Die Toten von Passau - Michael Winter - E-Book
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Die Toten von Passau E-Book

Michael Winter

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Beschreibung

Die düsteren Abgründe der Drei-Flüsse-Stadt: Der packende Sammelband »Die Toten von Passau« von Michael Winter jetzt als eBook bei dotbooks. Ein eigenwilliges Ermittler-Duo, drei rätselhafte Morde im Passauer Umland: Die Polizisten Assauer und Hammer haben in ihrer gemeinsamen Laufbahn schon einiges gesehen – doch der grausame Fund, der sie auf dem Rastinger Gemeindefriedhof erwartet, lässt selbst ihnen das Blut in den Adern gefrieren. Die Leiche eines jungen Mädchens liegt nackt auf einem Grab; hat die Sechzehnjährige sich wirklich aus freien Stücken von dem Kirchturm gestürzt? Auch der der kaltblütige Mord am örtlichen Bürgermeister stellt Assauer und Hammer vor Rätsel – und schließlich müssen sich die beiden fragen, ob hinter der idyllischen Fassade Passaus schon lange ein tödliches Netz aus Mord und Intrigen gesponnen wird … Jetzt als eBook kaufen und genießen: »Die Toten von Passau« von Michael Winter vereint seine drei spannenden Kriminalromane um das Ermittler-Team Assauer und Hammer – »Tod eines Mädchens«, »Tod im Schützenhaus« und »Tod eines Unbekannten« – und zeigt uns ein Niederbayern jenseits aller schönen Klischees. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Über dieses Buch:

Ein eigenwilliges Ermittler-Duo, drei rätselhafte Morde im Passauer Umland: Die Polizisten Assauer und Hammer haben in ihrer gemeinsamen Laufbahn schon einiges gesehen – doch der grausame Fund, der sie auf dem Rastinger Gemeindefriedhof erwartet, lässt selbst ihnen das Blut in den Adern gefrieren. Die Leiche eines jungen Mädchens liegt nackt auf einem Grab; hat die Sechzehnjährige sich wirklich aus freien Stücken von dem Kirchturm gestürzt? Auch der der kaltblütige Mord am örtlichen Bürgermeister stellt Assauer und Hammer vor Rätsel – und schließlich müssen sich die beiden fragen, ob hinter der idyllischen Fassade Passaus schon lange ein tödliches Netz aus Mord und Intrigen gesponnen wird …

Über den Autor:

Michael Winter wurde 1946 in Frankfurt am Main geboren. Nach seinem Studium in München arbeitete er bei Siemens im Bereich Informatik. 1975 wechselte Michael Winter zum Bayerischen Rundfunk, wo er 35 Jahre lang Sprecher und Moderator war. Bis heute ist er außerdem als Regisseur und Drehbuchautor für Werbe- und Industriefilmproduktionen in Europa und Übersee erfolgreich.

Michael Winter veröffentlicht bei dotbooks den Thriller

»Das Böse stirbt nie« sowie drei Passau-Krimis rund um die Kommissare Assauer und Hammer:

»Tod eines Mädchens«

»Tod im Schützenhaus«

»Tod eines Unbekannten«

***

Sammelband-Originalausgabe Dezember 2022

Copyright © der Originalausgabe 2022 dotbooks GmbH, München

Das Copyright der Einzelbände finden Sie gesammelt am Ende dieses eBooks.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ah)

ISBN 978-3-98690-421-0

***

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Michael Winter

Die Toten von Passau

Drei Krimis in einem eBook

dotbooks.

Tod eines Mädchens: Ein Fall für Assauer und Hammer – Band 1

Als die alte Frau im strömenden Regen am Grab ihres Mannes ankommt, ist ihr Entsetzen groß: Dort liegt ein junges Mädchen – nackt und tot. Die beiden Kommissare Assauer und Hammer finden schnell heraus, dass Anna vom Kirchturm gestürzt ist. Aber warum? Für die Leiterin der Mordkommission besteht kein Zweifel: Es war Selbstmord – und schuld ist der Vater der Sechzehnjährigen. Während ihre Chefin eine regelrechte Hetzjagd auf den Trauernden startet, entdecken Hammer und Assauer Unstimmigkeiten und andere Hinweise: Hatte das Mädchen eine heimliche Beziehung? Wer ist der geheimnisvolle Unbekannte … und hat er Anna auf dem Gewissen?

Vorbemerkung

Alle Personen in dieser Geschichte sind frei erfunden.Manchen sind Sie aber vielleicht schon begegnet.Das Dorf Rasting zwischen Fürstenzell und Ortenburg finden Sie nicht auf der Landkarte oder mit Ihrem Navi. Es könnte aber sein, dass Sie schon mal da waren.Die Handlung entspringt der nicht jugendfreien Fantasie des Autors und seiner Erfahrung mit der Spezies homo sapiens.

Freitag

Der Regen wollte gar nicht aufhören in diesem Verdruss-Sommer. Wenn man von einem der umliegenden Hügel auf Rasting bei Passau hinuntersah, hatte man den Eindruck, das Dorf liege inmitten einer Seenplatte. Dabei standen nur die Wiesen weithin unter Wasser. Dass die Ernte hinüber war, war so sicher wie das Amen in der Marienkirche, in der die Bauern sonntags beim Gottesdienst die Hände eher zu Fäusten ballten, als sie zum Gebet zu falten, so grollten sie ihrem Herrgott, der dieses Sauwetter machte. Auch an diesem Freitag, dem 13. August, hatte es ununterbrochen gegossen wie aus Kübeln. Erst bei Einbruch der Dämmerung, als die Glocke zum Ende der Abendandacht läutete, ließ der Landregen nach. Es tröpfelte bloß noch, als Pfarrer Sebastian Arnsberger die paar Schäflein, die sich durch den Wolkenbruch in seine Kirche gekämpft hatten, unter der Tür verabschiedete. »Auf Wiedersehen, Herr Pfarrer«, sagte Angelika Goller, drückte ihm die Hand und zwängte sich an ihm vorbei, weil er mit seiner ausladenden Gestalt das Portal beinahe ausfüllte. Auch ihre Nachbarin Erna Kammler musste sich mühsam an ihrem Hirten vorbeimanövrieren. Draußen flüsterte sie Angelika zu: »Der Herr ernährt die Seinen wohl.«

»Ja«, versetzte die, »bei uns ist der Hirt’ fetter als die Schafe.« Dann, nach einem Blick zum Himmel: »Du, weißt’ was, jetzt wo’s grad nicht so schüttet, schau ich mal schnell nach dem Grab von meinem Alois. Vielleicht kann ich noch ein paar von den Blumen retten.«

Erna nickte. »Ich wart’ auf dich«, und Angelika ging Richtung Gräber. Das heißt, sie ging nicht, sie hüpfte eher ungeschickt über die Pfützen. Als sie am Turm ums Eck musste, landete sie mit beiden Füßen mitten in einer Riesenlache. Wasser lief ihr in die Schuhe. Das Wasser war rot! Sie hob den Blick. »Um Gotteswill’n!«, entfuhr es ihr kaum hörbar, dann rief sie aus Leibeskräften: »Herr Pfarrer, kommen S’, schnell!«

Er kam angeplatscht, Erna Kammler im Schlepptau. Alle drei standen jetzt in der Riesenpfütze, starrten auf das Grab vor ihnen. »Mein Gott«, sagte Pfarrer Arnsberger tonlos und bekreuzigte sich.

Vor ihnen auf der Marmorplatte lag ein Mädchen, nackt, tot. In die offenen Augen fielen letzte Regentropfen und täuschten jenen Glanz vor, der doch schon erloschen war. Von ihrem Hinterkopf lief ein rotes Rinnsal, füllte die in die Platte eingravierten Buchstaben, lief weiter über den Rand, färbte das Wasser der Pfütze, das den Dreien in die Schuhe drang.

Schritte kamen von hinten. Johannes, der Priesterseminarist, der diesen Sommer in Arnsbergers Pfarrei sein Praktikum machte. »Was ist denn?«, fragte er und drängte sich vor, bis auch er das tote Mädchen sah.

»Anna«, erst leise, dann wie ein Schrei, »Anna! Anna!« Er stürzte vor, wurde aber vom Pfarrer an den Schultern gepackt. »Lass«, sagte Arnsberger und zog ihn zurück. Und nachdem er tief Luft geholt hatte: »Geh, ruf die Polizei an. Und sie sollen den Notarzt mitbringen. Das hilft zwar nichts mehr, aber …« Er zuckte hilflos die Schultern.

Johannes rührte sich nicht.

»Jetzt mach schon«, mit diesen leisen Worten schob ihn Arnsberger sanft Richtung Pfarrhaus. »Und ihr zwei wartet am besten in der Kirche, bis die Polizei da ist«, sagte er zu den beiden Frauen. »Die werden mit euch reden wollen.« Die beiden nickten und gingen wortlos hinein. Pfarrer Arnsberger blieb bei der Toten. Er setzte zu einem Gebet an, aber es wollte ihm nicht über die Lippen.

***

»Autsch, Scheißglump, verreckt’s!« Thomas Assauer ließ den brühheißen Plastikbecher fahren, sodass die Hälfte des Kaffees in den Automaten zurücklief. »Nicht bloß, dass das Zeug schmeckt wie Spülwasser, jetzt verbrenn ich mir auch noch die Finger! Wird Zeit, dass in das Büro endlich mal eine gescheite Kaffeemaschine reinkommt!«

Er schleckte seine Finger ab, blies kühlend darüber und angelte den jetzt halb leeren Becher mit der anderen Hand aus dem Ausgabeschlitz.

»In Amerika könnt’st jetzt den Automatenhersteller auf eine Million verklagen!«, rief sein Kollege vom Schreibtisch gegenüber. »Aber hier in Bayern gilt des als strafbare Selbstverstümmelung im Amt, weil auch einem Kriminaler eine rudimentäre Restintelligenz zugebilligt wird.«

»Dir bestimmt nicht«, gab Assauer zurück. »Du lässt bekanntlich höheren Orts denken, weil du nach Dienstvorschrift arbeitest. Ich denk’ hingegen noch selber.«

»Ja, mit mechanischen Relais, wie ein Österreicher, drum bist’ auch schon mit einem Kaffeeautomaten überfordert«, kam es zurück.

»Die Maschine verstößt gegen den Heimtückeparagrafen«, beendete Assauer die Flachserei mit seinem Gegenüber, stellte den Becher mit dem Kaffeerest auf den Schreibtisch und rückte seinen Stuhl vor den Computer, um weiter auf eBay zu stöbern. Ein stinklangweiliger Freitagabend zwischen abgewetzten Möbeln in diesem kahlen Büro war das Letzte, was er brauchte.

Das Telefon schrillte.

»Ich nehm’s schon, du bist ja schwer verletzt«, sagte sein Kollege und hob ab.

»Kripo Passau, Hauptkommissar Hammer«, meldete er sich und horchte in den Hörer.

»Ja und, da gehört sie doch hin«, sagte er nach einem Moment. Dann: »Ach so, da gehört sie jetzt eher nicht hin. Wir kommen.« Er legte auf.

»Was ist los?«, fragte Assauer.

»In Rasting liegt eine Tote auf dem Friedhof.«

»Ja und, da gehört sie doch hin.«

»Die liegt aber nicht im Grab, sondern oben drauf.«

»Ach so, da gehört sie wirklich eher nicht hin.«

»Fahren wir«, schloss Maximilian Hammer den Dialog.

Sie waren keine halbe Stunde unterwegs, da tauchte nach einer Kuppe Rasting vor ihnen auf. Assauer sah ein paar Vierseithöfe, ein Gewerbegebiet, Wohnhäuser mit riesigen Gärten, einen Bau, der unverkennbar eine Brauerei darstellte und die barocke Kirche, die das Ortsbild beherrschte. Die überschwemmte Trasse einer halb fertigen Umgehungsstraße links von ihnen glich einem breiten Fluss, aus dem Baumaschinen wie Inseln hervorragten, und die überschwemmten Wiesen und Felder ringsum veranlassten Assauer zu der bissigen Bemerkung: »Das ist ja das reinste Feuchtbiotop!«

Als sie das Ortsschild passiert hatten und durch die schmucke Hauptstraße fuhren, wandte sich Hammer, der am Steuer saß, zu ihm, rieb Daumen und Zeigefinger aneinander und meinte: »Da ist ganz schön Geld daheim.«

»Ja, schaut aus wie’s Mündungsgebiet von einem Subventionsfluss«, versetzte Assauer, der nach der Abzweigung zur Kirche Ausschau hielt.

»Da, wo wir grad hinfahren, ist alles Geld gar nix wert«, stellte Hammer trocken fest, bog links ab und hielt gleich darauf an der Friedhofsmauer.

»Respekt vor deiner Orientierung, ich hätt’s nicht so schnell gefunden«, meinte Assauer im Aussteigen anerkennend.

»Bayerisches GPS, der Friedhof ist immer neben der Kirch’ und neben der Kirch’ ist immer das Wirtshaus und das findet ein Bayer im Schlaf«, erklärte Hammer, deutete auf den Gasthof Rastingerbräu hinter ihnen, schob sich aus dem Fahrersitz, schlug die Tür zu, ging nach hinten ans Auto, öffnete den Kofferraum und nahm ihre ›Feuchtbiotop-Ausrüstung‹, wie er sich ausdrückte, heraus.

Das Blaulicht eines Krankenwagens, das grelle Licht zweier Scheinwerfer und das schwache Abendrot, das durch die stellenweise aufgebrochenen Wolken drang, ließen die Wassertropfen auf der Plastikplane am Grab seltsam schimmern, wenn ein Windhauch darüberfuhr. Durch diese halb transparente Folie hindurch erschien der blasse Mädchenkörper wie eine liegende Steinfigur, die zu der Grabplatte darunter gehörte.

Ein älterer uniformierter Kollege hatte Hammer und Assauer kommen sehen und hergeführt. »Nix Schönes«, hatte er nur kopfschüttelnd gesagt. Beide hatten mit den Achseln gezuckt und waren wortlos hinter ihm hergetrottet. Jetzt standen auch sie in der roten Pfütze, mit Dienst-Gummistiefeln aus dem Kofferraum ihres Polizeiwagens. Der Uniformierte zog die Plane zur Seite.

»So ein junges Mädchen«, murmelte Hammer leise.

»16«, sagte eine Stimme hinter ihnen, »Anna Friese, die Tochter von einem Zahnarzt, der hier im Ort wohnt.« Es war Monika Erdmann, die noch vor ihnen eingetroffen war. Klein, kugelig, mit runder Nickelbrille, in weißen Gummistiefeln und rotem Umhang mit Kapuze, hätte man sie an diesem Ort für einen deplacierten Gartenzwerg halten können. Tatsächlich war sie die vermutlich beste Gerichtsmedizinerin in Deutschland, blitzgescheite Autorin zweier Standardwerke und doch zufrieden in der niederbayerischen Provinz. Sie mochte Städte nicht, hieß es, und Menschen noch weniger. Beides stimmte. Das Letztere diagnostizierte sie bei sich selbst als nicht therapierbare Berufskrankheit.

»Und?«, fragte Hammer.

Die Ärztin machte eine Kopfbewegung nach oben, zur Schallöffnung im Kirchturm. »Auf den ersten Blick würd’ ich sagen, sie ist da runtergesprungen.«

»So? Nackt?«, fragte Hammer. »Wer springt denn pudelnackt von einem Kirchturm?«

Die Erdmann zog die Augenbrauen hoch. »Von einem Dresscode bei Selbstmördern ist mir nichts bekannt.«

»Respekt, bist auch approbierte Zynikerin?«, fragte Hammer. Dann zu Assauer: »Einer von uns muss da rauf.« Er deutete zum Turm.

»Du«, versetzte Assauer, »ich bin ja bekanntlich schwer verletzt.«

»Aber nicht an den Füßen und außerdem bist du zwanzig Kilo leichter und sportlicher. Und der Turm da ist ja nicht das Empire State Building.«

»Das hätt’ einen Aufzug.«

Assauer nahm sein Funkgerät aus der Tasche, schaltete es ein und setzte sich in Bewegung.

»Vergiss nicht …«, rief ihm Hammer nach.

»Schon recht«, kam es zurück, »Augen auf am Tatort!«

Das Zitieren ihres Chefs war ihnen zum Ritual geworden. Assauer verschwand in der Kirche.

»Selbstmord also?«, Hammer sah die Erdmann fragend an.

»So, wie’s aussieht …« Sie zuckte die Achseln. »Alkohol, Drogen vielleicht, kommt ja genug rüber.« Sie deutete mit dem Daumen gen Osten. »Viele, viele bunte Goodies. Gibt’s in jeder Dorfdisco. Morgen kann ich mehr sagen. Sie muss übrigens nach dem Sturz noch eine Weile gelebt haben, nach dem vielen Blut zu urteilen.«

Hammer schauderte. »Irgendwelche Spuren an ihr?«

»Unwahrscheinlich. Wenn da was war, hat’s der Regen weggewaschen, so wie das heute geschüttet hat.«

»Wie lang liegt sie schon da?«

»Mindestens zwei Stunden, bis die Frau sie gefunden hat.«

»Und der Todeszeitpunkt?«

»Wahrscheinlich so zwischen vier und fünf.«

Hammers Funkgerät piepte. Assauer!

»Die Spurensicherung wird eine Freud’ haben.«

»Warum?«

»Da heroben muss kürzlich ein ganzer Haufen Leute rumgetrampelt sein, Kinder, wie’s ausschaut. Aber immerhin hab’ ich die Schuhe und die Kleidung von dem Mädchen.«

»Lass sie liegen. Ich schau später selber noch rauf. Und komm wieder runter, wir müssen mit dem Pfarrer reden.«

Pfarrer Arnsberger saß in der Bank vorne beim Altar neben den beiden Frauen und Johannes. Assauer und Hammer traten hinzu. Sie sahen, wie der junge Mann zitterte.

»Das Mädchen heißt also Anna Friese«, sagte Assauer.

»Ja«, antwortete der Pfarrer. »Sie ist die Tochter eines Zahnarztes. Er hat seine Praxis in Passau, seine Frau ist Verkaufsleiterin in einer Firma in Ruhstorf. Die Familie wohnt aber hier in Rasting. Sie haben vor Jahren einen alten Bauernhof gekauft. Die Frau ist passionierte Reiterin, hat auch ihr Pferd hier stehen. Die Gegend ist ja ideal.«

»Haben Sie sie auch gekannt?«, wandte sich Assauer an den jungen Mann, der, reichlich blass um die Nase, in der Bank saß.

Der nickte. »Ja, ich leite die Jugendgruppe, seit ich hier bin. Da ist …«, er korrigierte sich, »da war Anna auch dabei. Sie war eher eine von der ruhigen Sorte.« Nach einer Pause setzte er hinzu: »Ich versteh’s nicht. Ich versteh’s einfach nicht.«

Assauer ließ ihn. Er wandte sich den beiden Frauen zu. »Wer hat sie denn gefunden?«

»Ich«, antwortete Angelika Goller. »Ich wollt’ bloß schnell zum Grab von meinem Mann, da hab’ ich sie liegen sehen.«

Assauer nickte. »Geben Sie bitte dem Kollegen draußen Ihre Adresse und gehen Sie heim. Und Sie«, wandte er sich an Johannes, »gehen, glaub’ ich, auch besser.«

Er schaute ihnen hinterher, als sie weggingen. Gutaussehend war der junge Mann, jung, schlank, sportlich, dunkle Haare. Ein Frauentyp. Keiner, bei dessen Anblick man auf einen angehenden Priester mit Zölibat kam.

Hammer sagte nichts. Erst als die Kirchentür hinter Johannes und den Frauen zuschlug, fragte er, mit einer Geste Richtung Turm: »Kann da jeder einfach so rauf?«

»Der Schlüssel hängt immer am Brett neben der Tür«, antwortete der Pfarrer achselzuckend.

»Stimmt, da hängt er, ich hab ihn gesehen, wie ich rauf bin«, bestätigte Assauer. »Sehr sinnvoll.«

»Da vorn zur Sakristei kommt doch keiner hin«, entgegnete der Pfarrer entschuldigend.

»Kürzlich muss aber ein ganzer Haufen Kinder oben rumgelaufen sein. Da sind jede Menge Fußspuren.«

»Ja, am Donnerstag«, erklärte Pfarrer Arnsberger, »eine Schulklasse, wegen der Fledermäuse. Es kommen öfter Klassen deswegen.«

Hinter ihnen ging die Tür auf. Zwei Kollegen von der Spurensicherung mit ihren Koffern. ›Ernie und Bert‹, wie sie allgemein nach zwei Figuren aus der Sesamstraße, denen sie nicht unähnlich waren, genannt wurden. Ernie klein, mit breitem Gesicht und Quäkstimme, Bert hoch aufgeschossen, mit Eierkopf und kleinem, hochstehendem Haarschopf. Hammer ließ sie herankommen.

»Ihr wisst Bescheid?«, fragte er.

»Ja, wo geht’s rauf?«

»Ich geh’ vor«, antwortete Hammer. »Ich will mich eh’ noch droben umsehen.«

»Viel werdet ihr nicht finden«, unkte Assauer. »Da waren vorgestern jede Menge Kinder droben und außerdem hat der Wind aufgefrischt und pfeift durch.«

Es dauerte nicht lang, bis Hammer zurückkam.

»Nix«, bemerkte er achselzuckend.

»Sag ich doch«, versetzte Assauer. »Und jetzt?«

»Jetzt müssen wir den Eltern Bescheid sagen«, seufzte Hammer.

Der Pfarrer stand auf. »Ich könnte mitkommen.«

»Nein, lassen Sie nur. Schau’n Sie lieber nach Ihrem Seminaristen. Der sieht aus, als könnt’ er’s brauchen«, meinte Assauer und wandte sich zum Ausgang. Hammer ging hinter ihm drein.

Was jetzt kam, wusste er, würde schlimm werden.

Sie fuhren zum Bauernhof der Familie, trafen dort aber nur die Haushälterin an. Von ihr erfuhren sie, dass Annas Mutter auf einer Messe in Hannover war und der Vater freitagabends stets länger in der Praxis blieb, um den Papierkrieg der Woche nachzuarbeiten. Sie sagten nichts von Anna und machten sich auf den Weg nach Passau zu ihrem Vater.

Unterwegs hingen beide ihren Gedanken nach, verarbeiteten, was sie gesehen hatten.

»Eines versteh’ ich nicht«, sagte Assauer nach einer Weile in das Schweigen.

»Ihre Kleider meinst du, oder?«, fragte Hammer.

»Ja, ist doch eigenartig.«

»Und ob! Das ist schon seltsam, dass das Mädchen, bevor es gesprungen ist, seine Kleider noch ganz sorgfältig zusammengelegt und seine Schuhe dazugestellt hat, als wollte sie die Sachen gleich wieder anziehen. Schlau werd ich da nicht draus.«

»Ich auch nicht.«

Den Rest des Wegs fuhren sie wortlos. Jeder dachte dasselbe: Wie bringt man einem Vater bei, dass sein Kind tot ist?

›Professor Dr. Walter Friese – Implantologie und Kieferchirurgie‹ stand auf dem Messingschild des schicken Hauses am Residenzplatz, in dem Annas Vater seine Praxis hatte. Die Haustür war offen und sie stiegen hoch in den ersten Stock.

»Die Praxis ist schon geschlossen«, empfing sie eine Sprechstundenhilfe an der Rezeption.

»Aber die Tür ist noch auf«, erwiderte Hammer. »Wir müssen zu Professor Friese.« Er hielt ihr seine Polizeimarke unter die Nase. Sie stutzte.

»Zwei Herren von der Polizei für Sie, Herr Professor«, sagte sie in pikiertem Ton in ihre Sprechanlage und wies gleichzeitig auf eine Tür gegenüber ihrer Theke.

»Beeilen Sie sich bitte, es kommt gleich noch ein Patient mit Zahnschmerzen«, forderte sie Hammer auf.

»Den schicken’s zur Bereitschaft«, sagte Assauer trocken und folgte Hammer.

Professor Friese erhob sich, um sie zu begrüßen, das heißt, er erhob sich nicht, er wuchs hinter seinem Schreibtisch zu erschreckender Größe empor. Sein Händedruck ließ erkennen, dass er auch den widerspenstigsten Weisheitszahn bloß mit zwei Fingern ziehen konnte. Falls er seine Riesenpratzen überhaupt in einen Mund hineinbekam, wie Assauer unwillkürlich denken musste.

Hammer kramte umständlich nach seinem Dienstausweis und reichte ihn über den Schreibtisch, wie um noch einen Augenblick zu gewinnen, bevor er das Unvermeidliche doch sagen musste.

»Wir kommen wegen Ihrer Tochter Anna«, begann er und fuhr fort, »es ist etwas sehr Schlimmes passiert.«

Assauer war froh, dass Hammer das Reden übernahm und er selbst sich auf’s Zuhören beschränken konnte.

Es wurde ein langes Gespräch, aber Assauer war klar, dass der Mann da hinter dem Schreibtisch immer nur eines begriff: Anna ist tot, Anna lebt nicht mehr, meine Tochter wird nie mehr heimkommen. Dass er es immer wieder hörte, es aber nicht verstand. Wie auch sollte ein Vater verstehen, dass sein Kind, mit dem er noch am Morgen gefrühstückt hatte, – nach allem was sie wussten – auf einen Turm gestiegen und runtergesprungen war? Dass Anna dabei nackt gewesen war, verschwieg Hammer. Es war so schon schlimm genug. Hammer verzichtete auch weitgehend darauf, Fragen zu stellen. Dafür würde, wenn nötig, später noch Zeit sein. Für den Augenblick beließ er es dabei, Annas Vater zu versichern, die Polizei werde die Umstände von Annas Tod genau untersuchen und biete ihm und seiner Frau professionelle psychologische Hilfe an.

Professor Friese schüttelte dazu nur den Kopf.

Assauer griff nicht in das Gespräch ein, beobachtete nur still, wie der Riese hinter seinem Schreibtisch nach und nach zerbrach. Als er aufstand, um sie zu verabschieden, erschien er Assauer trotz seiner Größe fragil und schwach, wie ein waidwundes Tier. Sein Händedruck war nur noch ein Hauch.

Es war schon nach neun, als Hammer und Assauer wieder unten im Auto saßen.

»Jetzt muss er’s noch seiner Frau sagen«, bemerkte Hammer.

Assauer nickte bekümmert. »Und das auch noch am Telefon.«

»Geh’n wir noch auf einen Drink?«, fragte Hammer.

»Sind wir am Freitagabend schon mal keinen trinken gegangen?«, fragte Assauer zurück.

Sie landeten im Shamrock Irish Pub, aber auch ein paar Gläser Single Malt konnten das Bild des toten Mädchens nicht aus ihren Köpfen spülen und ein Gespräch wollte zwischen ihnen nicht so recht aufkommen. So gingen sie früher als sonst. Als sie sich vor dem Pub trennten, ließ Hammer den Wagen stehen und trottete zu Fuß davon. Assauer hörte ihn noch halblaut vor sich hin brummen: »So ein Scheiß, springt da eine Sechzehnjährige splitterfasernackt von einem Kirchturm.«

***

Claudia Friese schob sich genüsslich eine Sushi-Rolle in den Mund. Sie hatte das Kunststück fertiggebracht, im Takeshi, dem angesagtesten japanischen Restaurant Hannovers, das zu Messezeiten regelmäßig aus den Nähten platzte, noch einen Tisch zu ergattern. Die authentische japanische Küche und das exquisite Ambiente hier waren ein Rahmen nach ihrem Geschmack, um zu feiern. Der Tag war ein Erfolg gewesen. Der heutige Abschluss allein lohnte schon den ganzen Messeauftritt ihrer Ruhstorfer Dental-Keramik-Firma und sicherte für die kommenden beiden Jahre eine beträchtliche Auslastung.

Ihr Chef, Dr. Richard Grabner, der am Kopfende des Tisches thronte, stand auf.

»Meine Dame, meine Herren, auf unsern Abschluss und weitere gute Zusammenarbeit, prost!« Er erhob das Glas und nahm einen Schluck. Die Angesprochenen taten es ihm gleich. Dr. Grabner lehnte sich zufrieden zurück.

»Kompliment Ihrer charmanten Verkaufsleiterin!«, rief Wolfgang Leitmann, Einkäufer der Kroll-Meditec, vom anderen Tischende. »Sie steckt uns alle nicht nur mit ihrer technischen Expertise in die Tasche. Sie macht auch beim Verhandeln keine Gefangenen. Sie hat uns, wenn Sie mir den Ausdruck gestatten, ganz schön die Hosen ausgezogen.«

Dr. Grabner hob entschuldigend die Hände.

»Ich bekenne mich schuldig«, sagte er mit gespielter Reue. »Gerade wegen dieses Talents hab’ ich sie auf jeder Messe dabei«, fügte er hinzu.

Claudia Friese fühlte, wie sie rot wurde angesichts dieser kaum verhohlenen Anspielung auf seine allabendlichen Quickies mit ihr, den schnellen, prickelnden, unverbindlichen Sex alljährlich während der Messetage. Meist zwischen Hallenschluss und Abendessen. Wellness im Messestress, willkommene Abwechslung zur ehealltäglichen Bettroutine. Nichts, weswegen sie ein schlechtes Gewissen bekam. Nicht bei ihrer festgefahrenen Ehe.

Ihr Handy piepte aus der Handtasche. Walter, ihr Mann, erkannte Claudia am charakteristischen Ton. Claudia fischte ihr iPhone aus der Tasche.

»Ich bin gerade mit Kunden beim Abendessen, können wir später telefonieren?«, sagte sie kurz angebunden. Dann, einen Moment darauf, zum Tisch gewandt: »Bitte entschuldigen Sie mich einen Augenblick. Es ist dringend.«

Sie stand auf und ging ins Foyer, wo das Stimmengewirr aus dem Lokal aber kaum schwächer war.

»Was ist los, was ist mit Anna? Sag schon!«, drängte sie ihren Mann am anderen Ende und hielt sich das zweite Ohr zu, um ihn besser zu verstehen.

Nach seinen ersten Worten musste sie sich an eine der schwarz lackierten Säulen lehnen, die das japanische Deckendekor des Foyers stützten. Während er weitersprach, glitt sie, mit dem Rücken an der Säule, langsam in die Knie, kauerte schließlich da wie ein kleines, heulendes Kind. Die Tränen ließen ihr Make-up verlaufen und sie musste mehrmals ansetzen, um den Satz herauszubringen: »Ich … ich komm’ nach Hause.«

Samstag

Walter Friese ließ Atlas, den Hengst seiner Frau, später als gewöhnlich aus der Box auf die Koppel. Das Tier schnaubte ungeduldig und rannte unruhig hin und her, als sehe es ihm an, dass etwas nicht in Ordnung war, während er sich daran machte, die Box auszumisten und frisches Wasser in die Tränke zu füllen. Atlas war es gewöhnt, dass Claudia oder Anna ihn frühmorgens mit einer Handvoll Äpfeln oder Karotten verwöhnten und ins Freie schickten. Friese ging zu ihm hin. »Du merkst, dass was nicht stimmt, oder?«, fragte er den Hengst, klopfte ihm beruhigend auf den Hals und gab ihm einen Apfel zu fressen. Dann machte er sich wieder an die Stallarbeit.

Als Walter Friese eben den letzten Schubkarren Heu wegfuhr, es war gegen neun, kam Claudias Auto durch die Einfahrt. Friese stellte den Schubkarren ab, ging zum Wagen, öffnete die Fahrertür und erschrak beim Anblick seiner Frau. Bleich, mit verlaufenem Make-up und zerlegenem Haar, sah sie aus wie ein Gespenst. Er half ihr auszusteigen, legte seinen Arm stützend um ihre Taille und sagte: »Gehen wir ins Haus.«

Wie eine Puppe ließ sie sich ins Wohnzimmer führen, ließ dort ihre Handtasche zu Boden gleiten, meinte: »Ich komme gleich«, und zog sich am Treppengeländer in den ersten Stock hoch. Als Friese mit ihrem Koffer vom Auto zurückkam, hörte er oben die Dusche laufen.

Eine halbe Stunde später, als Claudia, äußerlich wiederhergestellt, in einem bodenlangen Bademantel, mit frisch geföhntem Haar, herunterkam, traf ihre große Ähnlichkeit mit Anna Walter Friese wie ein Messerstich. Bei allem Altersunterschied hätte man Mutter und Tochter bei flüchtigem Hinsehen für Zwillinge halten können, so sehr hatte Anna in Aussehen und Haltung ihrer Mutter geglichen. Sie setzten sich auf die Couch und Claudia Friese erzählte, wie sie die halbe Nacht irgendwo auf einem Parkplatz im Auto geschlafen und sich dann in den frühen Morgenstunden durch immer dichter werdenden Ferienverkehr mit diversen Staus nach Hause gekämpft hatte.

Walter Friese nahm seine Frau in den Arm und wiederholte, was er ihr am Vorabend nur am Telefon hatte sagen können. Wann und wie Anna gestorben war, das Wenige, was ihm die Polizei offenbart hatte, dass er nicht die mindeste Ahnung hatte, warum ihr Kind in den Tod gegangen war. Die Haushälterin, fügte er noch hinzu, habe er heimgeschickt, sie werde erst am Dienstag wiederkommen, Montag habe sie ja ohnehin frei. Claudia war einverstanden, auch sie wollte niemanden um sich haben an diesem Wochenende. Den Rest des Vormittags füllten sie mit irgendwelchen Tätigkeiten auf ihrem Hof, die mehr oder weniger planlos waren, sie aber wenigstens zeitweise vom Grübeln abhielten.

Kurz vor zwölf, Claudia stand gerade in der Küche und goss Tee auf, bog ein Auto in den Hof ein. Zwei Männer stiegen aus. Walter kam aus der Scheune, begrüßte die beiden. Er schien sie zu kennen. Claudia sah sie sich kurz unterhalten, dann kamen sie auf das Haus zu. Besucher waren das Letzte, was sie jetzt brauchte, sie nahm ihren Tee und verschwand nach oben in ihr Zimmer.

Assauer und Hammer folgten Walter Friese ins Haus.

»Meine Frau ist heute Früh angekommen«, sagte er beim Hineingehen. »Sie wird oben sein, ich gehe sie holen.«

Als der Mann gebeugt und mit offensichtlicher Mühe die Treppe in den ersten Stock hinaufstieg, schien es Assauer, als sei der Riese über Nacht geschrumpft.

Es dauerte geraume Weile, bis er mit Claudia Friese herunterkam. Sie hatte verweinte, rotgeränderte Augen und klammerte sich an ihren Mann, während beide die Treppe heruntergingen.

»Maximilian Hammer, Hauptkommissar und das ist mein Kollege Hauptkommissar Assauer«, stellte Hammer sie beide vor. »Wir versuchen herauszufinden, wie es zum Tod Ihrer Tochter gekommen ist.«

Assauer fiel ein Stein vom Herzen, dass Hammer wieder das Reden übernahm. Er selbst hätte bei Claudia Frieses Anblick kein Wort rausgebracht. Er musste sich zwingen, die Frau nicht unverhohlen anzustarren. Er registrierte, dass Hammer sich eine hohle Beileidsbekundung verkniff und gleich zur Sache kam.

»Wenn Sie heute aber lieber allein sein möchten, können wir natürlich ein andermal wiederkommen«, hörte er ihn sagen.

Claudia schüttelte stumm den Kopf. Sie ließ sich auf der Couch nieder, saß vornübergebeugt da, Ellenbogen auf den Knien, und hielt das Teehaferl, das sie mit heruntergebracht hatte, in beiden Händen, als wollte sie aus dessen Wärme einen Rest Energie für sich gewinnen.

»Bitte«, sagte sie leise, »nehmen Sie Platz.«

Sie saßen einen Moment schweigend um den Wohnzimmertisch. Schließlich stellte Claudia Friese ihr Haferl ab, griff nach einer Packung Tempotaschentücher auf dem Tisch, zog eines davon heraus, wischte sich die verheulten Augen und sah zu Hammer, der ihr gegenübersaß. Eine Wandlung ging in ihr vor. Sie richtete sich auf, saß kerzengerade da.

»Sagen Sie, was zu sagen ist«, ihre Worte klangen hart, beinahe unpersönlich, empfand Assauer.

»Es gibt zurzeit noch nicht viel zu sagen«, begann Hammer, »aber dem ersten Anschein nach war Ihre Tochter allein oben im Turm und ist hinuntergesprungen.«

Er zögerte kurz, fuhr aber dann fort: »Ich habe es gestern gegenüber Ihrem Mann nicht erwähnt, aber ich muss es Ihnen jetzt sagen: Anna hat, bevor sie gesprungen ist, all ihre Kleidung ausgezogen, sie sorgfältig gefaltet, auf einem Balken abgelegt und ihre Schuhe daruntergestellt.«

Claudia Frieses Hände begannen zu zitterten bei diesen Worten. Ihr Mann beugte sich zu ihr, nahm ihre Hände in seine Riesenpratzen und drückte sie sanft.

»Ich verstehe nicht, was, um Himmels willen, kann das bedeuten?«, fragte er.

»Wir haben gehofft, Sie wüssten vielleicht eine Antwort oder könnten uns helfen, eine zu finden«, entgegnete Hammer. »Wir wissen ja nichts von Anna, wir haben sie nicht gekannt. Hat sie die Kleider vielleicht aus einer Art Routine heraus so zusammengelegt, weil sie so zur Ordnung erzogen war?«

Claudia Friese schüttelte den Kopf. »Sie sollten mal ihr Zimmer sehen! ›Ein kleiner Geist braucht Ordnung, ein Genie regiert das Chaos‹ war ihre Standardantwort, wann immer ich ihr gesagt habe, sie solle endlich mal aufräumen.«

Sie zog die Hände aus dem Griff ihres Mannes, schlug sie vors Gesicht und wandte sich ab, Schluchzen schüttelte sie.

»Ich versteh’ das auch nicht, da kann ich mir keinen Reim drauf machen«, bekräftigte Walter Friese. »Und ich kann mir auch keinen Grund dafür vorstellen, aus dem Anna sich hätte umbringen wollen. Ich denke seit gestern über nichts anderes nach.« Die letzten Worte kamen kaum hörbar.

Hammer blickte fragend zu Claudia. Statt einer Antwort erhielt er bloß ein hilfloses Achselzucken. Er spürte, das Gespräch fortzuführen, würde nichts bringen. Der Schock für Annas Eltern war noch zu frisch. Er würde in den nächsten Tagen noch einmal mit ihnen sprechen. Mit einer Kopfbewegung bedeutete er Assauer, dass es Zeit war zu gehen.

Sie standen auf.

»Wir sprechen heute noch mit der Gerichtsmedizinerin und der Spurensicherung. Falls sich etwas ergibt, lassen wir es Sie sofort wissen«, versprach Hammer und reichte Claudia Friese die Hand. Sie hielt sie fest, länger als für eine Verabschiedung nötig, wie Assauer registrierte.

»Ich will wissen, warum mein Kind gestorben ist«, sagte sie, dann ließ sie los.

Hammer nickte.

Walter Friese ging mit Hammer und Assauer zum Wagen, verabschiedete sie schweigend, nur mit einem Händedruck, und schlurfte, als sie abfuhren, zurück in die Scheune.

»Mich hat’s bald umgehauen«, meinte Assauer, kaum dass sie mit dem Auto aus dem Hof waren.

»Mich auch, die schaut ihrer Tochter ja zum Verwechseln ähnlich«, bestätigte Hammer.

»Ich glaub’«, fügte er hinzu, »es gibt nix Schlimmeres, als wenn Eltern ihr Kind begraben müssen.«

»Ja, und sich ständig fragen, warum.«

Als sie aus Rasting raus waren, sagte Assauer: »Was ander’s, Max, hast du schon gefrühstückt?«

»Nix Gescheites.«

»Dann wird’s Zeit, fahr ’n wir in’s Kowalski. Mein Magen läuft schon auf Reserve.«

»Und wenn du in meinen reinrufst, gibt’s ein Echo!«

»Dann sind wir uns ja einig.«

»Und später fahren wir in die Pathologie, zur Erdmann.«

***

Die Erdmann empfing Hammer und Assauer gegen drei Uhr mit zwei dampfenden Kaffeehaferln, was bei ihr mit der Überreichung zweier olympischer Goldmedaillen gleichzusetzen war.

»Wie geht’s ihm?«, wollte sie wissen.

»Beschissen«, antworteten Hammer und Assauer synchron.

»Aber es geht aufwärts«, ergänzte Hammer.

Sie hatten nach ihrem späten Frühstück telefoniert und sich im Krankenhaus nach dem Zustand Waldhausers, ihres Chefs, erkundigt, den vor Tagen ein hinterfotzigeri Herzinfarkt von den Beinen geholt hatte. Es stand lange Spitz auf Knopf. Jetzt endlich war er zwar über’m Berg, aber laut Auskunft seines Arztes so hautigii beieinander, als seien all seine Akkus tiefentladen. Das Wiederaufladen würde dauern. Was nicht allzu schlimm war, denn sie kamen durchaus eine Weile ohne ihn zurecht, auch wenn dem ›Münchner Triumvirat‹, wie man sie drei in Kollegenkreisen nannte, weil sie einst im Dreierpack, von der Landeshauptstadt kommend, in Passau aufgeschlagen waren, gegenwärtig der Kopf fehlte.

Schlimm war vielmehr, dass man höheren Ortes glaubte, ein Chef müsse nun mal sein, und ihnen eine Stellvertreterin aufs Auge gedrückt hatte. Und was für eine! Nichte des Innenministers und begierig, ihre Karriereleiter weit weg in der Provinz anzulegen, wo man schon mal unauffällig zwei Sprossen auf einmal nehmen konnte. Wobei Hammer und Assauer in ihrer Beurteilung dieser Person durchaus uneins waren und darüber stritten, ob es sich bei ihr um die Pest handelte oder um die Cholera.

»Er hat verdammtes Glück gehabt«, sagte die Erdmann. »Ich hab mir echt Sorgen gemacht.«

Dass sie, wie Assauer erfahren hatte, die ersten beiden kritischen Nächte an Waldhausers Krankenbett gewacht und den Ärzten dort den letzten Nerv geraubt hatte, erwähnte sie nicht. War auch nicht nötig. Allein die Aussage, dass sie sich ›Sorgen gemacht‹ hatte, signalisierte, dass Waldhauser auf ihrer persönlichen Werteskala für Mitmenschen dort rangierte, wo die Luft dünn wurde. Damit befand sie sich in unausgesprochener Übereinstimmung mit seinen beiden Untergebenen.

Sie tranken wie gewohnt ihren Kaffee, bevor sie sich dem aktuellen Fall zuwandten. Was sie nicht ungestört tun sollten. Vom Gang her erklang nämlich, noch ehe sie fertig waren, ein Stakkato wie von Pferdehufen. Die Tür schwang auf und es sah aus, als schöbe wer ein lebensgroßes Modefoto durch den Rahmen. Grauer, auf Figur geschnittener Hosenanzug mit unübersehbarem Escada Logo, Handtasche mit demselben Emblem, hochhackige Pumps und eine – weil überflüssig bei dem Wetter – in die langen schwarzen Haare hochgeschobene Insektenaugen- Sonnenbrille. Das alles ergänzt durch ein Paar Ohrringe, die aussahen wie aus dem Kaugummiautomaten, aber sicher sündteuer waren, und eine mit Brillies besetzte Armbanduhr. Auftritt Petra Gerstmann!

Für die Aufmachung muss eine alte Frau lang stricken, dachte Assauer. Hammer flüsterte er zu: »Die brauch ich wie die Scheißerei.«

Dann, in erkennbar überfreundlichem Ton, stellte er vor: »Dr. Monika Erdmann, unsere Pathologin, Petra Gerstmann, unsere Interims-Chefin.«

»Ich habe auch einen Doktortitel!«, raunzte Petra Gerstmann spitz.

»Stimmt«, räumte Assauer ein und setzte hinzu, »aus Innsbruck!« Wobei Tonfall und Mundwinkelstellung unmissverständlich ausdrückten, dass er die allgemeine Geringschätzung der dort verliehenen akademischen Weihen teilte.

Petra Gerstmann zog es vor, das zu überhören.

»Kann man hier auch einen Kaffee kriegen?«, fragte sie.

Die Erdmann ignorierte es. Ihr verächtlicher Gesichtsausdruck verriet Assauer, dass sie so was dachte wie: ›Einen Schierlingsbecher kannst’ haben.‹

Sie marschierte nach nebenan und winkte den anderen hinterherzukommen.

Annas nackter Leichnam lag dort auf einer Edelstahlbahre. Das grünweiße Neonlicht von der Decke unterstrich die kalte Endgültigkeit ihres Todes. Assauer fröstelte, und das nicht nur wegen der niedrigen Temperatur im Raum. Trotz des harten Lichts und der Veränderungen, die der Tod bewirkt hatte, war nicht zu übersehen, was für eine Schönheit Anna gewesen sein musste, als sie noch atmete und lachte und lebte. Schon auf dem Friedhof, als er ihren Leichnam nur kurz in Augenschein genommen hatte, war ihm das aufgefallen. Er empfand es als peinlich, dass sie hier, vollständig nackt den Blicken aller ausgesetzt, wie zur Schau gestellt, lag, weil Monika Erdmann sich nicht die Mühe gemacht hatte, eine Decke über sie zu breiten.

Die Pathologin nahm ein Klemmbrett vom Kopfende des Tisches.

»Viel hab’ ich nicht«, begann sie und referierte in sachlichem Ton: »Die Todesursache war eindeutig der Sturz. Schädelfraktur und eine Reihe innerer Verletzungen. Sie war aber nicht sofort tot, sondern hat noch eine Weile gelebt, daher das viele Blut. Hätte man sie gleich gefunden, wäre sie vielleicht noch zu retten gewesen. Vielleicht, wohlgemerkt. Aber bei dem Sauwetter war ja niemand vor der Tür. Todeszeitpunkt, wie gesagt, zwischen vier und fünf Uhr nachmittags. Alkohol, Drogen – negativ. Anhaftungen oder fremde DNA natürlich auch negativ. Wenn da was war, hat’s der Regen weggewaschen. Auch keinerlei Spuren von Gewaltanwendung, Abwehrverletzungen oder Ähnlichem. Klassischer Suizid also, wenn Sie mich fragen, aber ich liefere nur die Fakten, interpretieren müssen Sie sie schon selbst. Eins ist vielleicht noch interessant«, sie nahm einen Probenträger vom Mikroskop, »Latexspuren in der Vagina, das heißt, Anna hatte Geschlechtsverkehr – mit Kondom –, vielleicht sogar an ihrem letzten Tag. Natürlich auch hier keine DNA-Spuren, eben wegen des Kondoms. Eines mit Bananen-Geschmack übrigens«, sie hielt Petra Gerstmann den Probenträger unter die Nase, »wollen Sie mal riechen, Frau Doktor?«

Die Gerstmann wich angewidert zurück und verzog das Gesicht. Hammer und Assauer drehten sich weg, um ihr Lachen zu verbergen. »Typisch Erdmann«, dachten beide.

Die fuhr fort: »Ernie und Bert haben für’s Erste auch nichts Verwertbares. Kein Wunder, bei der Menge Leute, die in den letzten Tagen da oben waren. Ihren Bericht hab ich an meinen angehängt.« Sie nahm die Papiere vom Klemmbrett und gab jedem eine Kopie.

»Ich hätte da noch ein paar Fragen«, sagte Petra Gerstmann.

»Aber ich hab’ keine Antworten mehr«, beschied die Erdmann sie barsch. »Lesen Sie meinen Bericht, wenn Sie was nicht verstanden haben. Außerdem ist jetzt Samstagnachmittag und die Geschäfte machen bald zu. Ich muss noch für’s Wochenende einkaufen.«

Mit diesen Worten schob sie die Bahre mit Anna in ein Kühlfach und verließ den fensterlosen Raum, nicht ohne das Licht auszuschalten.

»Das ist doch die Höhe!«, tobte Petra Gerstmann.

»Nein«, erklärte Hammer gelassen, »das ist die Erdmann, gewöhnen Sie sich dran.«

Sonntag

Die Enten am Donauufer hatten noch ihre Köpfe unter den Flügeln, als Assauer vorbeijoggte. Er liebte es, sich in diesen frühen Morgenstunden auszulaufen. Eine Gewohnheit, die er schon in München angenommen hatte. In Passau hatte er bald Wege entlang Donau und Inn gefunden, die er gerne kurz nach Sonnenaufgang im ersten Morgenlicht entlangtrabte. Laufen war ihm mehr als nur Ausgleich für die Stunden im Bürosessel, mehr als Sport, auch wenn er durchaus sportlichen Ehrgeiz entwickelte und den alljährlichen München-Marathon noch immer unter drei Stunden schaffte. Laufen brachte Ordnung in das Durcheinander, das Beruf und Privatleben in seinem Kopf anrichteten. Beim Laufen kamen seine Gedanken in Reihe, löste sich Ballast, keimten neue Ideen, fanden Fragen Antworten und alle Trägheit fiel von ihm ab. Assauer scherte sich nicht um den Regen, der auch an diesem Sonntagmorgen jede Ahnung von Sommer ertränkte. Er ließ sich und seine Gedanken einfach im Rhythmus der Schritte treiben. Am Zusammenfluss von Donau und Inn wendete er, nahm den Weg am Inn entlang zurück zu seiner Wohnung. Dort angekommen, warf er die nassen Sportklamotten in den Wäschekorb und drehte die Dusche auf. Für den Augenblick war seine Welt in Ordnung. Nachdem er sich abgetrocknet und angezogen hatte, deckte er den Frühstückstisch – für zwei. Dann nahm er die Mappe mit den Berichten von Monika Erdmann und Ernie und Bert vom Wohnzimmertisch, wo er sie nach gründlicher Lektüre am Vorabend liegen gelassen hatte, legte sich auf die Couch und las noch einmal von vorne. Den Obduktionsbericht überflog er dabei nur, das Fazit der Erdmann gestern war ja eindeutig gewesen: keine Spuren von Fremdeinwirkung an Annas Körper. Der detaillierte schriftliche Bericht listete in knappen, präzisen Formulierungen alle Untersuchungsschritte und Ergebnisse auf und schloss mit den Worten: ›Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Untersuchung der Toten keine Anhaltspunkte für ein Einwirken dritter Personen ergab. Aufgrund der Auffindungssituation kann allerdings nicht ausgeschlossen werden, dass etwaige Spuren durch Witterungseinflüsse beseitigt wurden.‹

Assauer schloss die Augen und ließ seine Eindrücke vom Glockenboden im Turm noch einmal vorbeiziehen. Die vielen Fußspuren von Kindern im Staub, den der auffrischende Wind verwehte und mit Regentropfen sprenkelte, ein zusammengeknülltes Bonbonpapier, das im Luftzug umherwirbelte, die schweren Glocken, die ihm bei all ihrer Stimmgewalt nichts erzählen mochten, und schließlich Annas Kleidung, sorgfältig zusammengelegt auf einem Balken. Seltsam! Wieso legte ein junges Mädchen, das verzweifelt genug war, sein Leben wegzuwerfen, Regenjacke, Bluse, Jeans, Slip, BH und Socken so akribisch auf einem Querbalken zusammen, als sollte die Kleidung nur ja nicht schmutzig werden, als wollte es sie gleich wieder anziehen, statt die Sachen einfach achtlos abzustreifen und liegen zu lassen, wo sie hinfielen? War das sorgfältige Zusammenlegen ihrer Kleider eine Art persönliches Ritual Annas vor ihrem letzten Schritt gewesen? Und warum hatte sie sich überhaupt ausgezogen, bevor sie sprang?

Er öffnete die Augen wieder und blätterte weiter zum Spurensicherungsbericht, den wie üblich Ernie verfasst hatte. Er war gründlich wie gewohnt, mit einer Unzahl von Fotos, auch von Annas Leiche auf dem Grab, und erging sich in einer schier endlosen Auflistung von Ort und Art der genommenen Proben und gesicherten Spuren. In halbstündiger Lektüre destillierte Assauer heraus, dass Fingerabdrücke an Schlüssel und Türklinke aufgrund der Oberflächenbeschaffenheit dieser Teile nicht vorhanden waren und dass die Spurenlage oben im Glockenboden wegen der zahlreichen Personen, die sich kürzlich dort oben aufgehalten hatten, und wegen Wind und Wetter nur mit einem Begriff treffend zu beschreiben war: chaotisch. Das einzig Geordnete darin, Annas Kleidung, hatte sich Bert besonders gründlich vorgenommen. Diese war allerdings vom Wind so mit Partikeln und Staub aus dem Turm durchsetzt, dass Rückschlüsse auf irgendein Geschehen nicht mehr zu ziehen waren. Sollten sich – was wahrscheinlich war – Hautpartikel und damit DNA-Spuren in der Kleidung finden, konnten sie von allen möglichen Personen stammen, die sich in den vergangenen Tagen im Turm aufgehalten hatten. Eine Auswertung jeder einzelnen Spur erscheine als unverhältnismäßiger Aufwand und sei aufgrund der Gesamtsituation nicht zielführend, resümierte Bert. Beider Fazit lautete: jede Menge Spuren, aber nichts Verwertbares. Gar nichts. Auch der Spurensicherungsbericht ließ keinen anderen Schluss zu als Selbstmord.

Nur, Assauer blätterte zurück, ein Detail hatte ihn kurz stutzen lassen: An Knöpfen der Bluse sowie am Verschluss des vorne zu öffnenden BHs waren kleine schwarze Anhaftungen. Um was für eine Substanz es sich handelte, woher sie stammte und wann sie an Knöpfe und Verschluss gelangt war, blieb unklar. An Annas Fingern konnte jedenfalls nichts davon gewesen sein, wusste Assauer, sonst hätte die pedantische Erdmann das erwähnt. Hatte der intensive Regen das Zeug abgewaschen? Assauer nahm sich vor, die Substanz noch analysieren zu lassen. Er ließ den Spurenbericht sinken.

Nichts, dachte er, absolut nichts, was auf ein Fremdverschulden hindeutet. Sie ist einfach da raufgegangen und runtergesprungen. Selbstmord, basta. Warum, werden wir nie erfahren.

Er zuckte die Achseln, stand auf und legte die Blätter mit einer Geste zur Seite, die sein Kollege Hammer sofort als resigniertes ›Fall erledigt, ad acta‹ interpretiert hätte und ging in seine Küche, um Wasser für Kaffee aufzusetzen.

Die Türglocke läutete. Katja, seine Nachbarin, mit einer großen Tüte vom Bäcker.

Assauer hatte ihr, als sie an einem Sonntag vor ein paar Monaten einzog, geholfen, Möbel und Kartons zu schleppen, Lampen aufzuhängen und das von ihrem Auf und Ab versaute Treppenhaus zu putzen. Sie hatte ihn dafür zum Frühstück eingeladen – in seiner Wohnung, ihre gleiche noch einem Tohuwabohu, hatte sie sich entschuldigt – nur um gleich darauf festzustellen, dass seinem Junggesellenhaushalt ebenfalls eine ordnende Hand fehlte. In den kommenden Wochen verlieh sie folglich zwei Wohnungen ein Gesicht.

Weil sie Gefallen aneinander fanden, wurde das gemeinsame Sonntagsfrühstück eine Institution. Nicht dass es zu einer Beziehung gereicht hätte, sie mochten einander einfach, genossen ihre Gespräche und waren froh, den Sonntag nicht allein beginnen zu müssen.

Kurz nach neun tönte das SMS-Signal aus Assauers Handy in ihre Unterhaltung. Missmutig griff er sich das Gerät vom Sideboard. ›Treff im Büro, 10:00 Uhr. Gerstmann‹, stand auf dem Display.

»Ich spring doch nicht, wenn du pfeifst«, murmelte Assauer und tippte: ›Kann nicht vor 11! Assauer‹, drückte auf ›Senden‹ und leitete den Dialog auf Verdacht auch an Hammer, Ernie und Bert weiter.

Katja sah ihn mit großen Augen an. »Ärger?«, fragte sie.

»Die Stellvertreterin vom Chef«, antwortete Assauer, »lästig wie ein Wimmerliii am Arsch und genauso überflüssig.«

»Mit anderen Worten, du magst sie nicht, ist sie blond?«

»Bis auf die Haare, die sind schwarz.«

»Was gedenkst du zu tun?«

»Nichts, ich halt’s mit dem chinesischen Sprichwort: ›Wer lang genug am Fluss sitzt, wird die Leiche seines Feindes vorbeitreiben sehen‹ und in Passau gibt’s drei Flüsse! In einen wird sie schon reinfallen.«

Katja lachte ihr unbekümmertes, fröhliches Lachen, das er so an ihr mochte. »Aber wir frühstücken schon noch fertig, bevor du dich an den Fluss hockst«, meinte sie.

»Zuerst muss ich in die Höhle des Löwen – oder vielmehr des Drachen, die ist nämlich in der Nibelungen-Straße. Der Fluss wird warten müssen«, flachste Assauer.

»Dann brauchst du ja ein besonders kräftiges Frühstück«, erwiderte Katja und hielt ihm die Tüte vom Bäcker hin. »Iss noch was!«

Er langte hinein, fischte eine Breze heraus, teilte sie akribisch in zwei Hälften und bestrich sie mit Butter, während Katja Kaffee nachschenkte. Sie frühstückten genüsslich zu Ende, plauderten über Gott und die Welt und Assauer achtete darauf, dass sie sich viel Zeit ließen. Erst Punkt elf verließ er mit Katja seine Wohnung. Sie gab ihm den obligatorischen Kuss auf die Wange. »Tschüs, mein Lieber«, sagte sie zum Abschied, »und kauf dir endlich mal ein paar Blumen, in deine Wohnung muss Farbe rein.«

»Ich brauch keine Blumen, ich brauch einen Wurf-Kaktus, da, wo ich jetzt hingehe«, grantelte Assauer, während er die Treppe hinunterstieg.

***

»Wollten Sie nicht um elf hier sein?«, blaffte Petra Gerstmann Assauer an, als der schließlich um viertel nach ihre ›Drachenhöhle‹ im nüchtern-hässlichen Polizeigebäude an der Nibelungenstraße betrat.

»Von Wollen kann gar keine Rede sein«, versetzte der. »Außerdem ist in meiner SMS gestanden: ›nicht vor elf‹ und das schließt jeden Zeitpunkt nach elf ein.«

Hammer, Ernie und Bert, von Petra Gerstmann, wie Assauer geahnt hatte, ebenfalls herbeizitiert und, veranlasst durch seine SMS, entsprechend spät eingetroffen, feixten.

Die Gerstmann hatte sie im perfekten Stella-McCartney-Tennisdress empfangen und darüber hinaus in mieser Laune. Die rührte nicht nur daher, dass man sie hatte warten lassen, sondern vor allem von der Abfuhr, die ihr Monika Erdmann auf ihr Ansinnen hin, sonntags ins Büro zu kommen, erteilt hatte.

»Mein Bericht«, hatte die nur gesagt, »ist ausführlich, detailliert und umfassend. Ich habe nichts hinzuzufügen. Und ich kann wohl davon ausgehen, dass Sie keine Leseschwäche haben.«

»Aber warum hat sich das Mädchen umgebracht, was war ihr Motiv?«, beharrte Petra Gerstmann.

»Einen Download des Gehirninhalts kann die forensische Wissenschaft nicht liefern und ich pflege nicht zu spekulieren«, gab die Erdmann zurück. Damit hatte sie aufgelegt und Petra Gerstmann in jene Wut versetzt, der sie jetzt im Büro freien Lauf ließ.

»Wegen Ihnen werde ich noch mein Schleiferl-Turnier versäumen«, schimpfte sie, ihren Zorn an die Adresse aller Anwesenden richtend.

»Wenn’s der Anlass gebietet«, warf Hammer in spöttischem Ton ein, »müssen private Interessen eben zurückstehen, selbst am Sonntag. Und da wir den unseren auf Ihr Verlangen hin opfern, klären Sie uns vielleicht über die Wichtigkeit dieses Anlasses auf«, forderte er.

»Ich«, hob die Gerstmann an, »bin äußerst unbefriedigt.«

»Dem abzuhelfen«, unterbrach Hammer sie, »fällt nicht unter unsere Dienstpflichten.«

Die Gerstmann lief rot an, atmete aber tief durch, hielt ihre Kopie der Berichte von Pathologie und Spurensicherung demonstrativ hoch und besserte nach: »Ich bin unzufrieden damit, wie der Tod dieses jungen Mädchens hier abgetan wird. Auch wenn es ein lupenreiner Selbstmord gewesen sein sollte, was ich bezweifle, so gibt es doch ein Motiv dafür und irgendjemand trägt die Schuld an ihrem Tod. Ich will wissen, wer!«

»Da es keinen Abschiedsbrief gibt und auch sonst keinerlei Hinweise vorliegen«, sagte Hammer sachlich mit einem Seitenblick auf Ernie und Bert, die zustimmend nickten, »können wir höchstens mit der Stange im Nebel stochern. Und das geht auch am Montag.«

»Ja, sind Sie denn alle blind!«, fuhr die Gerstmann ihn an.

»Sehen Sie nicht, dass dieser Tod ein Hilfeschrei war, ihr nackter Körper eine Anklage?«

Schweigen.

»Ikea-Psychologie – selber zusammengeschraubt«, sagte Assauer in dieses Schweigen hinein, so halblaut, dass alle inklusive Petra Gerstmann es sehr wohl vernahmen.

»Es ist mir gleichgültig, was Sie davon halten«, keifte die, »ich ordne an, dass Sie das Umfeld Annas durchleuchten, Elternhaus, Schule, Freundeskreis. Und zwar gründlich, ich will Antworten! Und jetzt möchte ich Sie nicht länger von Ihrem verdienten Sonntag abhalten, zumal mein Turnier gleich anfängt.«

Sie stand auf und marschierte mit quietschenden Tennisschuhen aus dem Büro. Ihre gute Figur und ihr knapper Tennisdress verliehen ihrem Gang etwas durchaus Aufreizendes.

»Eins muss man ihr lassen«, bemerkte Ernie, »sie hat einen geilen Hintern.«

»Und den«, grantelte Hammer, »möcht’ sie am liebsten in den Stuhl vom Chef einwurzeln.«

»Da wird ihr der Schnabel sauber bleibeniv «, brummte Assauer.

»Und wie willst du das verhindern?«, wollte Hammer wissen.

»So wie die gestrickt ist, wird sie das selber erledigen.«

»Gegebenenfalls mit unserer freundlichen Unterstützung«, pflichtete Hammer ihm bei.

***

Peter Grimm, der Premium-Skandal-Journalist Passaus, steckte mit seiner Nase zwischen den üppigen Möpsen von Susi Heller, die rittlings auf ihm saß – oder eher wippte – und laut stöhnte. Was er ungeniert seinen Qualitäten als führender Kleinstadt-Hengst zuschrieb, der alles abschoss, was ihm vor seine ›Pumpgun‹ – wie er sein bestes Stück nannte – kam. Heute Susi Heller, ein Überbleibsel der rauschenden Samstagsfete in seinem Junggesellen-Loft. Gerade mal fünfzehn und nach ein paar Joints sehr willig und ausdauernd, wenn auch nicht sehr kreativ, aber für Kreativität im Bett sorgte er sowieso lieber selbst. Im Moment jedenfalls genoss er sein rothaariges ›Bettfrühstück‹ und war äußerst ungehalten, als das Scheppern seines Handys Susis Lustlaute übertönte.

»Himmel, Arsch und Zwirn«, stieß er aus, »kann man nicht mal in Ruhe seinen Sonntagmorgenfick erledigen!« Er wand sich halb unter Susi hervor und angelte mit der Rechten sein Handy, sorgfältig darauf bedacht, seine ›Pumpgun‹ da zu lassen, wo sie war. Mit der linken Hand bedeutete er Susi, brav weiterzumachen, legte dann einen Finger auf ihre Lippen, damit sie ihre Lautstärke mäßigte. Als sie still war, meldete er sich. Die Stimme am anderen Ende kam ihm bekannt vor, aber er konnte sie nicht zuordnen. Erst als sie ihren Namen nannte, klingelte es bei ihm.

»Petra Gerstmann, ich glaub’s nicht!«, rief er aus. »In welcher Versenkung hast du denn die letzten Jahre gesteckt?«

»Erzähl ich dir alles demnächst haarklein, wenn wir uns treffen«, kam es vom anderen Ende. »Ich brauch’ nämlich deine Hilfe. Kannst du was notieren?«

»Klar, Moment.« Er schnappte sich Kugelschreiber und Block, die stets neben dem Bett lagen und bedeutete Susi, sich umzudrehen, was diese mit einer akrobatischen Wendung erledigte, ohne ihn aus sich zu verlieren. Grimm nickte anerkennend, klatschte den Block auf Susis Rücken, klemmte das Handy zwischen Ohr und Schulter und nahm den Kugelschreiber.

»Leg los«, sagte er ins Telefon.

Dann lauschte er und notierte.

Als zwei Seiten voll waren, pfiff er durch die Zähne.

»Da kann man was draus machen«, konstatierte er leise. »Vor allem jetzt, in der Saure-Gurken-Zeit.«

»Wir haben nichts Konkretes«, kam die Stimme im Handy zurück, »also pass auf, was du schreibst.«

»Lass das mal meine Sorge sein, ich weiß, wie man auf den Busch klopft. Foto?«

»Kommt per E-Mail.«

»Und wann sehen wir uns?«

»Morgen Abend.«

»Gut, dann bis morgen.« Er legte auf, dachte einen Augenblick nach, warf den Block neben das Bett und gab Susi einen ermunternden Klaps auf ihren Knackarsch.

»So, mein Pferdchen, jetzt lauf mal Galopp«, rief er, »ich hab Arbeit zu erledigen.«

***

»Gar so pressant scheint’s nicht gewesen zu sein mit ihrem Tennis«, meinte Assauer.

Er stand am Fenster des Büros, in dem die Gerstmann ihn und seine Kollegen sitzen gelassen hatte, und schaute hinunter auf den Parkplatz.

»Die hat noch eine ganze Zeit lang telefoniert, bevor sie abgerauscht ist in ihrem SLK.«

»Da hätt’ ich gern Mäuschen gespielt bei dem Gespräch!

»Wenn das bloß kein Unheil bedeutet«, unkte Hammer.

»Was soll die schon groß machen außer Wind«, sagte Assauer.

»Uns umeinanderhetzen und wir können nicht aus.«

»Und das für nix und wieder nix, das war doch ein astreiner Selbstmord oder ist jemand anderer Meinung?« Assauer blickte fragend in die Runde.

»Schon, aber warum?«, wandte Hammer ein.

»Bist du jetzt das Echo von der Gerstmann oder was?«

»Schmarrn, ich denk’ an die Mutter!«

Assauer erinnerte sich daran, wie Claudia Friese am Vortag Hammers Hand lange in der ihren gehalten hatte, an ihren Blick, an ihre Worte: »Ich will wissen, warum mein Kind gestorben ist.«

»Was sagt ihr?«, fragte er mit Blick auf Ernie und Bert, die das Gespräch bisher wortlos verfolgt hatten.

»Unsrer Einschätzung nach eindeutig Selbstmord«, antwortete Ernie für beide, »und mit dieser Feststellung endet ja im Prinzip unsere Arbeit als Mordkommission. Aber wenn die Gerstmann euch Beschäftigungstherapie darüber hinaus verordnet, dann könnt ihr in der Zeit auch was Vernünftiges machen. Vielleicht hilft’s wenigstens den Eltern zu erfahren, warum ihre Tochter sich umgebracht hat. Und da meines Wissens derzeit sonst keine dubiosen Todesfälle aus Passauer Plebs und Prominenz oder Metzeleien unter Eingeborenen aus dem niederbayerischen Outback aufzuklären sind …« Er sah Hammer und Assauer auffordernd an.

»Gut, von mir aus«, meinte Assauer schulterzuckend und mit einem fragenden Blick zu Hammer.

Der nickte bloß.

»Na schön«, sagte Assauer. »Und damit ihr zwei auch was davon habt«, wandte er sich an Ernie und Bert, »analysiert ihr mir dieses schwarze Zeug an den Knöpfen und am BH, ich will wissen, was das ist und wie’s da hingekommen ist.«

Bert versetzte Ernie einen Rippenstoß. »Das haben wir jetzt davon!«

Assauer winkte Hammer aufzustehen. »Und wir fahren nach Rasting zu den Eltern. Komm, der Tag ist noch lang.«

»Der Sonntag«, protestierte Hammer.

»Wenn’s der Anlass gebietet«, zitierte Assauer seinen Kollegen, »müssen private Interessen eben zurückstehen, selbst am Sonntag. Kommt dir das bekannt vor?«

***

Atlas’ Hufe trommelten dumpf auf dem weichen Gras, als er den sanften Hügel hinter dem Hof der Frieses hinaufstürmte. Claudia konnte spüren, wie froh ihr Hengst war, nach Tagen in Stall und Koppel während ihrer Abwesenheit wieder durchs freie Gelände zu laufen. Sie ließ die Zügel locker und ihn sein eigenes Tempo finden. Die frische Luft, die Regentropfen auf ihrem Gesicht, die Bewegung des Pferdes unter ihr brachten wieder so etwas wie Leben in sie. Erst frühmorgens hatte sie nach unruhigen Stunden Schlaf gefunden und war dann wie ein Stein bis weit nach Mittag im Bett gelegen. Als sie endlich aufgewacht war, ging sie ins Bad, duschte ausgiebig, schminkte sich mit Sorgfalt, suchte ein legeres, aber schickes Outfit zusammen, zog sich an und kramte den passenden Schmuck aus ihrem Kästchen. Ein Set aus Ring, Halskette und Ohrringen aus Weißgold und Aquamarinen. Als sie vor dem Spiegel ihre Ohrringe hineinfummelte, wurde ihr bewusst, dass sie sich automatisch diesem gewohnten Ablauf überlassen hatte, einfach nur, um irgendwas zu tun. Die Kirchturmuhr schlug zwei. Jeder Schlag ein Stich!

»Da drüben, wo die Glocken hängen, ist mein Kind gestorben«, überkam es sie.

In der Küche braute sie sich einen Espresso, der einem Elefanten Herzrasen verursacht hätte, und trug die Tasse ins Wohnzimmer. Durch das Fenster sah sie Walter im Hof werkeln. Es wollte ihr nicht in den Sinn: wie konnte Anna sich umbringen? Hätte sie, ihre Mutter, nicht irgendwelche Anzeichen an ihr bemerken müssen? Zugegeben, ihr Verhältnis war in den letzten Jahren abgekühlt. Sie hatten sich nicht mehr verstanden wie einst, als Anna noch ein Kind war. Ihre Tochter hatte sich immer enger dem Vater angeschlossen. So weit, dass in Claudia Eifersucht aufkam. Oft hatte es handfesten Streit gegeben. Anna hatte sich ihr mehr und mehr entzogen. Aber Anna war doch keine Fremde, der sie nicht angemerkt hätte, wenn sie so bedrückt war, dass sie sterben wollte. Hätte sie mehr tun müssen, um wieder Zugang zu ihrer Tochter zu finden, bevor es zu spät war? Dieselben Fragen, die sie schon mit Walter wieder und wieder gewälzt hatte. Dieselbe Antwort: keine! Sie musste raus! Rasch warf sie sich in den Reitdress.

Jetzt saß sie auf Atlas, der ihre Unruhe gleich erspürt hatte, als sie in den Stall kam, überließ ihn seinem Temperament und ließ ihn seinen eigenen Weg finden. Nach und nach kehrte ihre Energie wieder zurück. Ihre Gedanken kreisten nur noch um eins: Wenn es einen Schuldigen für Annas Tod gab, sie würde ihm die Eingeweide herausreißen!

Als sie nach einer guten Stunde zurück in den Hof trabte, stand Walter mit den beiden Polizisten vor dem Haus. Claudia lenkte ihren Hengst zum Stall, stieg ab, band das Pferd dort unterm Vordach an und ging zu den Männern.

»Gehen wir rein«, sagte sie, »es fängt gleich wieder an zu regnen.«

In der Tat fielen die ersten schweren Tropfen schon, noch bevor sie die Tür erreichten. Sie gingen durch die Halle ins Wohnzimmer, wo ihnen Claudia Friese Platz anbot.

»Ich brauch was zu trinken nach dem Ausritt. Möchten Sie auch Tee?«, fragte sie.

»Gern«, antwortete Assauer.

Während Claudia Friese sich in der Küche zu schaffen machte und ihr Mann nach oben ging, um ein paar Fenster zu schließen, sah sich Assauer in dem Wohnzimmer um, das einen beträchtlichen Teil des Erdgeschosses einnahm. Hier war behutsam renoviert worden. Die Einrichtung war modern und stilvoll, zwei große, abstrakte Gemälde beherrschten die unverputzten Wände, die Deckenbalken waren im ursprünglichen Zustand belassen worden. Geld und Geschmack waren hier eine selten gewordene Synthese eingegangen, stellte er fest.

Claudia Friese kam aus der Küche zurück, verteilte dicke Teehaferl auf dem Tisch, schenkte ein und setzte sich ihnen gegenüber.

»Gibt es etwas Neues?«

Hammer antwortete ihr: »Zunächst einmal kann ich Ihnen mitteilen, dass Annas Leiche von der Gerichtsmedizin freigegeben worden ist. Sie können sie bestatten.«

»Und sonst?«

»Wir sind nach allem, was wir wissen, sicher, dass es Selbstmord war. Alles deutet darauf hin. Allerdings haben wir keinerlei Hinweis darauf, warum Ihre Tochter sich das Leben genommen hat.«

Walter Friese kam die Treppe herunter.

»Wie ich schon gestern gesagt habe«, betonte er, »haben wir keine Ahnung, was sie dazu getrieben haben könnte.«

»Gab’s vielleicht Streit, hatte sie Probleme in der Schule?«

»Ja, Anna und ich hatten einige Differenzen«, erklärte Claudia Friese, »sie hat sich von mir nichts mehr sagen lassen, aber da war nichts Schlimmes. Und die Schule hat sie mit links gemacht.«

»Und ihr Freund? Hatte sie vielleicht Streit mit ihm, Liebeskummer?«

»Anna hatte keinen Freund«, warf Walter Friese ein, »sie war 16!« Er sah zu seiner Frau hin. »Oder weißt du was von einem Freund?«

»Mir hätte sie davon doch nie was gesagt. Du warst doch ihr Vertrauter, sie hing doch ständig an dir wie eine Klette.«

Assauer spürte den Vorwurf in den Worten der Frau. Eifersucht der Mutter auf die Tochter?

»Sie muss aber einen Freund gehabt haben«, beharrte Hammer. »Mit sechzehn ist ein Mädchen dafür ja nicht zu jung und außerdem hatte sie laut unserer Gerichtsmedizinerin schon häufiger Geschlechtsverkehr. Wohl noch an ihrem letzten Tag.«

Assauer sah, wie diese Worte mit Wucht bei Annas Eltern einschlugen.

Claudia Friese fand als Erste ihre Sprache wieder. »Finden Sie ihn, ich will wissen, mit wem Anna zusammen war. Wenn er sie auf dem Gewissen hat …« Sie führte den Satz nicht zu Ende.

»Können wir uns in Annas Zimmer umsehen?«, fragte Hammer. Sie muss ja mit ihrem Freund kommuniziert haben, Handy, SMS, E-Mail, Facebook, Briefe, Zettel. Da muss auf alle Fälle was zu finden sein.«

»Ich gehe voraus«, entschied Claudia Friese, stand auf, schob sich grob an ihrem Mann vorbei, ging die Treppe hinauf und führte Hammer und Assauer, die ihr folgten, zu Annas Zimmer.

»Lassen Sie sich Zeit«, forderte sie die beiden Ermittler auf, als sie ihnen die Tür öffnete, »ich bin unten.«

»Dicke Luft«, raunte Assauer Hammer zu, als sie weg war.

»Da brodelt was zwischen den beiden«, stimmte Hammer zu.

Sie fingen an, Annas Zimmer methodisch und routiniert zu durchforsten, wühlten sich durch aufgetürmte Kleiderberge, Schulbücher und zahllose Notenhefte, kippten den Papierkorb aus, blätterten durch Schulpapiere, durch Stapel von Computermagazinen, wie sie sie in einem Mädchenzimmer nicht erwartet hätten, gingen Annas wilde Zettelwirtschaft durch, kramten sich durch ihren Schreibtisch, untersuchten Schachteln und Kartons, Annas Schrank und schließlich auch das kleine Bad, das an den Raum anschloss. Sie fanden – nichts. Keine Notiz von einer Verabredung, keinen hingekritzelten Namen, kein Foto, rein gar nichts. Nicht einen klitzekleinen Hinweis auf Annas Freund. Allerdings hatten die wichtigsten Objekte ihrem Untersuchungseifer widerstanden: Annas Laptop und das Handy. Der Laptop war passwortgeschützt, für das Handy fehlte ihnen die PIN. Sie würden beides mitnehmen und Bert auf den Schreibtisch legen. Der war bekennender Computer-Fetischist und ein Trüffelschwein für die Spurensuche zwischen Bits und Bytes. Hammer erinnerte sich, wie ein Verdächtiger vergangenes Jahr blass geworden war, als er ihm den Ausdruck seiner verschlüsselten E-Mail-Korrespondenz im Klartext auf den Tisch geknallt hatte. Dabei hatte der Kerl geprahlt, sie würden den Code in hundert Jahren nicht knacken, sein Passwort sei nämlich ›länger als sein Schwanz‹. Bert hatte gerade mal einen Vormittag gebraucht, um diesen Gordischen Knoten zu durchschlagen, und mit rotem Marker quer über den Ausdruck geschrieben: ›Er ist kürzer, als du denkst!‹

»Wir müssten die hier mitnehmen«, erklärte Hammer folglich Annas Eltern, die im Wohnzimmer beim Tee saßen, und hielt ihnen die beiden Geräte hin.

»In Ordnung«, stimmte Claudia Friese zu. »Nehmen Sie alles mit, was Sie brauchen.«

»Wir gehen dann«, verabschiedete sich Hammer.

Montag