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Ein tiefgründiger Kriminalroman mit Thriller-Elementen. Die junge Mutter Marie flieht zusammen mit ihrer kleinen Tochter Olga vor dem gewalttätigen Vater ihres Kindes, einem katholischen Priester, nach Dortmund. Auf dem Gebiet eines ehemaligen Stahlwerks, wo die Bauarbeiten für den Phoenix-See im Gange sind, finden sie in einem Wohnwagen Unterschlupf. Um sich und ihre Tochter über Wasser zu halten, fängt Marie in einer heruntergekommenen Bar als Tänzerin an – bis sie eines Tages grausam ermordet wird. Jahre später entschließt sich Olga, den Mörder ihrer Mutter endlich zu finden.
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Seitenzahl: 232
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Gabriella Wollenhaupt
Die Toten vom Phoenix-See
Kriminalroman
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
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Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: stock.adobe.com/Natalia
Lektorat: Dr. Marion Heister
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-98708-019-7
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß §44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.
Gabriella Wollenhaupt, Jahrgang 1952, hat viele Jahre als Redakteurin bei Zeitung, Radio und Fernsehen gearbeitet und sich mit dreißig Kriminalromanen um die legendäre Kultreporterin Maria Grappa in die Herzen einer großen Leserschaft geschrieben. Zusammen mit ihrem Ehemann Friedemann Grenz schreibt sie zudem historische und zeitgenössische Kriminalromane.
Nicht aus jeder Asche fliegt ein Phönix auf.
Angekommen
Dortmund im Jahr 2008
Der Typ, der für den Campingplatz zuständig war, hauste in einem niedrigen Schuppen direkt am Eingang. Marie zählte etwa zehn Wohnwagen, die ziemlich ungeordnet über das Gelände verteilt standen. An die Tür des Schuppens war ein Schild genagelt: Rezeption. Sie klopfte und wartete. Nach einigen Augenblicken öffnete sich die Tür und ein Mann sah heraus. »Ja?«
Ihr schlugen verbrauchte Luft und überlaute Fernsehtöne entgegen.
»Ich komme von Günna Brummer. Er hat mir gesagt, dass Sie mir einen Wohnwagen zuweisen«, erklärte Marie.
»Ja, man hat Sie schon angekündigt.« Er wendete sich ins Innere des Schuppens und nahm einen Schlüssel vom Brett.
Der Mann trug ein ausgeleiertes Unterhemd, das über der Hose hing.
»Dann kommen Sie mal!« Dann stutzte er und fragte: »Was will die Kleine denn hier?«
Marie zog Olga hinter sich vor und meinte: »Das ist meine Tochter. Hab ich mit dem Chef abgeklärt. Sie bleibt nur einige Tage und geht dann wieder zu ihrem Vater zurück.«
Den letzten Satz hatte sie so unmissverständlich ausgesprochen, dass Paule Kuczinski – so hieß der Platzwart – nicht mehr auf das Thema zurückkam, aber er wunderte sich insgeheim. Ein kleines Kind bedeutete Scherereien, und wenn es nur die mit dem Jugendamt waren. Aber der Chef würde schon wissen, was er tat. Er musterte die Frau. Nichts Besonderes in seinen Augen. Doch für die Show hatte sie genug in der Bluse und das Haar war auch okay: dunkel, dicht und leicht gelockt.
»Darf ich?« Paule nahm der Frau die beiden Reisetaschen ab. Er war sonst nie so höflich.
Sie gingen über den Platz. Einige der Wagen schienen bewohnt zu sein. Andere waren wohl seit Wochen leer und schnell verlassen worden.
»Wir haben eine ziemliche Fluktuation«, sagte Paule. »Wenn die Mädchen genug verdient haben, hauen sie ab und hinterlassen uns ihren Müll.«
Abfallhaufen türmten sich hinter den Wohnwagen. Paule deutete darauf: »Und wer muss den wegschaffen? Na?« Er wartete Maries Antwort nicht ab und zeigte auf sich. »Ich!«
»Das tut mir leid«, sagte Marie.
Ihr fiel auf, dass auf Paules Unterarm einige Tätowierer geübt haben mussten, bevor sie durch ihre Prüfung gefallen waren.
Paule, Marie und Olga duckten sich unter Wäscheleinen her, an denen eindeutig weibliche Kleidungsstücke hingen: Slips und Büstenhalter in unterschiedlichen Größen und Formen, die wie leere Häute in der Sonne trockneten.
»So, hier sind wir.« Paule schloss einen Wohnwagen auf, der am Ende des Geländes direkt neben einem Zaun stand. »Nicht besonders chic, aber zum Schlafen und Kochen reicht es. Und die kleine Dame …«, er deutete auf Olga, »… wird schon irgendwo einen Platz zum Schlafen finden.«
»Sie wird bei mir im Bett schlafen«, behauptete Marie. »Ich sagte Ihnen ja schon, dass ihr Vater sie in den nächsten Tagen abholen wird.«
»Leben Sie nicht mit Ihrem Mann zusammen?«
Paule konnte seine Neugier nicht zügeln. Er trat näher an Marie heran. Sie ließ es geschehen, wollte ihn nicht verärgern, aber der Geruch, den er absonderte, nahm ihr fast den Atem.
Seit ein paar Wochen war sie schon unterwegs – ohne Aussicht auf einen Job. Die Hotels, in denen sie ein Zimmer für sich und Olga bekam, wurden immer elender. Manchmal schliefen sie auch in dem klapprigen Auto, mit dem sie gekommen waren.
Der Wohnwagen war dagegen reiner Luxus: klein, aber sauber mit Kochplatte, Waschbecken und Toilette.
»Mein Mann ist auf Montage«, erklärte Marie. »Mal hier, mal da. Das ist nichts für ein kleines Kind. Olga braucht Ruhe.«
»Die hat sie hier. Die Grotte macht erst um sechs Uhr abends auf, aber dann geht’s locker durch die Nacht.«
»Und wie sind die Gäste denn so?«, fragte sie.
»Kessel Buntes – die Malocher vom Stahlwerk, die Bauarbeiter von den Firmen, die die Häuser bauen. Und Hartzer kommen auch. Ab und zu mal ein paar klebrige Geldtypen, die dem Chef die Grotte abkaufen wollen, um sie abzureißen für so ’ne Nobelhütte mit Vollblick auf den See. Aber der Chef will nicht.«
»Mama, ich hab Durst«, meldete sich Olga.
»Der Kühlschrank ist rappelvoll«, verriet Paule. »Mach ich immer, wenn eine neue Dame kommt. Die Kosten übernimmt der Chef.«
»Das ist aber nett.« Marie zog die Jacke enger um sich und legte beide Hände auf Olgas Schultern.
»Für abends gibt es Petroleumlampen«, erklärte Paule. »Streichhölzer liegen auf dem Tisch, Bettzeug und Handtücher im Schrank. Wenn Sie was brauchen, melden Sie sich. Bin Tag und Nacht für Sie da, Gnädigste.«
»Ich danke Ihnen. Ich heiße übrigens Marie.«
»Ich bin der Paule. Und wie heißt das kleine Fräuleinchen?« Er legte seine Hand auf Olgas dunklen Schopf.
»Fassen Sie meine Tochter nicht an!«, blaffte Marie ihn an.
»Ist ja gut!« Paule trat betroffen einen Schritt zurück.
Als der Mann weg war, packte Marie ihre Taschen aus.
Olga saß auf der Eckbank und sah zu. »Wo soll ich denn jetzt zur Schule gehen?«
»Das werden wir noch sehen«, sagte Marie. »Wir bleiben nur ein paar Wochen hier, höchstens zwei oder drei Monate. Bis wir was anderes gefunden haben.«
Marie dachte an die letzten Tage. Wenigstens der Wagen hatte durchgehalten und die über tausend Kilometer brav heruntergeschnurrt. Olga hatte alles widerspruchslos hingenommen.
Dann waren Geld und Sprit alle gewesen. Die letzte Tankfüllung an der Autobahn konnte sie schon nicht mehr bezahlen. Zum Glück waren Sommerferien und der Trubel entsprechend groß. Sie hatte vollgetankt und war einfach davongefahren.
Kurz vor Dortmund hatte sie an einer Raststätte eine Zeitung gefunden. Marie hatte das Blatt schon zur Seite schieben wollen, als sie eine Verlagsbeilage entdeckte. Darin wurde ein neues Erholungsgebiet vorgestellt, eine künstliche Seenlandschaft namens Phoenix-See.
Im Artikel war von Arbeitsplätzen die Rede. Ein buntes Foto zeigte den künftigen See von oben – er war ziemlich groß – und am Ufer gab es Siedlungen und einen kleinen Hafen mit einem Bootsverleih. Vieles war allerdings erst in Planung.
Im Anzeigenteil fand Marie eine Stellenausschreibung: Die Bar Zur Grotte suchte weibliche Table Dancer und Kellnerinnen. Es war eine Telefonnummer angegeben. Am Ende des Gesprächs lud man sie ein, sich vorzustellen. So war Marie zur Bar gefahren. Tanzen konnte sie schließlich.
Günna Brummer, der Besitzer des Ladens, hatte sie abgecheckt und eingestellt.
Er war ein großer, stabiler Kerl Mitte dreißig, der sein Leben lang in Hörde gelebt und gearbeitet hatte. Sein Gesichtsausdruck war freundlich, wie es sich für den Besitzer einer Bar gehört, der Kunden haben will.
»Hast du schon mal irgendwo getanzt?«, fragte er.
»Nicht auf irgendeiner Bühne. Aber ich liebe Tanzen und habe ein gutes Rhythmusgefühl«, antwortete sie. »Vielleicht haben Sie erst mal ein bisschen Geduld mit mir.«
»Ich bin der Günna«, lächelte er. »Das mit dem Tanzen kriegst du schon hin. Die meisten Stammgäste sind abends eh kaputt von der Maloche und wollen keinen Schwanensee sehen. Zeig, was du hast, sei freundlich und hau jedem eins in die Fresse, der dich am Arsch packt. Deine Vorgängerin Tanja hat mit einigen angebandelt und ist dann einfach abgehauen. Sie hat vor dir in dem Campingwagen gewohnt. Brauchst du noch irgendwas?«
»Nein, es ist alles gut.«
Natürlich hatte Marie Günna nichts von Olga erzählt, er würde es schon früh genug erfahren und sie dann bestimmt rausschmeißen. Aber bis dahin hatte sie hoffentlich genug Kohle zusammengekratzt, um eine Stadt weiter ziehen zu können.
Olga hatte ihre wenigen Sachen in ein Regal gelegt. »Mama, wo ist denn mein Papa jetzt?«, fragte sie.
Marie erstarrte. Es war das erste Mal, dass ihre Tochter diese Frage stellte. Sie konnte Olga nicht antworten und wollte es auch nicht.
»Das hab ich dem Mann doch nur so erzählt«, versuchte sie ihre Tochter zu beruhigen. »Damit der nicht weiter fragt. Das geht ihn nämlich nichts an.«
Olga gab sich mit der Antwort zufrieden. Andere Kinder hatten einen Papa; sie hatte eben nur eine Mama.
Olga saß auf der Eckbank und sah zu, wie ihre Mama die Kleidungsstücke einräumte.
»Vielleicht muss ich auch nicht mehr in die Schule gehen«, sagte sie.
Marie lächelte. »Das könnte dir so passen, mein Fräulein. Schule muss sein. Du willst doch was lernen, oder?«
»Ich kann doch schon alles«, erwiderte Olga. »Schreiben und rechnen.«
»Ja, das kannst du. Aber im Leben muss man nicht nur schreiben und rechnen können, sondern auch andere Dinge wissen. Aber das kriegen wir schon hin.«
»Weißt du auch viel?«
»Nein«, gab Marie zu. »Ich weiß nicht viel, und das ärgert mich sehr. Und ich werde das auch ändern.«
»Und wie?«
»Wir müssen einen Platz finden, an dem wir bleiben und glücklich sein können.«
Olga nickte. Die Vorstellung gefiel ihr.
Während des Gesprächs bugsierte Marie die Currywurst vom Kühlschrank in die Mikrowelle. Sechs Minuten bei sechshundert Watt. Und die Plastikfolie vorher anstechen. Es schmeckte besser als erwartet. Paule Kuczinski hatte gut eingekauft.
Mückentanz
Ein leichter Wind ließ die Kronen der wenigen Bäume, die hier noch nicht gefällt worden waren, vibrieren. Marie klappte den Tisch im Wohnwagen zusammen und schleppte ihn nach draußen, die Stühle folgten. Olga war aufgeregt und wollte das Gelände erkunden, doch Marie hielt sie zurück.
»Süße, dich darf niemand sehen, und wenn dich doch jemand sieht, dann sagst du ihm, dass du hier in der Nähe wohnst. Oben in Hörde.« Sie deutete auf eine Reihe älterer Häuser. »Mehr musst du nicht sagen.«
Olga nickte und setzte sich. Sie fand den Ausblick auf die riesige Baustelle hochinteressant. »Warum ist hier alles kaputt?«, fragte sie.
»Die Leute brauchen Platz für den See«, antwortete Marie. »Deshalb sind viele der Fabrikhallen abgerissen worden. Der Schutt wird dann abtransportiert. Guck mal!« Sie deutete auf eine Kolonne von Lastwagen, die sich einen Schuttberg hinaufmühte – voll beladen mit Steinen, Metallteilen und altem, verschmutztem Holz. Der Wind pustete Staub in die Luft. Es roch nach altem Öl.
»Aber hier gibt es doch schon kleine Seen«, sagte Olga und deutete auf einen Graben, der längs des Campingplatzes einiges an Wasser staute. Mücken tanzten auf der Wasseroberfläche.
»Das ist die Emscher«, erklärte Marie. »Ein kleiner Fluss. Den haben sie umgeleitet, damit sie später den See mit Wasser füllen können. Dazu kommt der Regen, der gesammelt wird. Es gibt hier überall solche Gräben. Und irgendwann wird das Wasser zusammenfließen und es entsteht ein See – so planen das die Leute hier. Die Tiere spüren das sehr schnell. Im Gebüsch brüten jetzt schon Gänse und Vögel, und Fische soll es auch schon geben.«
»Woher weißt du das alles?«
Marie lächelte und deutete auf ihr Mobiltelefon. »Das steht hier alles drin.«
»Da ist ein Vogel«, rief Olga und zeigte nach oben. Ein Falke zog seine Kreise im Himmel, schrie heiser und rüttelte in der Luft.
»Gleich stürzt er ab.« So kam es auch: Der Vogel ließ sich nach unten fallen, um schnell wieder aufzusteigen – mit einer Maus im Schnabel. Er schrie triumphierend und verschwand.
Olga folgte der Szene mit offenem Mund. In der Stadt, in der sie zuletzt gewohnt hatten, gab es nur Tauben und Krähen, die sich meist über weggeworfene Pommes oder Burgerbrötchenreste stritten.
Die untergehende Sonne färbte die Trümmer des Stahlwerks orange. Auf dem Campingplatz funzelten eilig installierte Laternen, die die Wege zu den einzelnen Wagen nur spärlich erleuchteten.
»Lass uns schlafen gehen«, sagte Marie. Olga brauchte Erholung und sie selbst war ebenfalls erschöpft. »Ab ins Bett, meine Süße.«
Bevor Marie den Wohnwagen von innen verriegelte, beobachtete sie die Umgebung. Niemand war zu sehen, keiner schlich auf dem Gelände umher. Die Musik aus der Grotte schallte zu ihr herüber. Nichts Wildes, Siebziger-Jahre-Schlager und ab und zu gemäßigter Pop. Fast eine Idylle.
Marie ging langsam zurück. Die Sonne war abgetaucht. Alles wird gut, dachte sie. Hier wird er uns nicht finden. Das Versteck war perfekt, das spürte sie. Sie musste sich nur entsprechend verhalten und den Menschen aus dem Weg gehen. Und auf Olga aufpassen.
Rund um den Wohnwagen war alles ruhig. Die Mitarbeiter der Grotte, die auch hier wohnten, kamen erst nach Mitternacht zurück. Olga lag schon unter der Bettdecke und schlief. Marie betrachtete sie. Sie war ein wunderschönes kleines Mädchen mit feinen Gesichtszügen, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte. Ihre Figur war noch kindlich: staksige Beinchen, die einem Rehkitz gehören könnten, große braune Augen mit einem arglosen Blick. Auch die dunkelbraunen Haare hatte sie von Mama. Ein schönes Kind, das zu einer schönen Frau werden würde. So schön wie sie selbst, aber glücklich und selbstbewusst – das schwor sie sich.
Marie ging zum Waschbecken und entfernte den Autobahn- und Phoenix-Staub von ihrer Haut. Morgen würden sie ausschlafen, denn der Betrieb in der Grotte ging erst gegen neunzehn Uhr los.
Verrenkungen
Während Marie und Olga fest schliefen, floss das Bier in der Grotte in Strömen. Der Tag war heiß und die Arbeiter der Baufirmen waren durstig. Aber auch die alteingesessenen Hörder Bürger waren zahlreich vertreten – mussten sie doch aufpassen, dass die Grotte nicht zum Treffpunkt von Außerirdischen wurde. Außerirdische – so nannten die ehemaligen Hüttenarbeiter die Neuankömmlinge. Mit den meisten verstanden sie sich nicht, doch manchmal war so ein polierter Affe dabei, der Unterschicht-Atmosphäre schnuppern wollte. Oder ein Journalist, der zwanghaft nach Stimmungen suchte, die er später in Reportagen lebensnah schildern konnte. Die Malocher machten sich manches Mal einen Spaß – indem sie die Schreiberlinge mit erfundenen Geschichten foppten und sie abfüllten, bis sie im Morgengrauen torkelnd verschwanden.
Heute Abend saß Adam Anderson an der Bar. Er war Student und verdiente sich in den Semesterferien etwas Geld nebenbei, indem er den Abtransport des Schutts organisierte. Kein toller Job, aber immerhin besser, als bei einer Security-Firma anzuheuern. Solch einen Job hatte ihm ein Freund angeboten, aber er hatte abgewinkt. Er war weit entfernt davon, sich mit Menschen anzulegen – er studierte Philosophie und Politik und bereitete eine wissenschaftliche Untersuchung vor.
Er hatte eine Weinschorle vor sich stehen und betrachtete ohne besonderes Interesse die dilettantischen Verrenkungen von Dagmar, die an der Stange tanzte. Mehrfach hatte es schon Plumps gemacht und es hatte mageren Applaus gegeben. Irgendwie warf sie ihre kräftigen Beine mit den überschminkten Krampfadern in eine Richtung, die gerade nicht passte, und landete auf dem Boden.
Ein Gast reichte Dagmar ein Pils. Gierig griff sie danach, trank es aus und warf dem edlen Spender eine Kusshand zu. Wieder Applaus und Pfiffe. Dagmar rückte ab zur Bar, in ihren Augen standen Tränen. Sie bestellte einen Korn, kippte das Glas hinunter und feuerte es auf den Tresen.
»Noch einen!«, forderte sie.
Adam beobachtete das Desaster. Die Frau war am Ende. Sie tat ihm leid. Er ging zum Tresen und ließ sich einen Kaffee bringen. Dagmar war überrascht, als sich Adam neben sie auf einen Barhocker klemmte.
»Ist doch nicht so schlimm«, sagte er. »Morgen Abend redet schon keiner mehr drüber.«
Dagmar sah ihn an. Wollte er sie abschleppen und spielte den guten Samariter?
Sie schob den Kaffee von sich. »Nein, danke. Ich muss ins Bett. Gute Nacht, der Herr.«
Dagmar rutschte vom Stuhl und verschwand wie ein geprügelter Hund. Blicke folgten ihr und mancher Gast konnte sich eine hämische Bemerkung nicht verkneifen.
Günna Brummer, der Chef der Grotte, kam hinter dem Tresen hervor. »Ich hab euch etwas mitzuteilen«, rief er in den Raum. »Ab morgen wird hier eine neue Tänzerin anfangen. Eine Perle, sach ich euch. Mit der könnt ihr nicht so umspringen wie mit der Tanja. Ich sach euch nur: Lernt mal Benehmen.«
Applaus.
Adam amüsierte sich. Hier war er richtig, um seine Diplomarbeit über die Auswirkungen des Strukturwandels im Ruhrgebiet vollenden zu können.
Nicht dass ihm das Thema Spaß gemacht hätte. Aber Philosophie war ein Studium, in dem es auf gefällige Formulierungen und Fantasie ankam. Außerdem konnte er zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Er verdiente genug Geld und konnte sich auf seinen Abschluss vorbereiten.
Arme Dienstmägde Jesu
In der Nacht wachte Marie auf. Geräusche auf dem Campingplatz. Die Grotte-Crew kehrte zu ihren Schlafplätzen zurück. Frauenstimmen, Männerlachen. Marie zog den Sichtschutz beiseite und blickte aus dem kleinen Fenster. Sie erkannte schemenhafte Gestalten, die mit Taschenlampen herumfuchtelten. Nach und nach leerte sich der Platz und die Leute verschwanden in den Wohnwagen.
Meine Kollegen, dachte Marie, hoffentlich komme ich mit denen klar. Aber warum nicht? Sie hatte bisher nie Probleme im Umgang mit anderen Menschen gehabt, sich immer angepasst und versucht, kein ungesundes Interesse zu erregen. Sie kleidete sich nicht aufregend, schminkte sich nur, wenn es sich nicht vermeiden ließ, und ging auf Distanz, wenn jemand versuchte, sich mit ihr anzufreunden.
Olga schlief. Ihr Atem war ruhig. Vorsichtig legte Marie sich neben ihre Tochter, die sie auf keinen Fall aufwecken wollte.
»Mama«, flüsterte Olga.
»Psst … Schlaf weiter, meine Süße.«
»Gibt es eigentlich Fische in den Seen?«
»Das weiß ich nicht. Aber wir kriegen das bestimmt raus.« Olgas Atem wurde ganz gleichmäßig.
Irgendwann fielen auch Marie die Augen zu. Dann kamen die Träume wieder. Ihr Leben in einem katholischen Kinderheim, nachdem ihre Eltern bei einer Massenkarambolage auf einer Autobahn ums Leben gekommen waren. Ein schwer beladener Lkw erfasste den Wagen und machte einen Blechhaufen aus ihm. Marie überlebte. Das alles hatte sie erst später erfahren, konnte sich aber nicht erinnern. Der Priester, der das Kinderheim als Seelsorger betreute, hatte es ihr erzählt, als sie den Kommunionunterricht besuchte. Pater Josef betreute die Ordensgemeinschaft der Armen Dienstmägde Jesu Christi und besuchte das Heim einmal pro Woche. Den Rest der Woche hatten die Nonnen die Macht über die Mädchen. Die Kinder wurden verprügelt, wie Gänse gestopft, wenn sie nicht essen wollten, mussten auf Kleiderbügeln stehen oder man zwang sie, ihr Erbrochenes zu essen. Die ganz Kleinen sperrte man stundenlang in einen dunklen Keller. Wenn sie wieder rausdurften, sprachen sie einige Tage nicht mehr.
Marie hatte die Jahre im Kinderheim einigermaßen unbeschadet überstanden. Eigentlich. Ihre freundliche, folgsame und devote Art gefiel den Nonnen. Sie ahnten nicht, dass in Maries Innerem Zorn, Wut und Rachegelüste tobten. Sie hasste es, sich unterzuordnen.
An dem Tag, als Marie aus dem Heim verwiesen wurde, weil sie schwanger war, und in eine Wohngemeinschaft für minderjährige schwangere Frauen umziehen sollte, haute sie ab. Sie floh in ein anderes Bundesland und kam in einer Kommune unter, die von Sozialarbeitern betreut wurde. Die Behörden suchten nach ihr, fanden sie aber nicht. Laut Unterlagen war sie von einem unbekannten Erzeuger schwanger. In der Kommune gab sie einen falschen Namen an, konnte aber keine Papiere vorweisen. Sie behauptete, ein Feuer habe alles vernichtet. Sie nannte sich Marie Schmidt. Über den Vater ihres Kindes schwieg sie eisern. Als Olga geboren wurde, halfen ihr die Frauen der Kommune. Sie meldeten das Kind nicht an und so existierte der Säugling offiziell nicht. Jahrelang ging das gut. Olga war ein wildes, neugieriges Wesen, sie liebte das Leben in der großen Gruppe, interessierte sich für die Natur, mochte Tiere, Menschen, die Sonne, den Regen und im Winter sogar den Schnee.
Doch eines Tages war alles vorbei. Marie entdeckte in einer Zeitung eine Suchanzeige. Der Inserent, der sich hinter einer Chiffre-Anzeige verbarg, suchte eine junge Frau mit Kind, die aus einem katholischen Mädchenheim verschwunden war. Das Heim befand sich in Süddeutschland und wurde von der Ordensgemeinschaft der Armen Dienstmägde Jesu Christi betrieben.
Sie wusste sofort, dass es Pater Josef war, der sie suchte – der Mann, den sie niemals wiedersehen wollte.
Marie legte die Zeitung beiseite. »Wir müssen los«, sagte sie zu ihrer Tochter. »Pack deine Sachen zusammen.«
»Wohin willst du?«
»In ein neues Abenteuer, meine Süße.«
Und so landeten sie ausgerechnet in Dortmund, Ortsteil Hörde. Da, wo der Konverter jeden Abend abgefackelt wurde und die Welt in einen orangefarbenen Traum tauchte.
Seeblick mit Geheimnissen
»Darf ich jetzt nach draußen gehen?«, fragte Olga nach dem Frühstück.
»Gleich. Wir müssen erst noch was üben. Ein schönes Versteckspiel. Wenn jemand an die Wagentür klopft, krabbelst du schnell unters Bett, meine Süße. Niemand darf dich sehen. So – das probieren wir jetzt mal!«
Marie klopfte an die Wand, das Mädchen ließ sich auf den Boden fallen und verschwand unter dem Bett.
»Super machst du das«, lobte Marie ihre Tochter. »Und du musst ganz leise sein, wenn jemand hier ist, sonst haben wir das Spiel verloren. Und jetzt gehen wir nach draußen. Moment, ich guck, ob die Luft rein ist.«
Marie öffnete die Tür, niemand war zu sehen. Auch die Büsche rund um das Wasser bewegten sich nicht. Kanadagänse schauten neugierig, wandten sich dann wieder der Nahrungsaufnahme zu oder putzten sich.
»Lauf schon mal vor zum Ufer«, sagte Marie. »Ich komme sofort nach. Und geh nicht zu nah ans Wasser.«
Am Rand des Sees waren viele Tonnen Kiesel abgekippt worden, so war der Abgang ins Wasser sanft und nicht gefährlich. Olga setzte sich. Ihre nackten Füße wurden heiß, wo die aufgeheizten Steine die Haut berührten. Olga betrachtete sie. Alle waren sehr sauber, manche gelblich und durchsichtig wie Edelsteine, andere dicht und weiß, und es gab auch hellgraue mit Einschlüssen.
»Sie sind schön, nicht wahr?«, fragte jemand.
Olga drehte sich um. Direkt vor der Sonne stand eine Frau. Olga sagte nichts, nickte nur.
»Bist du öfter hier?«
Olga wusste nicht, was sie antworten sollte, stand auf und blickte Richtung Campingplatz. Wo blieb die Mama?
»Du wohnst in dem Wohnwagen?«, fragte die Fremde freundlich. »Wie heißt du?«
Die zweite Frage war unverfänglich und Olga beschloss, sie zu beantworten. »Olga.«
»Ein schöner Name! Wie alt bist du denn? Nein, sag’s nicht. Lass mich schätzen.« Die Frau betrachtete das Mädchen ein paar Augenblicke und sagte dann: »Na ja, zwölf Jahre bist du bestimmt schon!«
»Ich bin erst zehn«, korrigierte das Kind. »Und du?«
»Ich bin alt. Fast fünfzig Jahre.«
»Das ist wirklich sehr alt«, bestätigte Olga ernst. Die Frau lachte.
»Warum spielst du hier so allein?«, fragte sie. Olga sagte nichts.
»Etwas weiter oben gibt es eine Stelle, da liegen dickere und schönere Kiesel«, behauptete die fremde Frau. »Ich werde sie dir das nächste Mal zeigen. Ich nehme an, du kommst öfter her?«
Olga blickte zu Marie, die ein wenig näher gekommen war. »Ich weiß noch nicht«, antwortete sie schnell, ließ alle Kiesel fallen und rannte weg.
Sommerberg beobachtete, wie das Mädchen auf die junge Frau losstürmte. Frischfleisch für die Bar, dachte sie, aber neu war, dass ein Mädchen sein Kind dabeihatte. Sie würde ein Auge auf die Kleine haben, besonders abends und nachts, wenn die Tanzshow lief.
Sommerberg hatte sich in der neu errichteten Wohnanlage Seeblick eingemietet und jetzt wartete sie. Niemand von der Stadt legte Wert darauf, dass ihr Auftrag an die große Glocke gehängt wurde.
Die Stadt hatte den Bürgern ungetrübte Erholung, unglaublich viel Fun und ungebremsten Konsum versprochen, und das alles durfte nicht durch einen Typen Schaden nehmen, der Frauen und Mädchen beim Baden oder Auskleiden anmachte. Obwohl der See noch nicht fertig war, berichteten Frauen bereits, angesprochen worden zu sein. Es gab deshalb einige Anzeigen, aber kein Ergebnis. Sommerberg sollte die Lage unauffällig beobachten, den Mann zur Strecke bringen oder ihn wenigstens finden.
Sie sah die junge Frau und das Kind im Wohnwagen verschwinden. Da gibt es ein Geheimnis, dachte sie. Sommerberg liebte Geheimnisse und war verrückt danach, sie zu lüften.
Nachdenklich kehrte sie in ihre Wohnung zurück, die in einer größeren Siedlung lag, in der nur gut betuchte Mieter lebten. Im Eingangsbereich gab es einen kleinen Garten, der von Kletterpflanzen überrankt war. Das alles war schon vor dem Beginn der Bauarbeiten errichtet worden. Zu jeder der Wohnungen gehörte ein Parkplatz. Da das Gebäude auf einem Hügel lag, würde der Blick auf den künftigen Phoenix-See nicht verbaut werden können, weil die Höhe der Häuser per Verordnung festgeschrieben war. Die Stadt wollte keine neue Hochhaussiedlung am Hals haben, sondern eine moderne Anlage, die Alt-Hörde aufhübschte.
Sommerberg wohnte gern hier. Sie biederte sich nicht an, hatte aber ein Talent dafür, sich in fremde Menschen einzufühlen. Diese Fähigkeit hatte ihr in ihrem früheren Beruf geholfen. Sie erkannte Lügen, bevor sie ausgesprochen wurden, hatte tröstende Worte für Gewaltopfer, die sie vom Suizid abhielten, und sie konnte hart und mitleidlos zupacken, wenn es notwendig war. Sie war klein, schlank, und wenn sie ein ärmelloses T-Shirt trug, sah man ihre trainierten Muskeln. Rappelkurzes graues Haar, eisblaue Augen und ein federnder Gang machten das Bild einer Dame mittleren Alters perfekt. Sie hatte nie geheiratet und auch Kinder gab es nicht. In ihrem Job tummelten sich hauptsächlich Männer aus der Macho-Liga mit berechtigten Minderwertigkeitsgefühlen in Sachen Bildung und Benehmen.
Schon am ersten Tag ihres Jobs bei der Polizei hatte sie dafür gesorgt, dass alle sie am zweiten Tag schon kannten: Sie entfernte die Fotos zahlreicher leicht bekleideter Damen von den Wänden der Verhörräume, in denen auch vergewaltigte Opfer vernommen wurden.
Chinesisches Interesse
Das Publikum der Grotte setzte sich aus Zugezogenen und Alteingesessenen zusammen. Die, die schon immer hier lebten, hatten früher im Stahlwerk Phoenix gearbeitet, das vor acht Jahren aufgegeben worden war. Chinesen hatten das Werk gekauft, tausend Arbeiter aus China bauten es ab. 2004 wurde es verschifft und in China wieder in Betrieb genommen. Dies war der größte Umzug in der Industriegeschichte weltweit. Zuvor war im Januar 2001 die Hörder Fackel gelöscht worden, was bei der »Urbevölkerung« auf geteiltes Echo stieß.
Durch den Schornstein waren die Rückstände aus der Stahlproduktion, die zuvor verbrannt worden waren, in die Luft gepustet worden und es hatte immer viel Ärger deshalb gegeben. Oft waren die Konverter kaputt, und am Morgen konnte man mit dem Finger den schwarzen Dreck von den Fenstern abwischen.
Inzwischen dachten die Männer, die in der Grotte saßen, eher sentimental an jene Zeit zurück, als die Häuser in orangefarbenes Licht getaucht wurden, was bei Schnee besonders romantisch aussah.
In ein paar Jahren würde das Feuer des Phoenix durch einen vierundzwanzig Hektar großen See gelöscht worden sein. Wie der geheimnisvolle Vogel aus der Mythologie hatte sich hier etwas aus der Asche erhoben, von dem noch niemand wusste, ob es besser sein würde für die Menschen. Allerdings war die Luft schon jetzt sauberer. Land, Stadt und Investoren hatten viel Geld in das Projekt gesteckt, die Grundstückspreise rund um den See waren rasant gestiegen, schicke Villen und Eigentumswohnungen waren in Planung und verkauften sich wie geschnitten Brot. Das Credo der Investoren, dass der See »das Lebens- und Wohngefühl der neuen Generation« verwirklichen würde, hörte sich zwar gut an, doch schon jetzt bezweifelten Hobby-Experten und pathologische Miesmacher dieses Versprechen. Meckerer gab es halt immer.
Adam Anderson interessierte sich aus beruflichen Gründen für die Stimmung im traditionellen Arbeiterviertel. Er verbrachte ab und zu einen Abend in Günna Brummers Kneipe, um dem »Volk aufs Maul zu schauen«. Er hatte mit vielen Hörder Bürgern jeden Alters gesprochen und sie in den Notizen seiner Diplomarbeit in mehrere Gruppen eingeteilt. Auch die sogenannte »neue« – also junge – Generation freute sich auf den See. Sie hoffte auf eine Outdoor-Parcoursanlage, Kicker, Tischtennisplatten, Chill-out-Areas und natürlich Fast-Food-Buden mit zivilen Preisen.
In der Grotte saßen die Männer von damals und heute in der Bar zusammen. Sie hatten nicht viel gemein – außer dass sie allesamt Männer waren und sich sündige Nächte erhofften; zumindest in ihrer Fantasie. Für die Altbürger war der Laden eigentlich zu schickimicki. Sie standen nicht auf Caipirinhas, Erdbeer-Daiquiris oder Fingerfood, sondern eher auf Pils, Korn und Bulette. Günna bot beides an.
Der erste Abend