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Santa Lora, Kalifornien: Es beginnt an einem College. Ein junges Mädchen auf einer Party fühlt sich plötzlich müde, so müde wie noch nie in ihrem Leben. Sie wacht nicht wieder auf. Zuerst denken sie, es kommt aus der Luft, ein Gift, eine Art Virus. Aber niemand kann es nachweisen. Was auch immer es ist, es breitet sich rasend schnell in Santa Lora aus: Menschen werden müde, legen sich hin - und schlafen für immer. Sie sind nicht tot, sie wachen aber auch nicht mehr auf. Panik bricht aus, die Stadt wird von der Außenwelt abgeriegelt. Mittendrin: Eine junge Studentin, die im College unter Quarantäne steht. Zwei kleine Mädchen, deren Vater ihr Haus in eine Festung verwandelt. Und ein Paar, das verzweifelt versucht, sich und ihr Neugeborenes zu schützen, während um sie herum alles im Chaos versinkt. »Die nächste große Autorin.« Rolling Stone »Walker paart die unglaubliche Stärke ihrer Ideen mit einem lyrischen und bedeutungsvollen Verständnis unserer Gegenwart.« People Magazine
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Seitenzahl: 408
HarperCollins®
Copyright © 2019 für die deutsche Ausgabe by HarperCollins in der HarperCollins Germany GmbH, Hamburg
Copyright © 2019 by Karen Thompson Walker Originaltitel: »The Dreamers« Erschienen bei: Random House, New York
Published by arrangement with Random House, New York
Covergestaltung: Hafen Werbeagentur, Hamburg Coverabbildung: chaoss, rawmn, AndreiZ / shutterstock Lektorat: Maya Gause E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN E-Book 9783959678193
www.harpercollins.de
Für meine Töchter, Hazel und Penelope, die beide während der Jahre, die ich an diesem Buch geschrieben habe, auf die Welt kamen und auf all seinen Seiten zu finden sind.
Zuerst sagen sie, es sei die Luft.
Es ist eine althergebrachte Vorstellung: ein Gift im Äther, eine Gefahr, die der Wind heranträgt. In dieser ersten Nacht, als die Probleme beginnen, sieht man eigenartige Nebelschwaden durch die Stadt ziehen. Später wird es heißen, sie seien wie Regenwolken gewesen oder wie Rauch, nur dass niemand ein Feuer bemerkte. Manche geben der anhaltenden Dürre die Schuld, die seit Jahren den See austrocknet und die Luft mit braunem Staub erfüllt.
Was immer es ist, es kommt leise über sie: eine plötzliche Schläfrigkeit, schwere Augenlider. Die meisten Opfer werden in ihren Betten gefunden.
Aber es gibt Leute, die behaupten, diese Krankheit sei nicht wirklich neu und dass bereits unsere Ahnen gelegentlich von ähnlichen Plagen heimgesucht worden seien. In Briefen aus vergangenen Zeiten, die im Abstand von Jahrzehnten geschrieben worden sind, finden sich immer wieder Hinweise auf einen eigenartigen Schlummerzustand, einen mysteriösen, anhaltenden Schlaf.
1935 gingen zwei Kinder in einer Hütte im Dust Bowl zu Bett und wachten neun Tage lang nicht mehr auf. Ein anderes Mal breitete sich in einem kleinen mexikanischen Ort eine ähnliche Seuche aus. Sie nannten sie El Niente, das Nichts. Und dreitausend Jahre davor beschrieb ein griechischer Dichter eine Reihe merkwürdiger Todesfälle, die sich in einem Dorf in Küstennähe ereignet hätten. Sie seien gestorben, schrieb er, als hätte der Schlaf sie überwältigt – oder, wie es in einer anderen Übersetzung heißt: als wären sie in einem Traum ertrunken.
Diesmal fängt es an einem College an.
Mit einem Mädchen, das eine Party verlässt. Sie fühle sich nicht wohl, erklärt sie ihren Freunden, als hätte sie Fieber, sagt sie, wie bei einer Grippe. Und sie sei noch nie in ihrem Leben so müde gewesen.
Mei, die Mitbewohnerin des Mädchens, wird sich später daran erinnern, dass sie vom Geräusch des Türschlosses aufgewacht ist. Und an den quietschenden Lattenrost, als das Mädchen – sie heißt Kara – in das Bett über ihr klettert. Sie wirkt betrunken, so langsam, wie sie von der Tür zum Stockbett geht, aber es ist dunkel, und wie gewöhnlich sprechen die beiden nicht miteinander.
Am Morgen bemerkt Mei, dass Kara in ihren Klamotten geschlafen hat. Unter der Decke des oberen Betts ragen die schmalen schwarzen Absätze ihrer Stiefel hervor. Aber Mei hat das schon einmal bei ihr erlebt und achtet darauf, Kara nicht zu wecken, während sie sich anzieht. Auch mit dem Schlüssel und der Tür hantiert sie besonders leise. Sie versucht, an diesem Ort so wenig wie möglich auf sich aufmerksam zu machen; ihr ist wohler, wenn niemand sie bemerkt.
Mei kehrt tagsüber ganz bewusst nicht in ihr Zimmer zurück. Sie ist immer noch erstaunt, wie schnell sich ohne sie Freundschaften gebildet haben, wie eine dicke Schicht Blitzeis.
Jeden Abend stehen Kara und die anderen Mädchen vom Stockwerk in Handtücher gehüllt im Badezimmer und blockieren die Waschbecken, während sie zum Spiegel vorgebeugt Lippenstift und Lidstrich nachziehen. Von ihrem Schreibtisch auf der anderen Seite des Korridors aus hört Mei sie lachen und die lauten Stimmen, die das Föhngeräusch übertönen.
»Es braucht seine Zeit, bis man Leute kennenlernt«, sagt ihre Mutter am Telefon. »Manchmal dauert es Jahre.«
Doch Mei hat ihrer Mutter nicht alles erzählt. Unter anderem nicht von den Jungs, die in der ersten Schulwoche vor ihrer Tür aufgetaucht waren. Im Flur hinge ein übler Gestank, hatten sie gesagt, und dass sie ihn bis zu ihrem Zimmer zurückverfolgt hätten. »So als ob hier drinnen jemand gestorben ist«, sagte einer, während sie sich, ohne zu fragen, mit ihren Flip-Flops, den Surfer-Shorts und tief in die Stirn gezogenen Baseballkappen in den engen Raum drängten.
Ganz aufgeregt begannen sie, an Meis Schreibtisch herumzuschnüffeln. »Da haben wir es ja«, verkündeten sie mit zugehaltenen Nasen. »Der Geruch kommt ganz eindeutig von hier.« Sie deuteten auf die unterste Schublade. »Was zum Teufel bewahrst du denn darin auf?«
Es war der getrocknete Kabeljau, den ihre Mutter ihr geschickt hatte, in einem Paket mit drei Tafeln Zartbitterschokolade und zwei Stück Lavendelseife.
»Den macht meine Mom«, sagte sie. Dieses Gericht ist eine der wenigen Traditionen, die ihre Mutter von Meis Großmutter übernommen hat, die als Einzige aus der Familie in China und nicht in San Diego zur Welt gekommen ist. »Das ist ein Fisch.«
Sie weiß, dass diese Jungs sie das ruhige Mädchen nennen und Sachen sagen wie: »Hey, ruhiges Mädchen, du darfst ruhig mal den Mund aufmachen.« Sie selbst hält sich zwar gar nicht für besonders mundfaul, aber es ist, als ob sie Mei mit einem Fluch belegt hätten, denn mittlerweile spricht sie tatsächlich nicht mehr.
»O Gott«, sagte der Junge, der Tom heißt. Er ist größer als die anderen und spielt im Basketballteam der Schule. Er hatte sich ein rotes Halstuch vor Mund und Nase gebunden und sah aus, als wäre er in einem Bürgerkriegslazarett tätig. »Der ist verdorben.«
Jedes Mal, wenn Mei sich an das Tuch vor seinem Gesicht erinnert, möchte sie vor Scham im Boden versinken.
Letzten Endes warf sie die Tüte mit dem Kabeljau in den Müllschlucker am Ende des Gangs und lauschte dem schabenden Geräusch von Plastik auf Blech, während der Fisch zehn Stockwerke tief fiel. Die Jungs blieben die ganze Zeit bei ihr stehen und passten auf, dass sie es auch wirklich tat.
»Ich wusste nicht, dass sie so sind«, sagte Kara anschließend. Sie hatte den Jungs vom Geruch im Zimmer erzählt, obwohl sie ihn Mei gegenüber mit keinem Wort erwähnt hatte.
Das ist einer der Gründe, wieso Mei ihre Nachmittage im Campus-Café verbringt. Und an diesem Tag im Oktober bleibt sie so lange dort, bis sie ganz sicher ist, dass Kara und die anderen Mädchen das Stockwerk verlassen haben. Sie wartet ab, bis ihre Föhne verstummt und ihre Glätteisen abgekühlt sind und sie sich alle mit den komplizierten Ritualen ihrer Schwesternschaft beschäftigen. Die Jungs, so hofft sie, sind derweil beim Abendessen.
Doch als Mei am Abend nach neun Stunden Abwesenheit zurückkehrt, findet sie eine Nachricht vor, die jemand mit rotem Stift auf die Tafel an ihrer Tür geschrieben hat. »Wir ziehen los«, liest sie. »Wo steckst du?« Diese Frage gilt – ganz offensichtlich – ihrer Zimmergenossin.
Als Mei die Tür aufsperrt, sieht sie, dass Kara genauso wie am Morgen zusammengerollt und mit dem Gesicht zur Wand im oberen Bett liegt. Auch ihre schwarzen Stiefel ragen immer noch unter der Decke hervor.
»Kara?«, fragt sie leise. Vor dem Fenster geht die Sonne unter, und der wolkenlose Himmel verfärbt sich rosa. Mei schaltet das Deckenlicht an. »Kara?«, wiederholt sie.
Aber Kara lässt sich nicht aufwecken. Weder von Meis Bitten noch von den lauteren Stimmen der beiden Rettungssanitäter, die sie rasch durch ihr völlig zerknittertes Kleid abtasten und feststellen, dass sie zumindest immer noch atmet und einen Puls hat.
Und Kara verschläft auch die Schreie, die die anderen Mädchen ausstoßen, als sie ihren Kopf auf der Rolltrage hin und her pendeln sehen, ihren offenen Mund und die braunen Haare, die ihr wirr über das Gesicht hängen. Ebenso verschläft sie den Krach, den die Grillen draußen in den Pinien veranstalten, und die kühle Nachtluft auf ihrer Haut.
Mei steht barfuß auf dem Gehweg, als die Sanitäter die Trage in den grellen Ambulanzwagen hineinbugsieren – ein wenig grob, wie sie findet. Seid vorsichtig, will sie ihnen gerade noch sagen, doch da schlägt die Hecktür auch schon vor ihrer Nase zu, und sie lassen Mei allein auf der Straße zurück.
In dem Bericht der Sanitäter wird stehen, dass das Mädchen auch vom Heulen der Sirene und dem blendenden Blaulicht nichts mitbekommen habe. Oder von den Schlaglöchern, durch die sie auf dem Weg ins St. Mary’s rumpeln, wo zwei Ärzte nach mehreren vergeblichen Versuchen zu Protokoll geben, dass sie die Patientin auch nicht aufwecken konnten.
In dieser Nacht liegen auf anderen Etagen des Krankenhauses Frauen in den Wehen, während Kara schläft. Babys werden geboren, während sie schläft. Sie schläft, während in einem weit entfernten Raum ein alter Mann stirbt. Ein erwarteter Tod. Seine Familie und ein Kaplan haben sich um ihn versammelt.
Sie verschläft den Sonnenaufgang und auch den Sonnenuntergang.
Und dennoch können die Ärzte während dieser ersten Stunden nicht herausfinden, was mit ihr nicht stimmt. Sie sieht wie ein gewöhnliches Mädchen aus, das ganz einfach schläft.
Später wird es einige Verwirrung geben, was ihr dort zugestoßen ist. Wie ihr Puls so langsam werden konnte, ohne dass eines der Überwachungsgeräte den Alarm auslöste. Man weiß nur, dass ihr flacher Atem im Verlauf mehrerer Stunden immer schwächer wurde.
Rückblickend lässt sich kaum nachvollziehen, warum diese Geräte ihre letzten Herzschläge nicht aufgezeichnet haben.
Die Mädchen: Sie weinen und weinen – und sie schlafen nicht. Sie besuchen sich gegenseitig in ihren Zimmern und sitzen in Hausschuhen und Sweatshirts auf dem harten Teppichboden. Sie halten sich an den Händen. Sie trinken Tee. Wenn sie doch bloß früher nach ihr gesehen hätten, denken sie. Wenn sie nur auf sie gehört hätten, als sie sagte, es gehe ihr nicht gut. Alle haben das Gefühl, sie hätten es wissen müssen und etwas tun sollen. Vielleicht hätten sie sie retten können.
Die Jungs sagen nicht viel und trinken noch mehr als sonst – billiges Bier, das sie sich mit ihren gefälschten Ausweisen besorgt haben. Während der ersten Tage nehmen sie die Hände nicht aus den Hosentaschen und versuchen, den Mädchen aus dem Weg zu gehen. Es ist, als könnten die Jungs sie spüren – sogar bei diesen Mädchen, an ihrer selbstverständlichen Nähe und der Art, wie sie einander unterhaken –, die ganze Geschichte vom Leid der Frauen, die generationenlange Erfahrung mit Trauer.
Den Mädchen käme es falsch vor, sich richtig anzuziehen oder zu schminken. Haare werden nicht gewaschen, Beine nicht rasiert, und Kontaktlinsen schwimmen unberührt in ihrer Reinigungslösung. Die Jungs dürfen nun sehen, dass sie Brillen tragen.
Ihre arme Mutter, sagen die Mädchen zueinander und ziehen die Knie fest an die Brust, als wären sie durch den Schock wieder jünger geworden. Sie stellen sich ihre eigenen Mütter vor. Sie malen sich aus, wie die Telefone klingeln, bei ihnen zu Hause, in anderen Städten und Staaten: Arizona, Nebraska, Illinois. Ich kann mir das nicht vorstellen, sagen die Mädchen zueinander. Ich kann es mir einfach nicht vorstellen.
Die Beisetzung findet in Kansas statt. Viel zu weit weg.
»Wir sollten etwas für ihre Eltern tun«, sagt eines der Mädchen. Sie haben gehört, dass sie nächste Woche kommen werden, um Karas Sachen abzuholen. »Am besten bestellen wir Blumen.«
Damit sind alle Mädchen sofort einverstanden. Sie haben den dringenden Wunsch, das Richtige zu tun. Es fühlt sich an wie ihre Einführung in die Welt der Erwachsenen. Das ist das unverfälschte Leben, und plötzlich stehen sie mittendrin.
Sie einigen sich auf Lilien, zwei Dutzend, weiße. Alle unterschreiben die Karte.
Danach fällt ihnen nichts mehr ein, was sie noch tun könnten, aber das Bedürfnis ist noch da. Unterdessen ist eine neue Großzügigkeit zwischen ihnen entstanden. Wie klein ihre Sorgen plötzlich scheinen, wie bedeutungslos im Vergleich. Streitigkeiten enden, Kränkungen werden vergeben, und zwei der Mädchen versöhnen sich am Telefon mit den weit entfernten Jungen, die sie an der Highschool sehr geliebt haben und von denen sie bis jetzt glaubten, sie wären ihnen entwachsen.
Aber die Mädchen wollen immer noch mehr tun. Sie sehnen sich danach, nützlich zu sein.
Als Mei den Korridor entlanggeht, mit verschränkten Armen, gesenktem Kopf und ihren dunklen Haaren in einem straffen Zopf, bemerken die Mädchen sie, als wäre sie ihnen bislang noch nie aufgefallen.
Sie sollte sich keine Vorwürfe machen, darin sind sich alle einig. Keine von ihnen kennt ihren Namen, sie ist das chinesische Mädchen oder vielleicht eine Japanerin, die sich mit Kara das Zimmer geteilt hat. Sie habe auf keinen Fall wissen können, dass Kara Hilfe gebraucht hat.
»Wir sollten ihr sagen, dass es nicht ihre Schuld ist«, flüstert eine von ihnen. »Und dass sie sich deswegen nicht schlecht fühlen soll.«
Aber keine von ihnen rührt sich vom Fleck.
»Spricht sie unsere Sprache?«, fragt ein zweites Mädchen.
»Natürlich tut sie das«, entgegnet eine andere. »Sie stammt doch von hier, oder nicht?«
Aus irgendeinem Raum riecht es nach Mikrowellen-Popcorn. Niemand geht zu einem Seminar.
Nachmittags wird der Korb mit den Lilien geliefert, aber es sind weniger, als sie sich erhofft haben, und können leider nicht wie gewünscht ausdrücken, was für die Mädchen unsagbar ist, etwas Grundsätzliches, für das sie keine Worte haben.
Karas Eltern: Ihre Gesichter sind blass, ihre Wangen hohl. Die Mutter ist eine Frau in einem grauen Pullover. Sie ist Kara mit einer anderen Haut. Der Vater trägt einen Bart und ein Flanellhemd. Er ist ein Mann, der vor dreißig Jahren auch einer der Jungs auf dem Stockwerk hätte sein können, die mit den Händen in den Hosentaschen in der Tür stehen und nicht wissen, was die Zukunft für sie bereithält.
Langsam beginnen sie, die Habseligkeiten ihrer Tochter zu packen.
Die Mädchen werden bei ihrem Anblick schüchtern. Sie verstecken sich in ihren Zimmern, aus Angst, das Falsche zu sagen. Eine Zeit lang hört man auf dem Stockwerk nur das scharfe Geräusch, mit dem das Paketklebeband von der Rolle gerissen wird, und immer wieder das Klappern leerer Bügel, gefolgt vom leisen Rascheln der Kleider, die in Kartons verstaut werden.
Als sie die Eltern aus der Ferne beobachten, halten die Mädchen all die üblichen äußerlichen Merkmale von Menschen im fortgeschrittenen Alter – die Falten auf seiner Stirn, die dunklen Ringe unter ihren Augen – fälschlich für Anzeichen von Trauer. Und vielleicht haben sie zum Teil auch recht: Die Gesichter der beiden spiegeln die verstrichenen Jahre wider, die sie direkt zu dieser Aufgabe geführt haben.
Die Stimmen von Karas Eltern klingen heiser und dünn, als wären sie die Kranken. Plötzlich entfährt der Mutter ein Keuchen. »Hör auf damit, Richard«, sagt sie und beginnt zu schluchzen. »Du zerreißt es noch.«
Das ist der Moment, als Mei kurz zu den Eltern hinübersieht, so als beobachtete sie die beiden aus großer Distanz, was sie in gewisser Weise ja auch tut.
Der Vater hat Schwierigkeiten, eines von Karas Postern zusammenzurollen. Es zeigt Paris, in Schwarz-Weiß. Kara hat es mit Reißzwecken an der Wand befestigt und, wie Mei weiß, während der ersten Schulwoche im Buchladen auf dem Campus gekauft. Mei ist das Poster mittlerweile so vertraut, dass sie angefangen hat, Kara mit den Mädchen auf der Fotografie zu verbinden, die lachend und glamourös auf einer Kopfsteinpflasterstraße im Regen stehen.
»Fass es nicht mehr an«, sagt die Mutter zu dem Vater. »Bitte.«
Danach verstummt der Vater.
Mei bleibt im Korridor. Sie könnte sich den Eltern vorstellen. Das ist es, was ihre Mutter ihr sagen würde.
Aber es ist kaum zu ertragen, wie der Mann aus dem Fenster sieht. Meis Vater würde genau das Gleiche tun. Und wie er nicht zu wissen scheint, was er mit seinen Händen anstellen soll. Es ist die Art, wie er immer wieder seinen Bart berührt und schweigend in der Zimmerecke steht.
Ohne ein Wort mit ihnen zu wechseln, geht Mei rasch in ihr neues Zimmer.
Nur Caleb ist mutig genug, sich Karas Eltern zu nähern. Der große und dünne Caleb mit seinen braunen Haaren und Sommersprossen. Der Englisch im Hauptfach belegt hat und ein bisschen ernsthafter ist als die anderen Jungs.
Die Mädchen sehen zu, wie er Karas Vater die Hand schüttelt. Sie beobachten, wie er seine Baseballkappe mit dem Cubs-Logo seitlich neben den Körper hält, während er mit Karas Mutter spricht. Und die Mädchen – jedes einzelne von ihnen – sehnen sich danach, seine verschwitzten Haare glatt zu streichen, die dort, wo die Kappe gesessen hat, seitlich abstehen.
Die Mädchen verlieben sich vom Fleck weg in ihn, weil er sich mit diesen Eltern unterhält. Sie lieben ihn dafür, dass er weiß, was zu tun ist.
Caleb hilft dem Vater dabei, die Kartons zum Fahrstuhl hinauszutragen, und unbeteiligte Beobachter würden vermutlich annehmen, dass hier ein Vater seinem Sohn beim Umzug aus dem Studentenwohnheim zur Hand geht.
Amanda: Sie wohnt zwei Türen von Karas Zimmer entfernt und ist das nächste Mädchen, das Symptome an sich bemerkt. Schwindel, Müdigkeit und einen Schmerz, der sich langsam ausbreitet.
Ihre Mitbewohnerin ist mit dem gleichen Gefühl aufgewacht. Sie sehen beide blass und fiebrig aus. Ihre Augen sind leicht gerötet.
»Was, wenn es ansteckend ist?«, fragt Amanda, die im Bett liegt. »Was, wenn wir das Gleiche haben wie Kara?«
Die anderen Mädchen beruhigen sie von der Tür aus, aber sie trauen sich nicht, das Zimmer zu betreten.
»Ich bin mir sicher, dass mit euch alles in Ordnung ist«, sagt eine von ihnen, die kaum zu atmen wagt. Erstaunlich, wie schnell sich das Adrenalin im Körper ausbreitet, wie rasch die Hände zu zittern anfangen. »Aber vielleicht solltet ihr beide zum Arzt gehen. Nur zur Sicherheit.«
Als die Neuigkeit die Runde macht, ist auf dem Stockwerk bald Panik zu spüren: Unter ihnen befinden sich zwei kranke Mädchen. Bis jetzt hat noch keiner von ihnen darüber nachgedacht, dass Karas Krankheit übertragbar sein könnte.
Anrufe werden getätigt. Der Direktor des Studentenwohnheims kommt herbei. Die kranken Mädchen werden zum studentischen Gesundheitsdienst gefahren. Die anderen kriegen den Gedanken nicht aus dem Kopf, dass sie die beiden vielleicht nie wiedersehen werden.
Stunden vergehen.
Vor den Fenstern verändert sich allmählich das Licht, aber keiner von ihnen achtet auf das Wetter dort draußen, nur Sonne, kein Regen, ein weiterer trockener Tag ist vergangen.
Eine düstere Stimmung legt sich über das Stockwerk. Ein Mädchen ist davon besonders betroffen. Zu Hause und in der Kirche nennen sie alle Rebecca, aber hier kennt man sie seit sechs Wochen als Becca, Becks oder B.
Rebecca: Eine zierliche Rothaarige in geliehenen Jeans bemerkt nun ein leichtes Fiepen in ihren Ohren. Sie will es ignorieren. Niemand hat etwas von einem Fiepen gesagt.
Im Badezimmer setzt sie ihre Brille ab und spritzt sich Wasser ins Gesicht. Wahrscheinlich ist es gar nichts. Sie ist nur nervös. Sie hat Angst. Aber allmählich wird ihr auch schwindelig.
Sie stützt sich auf eins der Waschbecken. Es ist aus altem Porzellan, rissig und vergilbt, und sie kann noch die Flecken sehen, wo sie in der ersten Schulwoche den Kopf über das Becken gehalten hat, während zwei Mädchen ihr die Haare in einem schönen kastanienbraunen Ton färbten und die anderen um sie herumstanden und Ratschläge erteilten. Damals war das neu für sie, dieses Gefühl dazuzugehören und das Gelächter von zehn Mädchen auf kleinstem Raum. Bislang ist Rebecca nur einmal in die Kirche gegangen, am ersten Sonntag, als sie sich heimlich davongeschlichen hat und bereit gewesen wäre zu lügen, falls sie jemand nach ihrem Ziel gefragt hätte. Es ist nur so, dass sie sich noch nie so schnell geliebt gefühlt hat. Und schon gar nicht von Mädchen wie diesen.
Diese Mädchen haben Rebecca ihren ersten Drink gemixt. Sie haben mit ihren eigenen rosaroten Lippenstiften ihren unerfahrenen Mund verschönert und mit ihren Pinzetten die Augenbrauen gezupft und anschließend gezeigt, wie sie sie selbst in Form bringen kann. Ihre Anziehsachen haben sie Rebecca auch geliehen und ihr außerdem dabei geholfen, einen besseren BH zu kaufen. Und sie hat mit ihnen gelacht, als sie alle gleichzeitig bemerkten, dass sich ihre Menstruationszyklen aneinander angeglichen hatten.
Aber nun macht sich Rebecca Sorgen. Der Schwindel umhüllt sie wie ein Nebel. Sie wartet darauf, dass er vergeht, aber das tut er nicht. Hektisch denkt sie darüber nach, ob das vielleicht die Strafe für ihr Verhalten während der vergangenen Wochen ist. Dafür, dass sie die Kirche geschwänzt, so viel getrunken und ihre Eltern über all das im Unklaren gelassen hat.
Hinter ihr schwingt quietschend die Tür auf. Karas Mitbewohnerin, das ruhige Mädchen, betritt das Badezimmer. Unter einen Arm hat sie ein gelbes Handtuch geklemmt, und in der anderen Hand hält sie einen pinken Plastikeimer, in dem eine Shampooflasche klappert. Sie trägt ein Sweatshirt und Jeans. Rebecca ist aufgefallen, dass sie immer so zum Duschen geht und nicht im Bademantel oder in ein Handtuch gewickelt, wie alle anderen Mädchen. Plötzlich hat Rebecca den Wunsch, ihr eine Freundlichkeit zu erweisen. »Hey«, sagt sie.
Das Mädchen sieht nicht zu ihr her, und Rebecca hätte es früher genauso gemacht, aus reiner Überraschung, angesprochen zu werden.
»Hey«, wiederholt Rebecca. »Entschuldige, aber wie heißt du noch mal?«
Diesmal hebt das Mädchen den Kopf. Sie ist hübsch, auf gewisse Weise, mit dunklen Augen und guter Haut. Aber sie sollte ihre Haare offen tragen – Rebecca weiß, dass die anderen Mädchen das sagen würden –, anstatt sie immer so streng zurückzubinden. Und ein Pony wäre gut. Mit einem Pony sähe sie vielleicht ein bisschen fröhlicher aus.
»Ich heiße Mei«, erwidert das Mädchen.
Sie stellt ihre Sachen vor der Duschkabine ab, die am weitesten von Rebecca entfernt ist, und entflechtet ihren schwarzen Zopf. Aber ihre Haare behalten die Form bei und bleiben vom Ansatz bis zu den Spitzen gekräuselt.
»Ich möchte dir etwas sagen«, beginnt Rebecca. In letzter Zeit ist sie selbstsüchtig gewesen. Das ist wahr. Man muss den anderen geben, was sie brauchen, und sie hat diesem armen Mädchen überhaupt nichts gegeben. Wenn er dich nach deinem Hemd fragt, sagt ihr Vater immer, solltest du ihm auch deinen Mantel geben. »Ich wollte dir sagen, dass du dir keine Vorwürfe machen sollst«, fährt Rebecca fort.
Mei wirkt misstrauisch. »Weswegen?«, fragt sie.
»Du hast wirklich nicht wissen können, dass sie Hilfe braucht«, sagt Rebecca.
Mei beißt sich auf die Lippe. Sie blickt zur Seite und tritt in die Duschkabine. Rebecca sieht sie nicht mehr. »Es war nicht meine Schuld«, hallt Meis Stimme drinnen von den Kacheln wider. Sie spricht ganz vorsichtig, jedes Wort wirkt wie ein zerbrechlicher Gegenstand, den sie von einem hohen Regalbrett herunternimmt. »Ich habe nichts falsch gemacht.«
»Genau«, antwortet Rebecca. »Das versuche ich dir zu erklären.« Aber das Gespräch entgleitet ihr. Sie vermasselt es.
Mei zieht die Tür der Duschkabine hinter sich zu, und Rebecca hört den Riegel einrasten. Durch den Spalt unter der Tür sieht sie, wie das Sweatshirt und die Jeans neben Meis Füßen zu Boden fallen. Sie langt nach unten und hebt sie auf, danach quietschen die Armaturen, die Rohre scheppern, und das brausende Wasser bildet auf den Fliesen eine Pfütze.
Rebecca überlegt, ob sie noch etwas Nettes durch die Tür sagen kann.
Aber plötzlich sieht sie nicht mehr richtig. In ihren Augenwinkeln blitzt es. Ihre Sicht verzerrt sich, wie beim Blick durch eine unruhige Wasseroberfläche. Sie beginnt zu zittern.
Rebecca erzählt niemandem davon, als würde es nur noch wirklicher werden, wenn sie die Worte laut ausspricht – es verschreit.
Stattdessen kehrt sie in ihr Zimmer zurück und legt sich auf das Bett. Sie hat das Gefühl, sich entspannen zu müssen. Sie schließt die Augen. Es ist vier Uhr nachmittags. Eine Bibelstelle fällt ihr ein: Ihr kennt weder den Tag noch die Stunde.
Die erste Schlafphase ist die leichteste, einmal kurz loslassen, wie ein Stein, der über das Wasser springt. Sie ist der Kopf, der im Theater wegsackt. Das Buch, das im Bett aus der Hand fällt.
In diese oberste Schicht gleitet Rebecca ganz rasch. Zehn Minuten vergehen. Sie sinkt weiter und beginnt ihren Tauchgang in die Tiefe. Mit einem Mal schwebt ein Traum durch sie hindurch: Sie ist mit ihren Eltern in der Kirche. Ein Baby wird getauft. Aber etwas ist merkwürdig. Es ist die Stimme des Priesters – aus irgendeinem Grund ist sie im Traum nicht lippensynchron. Und auch das Geräusch des Wassers, das auf die Stirn des Säuglings spritzt, erreicht sie erst ein paar Sekunden nachdem sie gesehen hat, wie es passiert ist, wie Donner, der mit zeitlicher Verzögerung auf den Blitz folgt. Im Traum ist Rebecca die Einzige in der Kirche, die das bemerkt.
Aber dann wird der Traum unterbrochen, als draußen im Flur eine hohe Stimme erklingt. Rebecca öffnet die Augen.
Zu der Stimme, die sie geweckt hat, kommen rasch noch andere hinzu. Jemand lacht.
Als sie die Tür öffnet, wimmelt es im Flur von Jugendlichen. Und mittendrin sieht sie die beiden kranken Mädchen, die vom Gesundheitsdienst zurück sind. Ihre Pferdeschwänze wippen auf und ab, beim Lachen blitzen ihre weißen Zähne auf. In den Händen halten sie zwei riesige Burritos und Colas.
»Ich komme mir so blöd vor«, sagt eine von ihnen, die immer noch ihre Joggingsachen trägt, während die anderen um sie eine Traube bilden.
»Wir haben beide bloß eine Erkältung«, sagt ihre Mitbewohnerin.
»Gott sei Dank«, sagt Rebecca. Ihre Erleichterung fühlt sich an wie ein Drogenrausch. »Gott sei Dank ist alles okay mit euch.« Rebecca geht es auch gleich besser. Zumindest fiept es nicht mehr in ihren Ohren, und der Schwindel lässt nach.
Was immer sie hatten, jetzt geht es ihnen wieder gut. Es gehe ihnen gut, sagen die Mädchen. Hast du es schon gehört, fragen sie jeden, dem sie im Gang begegnen. Es geht ihnen gut, es geht ihnen gut, es geht ihnen gut.
Anschließend verändert sich etwas. Die Angst flaut ab wie ein Fieber, und in dieser Nacht, der dritten, drängen sich die Mädchen und die Jungs in Amandas kleinem Zimmer zusammen und betrinken sich. Ihre Wangen glühen vor Gelöstheit.
Die Mädchen haben Kahlúa und Milch und dazu tütenweise Eiswürfel. Außerdem gibt es Bier und Tequila und Wein mit Pfirsichgeschmack. Der Mixer surrt, die Schnapsgläser schlagen klirrend aneinander, und die Musik ist ein bisschen zu laut.
Sie sprechen darüber, dass man irgendetwas für Kara tun sollte, vielleicht eine Gedenktafel am Gebäude anbringen oder einen Baum pflanzen. Ja, sagen sie, einen Baum, sagen sie, oder vielleicht sogar einen kleinen Garten mit ihren Lieblingsblumen. Sie stoßen auf ihre kurze Freundschaft, auf die sechs schönen Wochen mit ihr, an. Sie war so lieb, darin sind sich alle einig, vielleicht die Liebste von ihnen.
Der Alkohol beginnt zu wirken, und es lässt sich nicht leugnen, dass die Stimmung in dem kleinen Zimmer allmählich ausgelassen wird. Sie sind jung und gesund, und sie haben etwas Schreckliches überlebt.
Rebecca lässt die Beine vom oberen Stockbett baumeln und fühlt sich mutig und ruhig. Aus irgendeinem Grund sitzt Caleb neben ihr.
»Was für ein beschissener Tag«, sagt er – so leise, dass nur sie ihn hören kann.
Sie nickt und nimmt sein warmes Bein neben ihrem wahr, seinen unter der Zimmerdecke geneigten Kopf.
»Ja, das kann man wohl sagen«, entgegnet sie. In ihrer angeheiterten Stimmung nimmt sie sich vor, am nächsten Tag einen weiteren Anlauf bei Karas Mitbewohnerin zu unternehmen. Wie heißt sie noch mal? Mei? Niemand hat daran gedacht, sie in dieses Zimmer einzuladen, wie ihr plötzlich mit einem neuerlichen Schuldgefühl klar wird.
Unten summt der Mixer, begleitet vom anhaltenden Geklapper der Eiswürfel.
Probier das mal, sagen alle zueinander, immer und immer wieder. Plastikbecher machen die Runde, jeder Mund nimmt einen Schluck. Schnapsgläser werden geleert und gleich wiederverwendet.
Diejenigen unter ihnen mit Biologie im Hauptfach würden es eines Tages im Unterricht durchnehmen: Bestimmte Parasiten können das Verhalten ihrer Wirte so beeinflussen, dass es ihren Zwecken dient. Wenn Viren das auch könnten, würden sie wohl das folgende Szenario herbeiführen: Siebzehn Menschen versammeln sich auf engstem Raum, siebzehn Lungen atmen dieselbe Luft, siebzehn Münder trinken immer und immer wieder aus denselben zwei Schnapsgläsern, stundenlang.
Schließlich endet die Party. Sie hört auf, wie ihre Partys es immer tun, mit einem Klopfen an der Tür und der Stimme ihres Wohnheimsprechers, der nur drei Jahre älter ist als sie – und geübt darin, keinen Alkohol zu sehen. »Okay, Leute«, sagt er hinter der Tür. »Für heute reicht es.«
Also strömen sie in den Flur hinaus, wo sie unter den summenden Leuchtstoffröhren einzeln oder zu zweit zu ihren Zimmern wanken.
Rebecca geht ein paar Schritte hinter den anderen Mädchen allein zu ihrem Zimmer zurück, als sie jemandes Atem an ihrem Ohr spürt.
»Komm mit«, sagt Caleb und nimmt ihre Hand in seine.
Sie ist überrascht von seinen Fingern, die sich mit ihren verflechten, von seinem Geruch so nah bei ihr, nach Kaugummi und seiner Seife, und von dem unglaublich schönen Gefühl, erwählt zu werden.
»Hier drinnen können wir uns unterhalten«, sagt Caleb und stößt die Tür zur Feuertreppe auf.
Als sie hinter ihnen wieder zufällt, schneidet sie das Licht und die Geräusche der anderen ab, sodass die beiden die stille Dunkelheit nun ganz für sich allein haben, ein Junge und ein Mädchen, die Seite an Seite auf einer kalten Stufe sitzen.
Die anderen Mädchen sagen, Caleb sei zu dürr, aber Rebecca findet ihn groß und schlank. Seine scharfen Gesichtszüge zeugen von Intelligenz und einer gewissen Effizienz, wie ein gutes Designobjekt.
Sie wartet darauf, dass er etwas sagt.
Caleb zieht eine Packung M&M’s aus der Hosentasche. »Möchtest du welche?«, fragt er.
Im Treppenhaus ist es so leise, dass sogar das Knistern der M&M’s-Packung von den Wänden widerzuhallen scheint. Er schüttet ihr ein paar in die Hand.
So sitzen sie eine Weile schweigend nebeneinander. Rebecca weiß nicht genau, was sie tun soll. Sie hört die M&M’s zwischen seinen Zähnen knacken.
»Ich habe ein ganz schlechtes Gewissen, weil ich nicht mit ihren Eltern geredet habe«, sagt sie schließlich. »Ich hatte keine Ahnung, was ich zu ihnen sagen sollte.«
Caleb wirft ein M&M in den Treppenschacht hinunter. Zehn Stockwerke tiefer schlägt es mit einem befriedigenden Knall auf. »Die Leute wissen nie etwas zu sagen«, erwidert er.
Rebecca hat ein Gerücht gehört, dass Calebs Bruder gestorben sein soll, als er klein war.
Sie unterhalten sich noch eine Weile, betrunken und verträumt. Der Kahlúa erzeugt in ihrem Kopf ein Gefühl von angenehmer Leichtigkeit. Alles um sie herum, die Finsternis, das rostige Geländer und das weit entfernte Tropfgeräusch, wirkt bedeutungsvoll, so als wäre die ganze Nacht bereits jetzt eine Erinnerung.
Es gibt Dinge, über die sie reden möchte. Sie würde ihm gern alles erzählen über die Regeln, die sie zu Hause befolgen musste, dass sie keine Filme sehen und kein Make-up tragen durfte und dass sie nie eine reguläre Schule besucht hat. Dass sie Algebra mit ihren Brüdern am Küchentisch gelernt hat, während ihre Mutter sich mit den Lehrplänen für den Hausunterricht abmühte und ihr Vater vergeblich versuchte, ein Waisenhaus zu gründen. Aber sie erwähnt nichts davon in diesem Treppenhaus. Stattdessen lehnt sie sich stumm an Calebs Schulter, als könnte sie ihm ihre Gedanken auf anderen Wegen mitteilen, wie zum Beispiel durch die Wärme ihres Arms an seinem.
Caleb lässt immer noch M&M’s in den Schacht fallen, wie jemand, der am Rand eines Brunnens sitzt und Glücksmünzen hineinwirft. »Keiner weiß, was er sagen soll«, erklärt er, »weil niemand etwas sagen kann.« Sie hat das Gefühl, durch ein Teleskop in seine Vergangenheit zu blicken. »Es gibt nichts zu sagen.«
Sie hört bereits jetzt ihr älteres Ich eines Tages, in vielen Jahren, diese Geschichte erzählen, über dieses schreckliche Ereignis in ihrer Jugend, das Mädchen namens Kara im Studentenwohnheim, im zweiten Monat ihres Freshman-Jahres, ihre erste Berührung mit einer Katastrophe. Das ganze Ereignis entwickelt sich rasend schnell zu etwas Vergangenem.
Während sie dem letzten hinabfallenden M&M hinterherschauen, stoßen sie mit den Köpfen zusammen. Als sie den Blick wieder heben, sind ihre verschatteten Gesichter nicht weit voneinander entfernt. Sie beginnen zu lachen, und Caleb berührt ihre Haare. Es geschieht. Ein Kuss. Sein Mund schmeckt nach Schokolade. Ihre Zähne berühren sich. Sie weiß nie, ob sie es richtig macht. Seine Hände liegen auf ihren Hüften. Seine Finger gleiten über die Haut an ihrer Taille, und sie spürt, dass er ein wenig zittert, als er sie berührt. Seine Nervosität ist viel liebenswerter als Selbstsicherheit. Und das hier wirkt wie ein Anfang, als würde jetzt alles beginnen. Ihr wird warm vor wilder Hoffnung, einem Hochgefühl, das nur die ganz Jungen kennen.
Die Mädchen schlafen lang, sie haben Kopfschmerzen vom Kahlúa. Eine nach der anderen stehen sie auf und gehen pinkeln oder Wasser trinken. Andere nehmen eine von den Schmerztabletten, die sie neben ihren Betten bunkern, oder schließen bloß die Vorhänge vor dem grellen Morgenlicht und blinzeln in die Sonne, die einen weiteren wolkenlosen Tag ankündigt.
Dann legen sie sich wieder in ihre Betten.
Bald darauf träumen sie unruhig in ihrem leichten Schlaf.
Gegen Mittag, darin sind sich alle Mädchen später einig, passiert etwas Merkwürdiges: Ihre Träume nehmen einen ähnlichen Verlauf und drehen sich ausnahmslos um ein entferntes Geräusch. Mit einem Mal träumt jede Einzelne von ihnen, dass irgendwo irgendwer schreit.
Es dauert ein paar Sekunden, bis sie die Augen aufschlagen und die Bedeutung des Geräuschs begreifen: Da schreit tatsächlich jemand.
Im Flur entdecken die Mädchen Caleb – in Boxershorts und ohne T-Shirt. Sie sehen, wie sich unter seiner Haut die Rippen heben und senken, während er brüllt. Es kann gut sein, dass bis zu diesem Moment noch keins der Mädchen echte Panik im Gesicht eines Jungen gesehen hat.
»Es ist was mit Rebecca«, ruft er und deutet auf sein Bett, wo sich ihre roten Locken auf seinem Kissen ausbreiten. »Es ist was mit Rebecca«, wiederholt er. »Irgendwas stimmt nicht mit ihr.«
Schrecklich, was da am College passiert.
Das ist es, was die Leute in Santa Lora in den Gängen der Eisenwarenläden und Supermärkte zueinander sagen oder während sie ihre Hunde im Wald ausführen. Haben Sie gehört, was am College los ist? fragen sie über den Zaun hinweg ihre Nachbarn und auch die anderen Zuschauer auf der Tribüne an der Highschool. Ganz so, als wäre das College eine Insel jenseits der Stadt und die Stadttore undurchdringlich, sogar für Krankheitskeime.
Eine Schlafkrankheit. So nennen es die Lokalreporter. Ein Mädchen ist tot, ein zweites bewusstlos, beide auf derselben Etage des Studentenwohnheims.
In ganz Kalifornien breitet sich eine Dürre aus. Der letzte Niederschlag ist neunzig Tage her, und dabei hat es schon im Vorjahr zu wenig geregnet. Noch nie zuvor ist der Pegel des Sees in Santa Lora so tief gefallen, und keiner hat je die Sandbänke wie Dünen aus der Mitte des Gewässers herausragen sehen oder die alten Hafenanlagen so trocken und gut fünfzig Fuß von der Wasserkante entfernt.
Es ist die schlimmste Dürreperiode der vergangenen hundert Jahre. Vielleicht sogar seit mindestens fünfhundert Jahren, wie manche behaupten.
Aber das Wetter, dieses Wetter: Es ist prachtvoll. Sechs Wochen lang nichts als Sonnenschein.
Kaum vorstellbar, dass es bei so einem Wetter Leid geben könnte. Als wäre die Schönheit ein Zauber, der den Tod abwehrt. Doch sie wissen, dass drunten im Tal die Weintrauben absterben, und ihre Rasen werden mit jedem Tag brauner, ausgedörrt von derselben Sonne, die bis weit in den Oktober hinein ihre Hollywoodschaukeln erwärmt.
Und dennoch wollen sie es nicht so recht glauben: Wie sollte bei so einem herrlichen Wetter ein achtzehnjähriges Mädchen ums Leben kommen können?
Aber in Santa Lora kennt man sich mit Schicksalsschlägen aus.
Oft bebt die Erde, die Hänge der Hügel neigen zum Rutschen, und die Brandgefahr im hiesigen Wald ist so groß, dass ein paar vorsichtige Anwohner ihre Familienfotos in Seesäcken neben den Haustüren aufbewahren, um sich im Notfall sofort davonmachen zu können.
Der Indianerstamm, der einst in diesem Wald gejagt hat, wurde von den Windpocken der Pelzhändler dahingerafft, und einmal ist in den Bergen hier eine Siedlergemeinschaft verhungert. Zehn Jahre nach diesem Vorfall entdeckte man in den Hügeln Silbervorkommen und errichtete erste Holzhäuser, die jedoch bereits im darauffolgenden Frühling vom drei Fuß tiefen Schmelzwasser weggeschwemmt wurden. Die Beweise dafür kann man immer noch im Antiquitätenladen an der Straßenecke Mariposa und Klein begutachten: Fotografien von Frauen in dunklen Kleidern, Männern in zerschlissenen Mänteln und Kindern, die spindeldürr und mit ernsten Gesichtern knietief im Wasser stehen. Ihren Augen ist anzusehen, dass sie an Leid gewöhnt sind.
Eine Weile danach verschüttete ein Erdrutsch sämtliche Flachbauten an der Ostseite der Stadt, und das kleine Rathaus mit seiner Kuppel und der Glocke ist lediglich ein Nachbau. Das Original ist bei einem Erdbeben eingestürzt.
Auf dem Friedhof, der schon lange nicht mehr in Betrieb ist, liegen zahlreiche Opfer der Spanischen Grippe begraben. Manche glauben, dass ihre Geister in den heruntergekommenen Herrenhäusern an der Catalina Street spuken, in die mittlerweile Studenten-WGs eingezogen sind. Die Bewohner von Santa Lora wussten, dass diese Grippe sie heimsuchen würde, denn ihr Ruf eilte ihr westwärts von einer Stadt zur anderen voraus. Sie versuchten, die einzige Zugangsstraße zu blockieren, doch die Krankheit gelangte dennoch herein und verbreitete sich wie ein Lauffeuer in der Stadt. Dabei forderte sie doppelt so viele Menschenleben wie im Nachbarort, weswegen damals nicht wenige vermuteten, Santa Lora wäre verflucht.
Wer zum Aberglauben neigt, hält auch heute noch an dieser Vorstellung fest: Jedes Mal, wenn ein Teenager im See ertrinkt oder ein Wanderer im Wald verloren geht, fragt sich so mancher in Santa Lora, ob nicht all die Katastrophen mit dieser Gegend verknüpft sind. Wäre es nicht denkbar, dass ein Ort das Unheil regelrecht anzieht, so wie ein Metallstab die Blitzschläge?
Wenn am vierten Abend dieser Woche ein Fremder Santa Lora besuchte und er bei Sonnenuntergang oder kurz davor zehn Querstraßen östlich vom College zu Fuß unterwegs wäre, würde er vielleicht ein großes gelbes Haus bemerken, das ungefähr hundert Jahre alt ist und früher einmal eindrucksvoll gewesen sein muss. Heute ist es das nicht mehr mit seinen verrosteten Regenrinnen, der durchhängenden Hollywoodschaukel und den grünen Bohnen, die im vorderen Garten wachsen. Und wenn er das Haus sehen würde, fiele ihm womöglich auch ein Mädchen auf. Und im Vorübergehen würde er sich wundern, so wie Fremde es manchmal tun, was es dort macht, dieses Mädchen am Fenster. Ganz ernsthaft und unbewegt steht sie da und sieht hinaus.
Das Mädchen am Fenster ist zwölf Jahre alt. Sie sieht dünn aus in ihren abgeschnittenen Jeans und hat dunkle Haare. Brille, Spange, Sonnenbrand. Sara.
Sie glaubt bereits jetzt, dass sie sich noch lange an diesen Abend erinnern wird. Aber dieses Gefühl nagt oft an ihr. In dieser Hinsicht denkt sie genau wie ihr Vater – jeden Moment kann ein Unglück geschehen, und man weiß nie, wann es so weit ist.
Heute Abend ist es so, dass ihr Vater sich verspätet.
Durch das Fenster beobachtet sie, wie andere Autos in andere Einfahrten in ihrer Straße einbiegen. Sie hört die Haustüren ihrer Nachbarn auf- und zugehen. Raschelnde Einkaufstüten, klimpernde Schlüssel und wie sie ruhig – andere Leute sind immer so ruhig – mit ihren Kindern, ihren Ehepartnern und ihren Hunden sprechen.
»Er hat vermutlich nur irgendwo auf dem Heimweg von der Arbeit angehalten«, sagt Libby, ihre Schwester. Sie ist zehn Monate jünger als Sara und oben bei den Kätzchen. Die sind fünf Wochen alt und schlafen in einer Kiste. »Du flippst jedes Mal aus. Aber es ist immer alles in Ordnung.«
»Er kommt nie so spät«, sagt Sara und sieht wieder auf die Straße hinaus.
Draußen in den Bäumen zwitschern Vögel, vielleicht Schwalben. Oder Meisen. Auf dem Gehweg laufen zwei Jogger vorbei. Die Studenten, die sich das große Eckhaus teilen, zünden auf der Veranda einen Grill an. Der blaue Pick-up ihres Vaters taucht nicht auf.
Sie kann das Abendessen riechen, das im Nachbarhaus auf dem Herd steht, dem grauen Gebäude mit der zum Wintergarten umgebauten Veranda und dem weißen Zierstreifen auf der Fassade, in dem die neuen Nachbarn mit ihrem Baby wohnen, diese Professoren, wie ihr Vater sie nennt, diese Professoren, die die Kiefer umgesägt haben, die so viele Jahre zwischen den beiden Häusern gestanden hatte, so lange, wie ihr Vater zurückdenken kann, seit vor seiner Geburt, fünfunddreißig Jahre bevor die Mädchen zur Welt gekommen sind. Immer wieder sagt ihr Vater: Das war unser Baum. Und er bleibt oft stehen und betrachtet den Stumpf. Sie hatten kein Recht, ihn zu fällen.
Am Himmel verblasst das letzte Licht. Die ersten Insekten prallen gegen das Fliegengitter.
Wenn sich ihre Brust so eng anfühlt wie jetzt gerade, kann sie nicht immer genau sagen, ob es am Asthma liegt oder an ihrer Stimmung. Sie fischt den Inhalator aus ihrem Rucksack. Zwei kurze Pumpstöße.
Erneut schaut sie zur Uhr an der Mikrowelle. Er ist eine Stunde und zehn Minuten zu spät.
Und dann endlich: das Knirschen von Reifen auf Kies und das beruhigende Grummeln des undichten Auspuffs.
Sie öffnet die Vordertür. Wie häufig scheint alles auf eine Katastrophe hinauszulaufen, und dann passiert doch nichts.
»Wir hatten Hunger«, sagt sie und zeigt ihrem Vater nicht, wie froh sie ist, ihn zu sehen. Sein brauner Bart wird allmählich grau, sein blaues Arbeitshemd ist abgewetzt. »Ich habe für Libby und mich Sandwiches gemacht.«
Ihr Vater schlägt die Tür des Trucks zu.
»Und die Katzen haben wir auch schon gefüttert.« Sie tritt barfuß auf den splitternden Holzboden der Veranda hinaus.
»Komm nicht hierher«, sagt er.
Sie macht keinen Schritt weiter. Er kann wütend werden. Richtig wütend. Aber normalerweise hat er einen guten Grund dafür. Sie wartet auf eine Erklärung. Er gibt ihr keine.
Statt hereinzukommen, läuft er ums Haus herum in den Garten. Seine Arbeitsstiefel knirschen laut auf dem Kies, während er durch das Dämmerlicht hetzt.
Hastig wickelt er den Gartenschlauch ab und dreht den Wasserhahn auf.
Sara öffnet die Hintertür. »Was tust du da?«, ruft sie ins Halbdunkel und hört, wie das Wasser aus dem Schlauch auf die Erde spritzt.
»Bring mir Seife«, sagt er, während er sein Hemd aufknöpft. »Und ein Handtuch. Schnell.«
Sofort schießt wieder Adrenalin durch ihren Körper. In der Badewanne liegt ein kleines Stück Seife. Ein Handtuch findet sie im Trockner, wo sie immer ihre saubere Wäsche aufbewahren, anstatt zusammengefaltet in Schubladen.
»Was macht er da draußen?«, fragt ihre Schwester. Das winzigste Kätzchen, ein Kater, liegt zusammengerollt auf ihrer Hand und zeigt mit weit aufgerissenem Maul seine scharfen Zähne. Sein leiser Schrei ist fast nicht zu hören.
»Ich weiß nicht«, sagt Sara. »Keine Ahnung, was er tut.«
Dann ist sie wieder unten und beobachtet ihren Vater durch das Fenster.
Das Fliegengitter und das Zwielicht erschweren die Sicht, und er hat sich mittlerweile in die entlegenste Ecke des Gartens zurückgezogen, wo er hinter den Kartoffeln und Kürbissen steht. Aber als sie genauer hinsieht, erkennt sie, dass ihr Vater fast nackt ist.
Er trägt nur noch seine Boxershorts und hält sich den Gartenschlauch über den Kopf.
Unter dem fließenden Wasser sieht seine Brust ausgemergelt aus, und der Bart klebt ihm flach am Kinn. Seine restlichen Kleidungsstücke liegen auf der Erde verstreut, wie von der Leine gefallene Wäsche.
Sara sieht die neuen Nachbarn in der Küche sitzen. Auf ihrem Tisch stehen glitzernde Weingläser, und die Frau hat das Baby auf dem Arm. Sara möchte ihrem Vater sagen, dass sie ihn sehen können. Diese Frau kann dich sehen. Aber sie traut sich nicht, den Mund aufzumachen.
»Ich brauche die Seife«, sagt er. Über das Zirpen der Zikaden hinweg hört sie ihn in der Dunkelheit zittern. Zwischen den Gemüsebeeten blinken ein paar Glühwürmchen. »Komm mir nicht zu nah«, sagt er. »Wirf sie einfach herüber.«
Als die Seife durch die Luft segelt, gerät sie in den Schein des Verandalichts ihrer Nachbarn. Die Frau sieht zu ihnen her.
»Geh wieder rein«, sagt ihr Vater. »Sofort.«
Er schrubbt sein Gesicht fest mit der Seife ab. Er schrubbt die Arme, die Beine und die Hände, ganz besonders die Hände. Sie ist an die Einfälle ihres Vaters gewöhnt, und ihr ist bewusst, wie sehr sie sich von denen anderer Leute unterscheiden, aber jetzt bekommt sie es wirklich mit der Angst zu tun. Vielleicht hat er etwas angestellt. Vielleicht ist das der Grund, warum er sich von Kopf bis Fuß wäscht.
Neben ihr knarzt der Boden – ihre Schwester stellt sich neben sie, ihre Füße stecken in Socken. »Was soll denn das?«, fragt Libby.
In diesem Moment ist Sara froh, dass es ihre Schwester gibt, ihre braunen Augen, ihre klare Stimme und die Marienkäferstecker, die sie immer in den Ohren trägt. Die Schwestern glauben, dass sie ihrer Mutter gehört haben, wissen es aber nicht genau. Sara ist sogar froh über den Brezelgeruch in Libbys Atem, ganz einfach dafür, dass sie an ihrer Seite ist.
Eine ganze Weile stehen sie ohne zu sprechen nebeneinander und beobachten ihren Vater durch die Fensterscheibe, so wie sie abends manchmal Waschbären dabei zusehen, wie sie sich mit ihren merkwürdigen winzigen Händchen säubern.
Immer wieder fragt Libby, was ihr Vater da draußen mache, und jedes Mal schüttelt Sara den Kopf. Sie könnten fast Zwillinge sein. Das ist es, was die Leute über die zwei Schwestern sagen, die so kurz hintereinander geboren wurden, mit weniger als einem Jahr Abstand – und deren Mutter gestorben ist, bevor sie vier waren.
Endlich dreht ihr Vater den Gartenschlauch ab. Endlich hebt er das Handtuch vom Boden auf. Zuletzt stopft er noch seine Kleidungsstücke in den Abfall hinter dem Haus. Ihr Vater, der nie etwas wegwirft, entsorgt seinen guten braunen Gürtel im Mülleimer. Er steckt immer noch in den Schlaufen seiner Jeans.
Er will nicht darüber sprechen. Zumindest nicht gleich.
»Ich muss nachdenken«, sagt er und hebt die Hand, wie um eine Menschenmenge zurückzuhalten. Mit dem Handtuch um die Hüften sitzt er vorgebeugt am Küchentisch. Aus seinem Bart tropft Wasser auf das Linoleum, wie aus jedem Hahn im Haus. Sämtliche Installationen sind ein wenig marode, und das ganze Haus fällt allmählich auseinander. »Lasst mich nur einen Moment lang überlegen«, sagt er.
Er scheucht die Mädchen aus der Küche, und Libby geht hoch zu ihren Kätzchen, aber Sara entfernt sich nicht weit von ihrem Vater, sondern wartet im Nebenzimmer darauf, was er sagen wird.
Fernsehen beruhigt sie. Nicht die Sendungen an sich, sondern die Stimmen, die Leute, das Wissen, dass sie nicht allein Glücksrad anschaut, nicht wirklich, weil gleichzeitig auch Tausende anderer zusehen, ein riesiges Netzwerk aus Menschen. Während sie vor dem Fernseher sitzt, kann sie sie fühlen und sich einbilden, dass die Verbindung in einer Krisensituation auch in die Gegenrichtung funktionieren würde und die anderen sie sehen und ihr Hilfe schicken könnten.
Über das Ticken des langsamer werdenden Glücksrads hinweg hört sie, wie die Finger ihres Vaters auf den Küchentisch trommeln. Er macht eine Dose Bier auf. Vom Wohnzimmer aus versucht Sara die Geräusche, die ihr Vater macht, zu deuten und herauszufinden, was ihm durch den Kopf geht: das Scharren seines Stuhls, sein Seufzen und die Art, wie er trinkt. Je leerer die Dose wird, desto leiser ist das Geräusch, mit dem er sie auf dem Tisch abstellt.
Als das Telefon läutet, rührt sich ihr Vater nicht. Sara ignoriert den Anruf, aber ihre Schwester geht dran. Gleich darauf kommt sie zu ihr heruntergelaufen. »Ein Junge will mit dir sprechen«, flüstert sie ihr ins Ohr.
Schlagartig verspannt sich Saras ganzer Körper. Sie wird nicht oft angerufen – und bislang noch nie von einem Jungen.
Sie merkt, wie ihre Stimme zittert, als sie in den Hörer spricht: »Hallo?«
»Sara?«, fragt der Junge. »Ich bin’s, Akil.«
Akil: Sie ist überrascht und erfreut. Akil ist neu an ihrer Schule. Er spielt Saras Ehemann in dem Theaterstück Unsere kleine Stadt.
»Hey«, antwortet sie, aber sie atmet zu laut. Sie ist sich nicht sicher, wie man solche Unterhaltungen führt.
»Ist das deine Handynummer?«, fragt er. Dieser Junge hat eine förmliche Art zu sprechen, mit einem ganz leichten Akzent, der fast britisch klingt, aber sie hat ihn sagen hören, dass seine Familie aus Ägypten stamme und sein Vater Professor für irgendetwas sei. »Ich wollte dich auf dem Handy anrufen«, sagt er.
»Oh, ich habe gar keins.« Kaum sind die Worte heraus, bereut sie sie bereits. Weshalb stößt sie ihn noch extra mit der Nase darauf, wie seltsam sie ihren Mitschülern vorkommen muss?
»Oh«, entgegnet er.
Libby beobachtet sie und bemüht sich zu verstehen, was am anderen Ende gesprochen wird.
»Wie auch immer«, sagt er und räuspert sich. Während dieser kurzen Pause bekommt sie plötzlich große Sehnsucht. »Weißt du, wann morgen die Probe beginnt?«
Sie wird rot vor Verlegenheit – das ist also der Grund seines Anrufs.
»Ich habe vergessen, es mir aufzuschreiben«, erklärt er.
Das Gespräch dauert keine zwei Minuten, und anschließend holt sie die Realität in ihrem Haus wieder ein: ihr Vater mit diesem Handtuch am Tisch, der Ausdruck in seinen Augen und wie er sich weigert zu erklären, was los ist.
Im Hintergrund läuft immer noch Glücksrad. Ein Worträtsel ist gelöst, und sofort wird das nächste gestellt. Auf einmal merkt sie, dass ihre Kiefergelenke wehtun und wie fest sie die Zähne zusammenbeißt.
Endlich spricht ihr Vater. »Sara«, ruft er aus der Küche. Sie spürt einen Funken Hoffnung. Nun wird er alles erklären und die Einzelteile zu einem Gesamtbild zusammenfügen.
»Ich möchte, dass du nach unten gehst«, sagt er, »und nachzählst, wie viele Gallonen Wasser wir haben.«
Jetzt weiß sie, dass etwas Schreckliches geschehen ist.
Der Keller: Sie hasst den Keller. Er steht für alles, was schiefgehen kann. Hier heben sie die Lebensmittelkonserven auf, von denen sie sich ernähren werden, wenn ein atomarer Winter kommt. Das Wasser, das sie trinken, wenn alle anderen keins mehr haben. Munition zum Eintauschen, sobald das Geld seinen Wert verliert. Und auch die Gewehre, mit denen ihr Vater all das Essen, das Wasser und die Munition verteidigen wird, wenn jemand kommt, um sie zu stehlen.
Sie kann sich kaum vorstellen, wie sie hier unten schlafen sollen, mit den nackten Glühbirnen und den Spinnen, dem erdigen Geruch, der in der Luft hängt, und einem einzigen kleinen Fenster, das vernagelt ist. Doch für alle Fälle lagern in einer Ecke drei aufeinandergestapelte Liegen mit Decken und Kissen.
Als sie vor den Wasserbehältern an der hinteren Kellerwand steht, zittern ihre Hände. Sie zählt langsam. Zweimal hintereinander.