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Ein Feuer am Blankeneser Elbstrand hält die Hamburger Polizei in Atem. Zwischen den Brandrückständen finden sie eine weibliche Leiche. Offenbar wurde die Frau bei lebendigem Leib verbrannt. Während Peer Nielsen und sein Team von der Hamburger Mordkommission mühsam versuchen, die Identität des Opfers zu klären, wird die Feuerwehr zu einem weiteren Brand in den Volkspark gerufen - auch hier gibt es ein Opfer. Sofort wird Nielsen klar, dass sie es mit einer tödlichen Brandserie zu tun haben.
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Seitenzahl: 284
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Sandra Dünschede
Die Tote von Blankenese
Kriminalroman
Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:
Friesengift (2019), Friesengroll (2018), Kilometer 151 (2017),
Friesennebel (2017), Kofferfund (2016), Friesenmilch (2016),
Knochentanz (2015), Friesenschrei (2015), Friesenlüge (2014),
Friesenkinder (2013), Nordfeuer (2012), Todeswatt (2010),
Friesenrache (2009), Solomord (2008), Nordmord (2007),
Deichgrab (2006)
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2019
Lektorat: Sven Lang
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Nils / stock.adobe.com
Druck: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany
ISBN 978-3-8392-6090-6
Für Heidi und Peter – Hamburg liebt euch!
(1) Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.
(2) Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.
Klaas Pieper konnte nicht einschlafen. Schon seit ein paar Nächten nicht. Dieses undurchdringliche Grau, das seit Tagen über der Stadt hing, verfinsterte sein Gemüt und ließ seine Gedanken sich wie in einem Hamsterrad wieder und wieder im Kreise drehen. War er glücklich? Was bedeutete Glück überhaupt? Freute er sich auf den neuen Job, der ihn die Karriereleiter aufsteigen ließ und ein bedeutend höheres Einkommen mit sich brachte?
Klaas wälzte sich auf die andere Seite. Das Bett knarzte leicht. Er war hundemüde, dennoch konnte er nicht in den Schlaf finden. Ob das mit der neuen Stellung zusammenhing? Oder lag es doch am Wetter? Heute Nacht erschien es ihm besonders schlimm, denn der Nebel, der den ganzen Tag über der Stadt gehangen hatte, war gegen Abend immer dichter geworden und hatte sich letztendlich wie ein undurchdringlicher Schleier über alles gelegt und einem nicht nur die Sicht genommen, sondern auch sämtliche Geräusche gedämpft. Wie durch Watte hörte er die Nebelhörner der Schiffe auf der Elbe und wunderte sich, dass man den Schiffsverkehr nicht eingestellt hatte. Aufgrund des Wetters waren die flussauf- und -abwärtsfahrenden Schiffe angehalten, sich gegenseitig ihre Position zu signalisieren.
Klaas schlug die Bettdecke zurück und knipste die kleine Stehlampe auf dem Nachttisch an, die den Raum nur mäßig erhellte. Leicht seufzend entstieg er dem warmen Bett, schlüpfte in seine Pantoffeln, die er bei einem seiner letzten Hotelaufenthalte hatte mitgehen lassen, und ging hinüber zum Fenster.
Er liebte diese Aussicht aus seinem Schlafzimmer, daher hatte er bis heute auf Vorhänge oder Ähnliches verzichtet. Er wollte den Blick frei auf die Elbe fallen lassen können, wenn er morgens aufwachte, denn das war es, was das Blankeneser Treppenviertel für ihn ausmachte. Die Nähe zum Wasser, das Gefühl, direkt am Meer zu wohnen – auch wenn die Nordsee noch etliche Kilometer entfernt lag.
Heute jedoch war nichts zu sehen. Der Nebel hatte alles eingehüllt und waberte mit gespenstischer Stimmung durch die Luft.
Eigentlich sollte er sich besser fühlen, dachte Klaas. Er hatte Geld, eine traumhafte Wohnung, eine wunderhübsche Freundin, war gesund. Aber irgendwo tief in ihm drin nagte ein Gefühl. Eine Art Schmerz, der ihm verdeutlichte, dass irgendetwas in seinem Leben fehlte. Nur was? Klaas fuhr sich mit der Hand über die brennenden Augen und nahm durch die leicht gespreizten Finger ein Licht wahr.
Er war wirklich sehr müde. Sehe ich bereits Sterne, überlegte er. Als er die Hand jedoch sinken ließ und sein Blick frei aus dem Fenster glitt, sah er, dass da tatsächlich ein Licht oder zumindest etwas Helles durch die Nebelschwaden schien. Er ging zurück zu seinem Nachttisch und griff nach der Brille, die zwischen einem Buch und einer Wasserflasche lag.
Was konnte das für ein Licht sein? Er trat erneut ans Fenster, suchte die Stelle unten am Elbstrand, von der die Helligkeit ausging. Nach wenigen Augenblicken hatte er den Schein, der durch den dichten Nebel drang, entdeckt und spürte augenblicklich Wut in sich aufsteigen. »Was für Idioten!«, fluchte er vor sich hin, als er in den Flur ging, wo sein Handy auf dem Sideboard am Ladekabel hing.
Mit schwitzenden Händen griff er nach dem Mobiltelefon und drückte mehrere Tasten. Gleich darauf wurde sein Anruf entgegengenommen.
»Ja, hier Klaas Pieper. Am Strand auf Höhe des Blankeneser Segel-Clubs unten am Strandweg brennt es.«
Peer Nielsen zuckte zusammen, als sein Handy klingelte. Er war wie so oft auf dem Sofa vor dem Fernseher eingeschlafen und spürte bei der abrupten Bewegung jeden einzelnen Knochen in seinem Körper. Außer dem Schein, der vom Display seines Handys ausging, war es dunkel in der Wohnung. Der Fernseher hatte sich irgendwann in der Nacht automatisch abgeschaltet, und durch die Dachfenster drang nur spärlich das Licht der weit unter ihnen liegenden Straßenlaternen.
Er fummelte nach dem Telefon, das auf dem gläsernen Beistelltisch lag und unbeirrt klingelte.
»Nielsen?«
Er brauchte einen Moment, um zu verstehen, was der Anrufer wollte.
»Ja, dafür ist doch die Feuerwehr zuständig«, versuchte er den anderen abzuwimmeln. Es musste mitten in der Nacht, zumindest sehr früh am Morgen sein, und Nielsen verspürte wenig Lust, in das feuchte Grau vor seiner Haustür hinauszugehen, weil ein Anwohner des Treppenviertels einen Brand am Elbstrand gemeldet hatte. Doch sein Gesprächspartner ließ sich nicht beirren, den Zuständigen für diesen Fall am Telefon zu haben.
»Die Feuerwehr ist bereits vor Ort und hat den Brand gelöscht, aber …«
Der Anrufer machte eine Pause, in der Peer sich den Nacken massierte und innerlich darauf einstellte, gleich hinaus ins Kalte zu müssen. Bei dem Gedanken daran lief ihm ein Schauer über den Rücken. Oder lag es an dem, was der andere durch die Leitung aussprach?
»Man hat eine Leiche in den Brandrückständen entdeckt.«
»Was?« Nielsen glaubte, sich verhört zu haben, doch sein Gesprächspartner verschaffte ihm die Gewissheit, dass es nicht so war.
»Gut«, erklärte Peer, »ich mache mich sofort auf den Weg.« Er stemmte sich vom Sofa hoch, nachdem er das Telefonat beendet hatte. Nun erwies es sich von Vorteil, dass er beim Fernsehen eingeschlafen war. Er trug noch seine Jeans und den Pullover, den er allerdings seit zwei Tagen anhatte. Kurz überlegte er, sich umzuziehen, entschied sich aber dafür, die Zeit lieber zu nutzen, um auf die Schnelle einen Kaffee zu trinken. Ohne eine entsprechende Dosis Koffein würde er den Einsatz nicht überstehen.
Während die Maschine auf Betriebstemperatur heizte, putzte er sich im Bad die Zähne und spritzte sich einen Schwall kaltes Wasser ins Gesicht. Nach dem Toilettengang eilte er in die Küche und ließ eine Tasse Kaffee aus den Automaten, die er hinunterstürzte.
Er griff sich seine wetterfeste Jacke und die Autoschlüssel und verließ kurz darauf die Wohnung. Zwei Stufen auf einmal nehmend eilte er die Treppen aus dem fünften Stock hinunter ins Erdgeschoss und trat vor die Eingangstür, wo ihm die feuchte kühle Morgenluft entgegenschlug.
»Mist«, fluchte er. Er erinnerte sich wieder, dass er gestern Abend keinen Parkplatz auf der Stellfläche vor dem Haus gefunden hatte, sondern den Wagen drei Straßen weiter abgestellt hatte. Mit großen Schritten ging er nach links und dann nach rechts, wo er sein Auto am Straßenrand stehend fand.
Der Berufsverkehr hatte noch nicht eingesetzt, trotzdem postierte er sein mobiles Blaulicht auf dem Dach, um nicht an den zahlreichen Ampeln auf dem Weg halten zu müssen. Nielsen fuhr aus der Parklücke in Richtung Holstenstraße, wo er in die Stresemannstraße abbog und den Wagen etliche Kilometer bis zu einer Abzweigung lenkte, die nach Blankenese führte.
Während der Fahrt fragte er sich, was ihn am Elbstrand erwarten würde. Ob die Leiche stark verkohlt war? Aus Erfahrung wusste er, dass es nicht einfach war, einen Menschen zu verbrennen. Es waren enorme Temperaturen notwendig, um einen Körper zu entzünden und vollständig in Rauch und Asche aufgehen zu lassen. Ein Brandbeschleuniger war auf jeden Fall erforderlich. Und ein Motiv. Das bestand jedoch in solchen Fällen meist darin, einen Mord oder ein anderes Verbrechen zu vertuschen.
Er folgte der Blankeneser Hauptstraße bis hinunter zur Elbe. Die Gegend wirkte friedlich und ruhig, was sich allerdings schlagartig änderte, als er in den Strandweg abbog, wo jede Menge Leute unterwegs waren und die Löschfahrzeuge der Feuerwehr den Weg blockierten. Er hielt an und stieg aus. Weiter vorn entdeckte er den Wagen von seinem Mitarbeiter Boateng. Wie der bloß immer so schnell vor Ort sein kann, fragte er sich, während er mit einigen Schaulustigen hinunter bis zur Absperrung ging. Dort zeigte er seinen Dienstausweis und bückte sich unter dem Flatterband hindurch.
Michael Boateng stand mit einigen Feuerwehrleuten an der gelöschten Brandstelle. Der Brandgeruch wurde intensiver, je näher Nielsen kam. Feuchter Rauch vermischt mit dem Geruch von verbranntem Fleisch kroch ihm in die Nase. Er schluckte, ehe er neben seinen Mitarbeiter trat und auf die Überreste des Feuers blickte, die man durch einige mobile Scheinwerfer erhellt hatte.
»Morgen, Chef«, begrüßte Boateng ihn und fasste die wenigen Informationen zusammen, die er bisher ermitteln konnte. »Ein Anwohner hat vor gut einer Stunde den Brand gemeldet. Zunächst ist die Feuerwehr von einem Streich einiger Jugendlicher oder Betrunkener ausgegangen. Das kommt hier am Strand öfters vor; allerdings meist nicht in dieser Jahreszeit.«
Peer nickte und ließ seinen Blick umherschweifen. Die Elbe lag unter einem Nebelschleier, dessen Feuchtigkeit sich unangenehm durch die Kleidung fraß. Bei dieser Witterung begab sich keiner freiwillig hinaus, jedenfalls nicht, um einen Streich zu spielen. Neugierde war etwas anderes und überwand den inneren Schweinehund, wie die vielen Leute jenseits der Absperrung bewiesen. Neugierde und sein Beruf, denn deswegen war er hier, ebenso wie die Feuerwehrleute und die Kollegen von der Spurensicherung, die gerade eintrafen.
»Oh«, entfuhr es einem der Teammitglieder, »das sieht nicht gut aus.« Beinahe alle Anwesenden inklusive Nielsen schüttelten den Kopf.
»Beim Löscheinsatz«, fuhr Boateng fort, »haben die Feuerwehrmänner dann schnell den Körper entdeckt, aber für eine Rettung war es da bereits zu spät.« Michael wies in Richtung der Leiche. Die Haut war beinahe vollständig verbrannt, ebenso wie die Haare. Durch die Hitze des Feuers hatten sich Muskeln, Sehnen und Fettgewebe derart verformt, dass sich der Körper in eine beinahe embryonale Haltung gekrümmt hatte, sofern die Leiche nicht bereits in dieser Position abgelegt worden war. Es war nicht die erste Brandleiche, die Nielsen während seiner Zeit bei der Mordkommission sah, aber der Anblick erschütterte ihn dennoch. Was das Feuer aus einem Menschen machte, war nur schwer anzusehen. Nielsen bereute nun, zuvor einen Kaffee getrunken zu haben, denn er spürte, wie Säure in seiner Speiseröhre emporstieg, und wandte sich schnell an den neben ihm stehenden Kollegen von der Spurensicherung: »Also, ihr übernehmt das hier?« Der Angesprochenen bejahte. »Gut.« Nielsen nickte erleichtert. Er wollte so schnell wie möglich ins Warme. Viel konnten sie vor Ort sowieso nicht ausrichten. Und ohne die Identität der Leiche gab es eh kaum ein Vorankommen.
»Ist der Bestatter informiert?«
Boateng nickte. »Und in der Rechtsmedizin weiß man auch Bescheid. Die warten auf die Einlieferung.«
»Ja dann …« Nielsen blickte in die Runde. »Befragst du noch den Mann, der den Brand gemeldet hat? Dann treffen wir uns in einer Stunde im Präsidium zur Besprechung.«
»Geht klar, Chef.«
Michael warf einen letzten Blick auf die Brandstelle, verabschiedete sich von den Kollegen und lief dann durch den Sand des Elbstrandes zur Straße zurück, wo sich immer noch eine Menge Schaulustiger hinter dem rot-weißen Flatterband befand.
»Herr Pieper?«, rief er mehrmals fragend in die Runde, doch ähnlich wie sein Chef hatte der Mann, der den Brand gemeldet hatte, anscheinend den Weg zurück ins Warme gesucht. Gut, dass Michael sich die Adresse von der Notrufzentrale hatte geben lassen.
Allerdings kannte er sich im Blankeneser Treppenviertel nicht aus und musste daher einen der Passanten fragen, wie er zum Haus von Klaas Pieper kam.
»Och, das ist einfach. Hier hoch, dann die erste Abzweigung rechts und dann noch einmal die halbe Treppe rauf.«
»Danke«, entgegnete Michael leicht stirnrunzelnd und folgte der Beschreibung des Mannes, ohne die er die Anschrift sicherlich nicht so schnell gefunden hätte. Das Geflecht aus Treppen und kleinen verwinkelten Wegen erschien ihm reichlich verwirrend und er fragte sich, wie lange es wohl dauerte, bis man sich hier derart gut auskannte, um eine Auskunft wie die soeben erhaltene geben zu können.
Das Haus, in dem Klaas Pieper wohnte, wirkte gepflegt, und der Ausblick von hier oben war bei schönem Wetter sicherlich gigantisch.
Auf sein Klingeln folgte kurz darauf das Geräusch des elektrischen Haustüröffners. Boateng drückte gegen die Tür und gelangte in eine große Eingangshalle, in der eine Treppe in das obere Stockwerk führte. Über das Geländer beugte sich ein Mann in seinem Alter und warf ihm einen fragenden Blick zu.
»Kommissar Michael Boateng. Herr Pieper?«
»Kommen Sie hoch«, entgegnete der Angesprochene. »Ich habe bereits auf Sie gewartet.«
Michael stieg die Stufen zu Piepers Wohnung hoch und folgte ihm durch einen kleinen Flur in eine helle moderne Küche.
»Sie können sicherlich auch einen Kaffee vertragen, oder?« Ohne eine Antwort abzuwarten, betätigte er den Kaffeevollautomat, der sofort lautstark die Bohnen mahlte.
»Sie haben den Brand gemeldet?«, begann Boateng seine Befragung, nachdem sie sich an den Küchentisch gesetzt hatten.
»Ja, ich habe das Feuer am Strand entdeckt und den Notruf gewählt. Wissen Sie, es gibt immer wieder Idioten, die da unten was in Brand stecken.« Er nahm einen Schluck Kaffee. »Aber bisher schien das alles harmlos.«
»Haben Sie denn außer dem Feuer noch etwas gesehen?«
»Wie meinen Sie das?«
»Haben Sie Personen zu der Zeit am Strand oder sich vom Strand entfernen gesehen?«
Klaas Pieper schüttelte den Kopf. »Ich habe zwar gute Augen, aber auf die Entfernung nicht.« Er zuckte mit den Schultern. »Außerdem war es dunkel und nebelig, daher ist mir das Feuer ja aufgefallen.«
»Wieso waren Sie überhaupt zu der Zeit wach? Arbeiten Sie im Schichtdienst?«
»Gott bewahre, nein. Ich konnte nicht schlafen und habe aus dem Fenster gesehen.«
»Machen Sie das öfters?«
»Was?«
»Aus dem Fenster sehen?«
»Manchmal, wenn ich nicht schlafen kann. Was in den letzten Tagen leider öfter der Fall war.«
»Warum?«
»Ach wissen Sie, mir geht einiges durch den Kopf.«
Boateng nickte. »Das kenne ich.«
Nielsen hatte sich im Präsidium als Erstes einen Kaffee und ein Brötchen aus der Kantine geholt. Der Gedanke an die verkohlte Leiche verursachte bei ihm immer noch leichte Übelkeit, und die beste Medizin dagegen war, etwas zu essen.
Mit der Tasse und einem Teller beladen lief er den Gang entlang und konnte gerade noch rechtzeitig seinem Chef ausweichen, der aus seinem Büro geschossen kam. »Endlich, Peer, da bist du ja!«
Nielsen runzelte die Stirn. »Ja, wieso?«
»Wegen dem Brand in Blankenese.«
»Von da komme ich gerade.«
»Das muss zügig aufgeklärt werden«, ordnete Gerhard Fritsche an.
»Das wird nicht einfach, zunächst müssten wir einmal die Identität der Leiche feststellen. Und das gestaltet sich schwierig. Bisher wissen wir noch nicht einmal, ob es eine Frau oder ein Mann war.«
»Aha.« Fritsche schien ihm gar nicht richtig zuzuhören.
»Was ist los?«, fragte Peer daher seinen Vorgesetzten.
»Ach«, stöhnte der und lehnte sich an die Wand dabei, »der Innensenator macht Druck. Anscheinend haben bereits ein paar einflussreiche Leute aus Blankenese bei ihm angerufen.«
»Warum?«
»Warum, warum? Weil man solch ein Verbrechen dort nicht haben will. Verbrannte Leute am Elbstrand. Das geht da gar nicht.«
»Das geht auch woanders nicht«, kommentierte Nielsen dessen Erklärung und ging hinüber in sein Büro, um Kaffee und Brötchen endlich auf dem Schreibtisch abzustellen. Fritsche folgte ihm.
»Hast recht, aber trotzdem brauchen wir schnell Ergebnisse. Für wann ist die erste Besprechung angesetzt?«
»Halbe Stunde«, antwortete Peer, während er sich in seinen Schreibtischstuhl fallen ließ. »Aber wie gesagt, viele Informationen haben wir nicht.«
Exakt 30 Minuten später saß Peer zusammen mit seinen Mitarbeitern im Besprechungsraum.
»Also, es gibt diesmal extremen Druck von oben.«
Michael und die anderen Kollegen schauten wenig begeistert auf Nielsen, der zunächst die wenigen Fakten zu dem Fall zusammentrug.
»Der Brand am Elbstrand in der Nähe des Blankeneser Segel-Clubs wurde um 3.31 Uhr beim Notruf gemeldet, woraufhin die Blankeneser Feuerwehr ausrückte und bereits acht Minuten später an der Brandstelle eintraf. Da das Feuer aufgrund des geringen Brandmaterials, das der Täter verwendet hat, nicht besonders groß war und sich aufgrund der Witterung auch nicht ausbreitete, war es schnell gelöscht. Bereits während der Löscharbeiten wurde dann die Leiche entdeckt. Um wen es sich handelt, wissen wir bisher nicht. Da müssen wir schlichtweg die Ergebnisse der Spusi und auch der Rechtsmedizin abwarten.«
Da es sich bei der Brandstelle um einen möglichen Tatort handelte, war die Leiche beschlagnahmt und eine Obduktion angeordnet worden. Außerdem mussten die Brandermittler des LKA die Brandstätte untersuchen.
»Zunächst sollten wir die Anwohner in der Nähe der Brandstelle befragen. Michael, du hast ja bereits mit dem Mann gesprochen, der den Brand bei der Notrufzentrale gemeldet hatte.« Er blickte Boateng auffordernd an, der sich kurz räusperte, ehe er zu berichten begann.
»Ja, ich war bei Klaas Pieper, aber dem ist außer dem Feuer nichts weiter aufgefallen. Verständlich, wenn man die Uhrzeit und auch die Witterung berücksichtigt. Da hätte man wahrscheinlich auch direkt am Strandweg nichts gesehen.«
»Trotzdem sollten wir die Anwohner befragen. Vielleicht hat jemand im Schein des Feuers etwas beobachtet.«
»Möglich«, entgegnete Michael, obwohl er die Chance für gering einschätzte, dass noch jemand außer Klaas Pieper um diese Uhrzeit wach gewesen war und in die Nacht hinausgeschaut hatte. »Herr Pieper hat übrigens berichtet, dass es bereits öfter Brände am Strand gegeben hat, allerdings meist in den Sommermonaten.«
»Gut, aber eine Verbindung gibt es da sicherlich nicht, oder?« Jens Schnitter schaute fragend in die Runde.
»Momentan können und dürfen wir nichts ausschließen«, entgegnete Peer, »daher erkundigt euch bei den Befragungen auch nach vorherigen Bränden.«
»Und was machst du?«, rutschte es Carsten Hinrichs heraus.
»Ich muss in die Rechtsmedizin. Ich nehme an, von euch möchte das keiner übernehmen, oder?«
Schweigen machte sich im Raum breit.
»Gut«, schloss Nielsen das Meeting. »Dann an die Arbeit.«
Ehe er sich auf den Weg ins Rechtsmedizinische Institut machte, checkte er noch kurz seine Mails, doch in seinem elektronischen Postfach befanden sich keine neuen Nachrichten. »Wäre ja auch zu schön«, murmelte er, während er sich seine Jacke anzog und das Büro verließ.
Wenn er ehrlich war, hätte er selbst lieber die Befragungen in Blankenese durchgeführt, als ins Rechtsmedizinische Institut zu fahren. Aber einer von ihnen musste bei der Leichenschau anwesend sein und in der Regel war das Chefsache.
Besuche in der Rechtsmedizin waren nie angenehm, aber die Obduktion einer verbrannten Leiche stellte eine besondere Herausforderung dar. Der Geruch von verbranntem Fleisch steigerte den Ekel bei der Untersuchung und würde ihn tagelang begleiten. Das kannte er bereits von dem Verwesungsgeruch, der sich an Haut und Haare heftete und sich nur schwer abwaschen ließ.
Und dann diese Bilder … Er holte tief Luft, bevor er in seinen Wagen stieg und das Parkhaus verließ. Er würde niemals verstehen, wie man freiwillig den Beruf des Rechtsmediziners ergreifen konnte. Jeder Beruf hatte Vor- und Nachteile, und sicher gab es auch als Rechtsmediziner interessante Aspekte, aber Tag für Tag mit dem Tod konfrontiert zu werden, ja, mehr noch, mit ihm zu arbeiten, das konnte er sich nicht vorstellen, obwohl er in seinem Job natürlich ebenso damit in Berührung kam – nur eben anders. Er versuchte dem Verursacher des Todes eines Menschen auf die Schliche zu kommen, und der war in der Regel sehr lebendig.
Peer lenkte den Wagen durch den dichten Hamburger Stadtverkehr und ärgerte sich über eine neue Baustelle auf dem Weg zum Rechtsmedizinischen Institut. Täglich warteten neue Hindernisse, Umleitungen oder Sperrungen in der Stadt auf ihn. Wie Pilze schossen diese Baustellen aus der Erde, und er fragte sich ein ums andere Mal, ob es nicht möglich war, diese Arbeiten etwas koordinierter durchzuführen. Er konnte sich jedenfalls nicht an seine letzte baustellenfreie Fahrt durch die Hansestadt erinnern. Das musste lange her sein.
Er bog in die ruhige Wohnstraße ein, in der sich das Institut der Rechtsmedizin befand. Auf Nielsen wirkte der Anblick des Gebäudes, das sich kaum zwischen die Wohnhäuser fügte, immer wieder befremdlich, besonders wenn – wie in diesem Augenblick – ein Leichenwagen die Auffahrt zum Institut befuhr. Wie die Anwohner wohl mit dem Aspekt, dass in ihrer Nachbarschaft ständig an Leichen hantiert wurde, zurechtkamen? Die Vorstellung war sicherlich befremdlich, aber wie an so vieles im Leben hatten die Menschen sich in dieser Straße bestimmt daran gewöhnt.
Peer stellte den Wagen auf dem kleinen Besucherparkplatz vor dem Gebäude ab und holte noch einmal tief Luft, ehe er die Tür öffnete und auf den Eingang zuging.
»Wie wollen wir uns aufteilen?« Michael blickte fragend auf seine Kollegen, die neben ihm auf dem schmalen Bürgersteig des Strandweges standen und sich umschauten. »Also die Brandstelle ist da unten«, fuhr er fort, »und Klaas Pieper wohnt da oben.« Er wies mit ausgestrecktem Arm auf die Häuser des Treppenviertels.
»Aber der hat ja, wie du gesagt hast, nichts außer das Feuer selbst gesehen, oder?«, bemerkte Jens Schnitter.
Boateng dachte kurz an die Befragung zurück. Der Mann hatte ehrlich auf ihn gewirkt. Und warum hätte er, wenn er etwas mit dem Brand zu tun gehabt hatte, die Feuerwehr alarmieren sollen? »Stimmt, daher macht es bestimmt Sinn, mit den Häusern direkt hier unten anzufangen. Hocharbeiten können wir uns immer noch«, bemerkte er grinsend.
Das erste Haus, das Michael zugeteilt war, wirkte alt und ein wenig renovierungsbedürftig. Er stieg den schmalen Plattenweg zur seitlichen Haustür hinauf und klingelte.
Eine alte Frau mit gekrümmtem Rücken öffnete ihm wenig später. »Ja bitte?« Sie musterte ihn argwöhnisch. Michael zeigte seinen Dienstausweis. »Sie kommen wegen dem Brand?«, schlussfolgerte die alte Dame und wetterte sofort los. »Wird ja langsam mal Zeit, dass hier was geschieht. Alle naselang zünden die den Strand an.«
»Entschuldigung, wer sind denn die?«
»Chaoten, Brandstifter, obdachloses Gesindel. Blankenese ist auch nicht mehr das, was es einst war. Und nun haben die da auch noch einen Menschen verbrannt. Ja wo sind wir denn hier?« Die Frau begann zu schnaufen, sodass Michael befürchtete, seine Gesprächspartnerin könne womöglich einen Herzinfarkt erleiden. Besonders robust wirkte sie jedenfalls nicht auf ihn.
»Ist Ihnen denn heute Nacht etwas aufgefallen. Ich meine, bevor die Feuerwehr hier eintraf?«
»Nein, ich habe einen festen Schlaf.«
»Beneidenswert«, rutschte es Boateng heraus, der augenblicklich an Klaas Pieper denken musste.
»Kennen Sie denn Herrn Pieper?«
»Hier kennt jeder jeden. Zumindest früher. Die jungen Leute haben ja nicht mehr den Anstand, sich bei ihrer Nachbarschaft vorzustellen.«
Michael erinnerte sich daran, wie er und seine Frau vor drei Jahren bei ihren Mitbewohnern im Haus geklingelt und sich als die neuen Nachbarn bekannt gemacht hatten. Ihm war damals aufgefallen, wie befremdet ihnen einige der Leute begegnet waren. Er nickte und schlussfolgerte, dass die alte Dame Klaas Pieper nicht kannte, denn so wie er den Mann einschätzte, war der bei seinem Einzug nicht durch das halbe Treppenviertel gelaufen, um sich in der Nachbarschaft vorzustellen.
»Und in den letzten Tagen? Ist Ihnen da etwas Besonderes aufgefallen?« Er klappte sein Merkbuch langsam zu, da er sich auch auf diese Frage keine weiterführenden Informationen erhoffte.
»Doch, jetzt wo Sie so fragen.«
»Bitte?«
»Na, da war so ein Typ, der hier immer rumgeschlichen ist.«
Die Dame vom Empfang begrüßte ihn lächelnd. »Sie sind aber pünktlich«, kommentierte sie Peers Erscheinen. »Die Brandleiche ist gerade erst eingeliefert worden. Dr. Choui ist eben hinuntergegangen.« Sie wies mit einem Kopfnicken auf die Tür schräg links, hinter der sich der Abgang in den Keller befand.
»Danke.« Peer schluckte. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, hatte er gehofft, dass der Rechtsmediziner vielleicht schon mit der Obduktion begonnen hatte und er nicht die ganze Prozedur über sich ergehen lassen musste.
Langsam ging er zur Kellertür und öffnete sie. Wie immer ergriff ihn im Treppenhaus ein sonderbares Gefühl. Alle Welt dachte bestimmt, er als Polizist und Leiter eines Teams bei der Mordkommission müsse total abgebrüht sein von dem, was er tagtäglich sah und erlebte. Aber das stimmte nicht. Die Vorstellung zahlreicher Leichen hinter der nächsten Tür ließ ihn stets aufs Neue frösteln. Woran es genau lag, konnte er nicht sagen, aber wahrscheinlich war es die Tatsache, dass all diese toten Menschen einem die eigene Sterblichkeit bewusst machten.
In einem kleinen Raum vor dem finalen Zugang zog er seine Jacke aus und einen der bereithängenden grünen Kittel an. Etwas umständlich band er die Schutzkleidung hinter dem Rücken zusammen und nahm sich aus einem Behälter Überzieher für die Schuhe.
Das Rascheln seiner Schritte lenkte ihn kurzfristig ab, aber nur bis er die gläserne Tür geöffnet hatte und das Rattern einer Bahre an sein Ohr drang. »Na, dann … Showtime«, murmelte er und folgte dem Gang hinunter, bis zu dem Vorraum, in dem die Leichen angeliefert wurden.
»Ah, Kommissar Nielsen«, begrüßte der Rechtsmediziner ihn. »Schön, Sie einmal wiederzusehen.«
Peer verkniff sich einen Kommentar und nickte Dr. Choui lediglich kurz zum Gruß zu.
»Die Leiche ist gerade erst angekommen, Sie haben noch nichts verpasst, aber ich kann schon auf den ersten Blick sagen, das wird eine schwierige Angelegenheit.«
»Das habe ich mir beinahe gedacht.«
Jürgen Holst der Sektionsassistent wandte sich von den Kühlfächern der Bahre mit dem Brandopfer zu und schob sie in Richtung Obduktionssaal. Nielsen und Choui folgten ihm.
»Haben Sie denn schon etwas anderes in dem Fall?«
Nielsen musste unweigerlich an den Anruf des Innenministers denken. »Wie Sie schon richtig gesagt haben, das wird eine schwierige Angelegenheit. Aber meine Kollegen von der Spurensicherung arbeiten auf Hochtouren, und mein Team befragt gerade die Anwohner an der Brandstelle. Aber ohne Ihre Angaben haben wir natürlich wenig Chancen.« Sie waren im Obduktionssaal angekommen, warteten auf Holst, der die Leiche zunächst einen Raum weiter zum Röntgen gebracht hatte.
»Das heißt, Sie haben bisher nichts«, schlussfolgerte der Rechtsmediziner.
Nielsen hatte ein wenig den Eindruck, als würde der recht kleine Mann vor ihm plötzlich an Größe gewinnen, aber bevor er seine Aufmerksamkeit weiter darauf verwenden konnte, kam der Sektionsassistent mit der Leiche in den Raum, gefolgt von Dr. Lutz, der die Obduktion zusammen mit Dr. Choui durchführen würde.
»Nun«, begann der Rechtsmediziner, nachdem er den verbrannten Körper in Augenschein genommen hatte. »Auf den ersten Blick würde ich sagen, dass der Körper nackt abgelegt und entzündet wurde. Sonst würde man zumindest Rückstände der Kleidung am Körper finden, obwohl der Täter anscheinend viel Brandbeschleuniger verwendet hat.« Dr. Choui beugte sich tief über die Leiche und schnüffelte. »Ich tippe auf Ethanol, aber das werden Ihre Kollegen wahrscheinlich eh untersuchen.« Er blickte kurz über die Schulter zu Nielsen, der sich ein wenig in den Hintergrund des Raumes verzogen hatte.
»Aufgrund der Menge des Brandbeschleunigers weist die Leiche starke Verbrennungsmerkmale auf. Und sie muss eine Weile gebrannt haben, denn diese gekrümmte Haltung nimmt ein Körper nicht wegen eines oberflächlichen Brandes an.«
»Wir können nicht sagen, wie lange das Feuer im Gange war. Der Mann, der den Notruf abgesetzt hat, ist mitten in der Nacht aufgestanden und hat das Feuer am Strand quasi durch Zufall entdeckt. Das Blankeneser Treppenviertel ist ja eher eine ruhige Wohngegend.«
»Anhand des Körperbaus schätze ich, dass wir es mit einer weiblichen Leiche zu haben«, fuhr nun Dr. Lutz fort. Dr. Choui stimmte seinem Kollegen zu.
»Wir könnten es also mit einem Sexualdelikt mit Todesfolge zu tun haben?«, wagte Nielsen zu fragen. Er wusste, wie ungern der Rechtsmediziner voreilige Schlussfolgerungen zog, aber sie brauchten nun einmal schnelle Ergebnisse.
»Möglich.«
»Na, es könnte doch sein, dass der Täter zur Vertuschung der Tat sein Opfer angezündet hat.«
»Möglich, aber wie gesagt, hier wurde eine Menge Brandbeschleuniger benutzt, den hat man in der Regel nicht unbedingt dabei, oder?«, gab Dr. Choui zu bedenken.
»Ach«, winkte Nielsen ab und machte sich erste Notizen. »Dafür lässt sich meist eine Erklärung finden.«
»Lassen Sie uns aber erst einmal weiterschauen«, beharrte der Mediziner darauf, mit seiner Arbeit und somit mit der Öffnung des Leichnams fortzufahren. Automatisch trat Nielsen einen Schritt weiter weg vom Sektionstisch und beobachtete aus sicherer Distanz, wie Dr. Choui nacheinander die Organe entnahm, sie dem Sektionshelfer reichte, der sie wog und anschließend jedes einzelne Gewicht an einer Tafel rechts neben der Tür notierte. Währenddessen diktierte Dr. Lutz erste Ergebnisse in ein Aufnahmegerät, wurde jedoch von Dr. Choui unterbrochen, der gerade die Lunge untersuchte. »Schau mal hier, Gregor.« Der Angesprochene legte das Gerät zur Seite und stellte sich neben seinen Kollegen. »Oh«, kommentierte er lediglich dessen Entdeckung. Peer reckte den Hals in die Höhe. Was hatte der Rechtsmediziner entdeckt?
Es kostete ihn einige Überwindung, näher an den Tisch zu treten, so nah, dass er Dr. Choui über die Schulter blicken konnte. Der zeigte mit einem Skalpell auf viele schwarze Punkte im Lungengewebe.
»Heißt das nicht …« Peer brach den Satz ab, als er den auf- und abwippenden Kopf des Mediziners wahrnahm.
»Genau, das heißt, die Frau ist bei lebendigem Leibe verbrannt worden.«
»Ich habe etwas!« Michael winkte seinen Kollegen zu, die bereits wieder am Wagen im Strandweg standen. »Echt, was denn? Bei uns hat niemand etwas gesehen.«
»Eine ältere Dame hat einen Mann beobachtet, der sich mehrmals am Elbstrand umgeschaut hat.«
»Und, ist das so ungewöhnlich? Ich meine, das Viertel hier steht in jedem Reiseführer. Da kommen wahrscheinlich öfters Fremde an den Strand.«
»Schon, aber gleich mehrmals hintereinander und dann bei dieser Witterung?«
»Vielleicht hat er einen Hund und musste raus.«
»Nee, habe ich gefragt. Die Frau hat keinen Hund gesehen. Nur den Mann.«
»Na gut«, stimmte Carsten Hinrichs zu, »das ist zumindest etwas, womit wir arbeiten können.«
Dieser Meinung war auch Nielsen, als er am Nachmittag in der angesetzten Besprechung davon erfuhr.
»Wir müssen ohnehin jetzt erst einmal die weiteren Ergebnisse abwarten. Dr. Choui hat bisher eben nur bestätigen können, dass die Frau noch lebte, als sie verbrannte. Die Rußpartikel in der Lunge der Toten weisen darauf hin. Sie hat also noch geatmet. Anders lassen sich die Ablagerungen nicht erklären«, berichtete Nielsen. »Ob sie bewusstlos war, vielleicht aufgrund eines Mittels, werden erst die toxikologischen Ergebnisse beweisen. Aber anders kann man sich das beinahe nicht erklären.« An das Ammenmärchen einer spontanen menschlichen Selbstentzündung glaubte er jedenfalls nicht.
»Aber es gibt ja Berichte, laut denen es so etwas schon gegeben haben soll«, warf Jens Schnitter ein. Die Brandstelle als solches sprach jedoch gegen diesen modernen Mythos.
»Außerdem geht Dr. Choui davon aus, dass die Frau vor dem Brand absichtlich in die Embryonalstellung gebracht wurde, denn ganz so lange und heiß, als dass sich die Sehnen und Muskeln derart zusammengezogen hätten, hat der Körper laut seinen Einschätzungen nicht gebrannt.«
Bei der Untersuchung jedenfalls war es gelungen, den Leichnam in seine normale Position zu bringen.
»Die Ergebnisse von der Spusi sind noch nicht da, aber der Rechtsmediziner geht von einer Entzündung mit dem Brandbeschleuniger Ethanol aus.«
»Schlau«, kommentierte Boateng diese Tatsache, »denn Benzin verpufft ziemlich stark, sodass die Verletzungsgefahr für den Täter höher gewesen wäre.«
Die anderen stimmten ihm zu.
»Gut, Leute«, klatschte an dieser Stelle Gerhard Fritsche in die Hände, »und was können wir der Presse präsentieren?«
Peer zog die Augenbrauen in die Höhe. »Der Presse?«
»Ja, in einer halben Stunde ist eine Konferenz angesetzt. Da müssen wir Ergebnisse präsentieren.«
Nielsen nahm an, dass der Innensenator noch einmal Druck gemacht hatte, und von den Berichten der Mitarbeiter wusste er, dass die Blankeneser sich immer wieder an die Polizei gewandt hatten mit der Bitte, endlich etwas gegen die Brände zu tun. »Da muss erst mal wieder etwas Schreckliches geschehen, damit die Polizei tätig wird«, hatte einer der Befragten Jens gegenüber gesagt.
So ganz Unrecht hatten die Anwohner natürlich nicht, nur die Hamburger Polizei hatte einfach nicht genügend Kapazitäten, um sich um jedes Lagerfeuer am Elbstrand zu kümmern.
»Also, wir müssen definitiv die Ergebnisse der KTU und auch aus der Rechtsmedizin abwarten. Wir können natürlich anfangen, die Identität der Toten zu ermitteln, aber das wird schwierig, schließlich können wir die Röntgenaufnahmen des Gebisses nicht an sämtliche Zahnärzte in Hamburg schicken. Außerdem ist gar nicht klar, ob die Tote überhaupt aus der Stadt kommt.«
»Aber irgendwo müsst ihr anfangen. Was ist mit den Vermisstenanzeigen der letzten Tage?«, erkundigte sich Fritsche.
Bisher hatten sie keine Zeit gehabt, diese durchzugehen, daher zuckte Peer mit den Schultern.
»Gut, dann geht ihr die Anzeigen durch, und du Peer«, der Vorgesetzte wandte sich nach einem Blick auf die Mitarbeiter wieder Nielsen zu, »kommst mit mir zu der Pressekonferenz.«
Innerlich stöhnte Peer auf, versuchte jedoch sich nichts anmerken zu lassen, sondern nickte seinen Mitarbeitern aufmunternd zu und stand auf.
Vom Besprechungsraum ging er direkt in sein Büro, doch weder in seinem elektronischen Postfach noch auf seinem Schreibtisch befanden sich irgendwelche Neuigkeiten. Er nahm den Hörer seines Telefons in die Hand und wählte die Nummer der Spurensicherung.
»Ein bisschen Geduld müsst ihr schon haben, da gibt es viel auszuwerten«, beschwerte sich der Kollege mit leicht vorwurfsvollem Ton in der Stimme.
Geduld, dachte Peer, das sollte mal jemand dem Innensenator sagen. »Dr. Choui meint, dass der Täter Ethanol verwendet hat«, versuchte er trotzdem den anderen zu irgendwelchen inoffiziellen Informationen zu verleiten.
»Das sieht laut den Ergebnissen der Gaschromatografie so aus.«
»Gut, und in den Brandrückständen, habt ihr da etwas entdeckt?«
»Seltsamerweise Pflanzenpartikel. Ist ja eher ungewöhnlich, dass man Pflanzen zum Verbrennen nimmt.«
»Stroh oder vielleicht trockene Tannen?«
»Nee, sieht eher nach frischem Grünzeug aus, aber ein bisschen gedulden müsst ihr euch eben noch.«
Nielsen wusste, dass dies der Punkt war, an dem es zwecklos sein würde, den Kollegen weiter auszufragen. Und als müsste er Nielsens Gedanken untermauern, betonte er, dass er die Ergebnisse schneller bekäme, wenn er ihn nicht von der Arbeit abhalten würde.
Das half ihm zwar nicht weiter, aber so stand er vor der Reportermeute zumindest nicht mit ganz leeren Händen da.
»Ich weiß gar nicht, wonach wir genau suchen sollen«, beschwerte sich Carsten bei Boateng, als sie die Vermisstenanzeigen der letzten Tage durchforsteten. »Wir wissen doch so gut wie gar nichts.«
»Na ja, wir wissen zumindest, dass es sich bei dem Opfer um eine Frau handelt«, versuchte Michael zumindest ein wenig Optimismus zu versprühen, obwohl er selbst reichlich ratlos war. Doch er hatte im Gegensatz zu seinen Kollegen möglicherweise einen Ansatz, denn die Anwohnerin aus Blankenese würde in wenigen Augenblicken das Präsidium besuchen, um zusammen mit einem Kollegen ein Phantombild zu erstellen. Mit dem konnten sie zumindest an die Presse gehen, wenn vielleicht auch nicht gleich, aber es war eine erste Spur, befand er.