Die Toten befehlen - Vicente Blasco Ibañez - E-Book

Die Toten befehlen E-Book

Vicente Blasco Ibanez

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Beschreibung

Der Gesellschaftsroman "Die Toten befehlen" ist ein Hauptwerk des großen spanischen Romanciers Vicente Blasco Ibañez, der von sich sagte, er wurde geboren, um Geschichten zu erzählen, er habe das Bedürfnis, Romane zu schreiben, so dringend wie essen und trinken. Ibañez verehrte Miguel de Cervantes und gehört zu den bedeutendsten Protagonisten des literarischen Naturalismus (Dostojewski, Tolstoi, Zola). Die Toten befehlen erzählt in detailgenauen Milieuschilderungen vom aristokratischen Leben auf Mallorca und dem bäuerlichen Leben auf Ibiza, von bestimmenden Vorfahren und Konflikte zwischen den Generationen, von der Liebe (hier auch von der Liebesbeziehung zwischen George Sand und Frédéric Chopin auf Mallorca) und Standesunterschieden, vom Kampf gegen den Traditionalismus und gegen die Unabänderlichkeit sozialer Zustände. "Nicht die Toten befehlen. Das Leben befiehlt und im Leben die Liebe." "Das Leben war schön. Er bestätigte es mit der Überzeugung des Menschen, der knapp dem Tode entgangen ist. Und wie der Vogel und das Insekt im Schoß der Natur, konnte der Mensch sich frei bewegen. Für alle gab es Platz auf der Erde. Warum unbeweglich in den Ketten verharren, die von anderen geschmiedet waren, um über das Schicksal derer, die nach ihnen kamen, zu verfügen?"

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Inhaltsverzeichnis

Titelseite

ERSTES BUCH

ZWEITES BUCH

DRITTES BUCH

Über den Autor

Impressum

Hinweise und Rechtliches

E-Books im Reese Verlag:

E-Books Edition Loreart:

 

 

Vicente Blasco Ibañez

 

Die Toten befehlen

 

Aus dem Spanischen von Otto Albrecht van Bebber

 

Ungekürzte Ausgabe

 

Roman

 

Reese Verlag

 

 

 

 

 

 

ERSTES BUCH

 

 

I

 

Jaime Febrer erhob sich um neun Uhr morgens. Madó (=Auf Mallorca gebräuchliche Abkürzung für Madoña.) Antonia, die alte Dienerin des Hauses, die ihn seit seiner Geburt kannte, bewegte sich schon längere Zeit im Schlafzimmer hin und her, ohne daß ihn das Geräusch geweckt hätte. Endlich öffnete sie die wurmstichigen Fensterläden, um das volle Tageslicht hereinzulassen. Sie wartete noch eine kleine Weile und zog dann die roten, mit Goldborten eingefaßten Damastvorhänge auseinander, die wie eine Art Zelt das ungeheure Bett umgaben. In diesem majestätischen Prunkbett hatten viele Generationen der Febrer das Licht der Welt erblickt, Nachkommen gezeugt und waren in ihm gestorben.

Als Jaime am Abend vorher vom Kasino zurückkehrte, hatte er Madó Antonia dringend aufgetragen, ihn frühzeitig zu wecken, da er nach Valldemosa fahren wollte.

Es war ein wunderbarer Frühlingsmorgen. Auf den blühenden Zweigen im Garten, die eine vom nahen Meer kommende Brise leicht bewegte, zwitscherten die Vögel im Chor.

Als die Dienerin sah, daß ihr Herr sich endlich entschlossen hatte, das Bett zu verlassen, ging sie zur Küche. Jaime Febrer fing an, vor dem offenen, durch eine schlanke Säule geteilten Fenster auf und ab zu wandern.

Er hatte lange wach gelegen, unruhig und nervös beim Gedanken an die Bedeutung des Schrittes, den er am nächsten Morgen unternehmen wollte. Sein Schlaf war zu kurz gewesen, so daß sich sein erschlaffter Körper nach der belebenden Wirkung des kalten Wassers sehnte. Er warf auf das kleine, armselige Waschbecken einen bekümmerten Blick.

Welches Elend! Er wohnte in einem Palast, aber die einfachsten Bequemlichkeiten fehlten ihm. Die Armut zeigte sich bei jedem Schritt in diesen großen Sälen, deren Anblick Jaime an die prächtigen Dekorationen erinnerte, die er gelegentlich seiner Reisen kreuz und quer durch Europa in manchen Theatern gesehen hatte.

Wie ein Fremder, der zum erstenmal dieses Schlafzimmer betrat, bewunderte Febrer den monumentalen Raum mit seiner hohen Decke. Seine Vorfahren hatten für Riesen gebaut. Jeder Saal war so groß wie ein modernes Haus. Aber der Verfall machte sich überall bemerkbar. In sämtlichen Fenstern fehlten die Scheiben, so daß man im Winter gezwungen war, alle Läden geschlossen zu halten. Da keine Teppiche lagen, sah man den mit Sandstein von Mallorca ausgelegten Boden, dessen Platten, wie ein Parkett, regelmäßige Rechtecke bildeten. Die Decken zeigten prächtige alte Stückarbeiten. Einige waren dunkel gehalten und ganz aus kunstvollen Arabesken zusammengesetzt; andere, in Mattgold, ließen die Wappenschilder der Familie wirksam hervortreten. Die mit Kalk geweißten Wände verschwanden unter der Fülle von alten Gemälden oder waren mit prachtvollen Teppichen behängt, deren lebhafte Farben dem Einfluß der Zeit widerstanden hatten.

Das Schlafzimmer war mit acht großen Gobelins geschmückt, die Gärten darstellten. Lange Alleen führten zu einem Rondell, auf dem Hirsche in mutwilligen Sprüngen umhertollten und das Wasser der Springbrunnen von Becken zu Becken herabtropfte. Über den Türen hingen alte italienische Gemälde mit idyllischen Motiven: Kinder spielten auf grünen Wiesen mit schneeweißen Lämmchen. Der Teil des Schlafzimmers, in dem das Bett stand, war durch einen imposanten Bogen abgetrennt. Die gerieften Säulen, die ihn trugen, liefen aus in ein geschnitztes Blattwerk. Auf einem Tisch aus dem XVIII. Jahrhundert sah man eine bemalte Statue von St. Georg, dessen Pferd die Mauren unter seinen Füßen zertritt. Neben alten Sesseln mit schön geschweiften Armlehnen standen einfache Strohstühle. Welcher Jammer! dachte der Erbe der Febrer. Der alte Palast seiner Ahnen mit seinen schönen Fensterbogen ohne Scheiben, seinen Sälen, voll von Gobelins, aber ohne Teppiche, seinen kostbaren Antiquitäten neben den primitivsten Möbeln kam ihm vor wie ein Prinz im Elend, mit kostbarem Mantel angetan, aber ohne Schuhe und Wäsche.

Welche Zeiten des Ruhmes und der Üppigkeit hatte dieser Palast nicht erlebt! Ob Kaufleute oder Krieger, immer waren die Febrer Seefahrer gewesen. Wimpel und Flaggen von mehr als fünfzig Seglern, den schnellsten der Flotte von Mallorca, zeigten das Wappen der Febrer. Sie verkauften das Öl der Balearen in Alexandrien, holten von den Stapelplätzen Kleinasiens Spezereien, Seide und Parfümerien des Orients, trieben Handel mit Venedig, Pisa und Genua und grüßten die Säulen des Herkules auf der Fahrt nach den nebligen Meeren des Nordens. In Flandern und den hanseatischen Republiken führten sie die keramischen Erzeugnisse der valenzianischen Mauren ein. Da nur Schiffe von Mallorca diese Waren brachten, nannte man sie im Norden „Majolika“. Das ständige Befahren der Meere, die von Piraten unsicher gemacht wurden, hatte aus dieser Familie von reichen Kaufleuten ein Geschlecht tapferer Krieger gemacht. Im Mittelmeer führten sie erbitterte Kämpfe mit türkischen, griechischen und algerischen Korsaren; im Norden trafen sie auf englische Piraten. Einmal enterten ihre Galeeren sogar am Eingang des Bosporus die genuesischen Schiffe, die den Handel mit Byzanz monopolisierten.

Später wandte sich diese Dynastie seefahrender Krieger von der Handelsschiffahrt ab, vergoß ihr Blut für die spanischen Könige und den katholischen Glauben und ließ ihre Söhne in den Malteserorden eintreten.

Von dem Tag der Taufe an führten die jüngeren Söhne des Hauses Febrer, auf ihre Windeln genäht, das weiße Kreuz mit den acht Spitzen, dem Symbol der acht Seligpreisungen. Sobald sie erwachsen waren, befehligten sie die Galeeren des kriegerischen Ordens und beendigten ihre Tage auf Mallorca als Komture von Malta. Von ungläubigen Sklavinnen gepflegt, erzählten sie dann den Großneffen von ihren Abenteuern und Heldentaten. Wenn spanische Monarchen nach Mallorca kamen, wo sie im Alcazar de la Almudaina wohnten, unterließen sie nie, die Febrer in ihrem Palast zu besuchen. Wo immer Spaniens Fahnen wehten, waren die Febrer vertreten: Admiräle der königlichen Flotten und Gouverneure von überseeischen Besitzungen der Krone. Viele auch schliefen auf Malta den ewigen Schlaf in der Kathedrale von La Valette.

Die Börse von Palma, ein vornehmer, gotischer Bau in der Nähe des Hafens, war jahrhundertelang ein Lehen der Familie gewesen. Alles, was die Schiffe auf der nahen Mole ausluden, war für die Febrer. In dem ungeheuren Saal der Börse, dessen gewundene Säulen sich in der Dämmerung der Gewölbe verloren, empfingen Jaimes Ahnen mit königlichem Prunk Besuche aus allen Teilen der Welt. Ein Gewirr bunter Trachten füllte die weite Halle: Seefahrer aus dem Orient in weiten Pluderhosen und karmesinroten Mützen, genuesische und provenzalische Schiffsherren mit kurzen Umhängen und mönchsartiger Kapuze, Kapitäne von Mallorca mit verwegenen Gesichtern unter der roten, katalonischen Zipfelmütze.

Die Kaufleute von Venedig sandten ihren Freunden auf Mallorca Möbel aus Ebenholz, eingelegt mit Elfenbein und Lapislazuli, und große Spiegel mit bläulich schimmerndem Glas im Rahmen von Kristall. Von Afrika brachten die Schiffe Bündel von Straußenfedern und Elfenbeinzähnen. Diese und andere Schätze schmückten die Säle des Palastes, die von dem Duft fremdländischer Essenzen durchzogen waren, Geschenke ihrer asiatischen Freunde.

Die Febrer, durch Jahrhunderte die Vermittler zwischen Orient und Okzident, hatten Mallorca zu einem Stapelplatz exotischer Produkte gemacht, die ihre Schiffe nach Frankreich, Spanien und Holland führten. Ein fabelhafter Reichtum war dem Hause zugeflossen. Sogar die spanischen Monarchen wandten sich bei Geldschwierigkeiten an die Febrer. Und dennoch mußte sich Jaime, der letzte der Familie, als er in der vergangenen Nacht im Kasino alles, was er noch besaß - einige hundert Pesetos - verloren hatte, Geld leihen, um am nächsten Tage nach Valldemosa fahren zu können. Er erhielt es von dem Schmuggler Toni Clapès, einem ungebildeten, aber sehr intelligenten Mann, für seine Freunde der treueste und uneigennützigste Kamerad.

Während Jaime sein Haar bürstete, betrachtete er sich nachdenklich in einem alten, halbblinden Spiegel. Sechsunddreißig Jahre alt, konnte er sich nicht über sein Äußeres beklagen. Er war häßlich, aber von einer „interessanten Häßlichkeit“, wie sich eine Frau ausdrückte, die auf sein Leben einen gewissen Einfluß ausgeübt hatte. Dieser Häßlichkeit verdankte er sogar Erfolge bei einigen Liebesabenteuern. Miß Mary Gordon, eine blonde Idealistin, Tochter des Gouverneurs eines englischen Archipels in der Südsee, die nur in Begleitung ihrer Gesellschafterin eine Europareise machte, hatte ihn in einem Münchener Hotel kennengelernt. Seine große Ähnlichkeit mit Richard Wagner machte einen tiefen Eindruck auf sie. Febrer, den diese Erinnerung freute, betrachtete seine gewölbte Stirn, die schwer auf den Augen zu lasten schien, seine herrischen und ironischen Augen, von starken Brauen beschattet. Er hatte die scharfe Adlernase der Febrer, dieser tapferen Raubvögel der einsamen Meere. Unter einem zierlichen Schnurrbart zog sich der Mund verächtlich zusammen. Das hervorspringende Kinn bedeckte ein dünner, seidiger Bart. „Entzückende Miß Mary!“ Fast ein Jahr dauerte die fröhliche Wanderung durch Europa, und mit Sehnsucht erinnert sich Jaime noch heute dieser glücklichen Zeit.

Ach, die Frauen! … Er hatte darauf verzichtet, sich für sie zu interessieren. Einige graue Barthaare und kleine Fältchen in den Augenwinkeln verrieten die Folgen eines nach seinem eigenen Ausdruck „mit Volldampf“ geführten Lebens. Aber immer noch war er ihnen willkommen, und die Liebe sollte ihn jetzt aus seiner bedrängten Lage retten.

Als er seine Toilette beendigt hatte, verließ er das Schlafzimmer und durchschritt einen großen Salon. An den Wänden ‘hingen riesige Gobelins, deren Farben in der Sonne leuchteten. Sie stellten mythologische und biblische Szenen dar, mit Figuren in doppelter Lebensgröße.

Febrer warf im Vorbeigehen auf diese, von seinen Vorfahren ererbten Kostbarkeiten einen ironischen Blick. Nichts mehr gehörte ihm. Seit mehr als einem Jahr waren sämtliche Gobelins Eigentum der Wucherer in Palma, die sie aber im Palast hängen ließen, in der Hoffnung, einen größeren Preis zu erzielen, wenn ein durchreisender Sammler glaubte, sie aus erster Hand zu kaufen. Jaime bewahrte sie mittlerweile auf, ohne irgendein Recht an ihnen zu haben; im Gegenteil, das Gefängnis drohte ihm, falls er sich als ungetreuer Hüter erweise.

Als er zur Mitte des Salons kam, wich er gewohnheitsgemäß aus, mußte aber lachen, als er sah, daß ihm nichts im Wege stand. Noch vor einem Monat befand sich hier ein italienischer Tisch, aus den kostbarsten Marmorarten zusammengesetzt, ein Beutestück des berühmten Komturs Don Priamo Febrer. Daneben stand früher ein ungeheures Kohlenbecken aus gehämmertem Silber auf einem massiven Untersatz aus demselben Metall. Auch dieses schöne Stück hatte Febrer zu Geld gemacht, aber nur das Gewicht des Silbers war vom Käufer angerechnet worden. Hierbei kam ihm die Erinnerung an eine goldene Kette, ein Geschenk von Kaiser Karl V. an einen seiner Vorfahren. Als er sie vor einigen Jahren in Madrid verkaufte, wurde nur der Goldwert, aber nicht die wundervolle antike Goldschmiedearbeit bezahlt. Kurz darauf erfuhr er, daß die Kette für den Preis von hunderttausend Francs in den Besitz eines kunstsinnigen Sammlers in Paris übergegangen war. Wirklich, ein Elend! Für Kavaliere wurde das Leben immer schwieriger.

Durch zwei anstoßende Kabinette, in denen eine Sammlung von spanischen und italienischen Gemälden hing, kam Jaime in den ungeheuren Empfangssalon, die Ahnengalerie des Hauses. Hier waren die Bilder aller Febrer vereinigt: Kaufleute, Seefahrer, Inquisitoren, Gouverneure und Vizekönige der spanischen Besitzungen in Amerika und in der Südsee, Malteserritter, Offiziere der Armada und Kardinäle, in den Trachten aller Jahrhunderte. Immer wiederkehrend aber waren die gewölbte Stirn und die Adlernase. Zwischen den lebensgroßen Porträts hingen Hunderte von Gemälden, Ruhmesdokumente der Familie: Seeschlachten, erstürmte Burgen, berannte Festungen, Kämpfe mit Mauren und Piraten. Auf jedem sah man Wimpel, Flaggen oder Fahnen mit dem Wappen der Febrer oder dem Malteserkreuz.

Wieviel Ruhm, aber auch wieviel Staub! dachte Jaime. Seit zwanzig Jahren hat sich im Palast kein mitleidiges Tuch gefunden, um diese erlauchte Familie abzustäuben. Die Urahnen und die berühmtesten Schlachten überzogen graue Spinngewebe.

Über einen Korridor, an dem die seit vielen Jahren verschlossene Kapelle und das Archiv lagen, kam Jaime zu der riesengroßen Küche. Hier wurden früher die üppigen Gerichte für die berühmten Banketts zubereitet, die die Febrer zu Ehren ihrer ausländischen Freunde veranstalteten. Madó Antonia erschien noch kleiner in diesem gewaltigen Raum, neben einem Herd, groß genug, um ganze Stämme fassen zu können. Die frostige Sauberkeit der Küche verriet, daß sie sich nicht mehr in Gebrauch befand. Die Haken an den Wänden waren leer. Früher hingen an ihnen große kupferne Kessel, die den Stolz einer Klosterküche ausgemacht hätten. Die alte Dienerin bereitete jetzt die bescheidenen Mahlzeiten auf einem winzigen Herd neben dem Backtrog.

Jaime bestellte bei Madó sein Frühstück und ging in einen kleinen Raum nebenan, den die letzten Febrer an Stelle des großen Bankettsaales als Speisezimmer benutzten. Auch hier zeigten sich die Spuren des Elends. Den Tisch bedeckte ein rissiges Wachstuch, die Büfetts standen fast leer. Das alte, gute Porzellan war im Laufe der Zeit zerbrochen und durch gewöhnliches Steingutgeschirr ersetzt worden.

Durch die Fenster sah man das intensive Blau des Meeres, unruhig bebend unter einer feurigen Sonne. Vor ihnen wiegten alte, schöne Palmen ihre Zweige in der Morgenbrise. Am Horizont zogen die weißen Segel eines Gaffelschoners langsam dahin wie eine ermüdete Möwe.

Madó Antonia trat ein und stellte eine dampfende Tasse Milchkaffee und eine große Scheibe Brot, die mit Butter bestrichen war, auf den Tisch. Jaime begann mit großem Appetit zu frühstücken, zog aber eine Grimasse, als er das Brot kostete. Madó gab ihm mit einer Kopfbewegung recht und erzählte im Dialekt von Mallorca:

„Es ist sehr hart, nicht wahr? Gar nicht zu vergleichen mit den Weißbrötchen, die der Herr im Kasino ißt. Aber es ist nicht meine Schuld. Ich wollte schon vorgestern Teig kneten, hatte aber kein Mehl und warte noch immer auf die Lieferung von Son Febrer. Ach, diese undankbaren und vergeßlichen Menschen.“

Der alten Dienerin tat es wohl, ihrem Groll Luft zu machen gegen den Pächter von Son Febrer, dem letzten Stück Land, das der Familie geblieben war. Alles verdankte dieser Bauer seiner gütigen Herrschaft. Zum Dank vergaß er sie jetzt, gerade in der schwierigsten Zeit.

Jaime dachte voller Kummer, daß auch Son Febrer ihm nicht mehr gehörte, obwohl er noch nominell als Besitzer galt. Dieses Gut, das im Mittelpunkt der Insel lag und den Namen der Familie trug, das schönste von allen Gütern, die er geerbt hatte, war auch schon mit Hypotheken überlastet und nicht länger zu halten. Die Rente, die es abwarf, genügte eben, um einen Teil der Hypothekenzinsen zu zahlen, so daß die Schuldsumme immer größer wurde. Es blieben ihm nur die Naturalabgaben übrig: zu Weihnachten und Ostern ein paar Lämmer und zwölf Stück Geflügel, im Herbst zwei gut gemästete Schweine und jeden Monat Eier und eine bestimmte Quantität Mehl, außerdem das Obst der Jahreszeit. Hiervon wurde ein Teil im Haus verbraucht und der Rest von der Dienerin verkauft. So lebten Jaime und Madó Antonia in der Einsamkeit des Palastes, fern der öffentlichen Neugierde, wie zwei Schiffbrüchige auf einer kleinen Insel. Diese Naturalabgaben wurden aber in der letzten Zeit immer unpünktlicher geliefert. Der Pächter, dessen Bauernegoismus nichts mit dem Unglück zu tun haben wollte, wußte, daß der Majoratserbe nicht mehr der wirkliche Eigentümer von Son Febrer war. So kam es häufig vor, daß er seine Vorräte den Gläubigern von Don Jaime brachte, die er fürchtete und denen er sich gefällig zeigen wollte.

Jaime sah seine alte Dienerin an. Sie war vom Lande und hatte niemals etwas anderes als die Tracht ihres Dorfes getragen: dunkles Leibchen, dessen Ärmel mit einer doppelten Reihe von Knöpfen besetzt waren, heller, geblümter Rock und weißes Kopftuch, unter dem ein falscher schwarzer Zopf mit einer Samtschleife hervorkam.

„Du hast recht, Madó Antonia“, sagte Febrer in ihrem Dialekt, „jeder flieht die Armut. Wenn es diesem Spitzbuben eines guten Tages einfällt, überhaupt nicht mehr zu kommen, dann können wir, wie zwei Schiffbrüchige, uns gegenseitig verzehren.“

Die Alte lächelte. Der Herr war doch immer guter Laune, ebenso wie sein Großvater Don Horacio, der trotz seiner ernsten Miene, die Furcht einflößte, so gern drollige Sachen erzählt hatte.

„Dieses Elend muß aufhören“, fuhr Jaime fort, „und heute noch soll es ein Ende haben. Damit du es weißt, Madó, bevor die Neuigkeit sich verbreitet: ich heirate.“

Die Alte schlug die Hände zusammen und erhob den Blick zur Decke:

„Heiliges Blut Christi! Zeit ist es, hätte der Herr es nur früher getan, dann wäre alles anders.“

Die Neugier erwachte in ihr, und mit der Habgier der Bäuerin fragte sie: „Ist sie reich?“

Als Jaime mit dem Kopf nickte, war sie nicht überrascht. Nur eine Dame mit sehr großem Vermögen durfte daran denken, sich mit dem letzten der Febrer zu verbinden.

Die arme Madó dachte sofort an ihre Küche, hängte schon im Geist die blanken Kupferkessel auf, sah Feuer unter allen Herden, die Küche voll von Mägden mit aufgekrempelten Ärmeln, rückwärts geschobenem Kopftuch und fliegendem Zopf und sich selbst in der Mitte auf einem Sessel, von wo sie Anordnungen traf und den angenehmen Duft der Kasserollen einzog.

„Sicher ist sie jung“, fuhr Madó fort, um noch mehr von ihrem Herrn zu erfahren.

„Ja, viel jünger als ich, viel zu jung eigentlich. Etwa zweiundzwanzig Jahre. Ich könnte beinahe ihr Vater sein.“ Die Alte protestierte. Don Jaime war der schönste Mann auf der ganzen Insel. Sie konnte es mit Recht behaupten, sie, die ihn schon bewundert hatte, als er in kurzen Hosen in dem nahen Pinienwald vom Schloß Bellver an ihrer Hand spazierenging.

„Ist sie auch aus gutem Hause?“ fragte sie weiter, unzufrieden mit den lakonischen Antworten ihres Herrn. „Sicher gehört sie einer der ersten Familien von Mallorca an. Aber nein, ich errate es schon. Wahrscheinlich ist sie von Madrid, eine alte Bekanntschaft aus der Zeit, als der Herr dort lebte.“ Jaime wurde blaß, war einen Augenblick unentschlossen und sagte dann, um seine Verwirrung zu verbergen, mit brüsker Energie:

„Nein, Madó, es ist eine Chueta.“

Antonia schlug wie vorher ihre Hände zusammen und rief von neuem das heilige Blut Christi an, das in Palma ganz besonders verehrt wird. Aber plötzlich glätteten sich die Runzeln ihres braunen Gesichtes, und lachend sagte sie: „Der Herr macht einen Scherz! Wie seinem Großvater gefällt es ihm, die unglaublichsten Dinge mit einer ernsten Miene zu sagen, auf die man hereinfällt. Und ich armer Dummkopf habe alles geglaubt.“

„Nein, Madó, es ist kein Scherz. Ich heirate eine Chueta, und zwar die Tochter von Don Benito Valls. Zu diesem Zweck fahre ich heute auch nach Valldemosa.“

Die leise, zaghafte Stimme, mit der Jaime sprach, und seine niedergeschlagenen Augen nahmen Madó jeden Zweifel. Sie stand da mit offenem Munde.

„Allmächtiger Gott! Allmächtiger Gott!“

Mehr konnte sie nicht hervorbringen. Es kam ihr vor, als ob der alte Palast unter einem Donnerschlag gebebt hätte, als ob die Sonne durch eine Wolke verdunkelt wäre und das Wasser mit bleigrauen Wogen heulend gegen die Hafenmauern einstürmte. Dann sah sie, daß sich nichts geändert hatte, nur sie war erschüttert durch diese ungeheuerliche Neuigkeit.

„Allmächtiger Gott! Allmächtiger Gott!“

Sie ergriff die leere Tasse und das übriggebliebene Brot und flüchtete sich in die Küche. Das Haus flößte ihr Furcht ein. Irgend jemand mußte in den weiten Sälen umgehen, irgend jemand, dessen Natur sie sich nicht erklären konnte, der aber sicher aus einem jahrhundertlangen Schlaf erwacht war. Dieses Haus besaß ohne Zweifel eine Seele. Wenn die Alte allein blieb, hörte sie, wie die Möbel leise knackten. Die Gobelins bewegten sich; in einem Winkel ertönte die goldene Harfe der Großmutter von Don Jaime. Doch niemals hatte sie Angst verspürt. Aber jetzt, nach dieser unglaublichen Erklärung … Unruhig dachte sie an die Gemälde in der Ahnengalerie. Was für ein Gesicht würden diese stolzen Herren machen, wenn sie die Worte ihres Nachkommen gehört hätten!

Madó Antonia wurde ruhiger, nachdem sie den Rest des Kaffees ausgetrunken hatte. Die Furcht wich, nur ein Gefühl tiefer Traurigkeit blieb zurück. Es kam ihr vor, als schwebe Don Jaime in Lebensgefahr. So sollte das große Haus der Febrer enden? Und Gott sollte so etwas dulden? Ein wenig Verachtung für ihren Herrn gewann momentan die Überhand über ihre alte Zuneigung. Welche Schande für seine adelsstolze Tante Doña Juana, die vornehmste und frömmste Dame der ganzen Insel, von den einen aus Spott, von den andern aus Verehrung die „Päpstin“ genannt.

„Auf Wiedersehen, Madó. Abends bin ich zurück.“

Als die Alte allein war, erhob sie die Arme zum Himmel und erflehte die Hilfe des heiligen Blutes Christi, der Jungfrau von Lluch, Patronin der Insel, und des mächtigen Heiligen Vinzenz Ferrer, der so viele Wunder gewirkt hatte, als er auf Mallorca predigte.

„Noch ein Wunder, heiliger Vinzenz“, betete sie, „damit der frevelhafte Plan des Herrn scheitert! Besser, ein Felsblock rollt von den Bergen und sperrt den Weg nach Valldemosa. Besser, der Wagen stürzt um und vier Männer bringen mir Don Jaime auf einer Bahre. Alles eher als diese Schande!“

Febrer durchschritt das Empfangszimmer und ging die Treppe hinunter. Wie der übrige hohe Adel von Mallorca hatten seine Großväter grandiose Bauten aufgeführt. Das Vestibül nahm ein Drittel vom ganzen Erdgeschoß ein. Die Treppe mündete oben in eine italienische Loggia, deren Bogen von fünf schlanken Säulen getragen wurden. Zwei Türen führten in die beiden oberen Flügel des Palastes. Mitten über der Treppe, gegenüber dem Einfahrtstor, war das in Stein gemeißelte Wappen der Febrer, darüber eine schmiedeeiserne Laterne. Jaime schritt die Stufen hinab. Das eiserne Geländer, im Laufe der Jahre vollkommen oxydiert und mit rostigen Schuppen bedeckt, hing so lose, daß es bei jedem seiner Schritte leise schwankte.

Im Vestibül machte Febrer halt. Sein Entschluß, der für die Zukunft seines Namens von größter Bedeutung war, veranlaßte ihn, hier, wo er bisher gleichgültig vorbeigeschritten war, sich zum erstenmal mit Interesse umzusehen.

In keinem anderen Teil des Palastes traten seine gewaltigen Maße so stark hervor. Der Ehrenhof war groß wie ein öffentlicher Platz und bot Raum für mehr als ein Dutzend Staatskarossen. Zwölf massive Säulen aus dem geaderten Marmor von Mallorca stützten die aus Stein gehauenen Bogen; auf denen das durch die Zeit geschwärzte Balkendach ruhte. Der Boden hatte ein Steinpflaster, zwischen dessen Ritzen das Moos emporwucherte. Dieser riesige Hof machte in seiner öden Verlassenheit den Eindruck einer Ruine. Durch ein Loch in einer wurmstichigen Tür, die zu den alten Stallungen führte, kam eine Katze, durchquerte langsam die weite Halle und verschwand in den leeren Kellern. Auf einer Seite lag der Brunnen, so alt wie der Palast, ein offenes Loch im Felsen, umgeben von einem steinernen Geländer, das im Laufe der Jahrhunderte glattgescheuert worden war. An dem zermorschten Gestein kletterten dichte Efeuranken empor. Als Kind hatte Jaime sich oft über das Geländer gebeugt, um tief unten den Wasserspiegel blinken zu sehen.

Die Straße lag einsam da. Die Gartenmauer des Palastes führte bis zu ihrem Ende und stieß dort auf den Stadtwall, in den ein großes Tor eingelassen war. Durch seinen oberen Bogen sah man die grün leuchtenden Wasser der Bai, in denen sich die Sonne mit goldenen Reflexen spiegelte.

Jaime machte einige Schritte auf der mit bläulichen Steinen gepflasterten Straße und drehte sich um, sein Haus zu betrachten. Es war nur noch ein kleiner Rest der Vergangenheit. Ursprünglich nahm der Palast ein ganzes Straßenviereck ein. Heute befand sich in einem Flügel ein Nonnenkloster; andere Teile waren von reichen Familien gekauft worden, die den einheitlichen Stil des Gebäudes durch moderne Balkone entstellt hatten. Die Febrer, zurückgezogen auf den Teil des Palastes, der die Aussicht auf den Garten und das Meer bot, mußten, um ihr Einkommen zu erhöhen, auch die unteren Stockwerke an Krämer und Handwerker vermieten. Neben dem Portal waren jetzt einige große Ladenfenster, hinter denen mehrere junge Mädchen Wäsche plätteten. Als sie Don Jaime bemerkten, begrüßten sie ihn mit respektvollem Lächeln.

Wie schön war sein Haus doch noch, trotz seiner Verstümmelung und seines Verfalls …

In gleicher Höhe mit dem Bogen des Portals befanden sich drei große, durch doppelte Säulen getrennte Fenster, deren Einfassung kunstvoll aus schwarzem Marmor gearbeitet war. In Stein gemeißelte Disteln umrahmten die Säulen, die die Simse stützten. Über ihnen waren drei große Medaillons angebracht. Das mittlere trug das Brustbild des großen Kaisers und die Inschrift: Dominus Carolus Imperator 1541, ein Andenken an seinen Aufenthalt in Mallorca, als er die unglückliche Expedition nach Algier unternahm. Die beiden seitlichen Medaillons zeigten das Wappen der Febrer, getragen von Fischen mit bärtigen Männerköpfen. Um Pfosten und Simse der hohen Fenster des ersten Stockwerks schlangen sich Girlanden aus Ankern und Delphinen, die an den Ruhm dieser Familie von Seefahrern erinnerten, und über ihnen öffneten sich riesige Muscheln. Unter dem Fries war eine Reihe von dicht nebeneinanderliegenden kleinen gotischen Fenstern. Das Ganze wurde gekrönt von einem mächtigen Dach, monumental, wie man es nur bei den Palästen von Mallorca findet. Mit seinem hölzernen, von der Zeit geschwärzten Schnitzwerk ragte es bis in die Mitte der Straße.

Jaime war befriedigt. Wenn durch die Heirat das große Vermögen des alten Valls in seine Hände käme, sollte ganz Mallorca staunen über den wiedererstandenen Glanz des Hauses Febrer. Und trotzdem gab es Menschen, die über seinen Entschluß die Fassung verloren! Empfand er nicht selbst Skrupel? … Mut! Vorwärts!

Er ging nach dem Borne, einer breiten Promenade, die das Zentrum der Stadt bildet. Diese Straße war ursprünglich das Bett eines reißenden Bergstroms gewesen, der Palma in zwei feindliche Städte geteilt hatte: Can Amunt und Can Avall. Dort würde er einen Wagen nach Valldemosa finden.

Als er in die Promenade einbog, bemerkte er, daß eine Gruppe von Spaziergängern neugierig einige Landleute beobachtete, die durch eine auf Mallorca nicht übliche Tracht auffielen. Aber Febrer kannte sie. Es waren Leute von Ibiza. Ibiza! Der Name dieser Insel weckte in ihm die Erinnerung an ein Jahr, das er in seiner Jugend dort verlebt hatte. Diese Fremden erregten sein Interesse.

Zweifellos war es Vater mit Tochter und Sohn. Der Vater trug weiße Sandalen und weite Beinkleider aus blauem Samt. Seine Bluse, die auf der Brust durch eine Brosche zusammengehalten wurde, ließ das Hemd und die Schärpe sehen. Einen dunklen Frauenmantel hatte er wie einen Schal über seine Schulter gelegt. Dieser etwas weibliche Anzug, der zu seinem harten, braunen Maurengesicht einen eigenartigen Kontrast bildete, wurde vervollständigt durch ein Tuch, das er unter dem Hut trug und dessen Zipfel über seine Schultern hingen. Sein etwa vierzehnjähriger Sohn ging ebenso gekleidet, nur ohne Mantel und Tuch. An Stelle einer Krawatte hing ein rotes Band auf seiner Brust. Hinter dem einen Ohr steckte ein kleiner Blumenstrauß. Den Hut, dessen Band mit bunten Blumen bestickt war, hatte er so weit nach rückwärts geschoben, daß die Locken ihm in die Stirn fielen. In seinem schmalen, braunen, verschmitzten Gesicht blitzten ein Paar kohlschwarze, afrikanische Augen.

Das Mädchen lenkte die Aufmerksamkeit am meisten auf sich. Sie trug einen grünen, in enge Falten gelegten Rock, unter dem man verschiedene andere Röcke ahnte. Diese vielen Hüllen machten den Eindruck eines Ballons und ließen ihre zierlichen Füße noch kleiner erscheinen. Ein gelbes Brusttuch, mit roten Blüten bestickt, verbarg ihre Büste. Die Ärmel waren aus Samt, aber von anderer Farbe als das Leibchen und mit einer doppelten Reihe von Filigranknöpfen besetzt, wie sie von den Silberschmieden auf Mallorca hergestellt wurden. Auf der Brust blitzte eine dreifache goldene Kette mit einem goldenen Kreuz. Ihre mächtigen Glieder mußten hohl sein, sonst hätte das junge Mädchen diese Last kaum tragen können. Das glänzende schwarze Haar, oben gescheitelt, war hinten in einen langen, schweren Zopf zusammengeflochten, dessen vielfarbige Schleifenbänder bis an den Saum ihres Rockes hinabfielen.

Die Kleine, die einen Korb am Arm trug, betrachtete die Vorübergehenden oder bewunderte die hohen Häuser und Terrassen der Cafés. Im Gegensatz zu dem üblichen Kupferbraun der Frauen vom Lande hatte sie eine rosige Gesichtsfarbe. Ihre feinen Züge wurden belebt durch den zaghaften Blick wunderbarer Augen.

Jaime, von instinktiver Neugier getrieben, näherte sich den beiden Männern, die dem Mädchen den Rücken zukehrten und in die Betrachtung der Auslagen eines Waffenhändlers versunken waren. Sie prüften Stück für Stück die ausgestellten Waffen mit glänzenden Augen und einer devoten Miene, als stünden sie vor wundertätigen Heiligenbildern. Der Knabe beugte seinen kleinen Maurenkopf weit vor, als wolle er ihn durch die Scheibe stoßen.

„Pistolen! Vater, Pistolen!“ rief er mit froher Überraschung, als ob er unerwartet einen Freund getroffen hätte, und zeigte dem Vater einige Pistolen Lefaucheux. Ihre Bewunderung aber war grenzenlos beim Anblick der modernen Waffen, die ihnen wie Meisterwerke der Kunst erschienen: hahnlose Flinten, Repetierbüchsen und vor allem die Revolver, aus denen man mehrere Schüsse hintereinander abgeben konnte. Was die Menschen nicht alles erfinden!

Als die Gestalt von Febrer sich in der Scheibe spiegelte, drehte der Vater sich schnell um:

„Don Jaime! Oh, Don Jaime!“

Von Freude und Überraschung überwältigt, wäre er beinahe niedergekniet. Er ergriff beide Hände von Febrer und sprach zu ihm mit erregter Stimme:

„Wir wollten zu Ihnen, aber, um nicht zu früh zu kommen, haben wir uns die Zeit damit vertrieben, die Läden anzusehen. Welches Glück, Sie zu treffen! Kommt her, Kinder. Seht euch diesen Herrn genau an! Es ist Don Jaime! Ich habe ihn seit zehn Jahren nicht gesehen, aber ich hätte ihn sofort unter Tausenden erkannt.“

Febrer, verwirrt durch diese heftige Zärtlichkeit und die respektvolle Neugierde der beiden Kinder, suchte vergeblich in seiner Erinnerung, Unsicherheit im Gesicht.

„Sie erkennen mich wirklich nicht, Don Jaime? Ich bin es, Pèp Arabi von Ibiza …“

Aber auch diese Erklärung wollte nicht viel besagen, denn auf der Insel Ibiza gab es nur sechs oder sieben Familiennamen, und wenigstens ein Viertel ihrer Bewohner nannten sich Arabi.

Endlich fand der Bauer das richtige Wort:

„Ich bin Pèp, Pèp Arabi von Can Mallorqui.“

Febrer lächelte. Can Mallorqui! Ein kleines Gut auf Ibiza, auf dem er als Kind ein Jahr verlebt hatte. Seit zwölf Jahren gehörte es ihm nicht mehr. Es war an Pèp übergegangen, der es bis dahin als Pächter bewirtschaftet hatte, wie vor ihm sein Vater und sein Großvater. Damals hatte Jaime noch Vermögen. Was nützten ihm also diese Ländereien auf einer abgelegenen Insel, die er niemals wieder besuchen würde? Und mit der großzügigen Geste des Magnaten verkaufte er das Gut an Pèp für eine außerordentlich niedrige Summe, die in Raten mit langfristigen Terminen bezahlt werden sollte. Vor einigen Jahren hatte Pèp den letzten Betrag entrichtet. Trotzdem blieb Jaime für diese braven Leute der „Gebieter“.

Pèp Arabi stellte seine Kinder vor. Das Mädchen war siebzehn Jahre alt und hieß Margalida. Der Knabe, ungewöhnlich groß für sein Alter, war erst dreizehn. Er wollte, wie es in der Familie üblich war, Landwirt werden, aber der Vater hatte ihn wegen seiner schönen Handschrift für das Seminar von Ibiza bestimmt. Die Ländereien würde ein guter, arbeitsamer Bursche bei seiner Heirat mit Margalida übernehmen. Sie hatte viele Verehrer auf der Insel. Nach ihrer Rückkehr nach Ibiza sollten die traditionellen „Festeigs“ stattfinden, um dem jungen Mädchen Gelegenheit zu geben, sich einen Gatten auszusuchen. Pepet aber war für ein höheres Schicksal ausersehen. Nach seiner ersten Messe würde er entweder in ein Regiment als Feldprediger eintreten oder sich nach Südamerika einschiffen, um wie andere junge Leute von Ibiza dort unten sein Glück zu machen.

Wie schnell doch die Zelt verging! Als Jaime mit seiner Mutter einen Sommer in Can Mallorqui weilte, hatte ihm Pèp beigebracht, mit einer Flinte umzugehen. Damals schoß der kleine Jaime seine ersten Vögel.

„Erinnern sich Euer Gnaden?“ fragte Pèp. „Ich stand im Begriff, mich zu verheiraten; auch meine Eltern lebten beide noch. Dann habe ich den Herrn nur noch ein einziges Mal wiedergesehen, in Palma, als er mir das Gut verkaufte. Eine große Gunst, deren ich mich stets erinnern werde. Heute bin ich beinahe schon ein alter Mann und habe erwachsene Kinder.“

Dann erzählte Pèp, wie er zu dieser Reise gekommen war. Ein ausgelassener Streich, von dem man noch lange auf Ibiza sprechen würde! Aber zu so etwas war er immer aufgelegt; das haftete ihm noch von seiner Soldatenzeit an. Ein guter Freund von ihm, Eigentümer eines kleinen Schoners, hatte Fracht für Mallorca und ihn im Scherz eingeladen, mitzukommen. Aber für Pèp gab es keinen Scherz. Gedacht - gemacht! Die Kinder sollten Mallorca kennenlernen. Im ganzen Kirchspiel von San José gab es nicht ein Dutzend Menschen, die die Hauptstadt kannten. Viele waren in Südamerika, einer sogar in Australien gewesen. Einige Nachbarn erzählten auch von ihren Schmugglerfahrten nach Algier, aber nach Mallorca ging niemand. Und das mit Recht!

„Man hat uns hier nicht gern, Don Jaime. Die Leute sehen uns an, als ob wir Wilde wären.“

Pèp berichtete weiter von seiner Reise. Zehn Stunden hatte die Segelfahrt gedauert. Das Meer war ganz ruhig gewesen. Margalida führte in ihrem Korb genügend Proviant für die Fahrt mit. Beim Morgengrauen wollten sie wieder fort, aber vorher möchte er noch gern mit dem Herrn sprechen. Es handele sich um Geschäfte.

Jaime stutzte und hörte mit größerer Aufmerksamkeit auf die Worte von Pèp, der sich etwas unklar ausdrückte.

Die Mandeln bildeten den größten Reichtum von Can Mallorqui. Die letzte Ernte war vorzüglich ausgefallen, und die diesjährige versprach ebenfalls gut zu werden. Auch über den Preis, den ihm die Schiffer von Barcelona zahlten, konnte er nicht klagen. Fast alle seine Felder waren jetzt mit Mandelbäumen bepflanzt, und deshalb möchte er gern einige Ländereien von Don Jaime ausroden, um sie mit Weizen zu bestellen; nur so viel, wie er nötig hatte für seinen eigenen Gebrauch.

Ländereien? Febrer war überrascht. Besaß er denn noch etwas auf Ibiza? Pèp lächelte. Die Bezeichnung Ländereien paßte eigentlich nicht. Es handelte sich um ein felsiges, steil in das Meer hinausragendes Vorgebirge, dessen Abhang auf der Landseite Pèp durch Anlegen von Terrassen nutzbar machen wollte. Auf der Kuppe stand der Piratenturm. Erinnerte der Herr sich nicht, wie oft er als Junge mit einem Knüppel in der Hand hinaufgestürmt war, um unter wildem Kampfgeschrei die Korsaren zu vertreiben?

Einen Augenblick glaubte Febrer, ein in Vergessenheit geratenes Gut entdeckt zu haben. Nun lächelte er traurig. Der Piratenturm! Ein Felsen aus Kalkstein, in dessen Spalten wilde Pflanzen wucherten, ein Schlupfwinkel der Buschkaninchen. Die Sturmwinde, die vom Meer über ihn hinwegfegten, hatten aus der alten Befestigung eine Ruine gemacht. Als Can Mallorqui verkauft wurde, war der Turm nicht in den Kontrakt aufgenommen worden. Vielleicht hatte man ihn damals vergessen, da er von keinerlei Nutzen war. Mochte Pèp damit machen, was er wollte; er selbst würde niemals an diesen Ort, den er schon ganz vergessen hatte, zurückkehren.

Als Pèp trotzdem anfing, von Pachtzahlungen zu reden, wehrte Jaime mit einer herrischen Geste ab und wandte sich zu Margalida. Sie war in der Tat auffallend hübsch und sah aus wie eine junge Dame, die als Bäuerin verkleidet war. Die Burschen auf Ibiza machten ihr wohl sehr den Hof? Der Vater lächelte stolz über dieses Lob.

„Begrüße unseren Herrn, Kleine! Wie sagt man?“

Er sprach zu ihr wie zu einem Kinde, und sie, mit niedergeschlagenen Augen, hob errötend einen Zipfel ihrer Schürze und murmelte mit zitternder Stimme im Dialekt von Ibiza: „Nein, nein, ich bin nicht hübsch. Ich bin die Dienerin von Euer Gnaden.“

Febrer beendigte die Unterhaltung und befahl Pèp, er solle mit den Kindern nach seinem Hause gehen. Von früher her kenne Pèp ja Madó Antonia, und die Alte werde sich sicher sehr freuen, ihn zu sehen. Was das Essen anbelange, so müßten sie sich mit dem zufriedengeben, was Madó im Hause habe. Abends werde er von Valldemosa zurückkehren und hoffe, sie dann noch zu sehen.

„Auf Wiedersehen, Pèp! Auf Wiedersehen, Kinder!“

Mit dem Stock winkte er einem Kutscher, der auf dem Bock eines Wagens saß, wie man sie nur auf Mallorca findet, sehr schnelle Fuhrwerke mit vier hohen Rädern, überspannt von einem fröhlichen Verdeck aus weißem Segeltuch.

 

 

 

II

 

 

Sobald Palma hinter ihm lag, bekam Febrer angesichts der wunderbaren Frühlingsflur Gewissensbisse über die Art, wie er sein Leben führte. Seit einem Jahr war er nicht aus der Stadt herausgekommen. Die Nachmittage verbrachte er in den Cafés am Borne, die Nächte im Spielsaal des Kasinos.

Heute bereute er, nie daran gedacht zu haben, die schöne Landschaft vor den Toren von Palma aufzusuchen. In den Feldern von zartem Grün murmelten leise Quellen. Am tiefblauen Himmel schwammen weiße Federwölkchen. Die Windmühlen auf den dunkelgrünen Hügeln drehten eifrig ihre Flügel. Dies Bild wurde begrenzt durch steile Höhenzüge, die in der Sonne rot aufleuchteten. Mit Recht hatten die alten Seefahrer, als sie diese anmutige Landschaft kennenlernten, Mallorca „die glückliche Insel“ genannt.

Jaime schmiedete Pläne für die Zukunft, wenn er durch die Heirat in den Besitz eines großen Vermögens gelangt sein würde. Das schöne Gut Son Febrer wollte er zurückkaufen und einen Teil des Jahres wie seine Vorfahren dort zubringen, um das einfache und gesunde Leben eines Landedelmanns zu führen, freigebig und von allen geachtet.

Sein Wagen, dessen Pferde in scharfem Trab gingen, überholte eine lange Reihe von Landleuten, die aus der Stadt zurückkehrten. Schlanke braune Frauen. Über dem weißen Kopftuch trugen sie einen breitrandigen Strohhut, mit lang herabhängenden bunten Bändern und Feldblumen geschmückt. Die Männer waren in gestreiften Drillich gekleidet, die sogenannte Leinwand von Mallorca. Ihre Filzhüte hatten sie so weit zurückgeschoben, daß die glattrasierten Gesichter wie aus einem schwarzen oder grauen Rahmen hervorsahen.

Febrer erinnerte sich aller Einzelheiten dieses Weges, obwohl er seit Jahren nicht mehr dort gewesen war. Ein Stück weiter teilte sich die Straße, links führte der Weg nach Valldemosa, rechts nach Soller.

Soller! Wie dieser Name die schönste Zeit seiner Kindheit wieder auferstehen ließ! Jedes Jahr verlebte seine Familie dort den Sommer in ihrem Landhaus, der Mondvilla, deren Name von dem steinernen Halbkreis mit Augen und Nase herrührte, der sich über dem Portal befand.

Zwischen Palma und Soller lag ein langgestreckter Hügel. Wenn der Wagen die Höhe erreichte, hatte der kleine Jaime einen Schrei des Entzückens ausgestoßen, so wunderbar war dieser Garten der Hesperiden, der sich zu seinen Füßen ausdehnte. Mit dunklen Pinienwäldern bedeckte Berge, deren Gipfel in Nebelkappen eingehüllt waren, säumten zu beiden Seiten das weite Tal ein. Das kleine Städtchen lag mitten in Orangengärten, die sich bis zum Meer hinzogen. Der Frühling kam hier über Nacht mit einer Überfülle von Duft und Farben. Sogar die baufälligen Hütten der kleinen Bauern verbargen ihre Armseligkeit unter dichten Vorhängen von Kletterrosen.

Von allen Dörfern der Umgebung strömte die Landbevölkerung zusammen, um das Fest von Soller zu feiern. Die „Dulcaina“ ertönte und rief zum Tanz. Von Hand zu Hand reichte man sich die Gläser mit dem süßen Branntwein von Mallorca und dem Wein von Banalbufar. Es war das Friedensfest nach tausendjährigem Krieg, nach unaufhörlichen Kämpfen gegen Ungläubige und Piraten, gleichzeitig auch eine Feier zur Erinnerung an den Sieg, den die Einwohner von Soller über eine türkische Korsarenflotte im 16. Jahrhundert davongetragen hatten.

Den Höhepunkt der Festlichkeiten bildete eine Seeschlacht im Hafen. Die Fischerbarken dienten als Galeeren. Ein Teil der Fischer, in der Tracht türkischer Piraten, griff mit alten Donnerbüchsen, Schwertern und Enterhaken die christliche Flotte an. Nach langem Kampfe gelang es, die Korsarenschiffe in die Flucht zu schlagen und auch den Rest der Piraten, die gelandet waren, gefangenzunehmen.

Wenn das Fest beendet und Soller zu seiner friedlichen Ruhe zurückgekehrt war, hatte der kleine Jaime die Tage mit Spaziergängen in den Orangengärten unter der Obhut von Antonia, jetzt Madó Antonia genannt, verbracht. Damals war sie ein frisches, junges Ding mit rundem Busen und blitzenden Zähnen, dem die Bauern nachsahen. Häufig gingen die beiden auch zum Hafen, um die Segelschiffe zu beobachten, die Orangen für Marseille luden. Spät am Nachmittag kehrten dann die Fischerbarken heim. Der Fang wurde in den offenen Schuppen aufgehängt: riesengroße Fische, Rochen und Polypen, die Jaime ein wenig Angst einflößten.

Er liebte den Hafen. Hier erzählte ihm Antonia alte Romanzen im Dialekt von Mallorca. Manche waren mit Soller eng verknüpft, wie die Sage vom heiligen Raimundo von Penafort. Dieser tugendhafte Mönch wurde vom König Don Jaime von Mallorca, dem er sein lasterhaftes Leben vorwarf, verfolgt. Um sein Entkommen zu verhindern, hatte der König alle Schiffe der Insel gesperrt. Der Heilige kam auf seiner Flucht nach dem einsamen Hafen von Soller, breitete seinen Mantel auf dem Wasser aus, nahm den Pilgerstab als Mast und seine Kapuze als Segel. Der Wind Gottes trug das seltsame Fahrzeug über das Meer nach Barcelona. Der Wächter auf dem Turme von Montjuich erblickte es zuerst und verkündigte seine Ankunft durch eine Fahne. Laut ertönten die Glocken von La Seo, und das Volk eilte zur Hafenmauer, um den Heiligen zu empfangen.

Wenn der kleine Jaime noch mehr erfahren wollte, rief Antonia die alten Fischer herbei; sie zeigten ihm dann den Felsen, auf dem der Heilige die Hilfe Gottes angerufen hatte, bevor er sich aufs Meer begab.

Jaime erinnerte sich der andächtigen Schauer, mit denen er diesen Erzählungen gelauscht hatte. Soller bedeutete für ihn die unschuldige Kindheit, Geschichten von Wundern und Gedächtnisfeiern heroischer Kämpfe.

Die Mondvilla hatte er für immer verloren, ebenso die Gläubigkeit und die Unschuld jener Zeit.

Der Wagen bog jetzt ein in den Weg nach Valldemosa. Hier war er nur zweimal gewesen, um zusammen mit einigen Freunden das Kartäuserkloster zu besuchen. Er erinnerte sich der berühmten uralten Olivenbäume, deren phantastische Formen so vielen Malern als Modell gedient hatten. Das Gelände stieg an, der Boden wurde felsig. Um die Steigungen zu überwinden, führte der Weg zwischen dichten Baumgruppen in Serpentinen aufwärts. Die ersten Olivenbäume erschienen.

Febrer kannte sie, trotzdem empfand er die Sensation des Ungewöhnlichen, als sähe er sie zum erstenmal. Sie trugen nur wenig Laub. Ihre schwarzen geborstenen Stämme hatten einen riesigen Umfang, der noch vergrößert wurde durch enorme Wülste. Die Bäume waren Hunderte von Jahren alt und nie beschnitten worden. Der Saft konnte nicht mehr bis zu den Zweigen emporsteigen, sondern blieb im Stamm, der alle Kraft in sich aufsog und ständig stärker wurde. Die ganze Landschaft machte den Eindruck einer verlassenen Bildhauerwerkstatt mit Tausenden von formlosen Entwürfen, mißgestalteten Ungeheuern, verstreut auf einem grünen Teppich, der mit Gänseblümchen und Glockenblumen besät war.