Tod eines Unbekannten: Ein Fall für Assauer und Hammer - Band 3 - Michael Winter - E-Book
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Tod eines Unbekannten: Ein Fall für Assauer und Hammer - Band 3 E-Book

Michael Winter

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Beschreibung

Mörderische Spannung trifft auf derben niederbayrischen Charme: »Tod eines Unbekannten« von Michael Winter jetzt als eBook bei dotbooks. Direkt vor der Wallfahrtskirche Mariahilf wird eine grausam zugerichtete Leiche aufgefunden: Ein nackter Mann, das Gesicht von einem Pflasterstein bis zur Unkenntlichkeit zertrümmert. Der einzige Hinweis, ein goldener Siegelring, führt die beiden Ermittler Assauer und Hammer tief in die Intrigen und Abgründe von Passaus besten Kreisen. Doch ihre Ermittlungen drohen längst vergessen geglaubte Geheimnisse wieder ans Tageslicht zu zerren – und manche der »Großkopferten« und »Gschaftlhuber« würden alles tun, um ihre Stellung und ihren Ruf zu schützen … Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der packende Kriminalroman »Tod eines Unbekannten« von Michael Winter vereint besten Regiokrimi-Charme aus Passau mit fesselnder TATORT-Spannung. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Über dieses Buch:

Direkt vor der Wallfahrtskirche Mariahilf wird eine grausam zugerichtete Leiche aufgefunden: Ein nackter Mann, das Gesicht von einem Pflasterstein bis zur Unkenntlichkeit zertrümmert. Der einzige Hinweis, ein goldener Siegelring, führt die beiden Ermittler Assauer und Hammer tief in die Intrigen und Abgründe von Passaus besten Kreisen. Doch ihre Ermittlungen drohen längst vergessen geglaubte Geheimnisse wieder ans Tageslicht zu zerren – und manche der »Großkopferten« und »Gschaftlhuber« würden alles tun, um ihre Stellung und ihren Ruf zu schützen …

Über den Autor:

Michael Winter wurde 1946 in Frankfurt am Main geboren. Nach seinem Studium in München arbeitete er bei Siemens im Bereich Informatik. 1975 wechselte Michael Winter zum Bayerischen Rundfunk, wo er 35 Jahre lang Sprecher und Moderator war. Bis heute ist er außerdem als Regisseur und Drehbuchautor für Werbe- und Industriefilmproduktionen in Europa und Übersee erfolgreich.

Bei dotbooks erschien sein Thriller »DNA des Todes«.

Michael Winter veröffentlichte bei dotbooks weiterhin die drei Passau-Krimis rund um die Kommissare Assauer und Hammer:

»Tod eines Mädchens«

»Tod im Schützenhaus«

»Tod eines Unbekannten«

***

Originalausgabe September 2019

Copyright © der Originalausgabe 2019 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Redaktion: Ralf Reiter

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Zyancarlo

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (cg)

ISBN 978-3-96148-385-3

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

***

Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weitere Bücher aus unserem Programm. Schicken Sie einfach eine eMail mit dem Stichwort »Tod eines Unbekannten« an: [email protected] (Wir nutzen Ihre an uns übermittelten Daten nur, um Ihre Anfrage beantworten zu können – danach werden sie ohne Auswertung, Weitergabe an Dritte oder zeitliche Verzögerung gelöscht.)

***

Besuchen Sie uns im Internet:

www.dotbooks.de

www.facebook.com/dotbooks

blog.dotbooks.de/

Michael Winter

Tod eines Unbekannten

Ein Fall für Assauer und Hammer

dotbooks.

Vorbemerkung

Bei dem vorliegenden Kriminalroman handelt es sich um ein rein fiktives Werk; sämtliche Namen, Zusammenhänge und Ereignisse sind frei erfunden.

Der Junge rannte über den schmalen Waldweg, ohne im Dunkel richtig zu sehen, wohin er trat. Er stolperte über einen herabgefallenen Ast, fiel hin, rappelte sich hoch, rannte weiter auf dem Weg, der ihn immer tiefer ins Dunkel zwischen den Bäumen hineinführte. Der flackernde Widerschein des hinter ihm brennenden Bauernhofs an den Stämmen war das einzige Licht in der Nacht. Er verfing sich an einem Gebüsch, riss sich los, lief weiter, rang nach Luft. Sein verbranntes Gesicht schmerzte, die Hände waren von den vielen Stürzen aufgeschürft, und die nackten Füße, mit denen er über Stock und Stein rannte, bluteten. Als der Feuerschein hinter einer Hügelkuppe versunken war und ihn vollständige Dunkelheit umgab, wurde er langsamer. Hätte da nicht längst die Abzweigung sein müssen? War er schon vorbei? Angestrengt starrte er in die schwarze Nacht ringsum, vermochte aber nichts zu erkennen.

Hilflos, schluchzend und zitternd vor Angst hielt er inne. Wie weit war er schon gerannt? Verzweifelt versuchte er noch einmal, sich im Dunkel zu orientieren. Es gelang ihm nicht. Er hatte keine Ahnung, wo er war, und keine Kraft mehr weiterzulaufen. Keuchend und erschöpft ließ er sich auf den weichen Waldboden am Wegesrand sinken, während ihn das dichte Schwarz immer enger umschloss, am Ende auch in seinen Kopf drang und Ohnmacht ihm die Schmerzen nahm.

Montag

»Soll ich dir nicht doch ein Taxi bestellen?«, fragte der Dekan der Philosophischen Fakultät der Passauer Uni, Ernst Krause-Ohlig, und reichte seinem Gast den Mantel.

»Lass nur, ich gehe lieber zu Fuß«, antwortete Monsignore Lambertus Golling. »Ein paar Schritte an der frischen Luft werden meinen alten Knochen gut tun, und ich kann meine Gedanken ordnen nach unserem anregenden Gespräch.«

»Wie du willst«, erwiderte Krause-Ohlig und öffnete die Haustür. Kalte Nachtluft wehte herein, und vom Stephansdom her hörte man es ein Uhr schlagen. »Wir haben uns mal wieder gescheit verratscht«, bemerkte Golling über die Glockenschläge, schlüpfte in den Mantel und knöpfte ihn bis zum Kragen zu. Prüfend warf er einen Blick zum Himmel, an dem sich große Wolkenlücken zeigten. Nach Regen sah es nicht aus, er würde trockenen Fußes heimkommen.

»Bitte richte deiner Frau noch einmal meinen Dank aus für das herrliche Essen«, sagte er und reichte Krause-Ohlig die Hand. »Es war köstlich wie immer.«

Elisabeth, die Frau des Dekans, hatte sich gegen Mitternacht zurückgezogen und die Männer ihrem theologischen Disput überlassen.

»Ich werde es gerne ausrichten. Sie freut sich jedes Mal über deinen Besuch«, versicherte Krause-Ohlig.

»Kommen Sie gut nach Hause, Monsignore«, kam die Stimme von Krause-Ohligs Sohn, Richard, aus dem Flur.

Golling drehte sich um und winkte dem jungen Mann zu. »Gute Nacht.«

An Krause-Ohlig gewandt bemerkte er dann: »Ein kluger Kopf, dein Sohn. Der hätte sicher auch einen brillanten Theologen abgeben.«

Der Dekan reichte ihm den Hut von der Garderobe. »Es ist nicht seine Berufung. Sein Herz gehört nun mal der Juristerei. Jeder geht den Weg, den der Herr ihm bestimmt hat.«

»Und ich für meinen Teil mache mich auf den Heimweg«, erwiderte Golling, drückte dem Dekan die Hand und marschierte los in Richtung Inn.

Helles Mondlicht fiel unvermittelt durch eine Wolkenlücke auf die Wallfahrtskirche Mariahilf hoch über dem anderen Ufer, gerade als er die Marienbrücke über den Inn erreichte. Für einen Augenblick leuchtete der weiße Bau mit den zwei Türmen auf wie in himmlisches Licht getaucht, und er blieb gebannt von dem Anblick stehen. Nur ein Moment, dann verschwand der Mond wieder hinter den Wolken, der magische Augenblick war vorbei, und er ging weiter.

Der Wind blies kalt, als er den Inn überquerte, und jagte Wolken über den Himmel. So steckte er die Hände in die Manteltaschen und schritt kräftiger aus, über den Fluss, den Fußweg neben der Straße hinauf zum Kloster, das an die Kirche grenzte, und bald wurde ihm wärmer. Mit mehr als siebzig Jahren auf dem Buckel war er fit wie ein Junger, und er dankte seinem Herrgott jeden Tag für die robuste Gesundheit, die der ihm geschenkt hatte.

Ein Fahrzeug nahm die Kurven den Berg hoch mit quietschenden Reifen und sauste an ihm vorbei. Durch die Begrenzungsmauer zwischen Fußweg und höher gelegener Straße konnte er aber nicht erkennen, wer da in halsbrecherischer Manier den Berg hoch preschte.

Nachdem er am Kloster vorbei war und eben in den Weg zu seinem kleinen Haus oberhalb einbiegen wollte, hörte er vom Besucherparkplatz des Klosters über ihm, wie eine Wagentür zuschlug. Wer trieb sich denn da mitten in der Nacht auf dem Parkplatz herum? Er warf einen Blick in die Richtung und sah schemenhaft eine Gestalt im fahlen Mondlicht, die etwas aus einem Lieferwagen zog. Lud hier wieder mal wer heimlich seinen Müll ab? Es wäre nicht das erste Mal. Schon häufig hatte sich der Prior darüber beklagt. Da das Haus, das er bewohnte, dem Kloster gehörte, fühlte er sich verpflichtet, nachzusehen. Gedeckt durch ein Gebüsch schlich er hin, bemüht, kein Geräusch zu machen. Der Mond verschwand derweil wieder vollends hinter dicken Wolken, und es wurde stockdunkel. Nach ein paar Schritten stolperte er, verhielt erschrocken, lauschte angestrengt in die Nacht. Da war ein schleifendes Geräusch, als zöge jemand etwas Schweres über den Boden. Behutsam tastete er sich weiter vorwärts, die Büsche entlang, auf das Geräusch zu, bemüht, den Abstand zu verringern. Zu sehen war noch immer nichts. Erst als die Wolken um den Mond dünner wurden, vermochte er durch die Büsche wieder etwas zu erkennen: Etwa fünfzehn, zwanzig Meter von ihm entfernt zog ein kräftig gebauter, weiß gekleideter Kerl, den er nur von hinten sah, den nackten, leblosen Körper eines Mannes hinter sich her. Mit einer Hand zerrte er ihn am Arm mit sich wie einen Kartoffelsack. Am Ende des Parkplatzes ließ er los, und der Arm seines Opfers fiel schlaff herunter, machte ein dumpfes Geräusch beim Aufschlagen auf den Boden. War der nackte Mann tot? Golling streckte sich auf die Zehenspitzen, um besser sehen zu können. Gerade in diesem Moment kam der Mond wieder vollständig hinter den Wolken hervor und warf sein volles Licht auf die gespenstische Szene. Golling presste die Hand vor den Mund, um nicht laut aufzuschreien. Der leblose Mann dort – er kannte ihn! Vorsichtig tastete er sich zurück in den Schatten hinter dichterem Gestrüpp und kramte nach seinem Handy in der Innentasche des Jacketts. Ein Ast brach unter seinem Fuß mit lautem Knacken, und er erstarrte, als der Mann in Weiß herumfuhr und genau in seine Richtung blickte. Das Blut gefror ihm in den Adern, als er dessen Gesicht sah, und er ließ das Handy, wo es war. Die Polizei rufen konnte er nicht.

***

»Er kommt!« Hauptkommissar Maximilian Hammer winkte seinen Kollegen Thomas Assauer zu sich ans Fenster. Zwei Stockwerke unter ihnen nahm eine unscheinbare Gestalt den ansteigenden Weg von der Nibelungenstraße herauf zum Eingang der Polizeiinspektion Passau. Ihr grauer Trenchcoat, der sich kaum von der Farbe des Pflasters abhob, schien eine Nummer zu groß, und die schmale Aktenmappe, die die schmächtige Person unterm Arm trug, sah selbst aus der Ferne so abgegriffen aus wie eine Lederhose in der dritten Generation. Der Mann blickte nicht auf, passierte den Besucherparkplatz mit kraftvollem Schritt. Davon, dass ihn vor knapp drei Monaten ein Herzinfarkt niedergestreckt hatte, war nichts zu bemerken.

Genauso unauffällig und unscheinbar mochte er wohl vor acht Jahren diesen Weg zum ersten Mal hochgegangen sein, dachte Assauer bei sich. Und auch damals hatte er sicher für die vielen Fenster über ihm, durch die ihn – wie jetzt wohl auch – zig Augenpaare anstarrten, keinen Blick übrig gehabt. Damals, als man ihn von München nach Passau zwangsversetzt hatte, auf dass er in der Provinz Muße fände, darüber nachzudenken, welch akute Rutschgefahr auf den Zehen der Großkopferten in Bayern herrscht. Auf ebensolche Zehen nämlich war er getreten, als er die Nase zu tief in die Grundstücksgeschäfte eines Münchner Baulöwen steckte, der dick mit den Granden der herrschenden Partei verbandelt war.

»Täuscht mich das, oder sind seine Haare jetzt weiß statt grau?«, fragte Hammer neben ihm.

»Sonnengebleicht«, meinte Assauer. »Er hat wahrscheinlich die letzen Wochen in der Reha bloß noch in der Sonne gehockt und Däumchen gedreht. Jedenfalls bin ich froh, dass er endlich wieder da ist.«

Er schaute noch so lange hinunter, bis der schmale Mann unter dem Vordach des Eingangs verschwunden war, dann drehte er sich zu den Kollegen um, die sich in dem Büro versammelt hatten. Ernie, der Kriminaltechniker, studierte seine Fingernägel wie ein Schulbub, der fürchtete, gleich vom Lehrer wegen Trauerrändern gemaßregelt zu werden. Sein Kollege Bert, der IT-Spezialist, hörte auf, sein neues Smartphone zu bearbeiten, und schob es in die Tasche. Ein unverkennbarer Respektsbeweis gegenüber dem Mann, der gleich durch die Tür kommen musste. Jeder andere hätte zur Begrüßung eine SMS statt eines Händedrucks bekommen, überlegte Assauer schmunzelnd. Am Schreibtisch schaufelte Monika Erdmann, die kleine, gedrungene Gerichtsmedizinerin, selbstgebackenen Zwetschgendatschi vom Blech auf bereitstehende Teller. Neben ihr ließ Petra Gerstmann kochendes Wasser durch einen Kaffeefilter in eine Thermoskanne laufen. Groß, schlank, schwarzhaarig, chic gekleidet, mit perfektem Make-up und gerade 33 geworden, hätte sie auf dem Titelbild der Vogue eine gute Figur gemacht. Allein ihr Gesichtsausdruck war im Augenblick nicht gerade titelbildreif. Hammer neben ihm schien denselben Eindruck zu haben.

»Der stinkt er«, raunte er Assauer zu.

»Mir tät er auch stinken, wenn mir gerade die Felle davonschwimmen«, flüsterte Assauer zurück. »Jedenfalls …« Er brachte den Satz nicht zu Ende, weil die Tür aufging. Im Rahmen stand der Mann im Trenchcoat. Waldhauser. Der Chef.

Stumm musterte er die versammelte Mannschaft mit klaren, wachen Augen. Er war nicht mehr ganz so schmal, wie Assauer ihn von seinem Besuch in der Rehaklinik in Erinnerung hatte, aber längst noch nicht der Alte. Nur Blick und Haltung strahlten wieder die frühere Energie aus, und die Stimme war fest wie einst, als er die Mappe ablegte, die Hände in die Hüften stemmte und zu seiner ersten Amtshandlung ansetzte, einem Anschiss. »Ihr könnt’s euch alle miteinander auf einen Eintrag in die Personalakte gefasst machen, wegen Insubordination und Missachtung einer Dienstanweisung«, polterte er angesichts des Kaffeegeschirrs und dem Blech voller Zwetschgendatschi auf seinem Schreibtisch. »Habe ich mir nicht jegliche Feierlichkeiten anlässlich meines Amts-Wiederantritts verbeten?« Ein kurzes Aufleuchten in seinen Augen verriet jedoch, dass der Ausbruch bloß Theaterdonner war und er sich in Wahrheit über diesen Empfang freute. Zugegeben hätte er das aber nicht ums Verrecken, denn er hasste jedes Aufheben um seine Person.

»Halt den Schnabel, Richard«, versetzte die Erdmann. »Wir feiern hier nicht deine Rückkehr ins Amt, sondern deinen Geburtstag, respektive die Tatsache, dass du dem Tod gerade noch mal von der Mistgabel gehupft bist. Und vom Verbot einer Geburtstagsfeier ist mir nix bekannt. Also hock dich hin, nimm dir ein Stück Datschi und gieß dir Kaffee ein. Aber aus der roten Kanne, da ist koffeinfreier drin.«

Waldhauser verstummte. Die kleine, pummelige Erdmann war nicht nur die Einzige in der Runde, die den Chef ganz selbstverständlich duzte, sondern wie er eine unbestrittene Respektsperson. Dazu eine Koryphäe in ihrem Fach und eine Säule der beispielhaften Aufklärungsquote der Dienststelle, und bei nicht ganz einssechzig Körpergröße war sie resolut wie eine Dampframme. Dass sie die ersten zwei Tage nach dem Herzinfarkt nicht von Waldhausers Krankenbett gewichen war und die behandelnden Ärzte im Kreis hatte tanzen lassen, wussten nur ein paar Auserwählte. Er und Hammer zählten zu diesem Zirkel, ebenso Ernie und Bert, die zwei ausgefuchsten Kriminaltechniker. Womit, soweit Assauer wusste, der Kreis derjenigen, die Erdmann durch Zuneigung adelte, fast vollständig in Waldhausers Büro versammelt war. Petra Gerstmann, die den Chef in dessen Abwesenheit vertreten hatte, zählte nicht dazu. Was nicht etwa daran lag, dass sie, bildschön und halb so alt wie die Gerichtsmedizinerin, deren genaues Gegenteil darstellte. Die Ursache war vielmehr, dass Gerstmann während Waldhausers Abwesenheit die Säge an seinem Stuhl angesetzt hatte. Allerdings vergeblich, trotz Rückendeckung aus München, wo ihr Onkel als Innenminister residierte. Aber die Erdmann, die den Chef verehrte, stufte auch den untauglichen Versuch als grobes Sakrileg ein.

Waldhauser tat wie ihm geheißen, griff sich einen Teller mit Datschi, schenkte sich eine Tasse Kaffee ein – aus der roten Kanne – hockte sich auf einen Stuhl am Besuchertisch und ermunterte die anderen, ebenfalls zuzugreifen. Die ließen sich das nicht zweimal sagen. Selbstgebackenes von der Erdmann schlug alles, was Bäcker und Konditoren in Stadt und Landkreis Passau zusammenrührten, um Längen.

Bald hockten alle um den Besuchertisch und ließen sich die Münder von dem herrlich sauren Geschmack des unnachahmlichen Erdmannschen Zwetschgendatschis zusammenziehen.

Die säuerliche Miene, die Gerstmann dabei zog, schrieb Assauer allerdings weniger den sauren Zwetschgen auf dem Hefeteig zu als der Tatsache, dass Waldhauser seinen Posten wieder antrat. Hatte sie doch offensichtlich darauf spekuliert, Waldhauser werde sich, einmal genesen, frühpensionieren lassen und sie könne seine Position auf Dauer einnehmen. Wie eine Bestätigung seiner Gedanken flüsterte sein Kollege Hammer ihm zwischen zwei Bissen zu: »Vom Datschi kommt die saure Lätschn unserer Interimschefin net, oder was meinst du?«

»Ex-Interimschefin«, gab Assauer nicht ganz so leise und mit genüsslichem Unterton zurück. »Und der Datschi ist nicht halb so sauer, wie die dreinschaut.«

Gerstmanns Miene wurde noch säuerlicher, weil sie diesen halblauten Dialog mitbekommen hatte. Was das von circa 100 Kilo Muskelmasse gepanzerte Gemüt Hammers offensichtlich nicht im Mindesten genierte. Er langte zum Kuchenblech, schob sich noch ein Stück auf den Teller und mampfte genussvoll weiter. Assauer langte ebenfalls noch einmal zu. Zwar war er deutlich schmaler dimensioniert als sein Kollege, aber sein Training für den München-Marathon Ende der kommenden Woche verschlang jede Menge Kalorien. Abgesehen davon brauchte keiner von beiden eine Ausrede dafür, sich kulinarischen Genüssen hinzugeben. »Wer so viel Scheiß sieht wie wir, braucht gutes Essen zum seelischen Ausgleich«, hatte Hammer vor Jahren, am Abend nach einer grausigen Tatortbesichtigung, einmal gesagt. Recht hatte er! Und kochen konnte er, als wären die Sterne auf den Schulterklappen der Uniform in seinem Schrank von Michelin.

Das Telefon, das jetzt wieder Waldhausers Telefon war, klingelte laut und aufdringlich. Gerstmann griff instinktiv danach, stoppte aber die Hand im letzten Moment wenige Millimeter über dem Hörer und ließ sie dort schweben. Erst als Waldhauser keine Miene machte, selber an den nervig läutenden Apparat zu gehen, hob sie ab.

»Polizeiinspektion Passau, Dr. Gerstmann«, meldete sie sich und horchte, was der Anrufer zu sagen hatte. Nach ein paar Augenblicken griff sie zum Kugelschreiber und machte Notizen auf dem Block neben dem Apparat. »Um Gottes willen«, entfuhr es ihr dabei, und sie verzog das Gesicht zu einem Ausdruck von Abscheu.

Als sie schließlich den Hörer auflegte, wirkte sie durch ihr Make-up hindurch sichtbar blasser. Keiner sagte etwas, alle starrten sie an und warteten darauf, dass sie verriet, was sie soeben erfahren hatte.

»Das war einer von der Streife. Straßenarbeiter haben oben am Mariahilfberg eine Leiche gefunden. Sie muss grausig aussehen, nach dem, was mir der Kollege berichtet hat. Er meint, es sei von Mord auszugehen. Die Streife vor Ort sperrt ab.« Sie schob den Kugelschreiber ein und riss den Zettel vom Block. »Sie entschuldigen mich, ich fahre hin«, verkündete sie zu Assauers Verblüffung und machte Anstalten zu entschwinden.

»Die drängt sich doch sonst nicht vor«, bemerkte Hammer mit vollem Mund.

»Die ist froh, dass sie einen Vorwand hat, vom Empfang für den Chef wegzukommen«, mutmaßte Assauer.

»Halt, Moment. Ich komme mit«, rief die Erdmann. »Und wir fahren mit meinem Wagen, da ist meine Ausrüstung drin.« Sprach’s, packte die widerstrebende Gerstmann am Arm und zog sie mit sich.

Die Gerichtsmedizinerin legte Wert darauf, möglichst früh an einem Tatort zu sein. »Da sprechen die Leichen noch«, pflegte sie zu sagen. Was immer sie genau damit meinte, ihre stets überaus akribischen, umfassenden und zutreffenden Expertisen gaben ihr Recht. Ernie und Bert folgten den Frauen unaufgefordert, um die Spuren am Tatort zu sichern – so es denn ein Tatort war. Was sich erst noch herausstellen musste.

Assauer und Hammer blieben bei Waldhauser zurück. Das Münchner Triumvirat, wie man sie in Kollegenkreisen – anfangs abschätzig, inzwischen respektvoll – nannte, war wieder vollzählig im Dienst. Die beiden Hauptkommissare waren ihrem geschassten Chef nämlich einst, nur kurze Zeit nach seinem erzwungenen Abgang aus München, nach Passau gefolgt.

»Geht ja schon gut los«, meinte Waldhauser trocken und fügte brummig hinzu: »War ja wohl auch nicht zu erwarten, dass die kriminelle Energie in Stadt und Landkreis Passau während der Sedisvakanz in meinem Büro signifikant abnimmt.«

»Mir tät’s schon langen, wenn sich unsre Kundschaft auf simples, klassisches Mordhandwerk beschränken wollte: Schädel einschlagen, Messer reinrennen, erwürgen«, meinte Hammer. »Aber nix dergleichen, wir kriegen’s immer mit den bizarrsten Fällen zu tun. Als gäb’s da eine Kreismeisterschaft um den ausgefallensten Mord.« Sich an den Kopf tippend fuhr er fort: »Wenn ich bloß an die letzten zwei Fälle denke – ein pudelnackertes Mädel fällt vom Kirchturm. und ein Bürgermeister wird so auf einen Schießstand hindrapiert, dass ihm sein Sohn zwanzig Kugeln in den Wanst ballert, ohne es zu ahnen. Da vergeht doch selbst dem abgebrühtesten Kriminaler der Appetit.« Er warf die Kuchengabel auf den Teller zurück, dass es schepperte.

Waldhauser grinste süffisant und blickte von einem zum anderen. »Ich weiß schon. Ihr konntet mich ja nicht einmal auf dem Krankenbett respektive in der Reha vor diesen Fällen verschonen. Bloß weil ihr Tomaten auf den Augen hattet am Tatort, ihr Helden.« Sein Zeigefinger stach in ihre Richtung. »Aber damit das glasklar ist, künftig werdet ihr eure Fälle lösen, ohne dass ich euch die Steigbügel halte. Habt’s mich?«

Assauer und Hammer nickten ergeben und schuldbewusst. Sie hatten sich in beiden Fällen wahrlich nicht mit Ruhm bekleckert. Der Chef hatte sie erst mit der Nase darauf stoßen müssen, dass sie ganz offensichtliche Hinweise auf die jeweiligen Täter übersehen hatten – mal in einem Kirchturm, mal in einem Auto.

»Schön, dann verstehen wir uns ja«, meinte Waldhauser auf ihre betretenen Mienen hin. »Ich habe nämlich genug damit zu tun, dafür zu sorgen, dass mein Orchester hier«, er deutete mit ausladender Geste an, dass damit die gesamte Polizeiinspektion Passau gemeint war, »wieder streng nach Partitur spielt. Da kann ich mich nicht damit aufhalten, auch noch eure Hausaufgaben zu machen. Außerdem steht in zwei Jahren meine Pensionierung an, bis dahin müsst ihr den aufrechten Gang beherrschen, ohne an meinem Rockzipfel zu hängen. Zumal mir ein Vöglein aus München gezwitschert hat, dass euch Frau Doktor Gerstmann nach dieser Gnadenfrist als meine Nachfolgerin ins Haus steht.«

Während Assauer und Hammer auf diese Hiobsbotschaft hin die Blicke gen Himmel richteten, stand der Chef vom Besuchertisch auf, ging zum Schreibtisch und griff nach einem Stapel Post, der dort neben der Kaffeekanne lag. Umständlich öffnete er den ersten Umschlag, zog das Schreiben heraus und begann, konzentriert zu lesen. Nach den ersten Zeilen blickte er auf. »Ist noch was?«

Assauer und Hammer schüttelten den Kopf. »Na, dann raus mit euch, und nehmt’s das Zeug hier mit«, befahl der Chef. Folgsam beluden sie sich mit Kaffeekannen und Geschirr und machten sich davon – das Kuchenblech ließen sie selbstverständlich zurück.

»Gottseidank ist er wieder da«, bemerkte Assauer erleichtert auf dem Gang, und Hammer brummte zustimmend. Sie teilten die Verehrung der Erdmann für den Chef. Selber Münchner, liebten sie seine mal feinsinnige, mal grobe Art und hatten einen Mordsrespekt vor seinem kriminalistischen Spürsinn, dem nicht die kleinste Kleinigkeit entging. Am meisten jedoch schätzten sie die humane Einstellung, die er sich trotz Jahrzehnten der Konfrontation mit den dunklen Seiten der menschlichen Natur bewahrt hatte. »Im Leben gibt’s so viele Kreuzungen«, hatte er einmal gesagt, »da kann einer leicht mal falsch abbiegen.«

In der Kantine entledigten sie sich ihrer Last und nahmen den Weg zu ihrem Büro. Assauer wollte gerade die Tür öffnen, als sein Handy zu läuten begann. Erdmann war dran. »Ich denke, ihr solltet herkommen«, sagte sie. »Wir sind auf dem Parkplatz über der Mariahilfkirche. Und macht euch auf was gefasst.«

***

Sie sahen die Blaulichter erst, als sie an der Mariahilfkirche und dem Kloster vorbei waren. Der Parkplatz links der Straße war abgesperrt. Nur die Autos der Spurensicherung und der Erdmann standen dort sowie der LKW einer Baufirma mit angehängtem Teerkocher und ein Kleinbus. Eine Gruppe von vier Straßenarbeitern saß auf einem Steinhaufen an der Einfahrt. Die Männer redeten aufgeregt durcheinander und gestikulierten dabei heftig. Der brodelnde Teerkocher neben ihnen verbreitete einen penetranten Gestank, der durch die Lüftung ins Fahrzeug drang.

Ein junger Streifenbeamter hob das Absperrband an, so dass Hammer drunter durchfahren konnte. Der Uniformierte war sichtbar blass um die Nase, bemerkte Assauer beim Aussteigen.

»So was Grauenhaftes hab ich im Leben noch nicht gesehen.« Die Stimme der Gerstmann, die an Erdmanns altem Mercedes lehnte, das Gesicht grün und stumpf wie die verwitterte Farbe des Wagens. »Mir ist immer noch ganz übel«, sagte sie noch, und es schüttelte sie dabei.

Hammer ging zu ihr hin und legte ihr tröstend die Hand auf die Schulter. »Denken Sie sich nichts, man gewöhnt sich nie dran«, sagte er mitfühlend, »auch nach noch so vielen Jahren nicht. Ich weiß, wovon ich rede.«

»Packen wir’s an«, wandte er sich dann an Assauer, und sie querten den Parkplatz. Am anderen Ende, Rücken zu ihnen, stand die Gerichtsmedizinerin neben einer abgedeckten Leiche und steckte gerade etwas in eine Asservatentüte.

Assauer hob den Zeigefinger »Augen auf …«

»… am Tatort«, vervollständigte Hammer das Zitat ihres Chefs. Ihr übliches Ritual, wann immer sie den Schauplatz eines Verbrechens betraten.

»Schnallt eure Mägen fest«, empfahl Erdmann, als sie sie kommen hörte, ohne sich zu ihnen umzudrehen.

Hinter ihr krabbelte Bert, ebenfalls weiß gewandet, auf Knien herum und suchte den Boden akribisch nach Spuren ab. Ernie, auch in Weiß, war damit beschäftigt, Fotos von der Umgebung zu machen. Zwischen zwei Aufnahmen warf er Assauer einen ungehaltenen Blick zu. Er hasste es, wenn jemand auf seinem Tatort herumtrampelte, wie er sich auszudrücken pflegte.

»Also, was haben wir da?«, erkundigte sich Assauer, als sie bei der Erdmann ankamen.

Statt einer Antwort zog die Gerichtsmedizinerin die Plane von der Leiche. Augenblicklich fühlte Assauer, wie sein Magen sich umdrehte.

»Ja mich leckst am … wer macht denn so was?«, stieß sein Kollege hervor.

Vor ihnen lag eine nackte männliche Leiche. Der Körper wies keinerlei sichtbare Verletzungen auf, das Gesicht jedoch war nicht mehr vorhanden. Es war mit ungeheurer Gewalt zertrümmert worden. Keine Spur mehr von einer Nase, von Augen und Mund, nur ein dunkelroter, matschiger Brei aus Knochensplittern, Muskelfasern, Zähnen, eingetrockneter Augenflüssigkeit und geronnenem Blut. Nichts, das man noch als menschliches Gesicht identifizieren konnte. Grauenvoll! Hammer schluckte ein paarmal vernehmlich, wandte sich ab und bedeutete der Erdmann, die Plane schnell wieder über die Leiche zu breiten.

Assauer, dem die Knie schwach geworden waren, drehte sich weg, nahm den Kopf in beide Hände und rieb sich die Schläfen, um sein geschocktes Hirn wieder in Gang zu bringen.

Erdmann bückte sich derweil zu einem Eimer unweit des Opfers und zog einen durchsichtigen Plastikbeutel heraus, der einen kinderkopfgroßen, blutverkrusteten Pflasterstein enthielt, auf dem sich ein Handabdruck abzeichnete. »Immerhin haben wir das mutmaßliche Tatwerkzeug.«

Hammer beugte sich so weit hinunter, dass der von Erdmann hochgehaltene Beutel vor seiner Nase schwebte. »Da schau her, ein Stein als Mordwaffe, geradezu archaisch«, meinte er, während er sich den gewichtigen Inhalt der Tüte aus der Nähe besah.

»Ich habe ›das mutmaßliche Tatwerkzeug‹ gesagt«, widersprach Erdmann und ließ den Beutel mit dem Stein zurück in den Eimer gleiten. »Auch wenn der Augenschein dafür spricht, dass du recht hast, will ich das erst genauer untersuchen.«

»Was meinst du? Hat man ihn hier getötet?«, wollte Hammer wissen.

»Meiner vorläufigen Einschätzung nach, ja«, antwortete Erdmann. »Hier sind Blutspritzer in weitem Umkreis, die gäb’s nicht, wenn man die Leiche bloß hier abgelegt hätte. Außerdem hat er Abschürfungen am Rücken und an den Beinen, die nicht post mortem entstanden sind. Man hat ihn ein paar Meter hergeschleift, von einem Auto, wie ich annehme. Er war da vermutlich bewusstlos, sonst hätte er sich sicher irgendwie gewehrt, aber dafür habe ich keine Anzeichen gefunden.« Sie deutete in Richtung Straße. »Pflastersteine wie der im Eimer liegen vorn an der Baustelle ein ganzer Haufen. Da hat sich der Täter bedient, meint Ernie.« Mahnend hob sie den Zeigefinger. »Das alles ist nur vorläufig. Endgültiges erst in meinem Obduktionsbericht.«

»Versteht sich«, brummte Hammer.

»Irgendeine Ahnung, wer das ist?«, fragte Assauer ohne viel Hoffnung auf eine Antwort.

»Wir haben keinerlei Hinweis auf seine Identität«, antwortete Erdmann, »weder an der Leiche selbst noch im Umfeld. Allerdings«, sie machte eine Kopfbewegung in Richtung von Ernie und Bert, »will ich unseren beiden Wühlmäusen nicht vorgreifen, vielleicht finden die doch noch was.« Sie ging in die Hocke, lupfte die Plane und zog den rechten Arm des Opfers darunter hervor. »Nicht mal der Ehering, den er, dem Abdruck am rechten Ringfinger nach, getragen haben muss, ist dran. Den hat man ihm runtergerissen. Post mortem vermutlich und ziemlich grob, der Finger ist gebrochen.« Hammer zog Latexhandschuhe über, ging neben Erdmann in die Knie und studierte die Hand eingehend. Assauer beugte sich hinunter und sah zu, wie Hammer die Hand der Leiche hin und her drehte und sich den gebrochenen Ringfinger aus der Nähe ansah.

»Was ist das?« Er deutete auf einen winzigen schwarzbraunen Schmierer oberhalb des gebrochenen Fingergelenks, der unter den übrigen Abschürfungen an dem malträtierten Finger kaum auffiel, und schaute auf Erdmann.

Die zuckte mit den Achseln. »Muss ich erst analysieren.«

»Ich hab da so eine Ahnung«, sagte Hammer, stand auf und streifte die Handschuhe ab. »Lass uns mal mit den Bauarbeitern reden.«

Die Männer hockten noch immer am selben Fleck. Ein Polizist war gerade damit fertig, ihre Personalien zu notieren, tippte zum Gruß an die Mütze, als Hammer und Assauer erschienen, und ging zurück zum Streifenwagen. Drei der Bauarbeiter waren, der dunklen Haarfarbe und ihrem Akzent nach zu schließen, wohl türkischer Herkunft, der vierte, groß, stämmig, mit Halbglatze, grauem Resthaar, Brille und breitem Niederbayerisch, stammte offensichtlich aus der Gegend.

»Wer von Ihnen hat die Leiche entdeckt?«, erkundigte sich Hammer und wedelte die Schwaden aus dem Teerkocher von sich weg.

»Vorarbeiter«, antwortete einer der Schwarzhaarigen und deutete auf den Stämmigen.

»Stimmt«, sagte der. »Wir bessern hier die Einfahrt aus. Als ich heut früh den Teerkocher angeheizt hab, hab ich gesehen, dass da hinten wer liegt, und bin hin.«

»Habt ihr euch die Leiche auch angeschaut?«, wollte Hammer von den anderen Arbeitern wissen. Die drei schüttelten aber nur stumm den Kopf.

»Ich hab sie davon abgehalten«, erklärte der Vorarbeiter. »Bei dem Anblick kommt einem ja das kalte Grausen.«

Verächtlich zog Hammer die Mundwinkel herunter. »Gar so sehr kann’s Ihnen vor dem Toten aber nicht gegraust haben«, sagte er, streckte die Hand aus und forderte energisch: »Her damit!«

Der Vorarbeiter erhob sich wie in Zeitlupe. Erst dabei sah man richtig, was für ein Mordslackl das war. Der Mann war breit wie ein Schrank, hatte Fäuste wie Abrissbirnen und überragte sogar Hammer um einen halben Kopf – und der war über einsneunzig. Die beiden Hünen starrten einander an, und Assauer konnte förmlich die Luft zwischen ihnen knistern hören. Es war wie der Aufbau elektrischer Ladung vor einem Blitzschlag. War es die unterschwellige Lässigkeit in Hammers Körperhaltung oder das kaum merkliche Lächeln, das seine Lippen umspielte, was den Vorarbeiter schließlich dazu brachte, zurückzustecken? Wie auch immer, nach ein paar spannungsgeladenen Augenblicken gab der Vorarbeiter seine drohende Haltung auf. Womit er Assauer zu dessen Bedauern um eine Demonstration in Hammerscher Nahkampftechnik brachte. Der Vorarbeiter hätte sein blaues Wunder erlebt. Hammer wäre selbst für einen Silberrückengorilla ein ernstzunehmender Gegner, dachte Assauer.

»Also rück das Ding schon raus«, verlangte Hammer ungeduldig und hielt die Hand auf. Der Vorarbeiter schnaufte gottergeben, griff in die Tasche, zog etwas heraus und ließ es in Hammers Handfläche fallen: keinen Ehering, sondern einen breiten Goldring mit einem gefassten grünen Stein, in den die roten Buchstaben LM in einem roten Strahlenkranz eingelegt waren.

»Du kannst von Glück sagen, dass ich heute was Wichtigeres zu tun habe, als eine Anzeige zu tippen«, knurrte Hammer den Vorarbeiter an. »Und wenn du wieder mal Leichen fleddern gehst, dann wasch dir vorher den Teer von den Fingern«, fügte er verächtlich hinzu, bevor er den puterrot angelaufenen Hünen stehen ließ, dessen drei Arbeiter ungeniert feixten.

Sie nahmen den Ring unter die Lupe und hielten ihn in verschiedenen Winkeln ins Sonnenlicht, um nach einer Gravur an der Innenseite zu suchen. Aber da war nichts, also steckte Assauer ihn in einen kleinen Asservatenbeutel.

»Mir schwant Übles«, sagte Hammer. »Ich ahne, dass wir schon wieder in so einen bizarren Fall hineinschlittern, wie es die letzten beiden waren. Was ist bloß los, hier ist doch Niederbayern und nicht das wilde Kurdistan?«

»Je tiefer die Provinz«, versetzte Assauer ironisch, »desto tiefer die Abgründe.«

»Wieso zertrümmert jemand das Gesicht eines Mannes derartig?«, sinnierte Hammer laut. »Um ihn umzubringen, braucht’s das jedenfalls nicht.«

»Vielleicht um die Identifizierung zu erschweren oder zumindest zu verzögern«, spekulierte Assauer. »Immerhin hat er ja auch die Kleidung und alles andere entfernt, aus dem man Rückschlüsse auf die Person ziehen könnte.«

»Und den Ring lässt er dran?«, entgegnete Hammer.

»Kommt mal her!«, rief Ernie und winkte sie zu einem Gebüsch unterhalb des Fundorts der Leiche. Als sie bei ihm ankamen, hielt er eine dicke Lupe über den Knick in einem Zweig dicht über dem Boden. »Schaut mal, die Bruchstelle da ist maximal ein paar Stunden alt. Außerdem«, er deutete auf den Boden, »ist hier am Gebüsch das Gras niedergetreten worden. Einige Halme sind abgeknickt, und der Rest hat sich noch nicht wieder voll aufgerichtet. Außerdem sind da noch ein paar am Boden liegende trockene Zweige, die sind zerbrochen, weil wer draufgestiegen ist.«

»Und was schließt ein von allen Präriewinden gebeutelter Indianer daraus?«, erkundigte sich Assauer.

Ernie schluckte den Spott hinunter. »Dass sich hier vergangene Nacht wer in die Büsche gedrückt und für ein paar Minuten da gestanden hat.«

»Möchtest du etwa andeuten, dass jemand von hier aus den Täter heimlich beobachtet haben könnte?«, fragte Assauer mit misstrauisch zusammengezogenen Augenbrauen.

»Ich deute gar nichts an, ich liefere Fakten, in diesem Fall, dass hier irgendwann vergangene Nacht wer gestanden hat«, wehrte Ernie ab. »Macht draus, was ihr wollt, schließlich werdet ihr fürs Denken bezahlt.«

»Vielleicht hat sich da gestern bloß ein Parkplatzbesucher, dem’s pressiert hat, zum Pieseln her verzogen«, spekulierte Hammer und fing sich prompt einen wütenden Blick Ernies ein. Dem wäre es nicht entgangen, wenn da auch nur eine Taufliege hingepinkelt hätte, dachte Assauer schmunzelnd angesichts von Ernies verärgerter Miene. Nichts konnte den mehr in den Harnisch bringen als Zweifel an seiner Kompetenz.

»Da war in der Nacht wer!«, betonte Ernie beleidigt.

»Sorry«, entschuldigte sich Hammer, der merkte, dass er einen Fauxpas begangen hatte.

»Ich weiß ja, wer’s sagt«, brummte Ernie als Antwort.

Assauer schaute sich noch einmal um. Nur ein paar Häuser standen auf der gegenüberliegenden Straßenseite und eines unterhalb des Spielplatzes, der an den Parkplatz grenzte. Das Mariahilfkloster und die Wallfahrtskirche lagen ein ganzes Stück unter ihnen. »Wer treibt sich denn hier mitten in der Nacht rum?«, rätselte er.

»Schuhabdrücke oder Fahrzeugspuren hast du keine, oder?«, hörte er Hammer fragen.

Ernie schüttelte den Kopf. »Fehlanzeige, der Boden auf dem Parkplatz ist geteert, wie du siehst. Da bleiben keine Abdrücke.«

»Na ja, zu wissen, dass hier wer im Gebüsch war, ist auch schon was.« Assauer bedankte sich und bedeutete Hammer, mit ihm zu kommen.

»Na schön«, brummte der, »gehen wir Klinken putzen.«

Sie läuteten an den umliegenden Häusern, aber nirgends wurde ihnen geöffnet.

»Dürften alle bei der Arbeit sein«, überlegte Hammer.

»Dann gehen wir jetzt da hinunter«, schlug Assauer vor und deutete zu den weißen Türmen der Wallfahrtskirche Mariahilf. »Vielleicht wird uns dort eine Offenbarung zuteil.«

***

Im Chefbüro der Niederbayernausgabe des auflagenstärksten Presseorgans der Republik, die vor eineinhalb Jahren in Passau den Betrieb aufgenommen hatte, herrschte dicke Luft. Peter Grimm, Redaktionsleiter und Chefreporter in Personalunion, tobte: »Das ist doch kalter Kaffee! Das geht den Leuten am Arsch vorbei, wir drucken doch keine Blümchen auf Klopapier, sondern eine Zeitung!«

»Was du davon hältst, ist mir scheißegal«, donnerte sein Chef, Friedrich Bärlinger, zurück und hieb mit der Faust auf die Schreibtischplatte. »Wir haben als führendes Presseorgan auch einen gesellschaftspolitisch-kulturellen Auftrag. Und deswegen kommt das auf die erste Seite. Wir müssen ja nicht jeden Tag mit Mord und Totschlag, einem Politiker auf Abwegen oder dem hunderttausendsten Drogen- oder Sexskandal aufmachen.« Womit er die Themen, für die Grimm besondere Expertise besaß, nahezu vollständig umrissen hatte.

»Immer noch besser als ein verstaubter Studentenkommers mit Gottesdienst, Fahnen, Liedersingen und abendlichem Besäufnis«, maulte der zurück und ließ die Hand vor der Stirn kreisen, um anzudeuten, für wie hirnrissig er die Idee hielt. »Diese Burschenschaft hat ja noch nicht einmal eine gescheite Tradition«, argumentierte er, »auch wenn sie ihren Namen vom nahen Römerkastell ableitet. Der Verein ist schließlich gerade mal 1982 gegründet worden, vier Jahre, nachdem hier die Uni geöffnet hat.«

»Trotzdem ist die Boiotra eine Institution, die christliche Tradition und den Geist unserer Universitätsstadt repräsentiert«, konterte Bärlinger. »Sie vermittelt der akademischen Jugend jene konservativ-christlichen Werte, die wir allenthalben in unserer Gesellschaft so schmerzlich vermissen. Katholische Burschenschaften allgemein sind Kristallisationspunkte jener Elite, ohne die die Zukunft dieses Landes düster aussähe«, dozierte er.

Und ein engmaschiges Spezlnetzwerk für Geschäfte und Karriere, ergänzte Grimm im Geiste.

»Schon deshalb«, fuhr sein Chef fort, »verdient die Boiotra einen Platz auf unserer Titelseite. Wenigstens alle zehn Jahre, wenn sie ein Jubiläum begeht wie heuer«, schränkte er ein – er vergaß niemals den wichtigsten Aspekt des Journalismus: den kommerziellen.

Bärlinger verschränkte die Arme vor der Brust und signalisierte damit, dass er die Diskussion als beendet betrachtete.

Grimm sah ein, dass er auf verlorenem Posten stand. Wenn sich sein Chef, was selten vorkam, in redaktionelle Belange einmischte, dann erwartete er militärischen, mithin widerspruchslosen Gehorsam. Also gab Grimm widerwillig nach, genoss er doch sonst alle Freiheiten, die er sich wünschen konnte. Denn Bärlinger sah seine Bestimmung weniger in journalistischer Kleinarbeit als in repräsentativen Aufgaben. Seine rundliche Figur war denn auch Ausweis dafür, dass er dabei eine Essenseinladung nach der anderen wahrnahm. Und der Sonnenbrand im Gesicht über dem Doppelkinn zeugte von zahlreichen Runden auf dem 18-Loch-Kurs des exklusiven Three Rivers Golfclubs.

»Und was wünschen Sie«, Grimm siezte den Chef, der ihn seinerseits herablassend duzte, »als Titelbild?«

»Na was schon, bei dem schönen blauen Himmel heute? Burschenschaftler im vollen Wichs und mit Fahnen vor dem Dom nach dem Gottesdienst, und zwar groß und in Farbe«, kam Bärlingers Anweisung. »Dazu natürlich einen breit ausgewalzten Artikel über den Kommers anlässlich des vierzigsten Gründungsjubiläums der Boiotra unter besonderer Berücksichtigung der Festrede, die zu halten kein Geringerer als ich höchstpersönlich die Ehre hat. Eine Auszeichnung, die mir aufgrund meiner Rolle als Repräsentant eines auf christlichen Werten fußenden Journalismus zuteil wird.«

Meinte er das ernst?, fragte sich Grimm. Las er nie sein eigenes Blatt? Jedenfalls kannte er jetzt den wahren Grund dafür, dass Bärlinger solchen Wert auf hervorgehobene Berichterstattung über dieses drittrangige Ereignis legte: Er sah eine Gelegenheit, im Mittelpunkt zu stehen.

Wie zur Bestätigung von Grimms Gedanken mahnte Bärlinger mit erhobenem Zeigefinger: »Ich nehme an, ich muss nicht betonen, dass ich eine astreine Eloge ohne ironische Zwischentöne erwarte, unter geflissentlicher Verwendung der markierten Zitate.« Damit überreichte er Grimm eine Kopie des Redemanuskripts, in der ein paar Passagen mit rotem Filzstift markiert waren. Grimm nahm sie entgegen wie eine Tüte schimmliger Semmeln. Bärlinger, dem die abfällige Miene, die sein Redaktionsleiter dabei zog, nicht entgangen war, richtete den Zeigefinger auf Grimms Brust. »Ich kenne dich, Freunderl«, sagte er drohend, »und ich warne dich, dass ich jedes deiner Worte in der morgigen Ausgabe waagerecht und hochkant auf die Goldwaage legen werde. Und falls die auch nur ein Nanogramm Sarkasmus anzeigen sollte, werde ich dir mit Anlauf in den Allerwertesten treten. Und jetzt schau, dass du rauskommst.«

***

Assauer und Hammer hatten sich auf dem Weg zum Kloster Zeit gelassen, um die Umgebung des Tatorts genau in Augenschein zu nehmen und sie sich einzuprägen. Nichts war ärgerlicher, als später eingestehen zu müssen, dass sie was übersehen hatten. Der Chef konnte ungemein giftig werden, wenn er Schlamperei witterte. Infolgedessen dauerte es eine Weile, bis sie unten ankamen.

Eine Schar Touristen lief knipsend vor der Wallfahrtskirche herum, als Assauer und Hammer durch das Tor gingen.

Ihre Reiseführerin, erkennbar an einer Teleskopstange mit Fähnchen in der rechten Hand, stand unter einem Rundbogen am Fuß eines der Türme im Gespräch mit einem der Pauliner Mönche aus dem Kloster. Sie steuerten auf die beiden zu, warteten, bis deren Unterhaltung zu Ende war, und wandten sich dann an den Pauliner.

»Wir untersuchen einen Mordfall, der sich in der Nacht auf Montag ereignet hat«, eröffnete ihm Hammer, nachdem sie sich vorgestellt hatten.

Die Miene des Mönchs trübte sich. »Es hat sich schon zu uns herumgesprochen, dass man einen Toten auf dem Parkplatz gefunden hat. Schrecklich. Wissen Sie schon, wer der Unglückliche war?«

Assauer verneinte. »Wir sind gekommen, um uns zu erkundigen, ob vielleicht jemand aus dem Kloster in der Nacht etwas Ungewöhnliches gesehen oder gehört hat«, erklärte er dann. »Egal was, alles könnte uns helfen.«

Der Mönch schaute hoch zur Kirchturmuhr. »Ich denke, Sie kommen am besten mit mir hinein«, schlug er dann vor. »Meine Brüder und ich wollen uns in ein paar Minuten treffen, um einige organisatorische Dinge wegen Allerheiligen zu besprechen. Es ist ja nicht mehr lang hin bis zum ersten November.« Er ging voraus bis in einen Versammlungsraum, dessen einziger Schmuck ein großes Marienbild an der Stirnseite war. Eine Gruppe Mönche saß dort bereits um einen langen Tisch in angeregtem Gespräch. Als sie eintraten, wandten sich alle Gesichter ihnen zu und ein kleiner, freundlich blickender Mann aus der Runde stand auf und kam ihnen entgegen. »Besuch?«, fragte er erstaunt.

»Zwei Polizeibeamte, die bezüglich des Toten ermitteln, den man auf unserem Parkplatz gefunden hat«, klärte ihr Führer ihn auf.

»Janek Piotrowski, ich bin der Prior dieses Klosters und Provinzial der deutschen Provinz der Pauliner«, stellte sich der Kleine in perfektem Deutsch vor. Nur ein leichter Akzent ließ erahnen, dass seine Muttersprache Polnisch war. »Sie glauben, wir könnten Ihnen dabei helfen?«

Assauer bejahte. »Sind alle Brüder anwesend?«, fragte er.

Der Prior nickte. »Ja wir sind vollzählig versammelt.« Mit einer Geste ermunterte er Assauer, seine Fragen zu stellen. »Bitte sehr.«

»Wir sind gekommen, um zu fragen, ob einer von Ihnen in der Nacht auf Montag irgendetwas gehört oder gesehen hat, das ihm eigenartig oder ungewöhnlich vorgekommen ist«, begann Assauer. Die Mönche blickten erst ihn, dann einander fragend an. Keiner sagte etwas.

»Bitte denken Sie nach«, bat Assauer. »Die kleinste Kleinigkeit könnte uns helfen, auch wenn sie Ihnen noch so unbedeutend erscheinen mag.«

Wieder kam keine Antwort.

»Von welcher Zeit etwa sprechen Sie, wenn Sie von der Nacht auf Montag reden?«, fragte der Prior.

»Vor allem die Zeit von Mitternacht bis etwa zwei Uhr ist für uns interessant«, gab ihm Assauer Auskunft, eingedenk dessen, was er von Erdmann erfahren hatte.

»Dann werden wir Ihnen kaum helfen können«, bedauerte der Prior. »Wir gehen früh schlafen und stehen mit den Hühnern auf. Zur fraglichen Zeit waren wir alle im Bett.« Fragend blickte er in die Runde, ob jemand etwas Gegenteiliges zu sagen hatte, aber es kam nichts.

»Sollte doch noch jemandem etwas einfallen«, bat Assauer, »dann kontaktieren Sie uns bitte.« Er reichte dem Prior seine Visitenkarte.

»Es tut mir leid, dass wir Ihnen nicht helfen konnten«, meinte der und gab ihnen die Hand zum Abschied. »Lassen Sie uns den Namen des Toten wissen, wenn Sie ihn herausgefunden haben. Dann müssen wir nicht für eine anonyme Seele beten.«

Assauer deutete zu den Häusern rechts der Straße, während sie zum Parkplatz zurückgingen. »Probieren wir noch mal unser Glück. Vielleicht ist inzwischen wer da.«

Sie hätten sich die Arbeit sparen können, auch diesmal öffnete niemand. »Wir werden am Abend noch mal herfahren müssen«, ärgerte sich Hammer, nachdem sie auch beim letzten Haus, einer Villa mit roten Fensterläden in einem parkähnlichen Grundstück, niemanden antrafen, und wollte mit Assauer zum Auto zurückgehen. Im selben Augenblick fegte ein roter Motorroller mit zwei Leuten darauf durch die Einfahrt und kam mit rutschenden Reifen auf dem Kiesweg zum Stehen. Nur Zentimeter vor Hammers Füßen.

»Ja spinnst denn du?«, rief der vor Schreck.

Der Rollerfahrer, offenbar selber erschrocken über den Beinahezusammenstoß mit Hammers mächtiger Gestalt, quetschte ein »Tschuldigung« unter dem Helmvisier durch, ließ seine Beifahrerin absteigen und wollte wieder abrauschen. Doch es heulte nur der Motor auf, der Roller rührte sich nicht vom Fleck, weil Hammer ihn am Gepäckträger lupfte, so dass das Hinterrad in der Luft drehte.

»Immer langsam, Bürscherl«, befahl er. »Stell mal schön den Motor ab.«

Weil ihm nichts anders übrig blieb, gehorchte der verdutzte Fahrer.

»Melonen runter«, kam Hammers nächstes Kommando, und folgsam nahmen die beiden die Helme ab. Die Gesichter von einem Buben und einem Mädel, beide um die 17, 18, schätzte Assauer, kamen zum Vorschein. Er mit Bürstenhaarschnitt und dünnen Bartstoppeln, sie mit langem, rotem Haar und einem hübschen, rundlichen Gesicht mit zahllosen Sommersprossen.

»Hast du’s Fahren bei der Steilwand-Kitty g’lernt?«, herrschte Hammer den jungen Mann an.

»Tschuldigung«, brachte der noch einmal hervor.

»Der Bernd hat mich bloß schnell heimgefahren, ihm pressiert’s«, sprang das Mädchen ihm bei.

»Jetzt nicht mehr«, sagte Hammer bestimmt und hielt den beiden seine Polizeimarke hin. »Jetzt zeigt mir dein Bernd erst mal seinen Führerschein.«

Schuldbewusst langte der junge Mann in die Tasche, brachte eine Geldbörse zum Vorschein und zog die Fahrerlaubnis heraus.

»In Zukunft fährst du auf Sicht«, ermahnte ihn Hammer nach einem Blick darauf, »sonst landet das teure Stück Plastik hier in meiner Schreibtischschublade.«

»Versprochen«, murmelte der Junge und schob den Führerschein verlegen wieder ein.

»Wollten Sie zu meinen Eltern?«, erkundigte sich das Mädchen.

»Ja, weißt du, wo wir die erreichen?«, kam die Gegenfrage von Hammer.

»Meine Eltern sind am Sonntag für ein paar Tage zur Oma nach München, die kommen erst am Wochenende wieder.«

»Aha, sturmfreie Bude«, mischte sich Assauer ins Gespräch. »Das muss man ausnutzen, oder?«

Ein leichtes Erröten unter den Sommersprossen sagte ihm, dass er richtig lag.

»Wie heißt du eigentlich?«, fragte er sie.

»Roswitha Dengler. Und bittschön sagen Sie bloß meinen Eltern nichts davon, dass ich beim Bernd auf dem Roller mitgefahren bin. Die machen sonst furchtbaren Stress.«

»Wir behalten’s für uns«, versprach Assauer. »Sagt mal«, fuhr er dann fort, »wart ihr am Sonntagabend, als die Eltern weg waren, miteinander hier?«

»Nein, wir waren zusammen mit Kumpels auf einer Geburtstagsfete. Ging ziemlich lang«, antwortete der Freund.

»Und hast du sie da auch heimgefahren?«

»Ja.«

»Wann genau?«

»Weiß ich nicht mehr, aber es war recht spät.«

Assauer schaute fragend zu dem Mädchen.

Roswitha drehte eine rote Haarsträhne um den Zeigefinger und überlegte. »Ich schätze, so um eins, halb zwei, auf die Uhr hab ich nicht geguckt.«

»Ist euch irgendwas Ungewöhnliches aufgefallen, wie ihr hier angekommen seid?«

Sie sah ihn verständnislos an. »Was meinen Sie mit ›ungewöhnlich‹?«

»Ich will wissen, ob ihr irgendwas gesehen oder gehört habt, ein Geräusch, das nicht hergehört, oder eine Person.«

Roswitha verneinte. »Selbst wenn da was gewesen wäre, wir hätten’s wohl nicht gemerkt. Wir waren total durch den Wind, weil’s auf der Fahrt um ein Haar gekracht hätte.«

Assauer setzte ein imaginäres Glas an den Mund. »Hat dein Bernd etwa zu tief ins Glas geschaut?«

»Ach wo, sonst tät ich gar nicht bei ihm aufsteigen. Aber kurz vor der Marienbrücke ist ein Lieferwagen mit einem Mordskaracho so dicht an uns vorbei, dass es uns beinahe geschmissen hätte. Mir haben beim Absteigen noch die Knie geschlottert.« Es war zu sehen, wie es sie bei dem Gedanken an das Ereignis schüttelte.

»Kannst du den Lieferwagen beschreiben?«, erkundigte sich Assauer.

»Das ging alles viel zu schnell«, antwortete sie. »Ich hab nur gesehen, dass er weiß war, mit irgendeiner Aufschrift an der Seite. In Grün, glaube ich. Aber fragen Sie mich nicht nach der Autonummer.«

»Das wollte ich gerade tun«, gestand Assauer lächelnd.

»Ich hab die auch nicht gesehen«, kam ihr Freund einer Frage Assauers zuvor. »Und was auf dem Wagen gestanden ist, weiß ich auch nicht. Das ging alles so schnell.«

»Habt ihr wenigstens gesehen, wo der hin ist?«

»Über die Brücke«, antwortete der junge Mann, »aber dann …? Wir sind erst einmal stehn geblieben, um den Schreck zu verdauen.«

»Waren da noch andere Fahrzeuge?«

»Ich hab sonst keine gesehen«, antwortete das Mädchen, »aber ich habe auch nicht weiter drauf geachtet. Mir haben die Knie geschlottert. Sorry.«

»Schon gut«, beschwichtigte Assauer sie und bedankte sich bei beiden per Handschlag. »Ihr habt uns schon weitergeholfen.«

Während das Mädchen ins Haus ging und der Junge winkend auf dem Motorroller davonbrauste, schaute Assauer seinen Kollegen fragend an. Der hob die Augenbrauen und meinte: »Ob der Lieferwagen was mit dem Fall zu tun hat? Schau morgen früh in deinen Kaffeesatz.«

***

Petra Gerstmann war noch am Tatort geblieben, bis die Leiche abtransportiert worden war und Erdmann sie wieder mit zurücknahm – ohne während der Fahrt ein Wort mit ihr zu wechseln.

Sie hatte sich von dem Schock, den der Anblick des Mordopfers bei ihr hinterlassen hatte, noch immer nicht ganz erholt, als sie auf den Aufzug wartete, um in ihr neues Büro hochzufahren. Zum x-ten Mal verfluchte sie den Impuls, nach dem sie vom Empfang Waldhausers an den Schauplatz des Verbrechens geeilt war. Zwar hatte sie neben Jura noch Kriminologie studiert, doch ihr fehlte die Praxis. So war sie denn auch am Tatort allen nur im Weg gestanden und heilfroh gewesen, als die beiden Kommissare die Ermittlungen in diesem abscheulichen Fall übernahmen. Der, das spürte sie instinktiv, verlangte nach Schwergewichten. So unnütz wie an diesem Vormittag hatte sie sich noch nie gefühlt.

Wo blieb eigentlich der verflixte Aufzug? Sie hämmerte auf den Knopf. Endlich glitt die Tür auf, sie stieg ein und drückte auf den Knopf nach oben. Nicht wie sonst zum ersten, sondern zum dritten Stock, wo ihr neues Büro lag. Sie hatte sich ihren Aufstieg anders vorgestellt. Es war die Aussicht auf die Übernahme des Chefpostens der Polizeiinspektion, die sie gelockt hatte, als deren Leiter unvermittelt durch Herzinfarkt ausgefallen war. Die Rechnung, dass er nicht mehr ins Amt zurückkehren würde, war nicht aufgegangen, wie sie seit dem Morgen wusste.

Ihre Laune bewegte sich bei diesen Gedanken schneller nach unten, als der Aufzug sie nach oben beförderte. Und der Mann, der im zweiten Stock zustieg, ließ ihre Stimmung noch rapider sinken – bis hinunter in den Keller: Arne von Treser, der Staatsanwalt, der vor knapp zwei Monaten sein Amt angetreten hatte. Ein Mann Ende dreißig, mit gegeltem Haar und schmalem, blassem Gesicht und dem goldenen Emblem des Three Rivers Golfclubs am Revers des Anzugs. »Welch angenehme Überraschung, Frau Dr. Gerstmann«, begrüßte Treser sie überschwänglich. »Man sieht sich viel zu selten.« Die Tür glitt zu, und der Aufzug setzte sich in Bewegung. So dicht neben ihm in der Kabine zu stehen, noch dazu allein, sandte ihr einen Schauer des Widerwillens über den Rücken. Sie fühlte, wie ihre Nackenhaare sich aufstellten, als sie bemerkte, dass seine Augen wieder einmal gleich einem Körperscanner ihr Kleid durchdrangen. Es war eine Erlösung, als im dritten Stock die Tür aufging. Los wurde sie Treser aber nicht. Der schien vergessen zu haben, was ihn hergeführt hatte, und schloss sich ihr unaufgefordert an. »Der erste Tag im neuen Büro? Da haben Sie doch sicher ein Tässchen Kaffee für mich?«, lud er sich ungeniert selbst ein und folgte ihr dichtauf. Er wusste also schon, dass Waldhauser zurück war.

Da ihr spontan keine Ausrede einfiel, mit der sie ihn abwimmeln konnte, schloss Gerstmann widerstrebend die Tür auf und betrat, den Staatsanwalt dicht hinter sich, zum ersten Mal ihren neuen Arbeitsplatz. Treser drückte sich dabei so nah an ihr durch die Tür, dass sein Körper den ihren berührte, was von neuem einen Schauer des Widerwillens in ihr auslöste.

Das Mobiliar war neu und zweckmäßig, Telefon und Computer bereits angeschlossen, wie die brennenden Bereitschaftsleuchten zeigten. Auch die Umzugskartons mit ihren Papieren und dem Büromaterial hatte die Hausverwaltung schon hochgeschafft. Ihre beiden Blumenstöcke standen auf dem Fensterbrett. Ein altes Schwarz-Weiß-Panorama von Passau schmückte die Wand hinter dem Schreibtisch. Eine Kaffeemaschine gab es nicht. Gottseidank!

»Etwas kärglich«, bemerkte Treser nach einem ersten Blick, »aber Ihre Anwesenheit wird auch diesem nüchternen Raum Glanz verleihen.« Seine Wortwahl empfand Gerstmann als abgedroschen, und die Art, wie er sie immer noch ansah, glich dem lüsternen Blick, mit dem ihr Freund allmonatlich das Centerfold im neuen Playboy betrachtete. Schnell brachte sie den Schreibtisch zwischen sich und Treser.

»Es tut mir leid, Kaffee kann ich Ihnen keinen anbieten«, sagte sie dabei und fügte nach einem demonstrativen Blick auf die Uhr gleich noch hinzu: »Außerdem habe ich in ein paar Minuten eine Besprechung, was meine neuen Aufgaben angeht.«

»Mit diesem Waldhauser?«

Tresers abfälliger Tonfall machte Gerstmann hellhörig. War der Staatsanwalt voreingenommen gegen den alten Chef?

»Sie klingen, als hätten Sie etwas gegen den Mann«, fragte sie vorsichtig.

Der Staatsanwalt kam näher, setzte sich betont lässig auf die Schreibtischkante und erwiderte: »Sagen wir, ich weiß, dass er hochkarätige Feinde in München hat, die nichts lieber sähen, als dass er abtritt.«

Treser hoffte also, sich bei denen einzuschleimen, dachte Gerstmann. Passau war wohl nicht das Ziel seiner Wünsche. War er am Ende nicht ganz freiwillig hier? »Worauf wollen Sie hinaus?«, fragte sie argwöhnisch.

Treser setzte eine Verschwörermiene auf, beugte sich vor – ein Stück zu nahe an sie heran – und sprach leiser, als gälte es, Lauscher an der Wand auszuschließen. »Ich weiß, dass Sie gerne seine Nachfolgerin geworden wären. Was ja nun leider nicht geklappt hat. Aber was nicht ist, kann ja noch werden …«

Gerstmann antwortete nichts. In ihr stritten zwei Gefühle um die Oberhand: ihre Abneigung gegen Treser und ihr beruflicher Ehrgeiz. Dazu mischte sich noch Misstrauen gegen den Mann vor ihr.

»Ich gedenke jedenfalls, diesen Waldhauser mit Argusaugen zu beobachten«, fuhr Treser fort. »Mit etwas Glück kann ich dafür sorgen, dass er abserviert wird.« Er sah ihr direkt in die Augen, und ausnahmsweise war sein Blick diesmal nicht lüstern, sondern konspirativ. »Verbündete sind jederzeit willkommen«, sagte er. »Oder wollen Sie hier die nächsten Jahre über versauern?«

***

»Wir wissen nicht, wer das Opfer ist, die Spuren am Fundort sind nicht viel wert, keiner hat was gesehen, und was uns das sommersprossige Mädchen erzählt hat, bringt uns auch nicht viel weiter«, zählte Hammer an den Fingern der linken Hand ab, als sie vor dem Polizeigebäude in der Nibelungenstraße hielten. »Mit anderen Worten, wir haben reichlich wenig.«

»Fragen wir doch mal, ob irgendwem wer abgeht«, schlug Assauer vor und stieg aus.

»Vermisste von hier in den letzten zwei, drei Tagen?« Der Kollege sah im Computer nach und schüttelte dann den Kopf. »Da is’ nix. Die letzte Vermisstenmeldung ist zwei Wochen alt. Eine verwirrte alte Dame, aber die ist längst gefunden und ins Altersheim zurückgebracht worden.«

»Wenn eine erwachsene männliche Person vermisst gemeldet wird«, bat Assauer, »dann bitte uns sofort unterrichten. Und frag mal ab, ob sonst wo in Bayern einer abgängig ist.«

»Eine Personenbeschreibung wär’ nützlich«, verlangte der Kollege.

»Wird geliefert, wenn wir selber eine haben«, beschied ihn Assauer.

»Schöner Mist, wir können nicht einmal sagen, ob der Tote von hier war oder nicht«, konstatierte Hammer, als sie im Büro ankamen, und ließ sich auf den Stuhl fallen, so dass die Konstruktion unter seinem Gewicht ächzte. »Kann genauso gut ein Tourist sein, oder jemand von außerhalb, der in Passau zu tun hatte.«

»Das Einzige, was uns Aufschluss über die Identität unseres Toten geben könnte, ist im Augenblick also sein Ring«, stellte Assauer fest. Woraufhin Hammer die Asservatentüte aus der Tasche zog, den Ring herausnahm und noch einmal das Emblem studierte. »LM. Was, glaubst du, können die zwei Buchstaben bedeuten?«, fragte er.

»Keinen blassen Dunst«, antwortete Assauer und drehte seinen Computerbildschirm so, dass Hammer mit drauf schauen konnte. »Fragen wir mal jemanden, der sich auskennt: Wikipedia.«

Das Resultat der Eingabe von »LM« war übersichtlich: Es listete 24 Ergebnisse auf. LM stand unter anderem für den Löschmeister-Dienstgrad der Feuerwehr, die Bezeichnung eines französischen U-Boots, das Lunar Module, den Flugzeugbauer Lockheed Martin und den Nürnberger U-Bahnhof Langwasser-Mitte. Es war nichts darunter, das jemand auf einem Ring verewigen würde.

»Probier mal Google«, schlug Hammer vor. Auf 447.000.000 belief sich die Zahl der Suchergebnisse, nachdem Assauer die zwei Buchstaben eingegeben hatte. »Das ist ja hoffnungslos!«, stöhnte Hammer. Sie überflogen dennoch auf gut Glück die ersten Seiten mit Resultaten, bis Assauer resigniert feststellte: »Das hat keinen Sinn, da suchen wir uns einen Wolf.«

»Probier mal, die Suche einzugrenzen«, schlug Hammer vor, und Assauer tippte ein: Ring AND Gold AND LM.

»Der Stein könnte Jade sein«, meinte Hammer. »Gib das auch noch dazu.«

Assauer tat es und drückte Enter.

870.000 Ergebnisse, angeführt von Einträgen über eine Sängerin namens Jade Thirlwall, erschienen als Suchresultat. Auch alle weiteren Versuche, das Geheimnis des Rings mittels Suchmaschinen und der Kombination von Begriffen zu lüften, endeten mit unbrauchbaren Resultaten.

»Probieren wir’s anders«, schlug Hammer daraufhin vor. Sorgfältig legte er den Ring auf einen grauen Karton, machte ein paar Fotos mit dem Handy und überspielte die in den Computer. Dann rief er die Website images.google.com auf und zog das beste der Bilder ins Suchfenster. »Bildsuchmaschine«, erläuterte er. »Hat mir der Bert mal gezeigt. Damit kann man ähnliche Bilder finden, inklusive Informationen dazu.«

Sie mussten ein wenig warten, bis das Foto hochgeladen war, dann kamen auch schon die Ergebnisse: ein Sammelsurium an Ringen und anderen Gegenständen, die eine gewisse Ähnlichkeit mit der Vorlage aufwiesen, viele davon Vereins- und Absolventenringe von Unis rund um die Welt. Aber es war nichts darunter, was dem Ring des Mordopfers glich.

»Tja, das war auch nix«, meinte Hammer enttäuscht.

»Eines verrät es uns schon«, antwortete Assauer. »Wenn es das Logo oder Symbol einer Vereinigung ist, dann will die anscheinend nach außen nicht groß in Erscheinung treten.«

***

Grimms Laune hatte sich seit der morgendlichen Auseinandersetzung mit Bärlinger nicht gebessert. Bis zum frühen Nachmittag hatte er noch krampfhaft in den Agenturen nach Meldungen gesucht, die ihm zwingende Argumente dafür geliefert hätten, den Kommers der Boiotra in den Lokalteil zu schieben, wo er hingehörte, aber es war einer jener Tage, an denen sich partout nichts Schlagzeilenträchtiges ereignen wollte. Als die Uhr dann drängte, hatte er zähneknirschend die Kameratasche geschultert und sich zum Dom begeben. Im Anschluss an den Gottesdienst, mit dem der Kommers begann, waren die Burschenschafter der Boiotra fahnenschwingend über den Domplatz gezogen und dann in Richtung auf ihr Domizil in der Nähe des kleinen Exerzierplatzes eingeschwenkt. Der blaue Himmel, den inzwischen ein paar eingestreute Wolken zum klassisch-bayerischen Weiß-Blau veredelt hatten, verlieh dem Umzug nach dem kirchlichen Segen auch noch den himmlischen Glanz. Grimm kriegte erstklassige Fotos von einem, wie er fand, zweitklassigen Ereignis.

Nach dem Einzug in das Haus der Boiotra begab man sich zur Festtafel, wo die Grundlage für die am Abend angesetzte Kneipe gelegt wurde. Mit der Zubereitung des Festmahls war die Firma Danube Catering beauftragt, der die Boiotra gewöhnlich bei größeren festlichen Anlässen die Verköstigung der Gäste übertrug. Das Festmahl bestand aus fünf Gängen, die von eigens engagiertem männlichem Personal aufgetragen wurden. Letzteres beugte Übergriffen auf die Servierkräfte vor, wie sie im Überschwang der Festlaune gegenüber weiblichem Personal nicht ganz auszuschließen waren. Nicht dass das bei der Boiotra je vorgekommen wäre, aber der Chef der Catering-Firma, Anton Reicheneder, ein sturmerprobter Gastronom, hielt sich dennoch an das bewährte Prinzip, das da lautete: Kellnern kann man nicht unter den Rock langen.