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Gibt es Zufälle und wenn ja, was machen sie mit uns? Wenn sich Zufälle häufen, sind es dann immer noch Zufälle? Piet glaubt nicht an Zufälle. Er weiß aber auch nicht, warum er immer wieder auf seine Vergangenheit gestoßen wird und auf seine Biografie mit Luise, die vor vielen Jahren elend an MS gestorben ist. Er triff Gritt, Luises jüngere Schwester und verliebt sich in sie. Aber er hat auch eine heftige Romanze mit deren Tochter. Doch was ist Wirklichkeit, was nur Schein und Wunschdenken? Wie tragfähig ist der Schein, wenn er auf Realität stößt? Und wie tragfähig ist die Realität, wenn sie zum Schein wird?
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Seitenzahl: 142
Veröffentlichungsjahr: 2015
Wolf Döhner
Die Tragfähigkeit des Scheins
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Die Tragfähigkeit des Scheins
Impressum neobooks
Piet hatte den Kopf gegen die Fensterscheibe gelehnt und sah, wie sich die Gleise draußen neben dem Zug bewegten. Dann verschwanden sie immer schneller aus seinem Blickfeld, so als wären sie nie da gewesen, während die neuen Bilder um so eindringlicher auf ihn einstürmten.
Wie schnell die Zeit doch vergeht dachte er. War nicht kürzlich erst ein neues Jahrhundert gefeiert worden. Aber jetzt war es schon Oktober, ein goldener Oktober.
Er wandte sich von der Scheibe ab und betrachtete seine Umgebung. Der Zug war brechend voll aber er genoss die Menge, die wie ein Bienenschwarm voller Erwartung summte. Was mochte sie beschäftigen? Die junge Familie neben ihm mit den beiden Kindern? Der jüngere Sohn verfolgte mit offenem Mund die vorbeihuschenden Oberleitungsmasten, während die ältere Schwester sich an einem CD-Player versuchte und plötzlich lauthals bemerkte, dass der Vater die Kopfhörer vergessen hatte.
Oder die nicht mehr ganz junge Frau zwei Reihen weiter, die so angestrengt gedankenverloren ins Leere schaute, dass Piet meinte, mit Händen ihre Sorgen greifen zu können. Was bewegte sie alle, dass sie summten, auch wenn sie völlig still schienen. Waren sie nicht alle irgendwie auf der Flucht so wie er, jeder auf der eigenen und doch verbunden durch die gleiche Richtung in der sie fuhren?
Als er aus seinen Gedanken wieder erwachte, hatten sie Koblenz gerade passiert.
Die Burg Kaub stand golden, von der Sonne beschienen, im Rhein, die endlosen Hänge der Weinberge im Hintergrund. Alles strahlte den stillen Frieden einer Idylle aus und strich an Piet vorbei wie ein Film.
Warum wollte er diesem Frieden entfliehen? Dieser Märchenwelt aus Nostalgie und Sehnsucht
Ihm war mit einem Mal deutlich bewusst, dass er sich auf einer Reise in die Zukunft wie auch der Vergangenheit bewegte. Die nach rückwärts enteilenden Gleisen schienen nur das andere Ende einer endlosen Schleife seines Lebens zu sein
Er war auf dem Weg nach Düsseldorf, um von dort nach Teneriffa zu fliegen und fuhr dabei durch in ein Stück seiner Vergangenheit, das Jahrzehnte zurücklag und doch plötzlich fast schmerzhaft in seine Gegenwart drang. Vielleicht, so dachte er, war es der Schmerz des wieder Erkennens einer verlorenen oder doch vergangenen Zeit, der gleichsam notgedrungen immer dann auftaucht, wenn man außer sich ist. Außer sich, um offen für das Neue zu sein, um dann im Neuen wieder zu sich zu kommen. Aber was ist schon neu? Bestimmte Dinge wiederholen sich immer wieder. Es sind nicht die alltäglichen Vorgänge, die unser Leben strukturieren und überhaupt erst lebbar machen. Nein es sind wesentlichere Dinge, die einem immer wieder „geschehen“, ohne dass man weiß warum.
Vor ihm auf dem Tisch lag ein Roman, in dem er in den Pausen seiner äußeren Wahrnehmung las. Der Autor meinte, einen Roman müsse man nicht mehr linear, sondern wie ein Puzzle von verschiedenen Subjekten und Zeiten zusammensetzen. Und wie zum Beweis dessen, ließ er einem fiktiven Gegenüber von einem Roman berichten, den dieser gelesen habe. Auf die Frage, ob er ihn kenne, erwiderte der Autor: „Ja sicher ... Ich habe ihn selbst geschrieben.“
Ganz nett, die Pointe fand Piet. Wie aber, so sann er nach, wenn die Figuren eines Romans tatsächlich autonom wären, wenn sie einen eigenen Willen hätten und ihn gegen den des Autors setzen könnten? Wie, wenn sie sich auf eigene Wege begäben und der Autor sich auf die Suche machen müsste, um sie zu finden oder wieder zu finden?
Er erinnerte sich an Pirandellos „Sechs Personen suchen einen Autor“. Vielleicht wären die sechs heute weder sonderlich scharf darauf, ihren Autor zu finden, noch erpicht sich gar von ihm finden zu lassen. Vielleicht wäre der Autor heute eine Art moderner Schlemihl auf der Suche nach seinen geistigen Schatten.
Welche Schwierigkeiten würde ein Autor bei der Suche nach seinen Personen haben?
Oder wie sähe es gar aus, wenn der Autor seine Personen noch gar nicht kannte?
Wenn sie sozusagen erst in statu nascendi in seinem Gehirn schlummerten. Vielleicht würde er sie nie kennen lernen. Es wäre eine Frage des Zufalls, ob er ihnen begegnen würde oder nicht. Aber was ist eigentlich Zufall?
Vielleicht sind Zufälle nichts weiter als der Roman unseres Lebens, den wir ständig schreiben, ohne dessen Figuren und Handlungsverlauf im Voraus zu kennen. Vor einiger Zeit hatte er dazu ein Gedicht geschrieben, das ihm jetzt einfiel.
Zufälle gäb es nicht -
sagt man.
Doch glauben wir’s?
Verrät das Wort doch selbst,
was es nur scheinbar
zu verbergen sucht.
Was auf uns fällt,
kann ja nur fallen,
weil wir da sind.
Denn jeder Fall
hat stets ein Ziel-
sonst fiel er nicht.
„Meine Damen und Herren, in wenigen Minuten erreichen wir Düsseldorf Hauptbahnhof. Sie haben Anschluss ...“
Piet schreckte aus seinen Überlegungen auf- und wurde gleich wieder von einer neuen Flut von Gedanken überfallen.
Düsseldorf, hier hatte er zum ersten Mal in seinem damals noch jungen Leben mit seinen Eltern in der eigenen Wohnung zusammen leben dürfen. Vorher war er bei Verwandten und Freunden untergebracht worden und hatte seine Eltern nur selten zu Gesicht bekommen. Endlich konnten sie dann eine der in den Ruinen des Krieges neu errichteten Wohnungen beziehen. Das war Mitte der fünfziger Jahre. Die Tapeten waren noch feucht und schimmelten von den Wänden. Aber es war die erste eigene Wohnung für die junge Familie.
Sie lag verkehrsgünstig in einer kleinen Nebenstraße nicht weit von den Rheinwiesen entfernt. Dorthin gingen sie oft spazieren, gelegentlich kam sogar der ansonsten viel beschäftigte Vater mit. Ziel war fast immer die große bronzene Rheinschlange. Sie war Klettergerüst, Rutsche aber auch Partner der eigenen Fantasien. Ihr großes, geöffnetes Maul konnte nicht zubeißen, wenn man den Kopf hineinlegte. Konnte es wirklich nicht, oder wollte es nicht? Wohin führte der Schlund, wenn man in ihn hineinkriechen könnte? Manchmal meinte er, ein leichtes Beben des riesigen Körpers zu verspüren, wenn er auf den Wellen seines Leibes balancierte. Dann zitterte auch er und meinte zu fühlen, dass die Schlange ihm ein Geheimnis anvertrauen wollte, das aus längst vergangenen Tagen rührte, aus Tagen in denen keine Raddampfer und Frachtkähne unter heftiger Rauchentwicklung den Fluss aufwärts fuhren und keine Güterzüge über die nahe Brücke rasselten. Nein, damals gab es all das noch nicht. Damals gab es Ritter, Prinzessinnen und Drachen aus deren Gewalt die Prinzessinnen befreien werden mussten. Und wenn sie nicht gestorben waren, dann lebten sie noch heute.
Ja, Märchen hatten ihn immer fasziniert auch lange nach der Kinder- und Jugendzeit bis heute. Das Wunderbare an ihnen ist, dass sie zunächst voller Geheimnisse und Rätsel zu stecken scheinen. Aber zum Schluss löst sich alles auf, wird gut. Man kann in die Geschichte eintauchen, mitleiden und mit fiebern und sich zum Schluss selber als erlöst fühlen.
Nirgendwo konnte man so leidenschaftlich und letztlich gefahrlos auf die Suche nach Geheimnissen gehen und sicher sein, dass man ihnen auf die Spur kommen wird. Und nirgends war es letztlich so selbstverständlich erlöst zu werden, wie in Märchen.
Er war den Geheimnissen, die ihn damals umgaben auf der Spur. Und es gab deren viele, große und kleine, täglich aufs Neue. Als er beim Doktorspiel mit der kleinen Nachbarstochter auf der Suche nach deren Geheimnis von einem Halbwüchsigen erwischt wurde, war es weniger die Peinlichkeit, bei einer Schatzsuche gestört worden zu sein, die ihn störte, als vielmehr das Ärgernis, dass auf dem Gesicht des Burschen ein eigentümlich wissendes, ironisches Grinsen lag. Er wusste also schon, was Piet nicht wusste. Aber nun war er bei der Lüftung des Geheimnisses gestört worden.
Erst viel später begriff er, dass das Leben im Wesentlichen aus Geheimnissen besteht, die man zwar ständig zu lösen versucht, die aber wenn es einem gelungen zu sein scheint, meist ein merkwürdiges Loch dort hinterlassen, wo man eben noch dieses seltsame, verstörende und doch auch gleichzeitig belebende Verlangen nach Erlösung gespürt hatte.
Sie näherten sich nun Düsseldorf Flughafen. Piet spürte seinen Gedanken noch etwas nach, stand auf, um sich zum Aussteigen bereit zu machen – und blickte in zwei stahlblaue Augen. Sie steckten wie Achtungsschilder in einem Gesicht, dessen Mund etwas unwillig die halblangen, dunkelbraunen Haare aus dem Gesicht pustete. Ihre Gesichter verharrten für einen Moment nur handbreit voneinander entfernt. Sie mochte Mitte vierzig sein und legte offensichtlich keinen Wert auf Make-up. Und das hatte sie auch nicht nötig, denn außer einigen kleinen Lachfältchen um die Augen war das Gesicht ebenmäßig und frisch, fast jugendlich. Jetzt allerdings hatte sich eine tiefe Falte zwischen den Augenbrauen gebildet, die sich wie ein Fragezeichen zusammenzog.
„Erlauben Sie!“, sagte sie in einer sehr hochdeutschen Art und wuchtete einen kleinen Handkoffer an seiner Nase vorbei aus der Gepäckablage. Dann drehte sie sich um und eilte, da der Zug inzwischen in den Bahnhof einfuhr, dem Ausstieg entgegen.
Piet stand noch einen Moment fast wie betäubt da und schaute ihr nach. Da geht auch wieder so ein Geheimnis dachte er. Er hatte ja nicht viel mehr als die Augen gesehen. Aber das hatte ausgereicht. Augen waren für ihn fast ein Synonym für Geheimnisse. Sie faszinierten ihn, zogen ihn an und stießen ihn ab. Denn er hatte inzwischen oft genug erfahren, welche Distanz Augen zwischen Menschen errichten, ja welche Waffen es gar sein konnten. Waffen, die einen, wenn man nicht ein Schutzschild aus Selbstbewusstsein oder Ignoranz aufgebaut hatte, vernichten konnten.
Er schaute ihr nach. Sie trug eine blaue Lederjacke, die zwar zu ihren Augen passte, aber ihre Haare nicht genug zur Geltung brachten, wie Piet befand. Er wusste selber nicht genau, warum er sie auf Mitte vierzig geschätzt hatte. Es mochte wieder mit den Augen zu tun haben. Junge, jugendliche Augen blickten meist mit einer Unbedingtheit in die Welt, die nur von purer Neugierde oder Erwartung geprägt war. Ältere Augen blickten anders, vielleicht erfahrener. Mit vierzig wird der Schwabe gescheit wusste er.
Er war kein Schwabe aber er war gerade Mitte fünfzig, hatte nun die Hälfte seines Lebens unter den Schwaben zugebracht und wusste um die Sinnsprüche seiner Wahlheimat und auch um deren Treffsicherheit.
Mit vierzig hat man in der Regel auch schon die Schattenseiten des Lebens in irgendeiner Form, meist mehr als genug erfahren. Das prägt. Die Augen sehen nicht mehr so unvoreingenommen in die Gegend. Und für einen aufmerksamen Betrachter sind die Spuren des Trauerflors der Niederlagen und Enttäuschungen des Lebens in den Augen und deren Umgebung zu erkennen. Aber die Geheimnisse bleiben, ja sie wachsen sogar noch. Denn die eigenen Erfahrungen häufen sich an und verstecken sich hinter eben diesen Augen.
Piet machte sich auf und folgte den anderen Reisenden hinaus um sich in deren Strom einzureihen.
Am Ende des Bahnsteigs sah er eine blaue Lederjacke. Sie bewegte sich durch die Menge wie ein Segelschiff in hoher See. Elegant, aufrecht und mühelos, so schien es fand, sie ihren Weg.
Da also ging wieder ein Geheimnis, dem er doch eigentlich gerade zu entfliehen trachtete. Er schüttelte fast etwas unwillig den Kopf, weil er bemerkte, dass er ihm sozusagen hinterherlief.
Nein, sein Bedarf an Frauen war fürs Erste gedeckt. Mit Mühe hatte er sich aus einer mehrjährigen Beziehung lösen können. Ruth und er waren sich in einer leidenschaftlichen aber fast selbst zerstörerischen Affäre nahe gekommen. Zu nahe, wie er im Nachhinein bemerkte. Ihre Versuche, körperliche, intellektuelle und seelische Ansprüche offen zu legen und gemeinsam auch zu leben, waren immer dramatischer gescheitert. Es war ihnen nie oder fast nie gelungen alle ihre Ansprüche auf einer Ebene zu leben und schon gar nicht gleichzeitig. Immer gab es Grenzen, die verletzt und die von beiden mit heftigen Gefechten verteidigt wurden.
Nach einem dieser Gefechte, einem besonders heftigen, war er endgültig geflohen. Seine Reise nach Teneriffa war letztlich eine verspätete Folge dieser Flucht. Es hatte Monate gedauert, bis er sich wirklich abgenabelt hatte.
Und nun? Waren schon jetzt alle guten Vorsätze vergessen? Es stimmte, die kurze Begegnung hatte ihn aufgewühlt. Aber das stellte er eher unwillig fest. Es waren die Augen, die ihn fasziniert hatten. Er meinte darin ein verborgenes Bekanntes entdeckt zu haben. Etwas, das ihm schon einmal begegnet war.
Er fügte sich in die lange Schlange am Check-in ein. Die blaue Jacke hatte sich in die gleiche Reihe etwas vor ihm eingereiht.
Und plötzlich wusste er, woher er diese Augen zu kennen meinte.
Es war an einem solchen Altweibersommertag vor fünfunddreißig Jahren gewesen. Da hatte er auch in solche Augen geschaut. Und es war der Tag gewesen, an dem er Lu zum ersten Mal geküsst hatte.
Sie lagen irgendwo in den Dünen an der Nordsee. Von Ferne konnten sie den Deich sehen. Und gleich dahinter lag das Internat, in das sie beide gingen.
„Du hast eine Fliege auf der Nase“, sagte Piet.
Er lag neben ihr, hatte sich auf einen Arm aufgestützt und hielt in der anderen Hand den Halm eines Strandhafers, mit dem er versuchte in ihre Nasenlöcher zu fahren. Lu hatte die Augen geschlossen und ließ sich von der warmen Herbstsonne wärmen. Jetzt blinzelte sie ihn an, richtete sich auf die Ellenbogen auf und schmunzelte.
„Ich habe dich beobachtet.“
„Unsinn, du hast geschlafen“
„Nein wirklich, ich habe dich beobachtet.“ Sie blies eine Strähne ihres dichten braunen Haares zur Seite. Dann sah sie ihn mit stahlblauen Augen an.
„Du hast eine Nase, zwei Augen und einen Mund“
„Was du nicht sagst. Und was hast du noch beobachtet?“
„Braune Augen und einen schönen Mund“, antwortete sie, schlug die Augen nieder und legte sich wieder hin. Wie vertraut sie waren, dachte er. Er legte sich neben sie und schwieg. Der Wind bewegte den Strandhafer über ihnen. Aber sie selber waren geschützt. Bis auf das leise Rauschen des Windes war nichts zu hören. Ab und zu hörte er von fern eine Möwe schreien.
Er dachte daran, dass sie gestern in der großen Pause auch so nebeneinander gelegen hatten. Ganz hinten am Ende des Schulhofes gab es einen kleinen Zaun, der das Areal von den beginnenden Dünen abtrennte. Hierher kam die Aufsicht praktisch nie. Es war wahrscheinlich verboten, über den Zaun zu steigen. Aber sie kümmerten sich nicht darum. Schließlich waren sie beide in der Unterprima, wurden von den Lehrern gesiezt und waren praktisch erwachsen. Das heißt Lu, die eigentlich Luise hieß aber von allen nur Lu genannt wurde, war erst 18, während er schon 20 war. Er war ein begabter aber etwas fauler Schüler gewesen, der schon einige Ehrenrunden gedreht hatte und auch dieses Schuljahr stand für ihn auf der Kippe. Sie hingegen gehörte in ihrer Klasse zu den Besten.
Im Winter hatten sie sich näher kennen gelernt. Lu hatte vom Hausmeister die Erlaubnis erhalten in den Pausen den Plattenspieler in dem Nebenraum seines Büros benutzen zu dürfen. Dort saß sie oft und hörte ihre Platten. Lu war anders als die Anderen. Ja sie wurde sogar gelegentlich gehänselt, weil sie nur selten mit der Klasse ging, auf die Anmache der Jungs nicht reagierte und sich auch nicht so zu Recht machte, wie die Anderen.
Piet hatte sie schon öfters in den Pausen beobachtet. Er ging in eine der Parallelklassen und auch er war anders als die Anderen. Allerdings zeigte er es nicht so deutlich wie Lu. Piet war sich wohl bewusst, dass er von den Mädchen mit Wohlwollen betrachtet wurde und war einem Scherz oder einem kleinen Flirt nicht abgeneigt.
Aber innerlich war er eher ein Einzelgänger, der sich mit tief schürfenden Fragen über Gott und die Welt beschäftigte. Dafür hatte er bisher noch keinen Gesprächspartner gefunden.
An diesem Wintertag ging er zufällig an der Hausmeisterloge vorbei und hörte die Musik.
Die Türe war nur angelehnt, deshalb trat er ohne weiters ein und sah Lu auf einem Stuhl sitzen, die Augen geschlossen und andächtig der Musik lauschend. Dies ira. Piet war wie immer ergriffen von der Gewalt dieser Musik. Das Requiem von Mozart gehörte zu seinen Lieblingsstücken an klassischer Musik. Wortlos hatte er sich dazugesetzt und gelauscht, bis die Pause vorüber war.
So hatte ihre Freundschaft angefangen.
Danach hatten sie häufig in dem kleinen Raum gesessen und sich gegenseitig ihre Platten vorgespielt. Brahms, Violinkonzert, den letzten Satz der 9. von Beethoven und immer wieder auch Mozart.
Es stellte sich heraus, dass sie recht ordentlich Klavier spielte und öfters in der Aula das Klavier benutzen durfte. Und da er leidenschaftlicher Klassikfan war, hörte er ihr gelegentlich zu, wenn es sich ergab.
Die anderen Schüler hatten mit Verwunderung bemerkt, was sich da zwischen den beiden angebahnt hatte. Aber sie ließen sie in Ruhe. Es schien sogar, als ob Lu durch die Freundschaft mit Piet in der Achtung ihrer Klassen gestiegen war, als sie sahen, dass die beiden öfters auf dem Schulhof miteinander gingen und oft heftig ins Gespräch vertieft waren.
Im Frühling waren sie dann auf „ihre“ Ecke ausgewichen und hatten sich über theologische, philosophische und andere Fragen ausgetauscht oder einfach gemeinsam geschwiegen.
So hatten sie auch gestern nebeneinander gelegen und sich dann für den Sonntag zu einem kleinen Ausflug verabredet.
Und nun lagen sie in den Dünen und fühlten die Wärme der Sonnenstrahlen aber auch eine innere Wärme, die sie bisher noch kaum gekannt hatten.
Piet setzte sich wieder auf und schaute Lu an. Sie hatte ihre Augen geschlossen.