeben hat. Marianne für Einblicke in die Bürokratie, Bob Walters für Dino-Teile, Alice Guerrant für die Walsuhle und andere Besonderheiten der Gezeitengewässer, Sean für das Suizidspiel, Don Keller für praktische Unterstützung, Jack und Jeanne. Dann für das Zitat von Bruno, das ich aus ihrem Hotelzimmer entwendet habe, als sie gerade nicht hinschauten, und Giulio Camillo für sein Gedächtnistheater, das hier zu einem Palast ausgebaut ist; Camillo war einer der berühmtesten Männer seines Jahrhunderts, ein Gedanke, bei dem wir alle einen Moment lang innehalten sollten. Zu viele Quellen haben zur Entstehung dieses Buchs beigetragen, als dass man sie alle erwähnen könnte, doch die C.L. Moore, Dylan Thomas, Brian Aldiss, Ted Hughes und Jamaica Kincaid entlehnten Motive sind zu augenfällig, als dass sie unerwähnt bleiben dürften. Dieser Roman entstand mit Hilfe eines Stipendiums der M.C. Porter-Stiftung.

1 – Der fliegende Leviathan

 

Der Bürokrat fiel vom Himmel.

Einen Moment lang lag Miranda blau und weiß unter ihm, die Eiskappen angeschwollen und kurz vor dem Schmelzen, und dann war er auch schon gelandet. Er fuhr mit dem Hochgeschwindigkeitszug über die Hochebene des Piedmont bis zum Heliostaten-Terminal in Port Richmond und nahm den ersten Flug nach außerhalb. Das Luftschiff Leviathan trug ihn über die Fall-Linie und die Wälder und Korallenhügel des Tidelands. Dort wimmelte es von hochspezialisierten Ökosystemen, die sich auf die magische Verwandlung durch die Große Flut vorbereiteten. In armseligen Dörfern und abgelegenen Siedlungen trafen die Menschen Vorkehrungen für die bevorstehende Evakuierung.

Der Salon des Leviathans war menschenleer. Die Hände hinter dem Rücken verschränkt, blickte der Bürokrat trübsinnig aus den Heckfenstern. Der Piedmont war trüb und blau, am Horizont dräute eine Gewitterfront. Er dachte an die Wasserfälle, wo Fischadler in der Thermik schwebten und wo der Mittagsfluss sich in Kaskaden in die Tiefe ergoss und seinen Namen verlor. Drunten wimmelte das Tideland von Leben, wie blaugrüner wuchernder Schimmel in einer Petrischale. Der Gedanke an all den Schlamm und die Armut dort unten bedrückte ihn. Er sehnte sich nach der kühlen, sterilen Umgebung des Weltraums.

Helle Lichtflecken trieben auf dem braunen Wasser, lange Reihen miteinander verbundener Hausboote wurden flussaufwärts geschleppt, da sich das reiche Bürgertum umsichtigerweise auf den Weg nach Port Richmond machte, solange die Frachtraten noch niedrig waren. Als er auf einen Fensterschalter drückte, sprang ihm der Dschungel entgegen, und die eben noch verschwommenen Bäume lösten sich in einzeln unterscheidbare Blätter auf. Der Schatten des Heliostaten wanderte am Nordufer des Flusses entlang, glitt über Schlammflächen hinweg, über schwankendes Schilf und knorrige Wassereichen. Auf einmal ließ sich eine aufgeschreckte Gruppe eichelähnlicher Polypen von einem tief hängenden Ast fallen und verschwand im Schlick, während sich an der Wasseroberfläche braune Kreise ausbreiteten.

»Wie das hier riecht«, meinte Kordas Surrogat.

Der Bürokrat schnüffelte. Er roch den schwachen Geruch der Blumenerde in den Körben mit Hängepflanzen und den süßlichen Duft des Vogelkots in den Käfigen aus geflochtener Weide. »Sollten mal wieder saubergemacht werden.«

»Romantisch sind Sie wirklich nicht.« Das Surrogat, das aussah wie ein trauriges Gerippe, stützte sich mit gestreckten Armen aufs Fensterbrett. Die flackernde Projektion von Kordas Gesicht wurde von der Glasscheibe schwach reflektiert. »Ich würde alles dafür geben, könnte ich an Ihrer Stelle dort unten sein.«

»Was spricht dagegen?«, fragte der Bürokrat mürrisch. »Sie sind der Vorgesetzte.«

»Keine Respektlosigkeiten. Das ist nicht bloß wieder so ein Fall von Schmuggel. Das ganze Konzept technischer Kontrolle steht hier auf dem Spiel. Wenn wir auch nur eine selbstreplizierende Technik durchgehen lassen – nun, Sie wissen ja, wie gefährdet das Gleichgewicht eines Planeten ist. Wenn die Abteilung überhaupt eine Existenzberechtigung hat, dann liegt sie genau hierin begründet. Darum wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie Ihren Negativismus dieses eine Mal einschränken würden.«

»Ich muss sagen, was ich denke. Dafür werde ich schließlich bezahlt.«

»Ein weitverbreiteter Irrtum.« Korda trat vom Fenster zurück, hob eine leere Konfektschale hoch und besah sich die Unterseite. Seine Bewegungen waren hektisch und zerfahren, was jeden, der ihn näher kannte, gewundert hätte. Korda persönlich war schwerfällig und lethargisch. Die Surrogation schien eine verschüttete Persönlichkeit zum Vorschein zu bringen, einen übertrieben mäkligen kleinen Mann, der normalerweise unterdrückt wurde. »Die einheimische Keramik ist am Boden stets unglasiert, ist Ihnen das schon aufgefallen?«

»Da steht sie im Brennofen drauf.« Korda machte ein verdutztes Gesicht. »Das ist ein Planet mit einer konstanten Schwerkraft. Man kann hier nicht in Schwerelosigkeit brennen.«

Korda schüttelte verwundert den Kopf und stellte die Schale wieder zurück. »Wollen Sie noch mehr wissen?«

»Ich habe um …«

»Amtsbefugnisse ersucht. Ja, ja, das Schreiben liegt auf meinem Schreibtisch. Ich fürchte, das ist vollkommen ausgeschlossen. Die Abteilung für Techniktransfer hat bei den örtlichen Behörden einen schweren Stand. Jetzt schauen Sie mich nicht so an. Ich habe Ihr Ersuchen über das Außenweltministerium zum Steinernen Haus weitergeleitet, und dort wurde es abgelehnt. Wenn’s um ihre Autonomie geht, sind sie hier empfindlich. Sie haben das Ersuchen gleich wieder zurückgeschickt. Mit zusätzlichen Einschränkungen – man ermahnt Sie ausdrücklich, keine Waffe zu tragen, keine Verhaftungen vorzunehmen und Verdächtigen gegenüber keinerlei Zwang anzuwenden.« Er griff zu einem Topf mit Hängepflanzen hoch und kippte ihn, um darin herumzustochern. Als er ihn losließ, schwang der Topf hin und her.

»Wie soll ich dann meine Arbeit tun? Soll ich etwa zu Gregorian gehen und sagen, entschuldigen Sie, ich habe zwar keine Befugnisse, dafür aber Grund zu der Annahme, dass Sie etwas an sich genommen haben, das Ihnen nicht gehört; würde es Ihnen etwas ausmachen, es zurückzugeben?«

In die Wandverkleidung unter den Fenstern waren mehrere Schreibtische eingebaut. Korda schwenkte einen heraus und untersuchte sorgfältig dessen Inhalt: Papier, Kohlestifte, Tintenlöscher. »Ich verstehe nicht, warum Sie sich deswegen soviel Kopfzerbrechen machen«, sagte er schließlich. »Spielen Sie nicht den Beleidigten, ich weiß, Sie können es schaffen. So tüchtig sind Sie, wenn Sie sich eine Sache in den Kopf gesetzt haben. Ach, das hätte ich fast vergessen. Das Steinerne Haus hat eingewilligt, Ihnen einen Verbindungsoffizier zuzuteilen. Einen gewissen Chu, vom inneren Abschirmdienst.«

»Wird er befugt sein, Gregorian festzunehmen?«

»Theoretisch, ja, nehme ich an. Aber Sie wissen, wie Planetenregierungen sind – praktisch wird er wohl eher ein Interesse daran haben, Sie im Auge zu behalten.«

»Na fabelhaft.« Ein bombastisches Wolkengebilde trieb auf sie zu, bewegt von Meereswinden, die auf der anderen Seite der Welt entstanden waren. Der Leviathan hob geringfügig den Bug, dann stürmte er weiter. Das Licht wurde grau, und ein Regenschauer ergoss sich über den Heliostaten. »Wir wissen nicht einmal, wo wir nach dem Mann suchen sollen.«

Korda klappte den Schreibtisch wieder ein. »Ich bin sicher, es wird Ihnen ein Leichtes sein, jemanden zu finden, der weiß, wo er steckt.«

Der Bürokrat blickte in das Unwetter hinaus. Regentropfen trommelten gegen das Gewebe der Gaszelle, prasselten gegen die Fensterscheiben und rauschten in die Tiefe. Der Wind trieb den Regen in mächtigen Böen heran, und heftige Schauer wechselten sich mit Phasen relativer Ruhe ab. Das Land löste sich auf, das Luftschiff blieb inmitten des Chaos zurück. Der Regen und die überlasteten Motoren machten einen solchen Lärm, dass man sich nur mit Mühe unterhalten konnte. Es war wie das Ende der Welt. »Ist Ihnen klar, dass das alles in ein paar Monaten überflutet sein wird? Wenn wir den Fall Gregorian bis dahin nicht gelöst haben, werden wir’s niemals schaffen.«

»So lange werden Sie nicht brauchen. Ich bin sicher, Sie werden früh genug wieder im Palast der Rätsel sein, um zu verhindern, dass Ihr Untergebener Ihren Posten übernimmt.« Kordas Gesicht lächelte, um anzuzeigen, dass er scherzte.

»Sie haben mir nicht gesagt, dass Sie meine Aufgaben jemand anderem übergeben haben. Wie kommen Sie überhaupt dazu, jemanden an meine Stelle zu setzen?«

»Philippe hat jedenfalls dankbar eingewilligt, die Stellung in der Zwischenzeit zu halten.«

»Philippe!« Im Nacken verspürte er ein kühles Prickeln, so als kreisten über ihm Haie. »Sie haben meinen Posten Philippe überlassen?«

»Ich dachte, Sie mögen ihn.«

»Ich mag ihn sehr«, sagte der Bürokrat. »Aber ist er auch der richtige Mann für den Posten?«

»Nehmen Sie’s nicht persönlich. Es liegt eine Menge Arbeit an, und Philippe kennt sich hervorragend damit aus. Soll die Abteilung etwa lahmgelegt werden, bloß weil Sie weg sind? Eine solche Einstellung möchte ich, ehrlich gesagt, nicht unterstützen.« Das Surrogat öffnete abermals den Schreibtisch, holte einen Fernseher heraus und schaltete ihn ein. Es drehte den Ton so weit herunter, bis nur noch ein Flüstern aus dem Lautsprecher kam, dann probierte es die Kanäle durch. Bild folgte auf Bild, doch keines stellte es zufrieden.

Der Leviathan brach aus den Wolken hervor. Als heller Sonnenschein in den Salon strömte, blinzelte der Bürokrat benommen. Der Schatten des Luftschiffs am Boden wurde eingerahmt von einem verschwommenen Regenbogen. Das Schiff hob sich freudig, als strebte es in den Himmel empor.

»Suchen Sie nach etwas Bestimmtem, oder spielen Sie bloß damit herum, weil Sie wissen, dass es Sie ärgert?«

Korda wirkte verletzt. Er straffte sich, wandte dem Gerät den Rücken zu. »Ich hatte gehofft, ich würde auf einen von Gregorians Werbespots stoßen, um eine Vorstellung zu bekommen, was da auf uns zukommt. Sei’s drum! Ich muss dringend wieder an die Arbeit. Seien Sie ein braver Junge und schauen Sie zu, dass Sie sich in dieser Angelegenheit vorbildhaft verhalten, hm? Ich verlasse mich auf Sie.«

Sie schüttelten sich die Hände, und Kordas Gesicht verschwand vom Surrogat. Das Gerät schaltete automatisch auf standby.

»Philippe!«, sagte der Bürokrat. »Diese Idioten!« Er war sich quälend deutlich der Tatsache bewusst, dass er rasch an Boden verlor. Er musste diesen Fall abschließen und so rasch wie möglich zum Palast der Rätsel zurückkehren. Philippe war ein raffgieriger Bursche. Der Bürokrat beugte sich vor und schaltete den Fernseher ab.

Als der Bildschirm verblasst war, wirkte alles geringfügig verändert, so als sei eine Wolke an der Sonne vorbeigezogen oder als habe sich ein Fenster in einen muffigen Raum aufgetan.

 

Eine Zeitlang saß er einfach bloß da und dachte nach. Der Salon war hell und luftig, in Wandhaltern zwischen den Fenstern waren Orchideenzweige arrangiert, und in den Korbkäfigen, die zwischen den Töpfen mit Hängepflanzen an der Decke befestigt waren, zwitscherten Vögel. Alles war auf Tourismus ausgerichtet, doch ironischerweise hatten die Planetenbehörden die Urlaubsorte im Tideland geschlossen, um eben diese Touristen abzuschrecken, denn die Erfahrung hatte gezeigt, dass Außenweltler den Evakuierungsbeamten gegenüber weniger fügsam waren als Einheimische. Trotz des offensichtlichen Luxus hatte man bei der Einrichtung größten Wert auf Gewichtsersparnis gelegt und ohne Rücksicht auf die Kosten nur die leichtesten Materialien verwendet. Die Treibstoffersparnis würde die zusätzlichen Kosten niemals aufwiegen; dies alles war reine Gehässigkeit gegenüber den außerplanetarischen Batterieherstellern.

Der Bürokrat reagierte empfindlich auf diese Art von Reibereien. Sie ergaben sich überall dort, wo die voranschreitende Grenze der technischen Kontrolle mit einheimischem Stolz zusammentraf.

»Verzeihen Sie, Sir.« Ein junger Mann mit einem kleinen Tisch trat ein. Er trug ein ungewöhnliches Gewand, das über und über mit funkelnden Monden und Sternen besetzt war, mit Fabelwesen und Ibissen, eingewoben in einen Stoff, der beim Gehen vom tiefsten Blau zum sattesten Rot und wieder zurück changierte. Er stellte den Tisch ab, hob ein Tuch hoch, unter dem ein leeres Goldfischglas zum Vorschein kam, und streckte eine weiß behandschuhte Hand aus. »Ich bin Leutnant Chu, Ihr Verbindungsoffizier.«

Sie schüttelten sich die Hände. »Ich dachte, mir sollte jemand vom inneren Abschirmdienst zugeteilt werden«, sagte der Bürokrat.

»Wir halten uns gern ein wenig bedeckt, wenn wir im Tideland operieren, wissen Sie.« Chu öffnete das Gewand. Darunter trug er eine blaue Fliegeruniform. »Gegenwärtig gebe ich mich als Unterhaltungsoffizier aus.« Er breitete die Arme aus und neigte kokett den Kopf, als erwartete er ein Kompliment. Der Bürokrat gelangte zu dem Schluss, dass er Chu nicht mochte.

»Das ist lächerlich. Diese ganze Heimlichtuerei ist völlig unnötig. Ich will doch bloß mit dem Mann reden, das ist alles.«

Ein ungläubiges Lächeln. Chu hatte Wangen wie Bälle und ein kleines sternförmiges Mal am linken Auge, das verschwand, wenn er die Mundwinkel hochzog. »Was werden Sie tun, wenn Sie ihm gegenüberstehen, Sir?«

»Ich werde ihn befragen und feststellen, ob er im Besitz von technischer Konterbande ist. Falls ja, ist es meine Aufgabe, ihm seine Verantwortung klarzumachen und ihn zu überzeugen, sie zurückzugeben. Weiter reichen meine Befugnisse nicht.«

»Angenommen, er weigert sich. Was werden Sie dann tun?«

»Nun, ich werde ihn bestimmt nicht zusammenschlagen und ins Gefängnis schleppen, falls Sie das meinen.« Der Bürokrat tätschelte seinen Bauch. »Sehen Sie sich bloß mal diese Wampe an.«

»Vielleicht«, sagte Chu wohlüberlegt, »verfügen Sie ja über technische Zusatzkräfte, wie man sie im Fernsehen sieht. Wie Muskelimplantate und dergleichen.«

»Verbotene Technik bleibt verbotene Technik. Wenn wir sie anwendeten, wären wir nicht besser als die Kriminellen.« Der Bürokrat hüstelte, dann sagte er mit plötzlichem Enthusiasmus: »Wo fangen wir an?«

Der Verbindungsoffizier richtete sich ruckartig wie eine Marionette auf, plötzlich ganz bei der Sache. »Wenn es Ihnen recht ist, Sir, würde ich zunächst gern erfahren, wie viel Sie über Gregorian wissen, welche Anhaltspunkte Sie haben und so weiter. Dann werde ich meinerseits Bericht erstatten.«

»Vor allem ist er ausgesprochen charmant«, sagte der Bürokrat. »Das meint jeder, mit dem ich gesprochen habe. Ein eingeborener Mirandaner von irgendwo aus dem Tideland. Seine Herkunft liegt ziemlich im dunkeln. Einige Jahre war er in den biowissenschaftlichen Labors des Äußeren Kreises beschäftigt. Hat meines Wissens gute Arbeit geleistet, aber nichts Außergewöhnliches. Vor etwa einem Monat hat er dann gekündigt und ist nach Miranda zurückgekehrt. Soviel ich weiß, ließ er sich als eine Art Buschzauberer nieder. Als eine Art Medizinmann oder so, darüber wissen Sie bestimmt mehr als ich. Kurz nach seinem Weggang stellte man allerdings fest, dass er möglicherweise wichtige verbotene Technik entwendet hat. Daraufhin wurde die Behörde für Techniktransfer eingeschaltet.«

»Das müsste eigentlich ausgeschlossen sein.« Chu lächelte spöttisch. »Es heißt, das Embargo von Techtransfer sei nicht zu umgehen.«

»So was kommt vor.«

»Was wurde gestohlen?«

»Tut mir leid.«

»Ach, so wichtig also?« Chu schnalzte nachdenklich mit der Zunge. »Und was wissen Sie sonst noch über ihn?«

»Erstaunlich wenig. Wir kennen natürlich sein Aussehen, wir haben seinen genetischen Fingerabdruck, die üblichen Persönlichkeitsprofile. Interviews mit einigen Bekannten. Anscheinend hat er keine echten Freunde und redet nie über seine Vergangenheit. Im Rückblick scheint klar, dass er seine Akte möglichst sauber halten wollte. Er muss das Verbrechen seit Jahren geplant haben.«

»Haben Sie ein Dossier über ihn?«

»Eine Kopie von Gregorians Dossier«, sagte der Bürokrat. Er öffnete die Aktentasche, holte das Dossier heraus und schüttelte es ein wenig.

Chu verrenkte sich vor Neugier fast den Hals. »Was haben Sie denn sonst noch da drin?«

»Nichts«, meinte der Bürokrat. Zum Beweis, dass die Aktentasche leer war, drehte er sie herum, dann reichte er Chu das Dossier. Es war in dem weißen Lotosformat gedruckt, das auf den hohen Welten im Moment gerade beliebt war, und auf Taschentuchgröße zusammengefaltet.

»Danke.« Chu hielt das Dossier über den Kopf und schwenkte die Hand. Das Papierquadrat verschwand. Zum Beweis, dass seine Hand leer war, drehte er sie wiederholt um.

Der Bürokrat lächelte. »Machen Sie das noch einmal.«

»Oh, die erste Zauberregel lautet, man soll denselben Trick nie zweimal in Folge vorführen. Das Publikum weiß dann nämlich, worauf es zu achten hat.« Seine Augen glitzerten unverschämt. »Dürfte ich Ihnen noch etwas anderes zeigen?«

»Ist es wichtig?«

Chu zuckte die Achseln. »Jedenfalls ist es lehrreich.«

»Machen Sie nur«, sagte der Bürokrat. »Wenn es nicht zu lange dauert.«

Chu öffnete einen Käfig und holte einen Regenvogel heraus. »Danke.« Mit einer Handbewegung dimmte er die Fenster, bis der Salon im Halbdunkel lag. »Ich beginne meine Vorstellung mit folgendem Kunststück.«

Er verneigte sich tief und vollführte eine schwungvolle Gebärde. Seine Bewegungen waren ruckartig, entschieden, künstlich. »Willkommen, liebe Freunde, Landsleute und Außenweltler. Es ist meine Aufgabe, Sie heute mit Taschenspielertricks und wissenschaftlichen Mätzchen zu unterhalten und zu erfreuen.« Er zwinkerte vielsagend. »Dann lasse ich mich ein wenig über die Mutationsfreudigkeit des hiesigen Lebens und die zahllosen Formen der Anpassung an die Große Flut aus. Während die terranische Flora und Fauna – wir selber ausdrücklich eingeschlossen – der Rückkehr des Meeres nicht zu trotzen vermögen, stellt sie für die einheimischen Lebensformen lediglich ein vorübergehendes und wiederkehrendes Ereignis dar. Die Evolution, die endlosen Äonen der periodischen Überflutung … bla, bla, bla. Hin und wieder vergleiche ich die Natur mit einem Magier – womit ich natürlich auf mich selbst anspiele –, der die Veränderungen mit einer Handvoll Zaubertricks bewirkt. Was zu der Bemerkung überleitet, dass ein großer Teil der einheimischen Fauna dimorph ist, was lediglich bedeutet, dass sie in zwei unterschiedlichen Formen auftritt, je nachdem, welche Jahreszeit gerade herrscht.

Dann demonstriere ich es.« Er streichelte sanft den Kopf des Regenvogels, der auf seinem Zeigefinger saß. Die langen Schwanzfedern hingen wie Schmuckanhänger herab. »Der Regenvogel ist ein typisches Wandeltier. Wenn sich die Lebensverhältnisse im Tideland ändern, wenn das Meer ansteigt und den halben Kontinent überschwemmt, passt er sich in seiner Erscheinung an.« Plötzlich tauchte Chu beide Hände tief in das Goldfischglas. Der Vogel wehrte sich heftig und verschwand in einem Wirbel aus Blasen und Sand.

Der Illusionist hob die Hände aus dem Wasser. Der Bürokrat bemerkte, dass er nicht einmal nasse Ärmel bekommen hatte.

Als das Wasser klar wurde, schwamm darin aufgeregt ein bunter Fisch, der lange Schwanzflossen hinter sich herzog. »Schauen Sie!«, rief Chu. »Der Sperlingsfisch – in der Sommergestalt ein Flugtier, im Winter ein Wassertier. Eines der Wunder, welche die Natur hier für uns bereithält.«

Der Bürokrat applaudierte. »Ausgezeichnet gemacht«, sagte er mit einem Anflug von Ironie.

»Ich zeige auch Zauberkunststücke mit einem Behälter voll flüssigem Helium. Zersplitternde Rosen und dergleichen.«

»Ich glaube, das wird nicht nötig sein. Sie sagten, Sie verfolgten mit Ihrer Demonstration eine bestimmte Absicht?«

»Gewiss.« Die Augen des Illusionisten glitzerten. »Und zwar folgende: Ich wollte zeigen, dass es sehr schwer sein wird, Gregorian zu fangen. Er ist ein Zauberer, verstehen Sie, und er ist im Tideland geboren. Er kann seine Gestalt verändern oder die seiner Feinde, wie es ihm passt. Er kann mit Gedanken töten. Wichtiger noch, er kennt sich hier aus, und Sie nicht. Er kann seine Macht gegen Sie wenden.«

»Sie glauben doch nicht im Ernst, dass Gregorian ein Zauberer ist? Dass er übernatürliche Kräfte hat, meine ich.«

»Das wollte ich damit sagen.«

Angesichts dieser fanatischen Gewissheit fehlten dem Bürokraten die Worte. »Ähem … Ja. Ich danke Ihnen für die Warnung. Was halten Sie davon, wenn wir uns jetzt an die Arbeit machen?«

»Natürlich, Sir, sofort, Sir.« Der junge Mann fasste sich erst an die eine Tasche, dann an die andere. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich, wurde gequält. In verlegenem Ton sagte er: »Äh … ich fürchte, ich habe meine Unterlagen im vorderen Laderaum gelassen. Wenn Sie sich einen Moment gedulden würden?«

»Natürlich.« Der Bürokrat versuchte seine Genugtuung über das Unbehagen des jungen Mannes zu verbergen.

Als Chu gegangen war, wandte sich der Bürokrat wieder dem vorbeiziehenden Wald zu. Das Luftschiff schwang sich empor und beschrieb eine Kurve, dann neigte es den Bug und sank in die Tiefe. Der Bürokrat erinnerte sich daran, wie er es zum ersten Mal in Port Richmond gesehen hatte, als es in schiefem Winkel angelegt hatte. Mit seinen Schwanzflossen, Aufzügen und Hebeplattformen transzendierte das gewaltige Luftschiff irgendwie seine antiquierte Hässlichkeit. Es war ganz langsam heruntergeschwebt, anmutig, mit donnernden Rotoren. Sein Bauch war von Klettfliegen bedeckt, und Ankertrossen hingen vom Maul herab wie Riementang.

Wenige Minuten später machte der Leviathan an einem Heliostatenturm am Rande des staubigen kleinen Flussstädtchens fest. Eine einsame, in makelloses Weiß gekleidete Gestalt kletterte eine Strickleiter hinauf, dann legte der Heliostat wieder ab. Niemand war ausgestiegen.

Die Salontür öffnete sich, und eine schlanke Frau in der Uniform des inneren Abschirmdienstes trat ein. Sie näherte sich dem Bürokraten und reichte ihm ihre Papiere. »Verbindungsleutnant Emilie Chu«, sagte sie. Und nach einer Pause: »Sir? Fühlen Sie sich nicht gut?«

2 – Hexenkulte der Weißmarsch

 

Gregorian küsste die alte Frau und stieß sie von der Felswand. Mit zuckenden Gliedmaßen stürzte sie kopfüber ins kalte graue Wasser. Als sie aufschlug und tief in die Dünung tauchte, spritzte weißer Gischt. Sie kam nicht wieder hoch. In einiger Entfernung hob sich etwas Dunkles, Schlankes aus dem Wasser, das an einen Otter erinnerte, dann tauchte es und verschwand.

»Das ist ein Trick«, sagte der echte Leutnant Chu. Auf dem Bildschirm verblasste Gregorians Gesicht: massig, lebenserfahren, zuversichtlich. Seine Lippen bewegten sich lautlos. Sei das, wozu du bestimmt bist. Nach der fünften Wiederholung hatte der Bürokrat den Ton abgestellt, doch er kannte die Worte inzwischen auswendig. Leg ab deine Schwäche. Wage es, ewig zu leben. Der Werbespot endete und fing wieder von vorne an.

»Ein Trick? Wie das?«

»Ein Vogel kann sich nicht von einem Moment zum anderen in einen Fisch verwandeln. Ein solcher Umwandlungsprozess braucht Zeit.« Leutnant Chu krempelte einen Ärmel hoch und griff ins Goldfischglas. Der Sperlingsfisch wich ihr aus, seine hellen Schwanzflossen huschten durchs Wasser. Dunkler Sand wurde aufgewirbelt und verdeckte ihnen vorübergehend die Sicht. »Der Sperlingsfisch ist ein Höhlenbewohner. Als Gregorian den Vogel ins Wasser tauchte, war er im Sand versteckt. Ein rasche Handbewegung, so«, sie machte es vor, »und der Vogel ist tot. Dann steckt man ihn in den Sand, während der Fisch gleichzeitig hervorkommt.«

Sie legte den kleinen toten Körper auf den Tisch. »Ganz einfach, wenn man weiß, wie’s gemacht wird.«

Gregorian küsste die alte Frau und stieß sie von der Felswand. Mit zuckenden Gliedmaßen stürzte sie kopfüber ins kalte graue Wasser. Als sie aufschlug und tief in die Dünung tauchte, spritzte weißer Gischt. Sie kam nicht wieder hoch. In einiger Entfernung hob sich etwas Dunkles, Schlankes aus dem Wasser, das an einen Otter erinnerte, dann tauchte es und verschwand.

Der Bürokrat schaltete den Fernseher aus.

Die Verbindungsoffizierin lehnte mit geradem Rücken am Fenster und rauchte einen dünnen schwarzen Zigarillo, die Bügelfalten ihrer Uniform waren messerscharf. Emilie Chu war dünn, ein Rasseweib mit zynischen Augen und einem spöttischen Lächeln um den Mund. »Keine Nachricht von Bergier. Offenbar ist mein Doppelgänger entwischt.« Sie streichelte mit kühler Belustigung ihren kaum sichtbaren Schnurrbart.

»Wir wissen nicht, ob er bereits von Bord gegangen ist«, erinnerte sie der Bürokrat. Die Fenster waren jetzt klar, und in der frischen, hellen Luft erschien die Begegnung mit Chu jetzt unwirklich, wie der Stoff, aus dem Reiseanekdoten sind. »Sprechen wir mit dem Kommandanten.«

Der rückwärtige Beobachtungsraum war voller uniformierter Schulmädchen von der Laserfield-Akademie, die einen Tagesausflug unternahmen. Während der Bürokrat hinter Chu eine Leiter hochkletterte und durch eine Luke ins Innere des Gasbehälters stieg, stießen sie sich gegenseitig an und kicherten. Als sich die Luke schloss, befand sich der Bürokrat im Innern der dreieckigen Kielverstrebung. Zwischen den hochaufragenden Gaszellen war es dunkel, und die schmale Reihe der Deckenleuchten vermittelte eher einen Eindruck der gewaltigen Ausmaße des Leviathans, als dass sie Licht gespendet hätten. Ein weibliches Besatzungsmitglied sprang neben ihnen auf den Verbindungssteg. »Passagiere haben hier keinen …« Als sie Chus Uniform sah, straffte sie sich.

»Zum befehlshabenden Piloten Bergier, bitte«, sagte der Bürokrat.

»Sie wollen den Kommandanten sprechen?« Die Frau starrte ihn an, als wäre er eine Sphinx, die aus dem Nichts materialisiert war, um ihr ein besonders kniffliges Rätsel zu stellen.

»Wenn es Ihnen nicht zu viele Umstände macht«, sagte Chu mit leiser Drohung.

Die Frau machte auf den Fersen kehrt. Sie führte sie durch den Schlund des Luftschiffs zum Bug, wo eine dermaßen steile Treppe zur Pilotenkanzel hochführte, dass sie auf allen vieren hinaufgehen mussten. Von der dunklen Holztür schimmerte ihnen eine Einlegearbeit aus Elfenbein entgegen, ein phallisches Rosenmuster. Die Frau klopfte dreimal kurz hintereinander, dann packte sie eine Strebe und schwang sich mit affenartiger Gewandtheit ins Dunkel hoch. Eine tiefe Stimme grollte: »Herein.«

Sie öffneten die Tür und traten hindurch.

Die Pilotenkanzel war klein. Die Windschutzscheibe war verdunkelt, so dass der Raum allein von den zahllosen Navigationsschirmen im Vordergrund erhellt wurde. Es roch nach Schweiß und muffiger Kleidung. Bergier, der Kommandant, stand über die Monitore gebeugt und wirkte wie ein betagter Adler. Sein Gesicht war ein bleicher Schnabel, der, als er das Kinn hob, auf einmal edel wirkte; ein Poet mit schütterem Bart, der über den leuchtenden Gefilden seiner Welt brütete. Als er sich umwandte, war sein Blick auf eine ferne Tragödie gerichtet, die ergreifender war, als es jede gegenwärtige Gefahr je hätte sein können. Unter den Augen hatte er dunkle, tief eingegrabene Ringe. »Ja?«, sagte er.

Leutnant Chu salutierte schneidig, und der Bürokrat, dem gerade noch rechtzeitig einfiel, dass sämtliche Luftschiffkommandanten gleichzeitig auch für den inneren Abschirmdienst arbeiteten, zeigte seine Papiere vor. Bergier besah sie sich, reichte sie zurück. »Nicht jeder heißt Ihresgleichen auf unserer Welt willkommen, Sir«, sagte der Kommandant. »Sie halten uns in Armut, Sie leben von unserer Arbeit, Sie beuten unsere Bodenschätze aus und haben nichts als Herablassung für uns übrig.«

Der Bürokrat blinzelte überrascht. Ehe er sich eine Antwort zurechtlegen konnte, fuhr der Kommandant fort: »Jedenfalls bin ich Offizier und kenne meine Pflichten.« Er steckte sich eine Tablette in den Mund und saugte geräuschvoll daran. Ein faulig-süßer Geruch breitete sich in der Kabine aus. »Stellen Sie Ihre Forderungen.«

»Ich habe keine Forderungen«, setzte der Bürokrat an. »Ich möchte bloß …«

»Hier spricht die Stimme der Macht. Sie halten die Technik unter Verschluss, die Miranda in ein Paradies verwandeln könnte. Sie kontrollieren die Fertigungsverfahren, die es Ihnen gestatten, unsere Wirtschaft nach Belieben zu unterhöhlen. Wir sind auf Gedeih und Verderb Ihrem Wohlwollen ausgeliefert. Dann kommen Sie mit diesem Schreiben hier hereinspaziert und stellen Forderungen, die Sie zweifellos lieber als Ersuchen bezeichnen, und tun so, als wäre es zu unserem eigenen Wohl. Wir wollen dieses Verhalten doch nicht scheinheilig bemänteln, Sir.«

»Die Technik hat auf der Erde nicht unbedingt ein ›Paradies‹ geschaffen. Oder unterrichtet man hier keine klassische Geschichte?«

»Die typische Zurschaustellung von Arroganz. Sie verweigern uns unser materielles Erbe und erwarten auch noch von mir, dass ich Ihnen dafür danke. Nein, Sir, kommt gar nicht in Frage. Ich habe auch meinen Stolz. Und ich …« Er brach ab. In der plötzlichen Stille sah man, wie sein Kopf hin und wieder herabsank, als kämpfte er gegen den Schlaf. Sein Mund klappte auf und zu, auf und zu. Seine Augen schwenkten langsam zur Seite, als suchte er nach einem verlorenen Gedankenfaden. »Und … äh … Und … äh …«

»Der Illusionist«, beharrte der Bürokrat, »der sich als Leutnant Chu ausgibt. Haben Sie ihn schon gefunden?«

Bergier straffte sich, fand seine unerschütterliche Ruhe wieder. »Nein, Sir, das haben wir nicht. Wir haben ihn nicht gefunden, denn er ist nicht mehr hier. Er hat das Schiff verlassen.«

»Das kann nicht sein. Sie haben einmal angelegt, und niemand ist von Bord gegangen. Ich habe zugesehen.«

»Wir fliegen zum Meer. Wir sind so gut wie unbesetzt. Auf dem Rückflug, da könnte mir ein agiler, entschlossener Mann vielleicht entgehen. Aber ich habe jeden einzelnen Passagier überprüft und habe meine Crew in jeden einzelnen Frachtraum und jede Gerätekammer des Leviathans hineinschauen lassen. Ich habe sogar einen Techniker mit einem Flugtornister zu den Auslassventilen hochgeschickt. Ihr Mann ist nicht mehr an Bord.«

»Das lässt sich nur so erklären, dass er seine Flucht im Voraus geplant hat. Vielleicht hatte er einen Faltgleiter an Bord versteckt«, schlug Chu vor. »Für einen athletischen Mann dürfte das nicht schwer gewesen sein. Er hätte bloß ein Fenster zu öffnen und wegzufliegen brauchen.«

Wahrscheinlicher war, dachte der Bürokrat, und der Gedanke traf ihn mit der Wucht des Unvermeidlichen, wahrscheinlicher war, dass der Mann den Piloten einfach bestochen hatte, damit der ihm etwas vorlog. Um seinen Verdacht zu kaschieren, sagte er: »Mich wundert nur, dass Gregorian sich solche Umstände gemacht hat, um herauszufinden, wie viel wir über ihn wissen. Es scheint kaum der Mühe wert.«

Bergier blickte finster auf die Monitore und schwieg. Er betätigte einen Schalter, worauf sich das Motorengeräusch veränderte und tiefer wurde. Ganz allmählich wendete das Schiff.

»Er hat Sie einfach bestochen«, meinte Chu. »So einfach ist das.«

»Glauben Sie wirklich?«, fragte der Bürokrat ungläubig.

»Zauberern ist nichts unmöglich. Ihren Gedankengängen ist nicht leicht zu folgen. Hey! Vielleicht war das sogar Gregorian persönlich? Er hat schließlich Handschuhe getragen.«

»Fotos von Gregorian und von Ihrem Doppelgänger«, sagte der Bürokrat. »In Vorderansicht und im Profil.« Er holte sie aus der Aktentasche, schüttelte die Feuchtigkeit ab und legte sie nebeneinander vor die Monitore. »Nein, schauen Sie sich die doch mal an – der Gedanke ist wirklich abwegig. Was sollen denn nun die Handschuhe damit zu tun haben?«

Chu verglich die hochgewachsene, bullige Gestalt Gregorians sorgfältig mit ihrem schlanken Doppelgänger. »Nein«, pflichtete sie dem Bürokraten bei. »Betrachten Sie nur mal die Gesichter.« Sogar auf dem Foto strahlte eine dunkle, animalische Kraft von Gregorian aus. Er wirkte eher wie ein Minotaurus als wie ein Mann, so kräftig waren seine Kiefer und so üppig seine Brauen, dass man hinter seiner Unscheinbarkeit etwas Tiefgründiges zu erkennen meinte. Im Schlaf hätte dieses Gesicht hässlich gewirkt, doch mit einem Zucken der Mundwinkel, einem Blinzeln würde es zu Schönheit erwachen. Es war ausgeschlossen, dass sich dieses Gesicht hinter der rosigen Rundheit des falschen Chu verborgen hatte.

»Unser Eindringling trug Handschuhe, weil er ein Zauberer ist.« Leutnant Chu bewegte nervös die Finger. »Zauberer tätowieren sich für jedes Wissensgebiet, das sie beherrschen, die Hände, angefangen vom Mittelfinger bis hinauf zu den Handgelenken. Bei einem Magus reichen sie bis zu den Ellbogen. Schlangen und Monde und was nicht noch alles. Hätten Sie seine Hände gesehen, würden Sie ihn niemals für einen Offizier vom Piedmont gehalten haben.«

Bergier räusperte sich, und als sie sich beide zu ihm umwandten, sagte er: »Mit der Technik, die Sie uns vorenthalten, könnte ein einzelner Mann dieses Schiff steuern. Er könnte sämtliche Aufgaben von der Gepäckverwahrung bis zum Passagierservice erfüllen, ohne auch nur einen einzigen Gehilfen zu haben.«

»Die gleiche Technik würde Ihren Job überflüssig machen«, erklärte der Bürokrat. »Glauben Sie wirklich, Ihre Regierung würde sich einen so teuren Luxus wie dieses Luftschiff leisten, wenn sie eine Flotte schneller, billiger, die Atmosphäre zerstörender Shuttle haben könnte?«

»Die Tyrannei hat immer logische Argumente.«

Ehe der Bürokrat antworten konnte, warf Chu ein: »Wir haben Gregorians Mutter ausfindig gemacht.«

»Tatsächlich?«

»Ja.« Chus großspuriges Grinsen ließ darauf schließen, dass sie von selbst darauf gekommen war. »Sie lebt in einem Flussstädtchen gleich hinter Lightfoot. Dort gibt es keine Heliostatenstation, aber wir können uns von jemandem ein Boot leihen, es ist nicht weit. Dieser Ort wäre am besten geeignet, um mit unseren Nachforschungen zu beginnen. Anschließend nehmen wir uns die Fernsehspots vor und versuchen das Geld zurückzuverfolgen. Sämtliche Sendungen werden vom Piedmont ausgestrahlt, aber wenn Sie den Spots nachgehen wollen, an der Heliostatenstation gibt es ein Gate, das ist kein Problem.«

»Als Erstes besuchen wir morgen die Mutter«, meinte der Bürokrat. »Ich hatte allerdings schon früher mit Planetenbanken zu tun, und ich habe ernsthafte Zweifel, dass wir das Geld werden zurückverfolgen können.«

Bergier sah ihn geringschätzig an. »Geld lässt sich immer zurückverfolgen. Es hinterlässt eine Schleimspur, wo immer es hingeht.«

Der Bürokrat lächelte skeptisch. »Das ist sehr aphoristisch.«

»Lachen Sie mich bloß nicht aus! Als ich jünger war, hatte ich fünf Frauen im Tideland.« Bergier steckte sich eine weitere Tablette in den Mund, hüllte sie in Speichel. »Ich hatte sie optimal platziert und in solchen Abständen entlang meiner Route verteilt, dass keine etwas von der Existenz der anderen ahnte.« Der Bürokrat merkte, dass der Kommandant nicht mitbekam, wie Chu die Augen verdrehte. »Doch dann kam ich dahinter, dass mir meine Ysolt untreu war. Vor Eifersucht drehte ich beinahe durch. Das war, kurz nachdem man die Hexenkulte ausgemerzt hatte. Ich kehrte nach wochenlanger Abwesenheit zu ihr zurück. Mann, war die scharf. Ihre Periode hatte gerade eingesetzt. Das ganze Haus roch nach ihr.« Seine Nasenflügel weiteten sich. »Sie können sich nicht vorstellen, wie sie manchmal war. Als ich zur Tür reinkam, warf sie mich auf den Boden und riss meine Uniform auf. Sie war nackt. Es war, als würde ich von einem Wirbelsturm vergewaltigt. Ich musste dauernd daran denken, dass wir einen Skandal in der Nachbarschaft vermeiden mussten.

Ich glaube, das hätte einen Fisch zum Lachen gebracht, wie ich da unter dieser kleinen Wildkatze strampelte. Rot im Gesicht, halb nackt und mit einem Arm fuchtelnd, um die Tür zu schließen.

Schön und gut. Ich war ein junger Mann. Aber was sie alles mit mir anstellte! Irgendwie hatte sie Dinge gelernt, die ich ihr nicht beigebracht hatte. Manches davon war mir völlig unbekannt. Wir waren schon seit Jahren verheiratet. Und jetzt auf einmal hatte sie neue Vorlieben entwickelt. Wie war sie darauf gekommen, hm? Wie bloß?«

»Vielleicht hatte sie ein Buch gelesen«, meinte Chu trocken.

»Ach was! Sie hatte einen Liebhaber! Soviel war klar. Ysolt war keine gerissene Person. Sie war wie ein Kind, das mir ein neues Spielzeug zeigte. Probieren wir doch mal das aus, sagte sie … Tun wir mal so, als wärst du die Frau und ich der Mann … Diesmal rühre ich mich nicht vom Fleck, und du kannst … Es dauerte Stunden, bis sie mir alles gezeigt hatte, was sie gelernt hatte – ›ausgedacht‹, behauptete sie – und ich hatte genügend Zeit, darüber nachzugrübeln, wie ich mich verhalten sollte.

Als ich wegging, war es dunkel. Sie schlief sich aus, ihr langes schwarzes Haar klebte an ihren verschwitzten kleinen Brüsten. Was für ein engelsgleiches Lächeln um ihre Lippen spielte! Ich wollte herausfinden, wer mir Hörner aufgesetzt hatte, und ich nahm eine Waffe mit. Ich sagte mir, dass er leicht zu finden sein müsse. Ein Mann mit solchen Fertigkeiten, wie Ysolt sie unter Beweis gestellt hatte, musste in der einschlägigen Gegend bekannt sein.

Ich ging zum Flussufer, zu den Kaschemmen und Bordellen, und stellte ein paar Fragen. Sie meinten, ja, ein Mann mit den erwähnten Fertigkeiten sei vor kurzem hier durchgekommen.« Aus einem verborgenen Lautsprecher kam ein respektvolles Murmeln, und Bergier betätigte einen Schalter. »Trimmen Sie den Backbordaerostaten notfalls von Hand. Ja. Nein. Sie wissen, was Sie zu tun haben.« Lange Zeit schwieg Bergier unglücklich. Der Bürokrat glaubte schon, er habe den Faden verloren, doch dann erzählte er weiter.

»Ich konnte den Mann jedoch nicht finden. Alle hatten von ihm gehört – die Kunde hatte sich verbreitet wie der neueste dreckige Witz –, und obwohl viele andeuteten, sie hätten mit ihm geschlafen, war er trotzdem nirgends zu finden. Damals, nach der Unterdrückung der Weißmarsch, trieben sich eine Menge seltsame Typen herum, und ein Sex-Artist war an sich gar nichts Besonderes. Man sagte mir, er sei mittelgroß, ordentlich gekleidet und habe einen trockenen Humor. Er rede wenig, ließe sich von den Frauen aushalten, habe dunkle Augen und blinzele nur selten. Die Flussgegend wimmelte jedoch von Leuten, die etwas zu verbergen hatten. Ein vorsichtiger Mann konnte sich ewig dort verstecken, und er war der vorsichtigste Mensch, den man sich nur denken kann. Er bewegte sich ungesehen und unbemerkt durchs Nachtleben, versprach niemandem etwas, hatte keine Freunde, keine festen Angewohnheiten. Es war, als stocherte man in Watte! Er war nirgends zu finden.

Nach ein paar Tagen änderte ich meine Taktik. Ich wollte, dass Ysolt ihn für mich fand. Darum machte ich mich impotent. Wissen Sie wie? Mit meiner Faust. Mit der guten alten Lady und ihren fünf Töchtern. Als Ysolt zu mir kam, wollte der alte Soldat um nichts in der Welt vor ihr salutieren. Ich zwang sie, sich Abwechslung zu suchen. Natürlich tat ich so, als sei ich verlegen, gedemütigt, besorgt. Nach einer Weile weigerte ich mich einfach, es noch einmal zu probieren.

Jedenfalls nahm sie wieder zu ihrem Liebhaber Zuflucht, zu dem Mann mit der außergewöhnlichen Erfahrung. Sie kehrte mit Atemübungen und Entspannungstechniken zurück, die eigentlich hätten funktionieren müssen, aber das taten sie nicht. Die ganze Zeit über verhielt ich mich ihr gegenüber abweisend und distanziert. Es lag nahe, dass sie annahm, ich gäbe ihr die Schuld an meinem Versagen. Als mich die Gesellschaft wieder zum Dienst rief, war sie bereit, alles zu versuchen, um mich zu heilen.

Bei meinem nächsten Besuch hatte sie einen Mann ›ausfindig gemacht‹, der mir in meiner Not helfen könne. Sie wusste, dass ich von den Anhängern des Hexenkults nichts hielt. Er könne jedoch einen Zaubertrank für mich bereiten. Das Mittel würde eine Menge kosten. Das gefiele ihr nicht. Dafür solle man nicht bezahlen. Doch das Glück ihres Ehemanns liege ihr so sehr am Herzen … Schließlich hatte sie mich überredet.

Am Abend tat ich Silbergeld in einen kleinen, schweren Kasten und suchte eine Reparaturwerkstatt am Hafen auf, die sie mir beschrieben hatte. Über der Seitentür brannte ein blaues Licht. Ich trat ein.

In dem Moment, als die Tür zuging, schaltete jemand sämtliche Lampen ein. Ich war geblendet. Dann traten aus dem gleißenden Licht Automobile, Gestelle mit Ölbüchsen und Gasflaschen zum Schweißen hervor. Sechs Personen hatten auf mich gewartet, darunter zwei Frauen. Sie saßen in Lastwagenkabinen und auf Motorhauben und sahen mir unfreundlich entgegen, mit dem starren Blick von Eulen.«

Als der Lautsprecher wieder zu brummeln begann, ruckte Bergier mit dem Kopf. »Warum belästigen Sie mich damit? Ich will nicht mit Routineangelegenheiten behelligt werden.« Dann fuhr er mit seiner Erzählung fort: »Eine der Frauen wollte das Geld sehen. Ich machte den Kasten auf, nahm einen Beutel aus Maulwurfsfell mit achtzig fleur-de-vie-Dollar heraus und warf ihn ihr vor ihr Füße. Sie öffnete den Beutel, sah das Silbergeld aufblitzen und sog die Luft ein. Das ist von der Weißmarsch, sagte sie.

Ich schwieg.

Die Hexenanhänger wechselten Blicke. Ich steckte meine Hand unter den Mantel und umklammerte meinen Revolver. Wir brauchen das Geld, meinte ein Mann. Die Hunde von der Regierung besabbern uns schon die Schultern. Ich rieche schon ihren stinkenden Atem.

Die Frau hielt eine Handvoll Silbergeld hoch, das wie irre funkelte. Kurz bevor die Weißmarsch geplündert wurde, ist ein Münzenpräger verschwunden, meinte sie. Man nahm ihm seine Vorräte weg und verteilte sie unter die Leute. Ich war da, aber ich wollte nichts haben. Sie zuckte die Achseln. Wie schnell sich doch alles verändert.

Mir war klar, dass sie glaubten, ich hätte einen flüchtigen Kameraden von ihnen ausgeraubt. Ich nehme an, Sie wissen nicht sonderlich gut über die Zerschlagung der Weißmarsch Bescheid?«

»Nein«, sagte der Bürokrat.

»Nur vom Hörensagen«, meinte Chu. »So was lehrt man nicht in der Schule.«

»Sollte man aber«, sagte der Kommandant. »Die Kinder sollen ruhig wissen, was es heißt, zu regieren. Das reicht zurück in die Zeit, als das Tideland noch jung war, als Kommunen und utopische Gemeinschaften wie Pilze aus dem Boden schossen. Die meisten waren harmlos, nicht lebensfähig, und verschwanden nach einem Monat wieder von der Bildfläche. Mit den Weißmarsch-Kulten verhielt es sich allerdings nicht so; sie breiteten sich aus wie ein Marschfeuer. Männer und Frauen liefen am helllichten Tag in der Öffentlichkeit nackig herum. Sie aßen kein Fleisch. Sie veranstalteten rituelle Orgien. Sie verweigerten den Dienst in der Bürgerwehr. Fabriken schlossen aufgrund von Arbeitskräftemangel. Die Ernte wurde nicht mehr eingebracht. Kinder gingen nicht mehr zur Schule. Einfache Bürger prägten ihre eigenen Münzen. Sie hatten keine Anführer. Sie zahlten keine Steuern. Keine Regierung kann so etwas dulden.

Wir fielen mit Pech und Schwefel über sie her. Binnen eines einzigen Tages wurden die Kulte vernichtet, die Überlebenden in den Untergrund getrieben und ihnen soviel Entsetzliches zugefügt, dass sie sich nie wieder hervorwagen würden. Sie können sich vorstellen, dass ich in großer Gefahr schwebte. Aber ich zeigte keine Angst. Ich fragte sie, ob sie das Geld nun haben wollten oder nicht.

Einer der Männer nahm den Beutel und wog ihn in der Hand. Dann steckte er sich je eine Handvoll Münzen in die Hosentaschen, wie ich es gehofft hatte. Das werden wir gerecht unter uns aufteilen, sagte er. Solange der Geist lebt, ist die Weißmarsch nicht tot. Er warf mir ein Bündel Kräuter zu und meinte spöttisch, die würden einen Leichnam zum Leben erwecken, von meinem schlaffen Schniedel ganz zu schweigen.

Ich legte das Bündel in meinen Bleikasten und ging. Zu Hause prügelte ich Ysolt blutig und warf sie dann auf die Straße. Ich wartete eine Woche lang, dann meldete ich dem inneren Abschirmdienst, in der Gegend trieben sich flüchtige Anhänger des Hexenkults herum. Sie tasteten das Gebiet ab, lokalisierten die Münzen und damit auch die Leute. Ich wusste immer noch nicht genau, wer meine Ysolt geschändet hatte, aber alle hatten noch ihren Anteil, somit wurde er ebenfalls bestraft. O ja, bestraft wurde er.«

Nach kurzem Schweigen sagte der Bürokrat: »Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht ganz folgen.«

»Ich wurde zur Weißmarsch geschickt, kurz bevor sie fiel. Ich beseitigte den Münzenpräger und verstrahlte seine Bestände mit einem Gerät, das mir meine Vorgesetzten zur Verfügung gestellt hatten. Die Hälfte derer, die unserem Zorn entkamen, nahmen ihr Falschgeld mit. Sie kamen nie dahinter, warum wir sie so leicht fanden. Kurze Zeit später stellte sich heraus, dass viele Strahlenschäden erlitten hatten, an einer Stelle, wo es Männer besonders hart trifft. Kein schöner Anblick. Ich habe noch Bilder davon.« Er steckte die Hände in die Hosentaschen und hob die Brauen. »Das Zaubermittel gab ich Ysolts Hund, der daraufhin starb. Soviel zur Heimtücke von Zauberern.«

»Das Verstrahlungsgerät ist illegal«, meinte der Bürokrat. »Nicht einmal die planetarische Regierung darf es benutzen. Es kann eine Menge Schaden anrichten.«

»Tun Sie Ihre Pflicht, o Jäger des Volkes! Nur zu. Die Spur ist erst sechzig Jahre alt.« Bergier blickte verbittert auf seine Monitore. »Ich schaue aufs Land hinunter und sehe mein Leben unter mir ausgebreitet. Wir nähern uns Ysolts Verrat, der bisweilen Cuckold genannt wird, und ein Stückchen weiter liegt Penelopes Fehltritt, dann kommen Fiebertod und Entsagung. Am Ende der Strecke liegt Kap Desillusion, und das gilt für alle meine Ehefrauen. Ich habe mich vom Land zurückgezogen, vermag es aber nicht ganz loszulassen. Ich warte. Ich warte. Worauf? Vielleicht, dass es Tag wird.«

Bergier riss die Fensterläden auf. Der Bürokrat zuckte zusammen, als heller Sonnenschein hereinströmte, sie mit seinem Glanz übergoss und den Kommandanten in einen bleichen alten Mann mit schlaffen Wangen verwandelte. In der Tiefe erblickte er Dächer und Türme, Baumwipfel und eine goldene, mit Antennen gespickte Kuppel, die von Lightfoot zu ihnen emporragte.

»Ich bin die Made im Schädel«, sagte Bergier bedächtig, »die sich im Dunkeln windet.« Die Unlogik und Plötzlichkeit der Bemerkung ließ den Bürokraten zusammenfahren, und erschauernd wurde ihm klar, dass diese durchdringenden Augen das Entsetzen nicht in der Vergangenheit, sondern in der Zukunft erblickten. Die langsame Sprechweise des alten Kommandanten barg einen Vorgeschmack auf die einsetzende Senilität, so als sähe er sich unaufhaltsam dem zahnlosen Elend und einem Tod entgegentreiben, der vom Leben nicht deutlicher unterschieden war als die Linie, welche das Meer vom Himmel trennt.

Als sie sich zum Gehen wandten, sagte der Kommandant: »Leutnant Chu, ich erwarte, dass Sie mich auf dem laufenden halten. Ich werde Ihre Fortschritte genau verfolgen.«

»Sir.« Chu schloss die Tür, sie stiegen die Treppe hinunter. Chu lachte hell. »Haben Sie die Tabletten bemerkt?« Der Bürokrat brummte etwas. »Sumpfhexenpillen, sollen gut gegen Impotenz sein. Sie bestehen aus Wurzeln und Bullensperma und ähnlichem widerlichen Zeugs. Alter schützt vor Torheit nicht«, sagte sie. »Er verlässt diese kleine Kabine nie, wissen Sie. Er ist berüchtigt deswegen. Er schläft sogar darin.«

Der Bürokrat hörte nicht mehr zu. »Er ist irgendwo in der Nähe.« Er spähte mit angehaltenem Atem in die Dunkelheit, hörte aber nichts. »In irgendeinem Versteck.«

»Wer?«

»Ihr Doppelgänger. Der junge Teufelskerl.« Zu seiner Aktentasche sagte er: »Rekonstruiere seine genetische Spur und baue mir einen Lokalisierer. Damit kommen wir ihm auf die Schliche.«

»Das ist verbotene Technik«, sagte die Aktentasche. »So etwas darf ich auf einer Planetenoberfläche nicht anfertigen.«

»Verdammt noch mal!«

Die Luft im Schiffsinneren war unbewegt, schien unter Spannung zu stehen. Sie summte von den Vibrationen des Antriebs und war so lebendig wie eine zusammengerollte Schlange. Der Bürokrat spürte, wie ihn der falsche Chu aus dem Dunkel heraus beobachtete. Und lachte.

Chu legte ihm eine Hand auf den Arm. »Nicht.« Sie machte ein besorgtes Gesicht. »Wenn Sie sich emotional engagieren, hat Sie der Gegner in der Hand. Beruhigen Sie sich. Wahren Sie Distanz.«

»Ich …«