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Ein martialischer aber sehr humorvoller, historischer Roman aus dem 15. Jahrhundert. Die Ritter dieser Zeit schlagen und vertragen sich bis plötzlich ein Wanderprediger auftaucht ...
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Seitenzahl: 580
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Die Trutze von Trutzberg
Ludwig Ganghofer
Inhalt:
Ludwig Ganghofer – Biografie und Bibliografie
Die Trutze von Trutzberg
Die Trutze von Trutzberg, Ludwig Ganghofer
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
Loschberg 9
86450 Altenmünster
ISBN:9783849614669
www.jazzybee-verlag.de
Vor dem Altarstein unter der alten Linde, deren Blätter noch feucht waren vom Tau des schönen Morgens, stand der Wanderpfaff in weißem Chorhemd und mit schwarzem Barett, sah entrückten Auges über die kleine andächtige Gemeinde hin, die sich im Burggärtlein des Trutzberges um ihn gesammelt hatte, und hielt die Sonntagspredigt.
»Wahrlich, ich sag' euch, ihr guten Christenkinder: alles vermag eine fromme Seel' zu erfechten mit festem Glauben, bloß mit dem Willen allein, wenn's nur der rechte ist! Wer mit bösem Willen den Höllenweg beschreitet, wird hinkommen, wo der Teufel hauset. Doch wer mit rechtem Willen hintrachtet zu Gott, wird eingehen in das liebe Himmelreich!«
Die Stimme des Predigers war rauh – und dennoch klang sie lind in Morgensonne und Frühlingsluft.
Eine wundersame Frühe schimmerte um die mächtige Linde her, überglänzte die Mauern des alten Edelsitzes und umfunkelte die Wetterfähnlein der steilen Giebel und die Kupferknäufe der spitzdächigen Wehrtürme. Dunkelblaue Schatten und gleißende Sonnenflecken woben sich auf dem Rasen zu einem zaubervollen Teppich ineinander. Jeder Blumenkelch war wie ein blitzender Edelstein, den ein farbiges Ringlein umschloß. An der tiefer liegenden Wallmauer hatten die Zinnenscharten strahlende Säume, und die Dächer des Schützenganges blinkten, als wären sie belegt mit goldenen Platten.
Immer krähte ein Hahn. Rauschende Taubenschwärme schwangen sich von den Türmen in das noch schattige Bachtal hinunter, aus dem der steile, von einem Buchenwald umschlungene Trutzberg emporstieg in das Blau. Und eine weite Ferne zitterte im Farbensegen dieser feiertäglichen Frühlingsfrühe. Gegen Süden stand, vom Gemäuer der Burg durchschnitten, die lange blaue Wand der Berge mit noch weißen Gipfeln. Den Ausblick gegen Westen verdeckte die von Sonne umbrannte Mauer des Söldnerhauses. Nach Osten – drüben über dem Wiesental, dessen Bach die Grenze zwischen den beiden nachbarlichen Edelsitzen bildete – stiegen aus sanft emporgebuckelten Wäldern die bescheidenen Mauern des Puechsteins auf, fast unerkennbar im blendenden Glanz der Morgensonne. Und gegen Norden sah man über Wiesen und flachgewordene Wälder weit hinaus zu bräunlichen Moorgefilden und zu einem dunklen Forst, hinter dem ein großer See gleich einem mächtigen Silberschilde funkelte.
»Nur wollen mußt du, gläubige Christenseele!« klang die Stimme des Predigers unter der alten Linde. »Nur wollen! Recht aus dem tiefsten Herzen wollen! Und das Wunder ist geschehen. Und eh noch deine blinden Erdenaugen des kostbaren Sieges merkhaft werden, hat dein frummer Wille dir ein goldenes Leiterlein gebaut bis hinauf ins erdürstete Himmelreich.«
Von den hundert Christen, zu denen dieser Verkünder des allmächtigen Seelenwillens redete, lauschten die meisten mit gläubiger Andacht. Ihre Gesichter brannten heiß. In jedem Auge war ein träumender Wunsch, ein dürstender Wille, der auf Erfüllung hoffte. Aber nicht alle von diesen Wünschen flogen dem Himmelreiche zu.
Vor dem Prediger waren sechs mit rotem Samt beschlagene Faltstühle in das blumige Gras gestellt.
An der einen Ecke dieser Stuhlreihe, in einem Sessel, der um ein Erkleckliches breiter war als die anderen, ruhte sehr bequem, doch mit angespannter Nachdenklichkeit der Burgherr Melchior Trutz von Trutzberg, eine klobige, schwer ins Breite rinnende Gestalt. Er war sonntäglich in seine Hausfarben Grün und Rot gekleidet, mit Samt und Seide; aber dieses kostbare Gewand sah unordentlich und gar nicht sauber aus. Das graue Langhaar struwelte sich wirr um das gutmütige, schon etwas schwammige Bartgesicht, dem man es anmerken konnte, daß Herr Melcher ein Freund von behaglicher Ruhe und guten Schüsseln war. Früher hatte der Trutzberger als ein gefährlicher Fechter gegolten. Das war anders geworden, seit er bei einem Fehdegang den Mittel- und Zeigefinger der rechten Hand verloren hatte. Diesen Schaden pflegte er in einem ledernen Fäustling oder, wie eben jetzt, im Brustschlitz seines Wamses zu verstecken – wer diese Hand faßte, an der so viel Nötiges abgängig war, spürte immer ein gelindes Gruseln.
Reich begütert und wenig berührt von den Nöten der harten Zeit, in der die Christenheit an der fernen Donau drunten wider die Türken focht, zählte Herr Melcher das Denken nicht zu seinen Liebhabereien und ließ an seinen umfangreichen Gürtel immer nur jene Sorge herankommen, die eine Frage der nächsten Tage war und seine eigene Schüssel bedrohte. Eine solche Sorge lastete in dieser schönen Sonntagsfrühe auf seiner Seele. Seine nördlichen Nachbarn, die händelsüchtigen Brüder Peter und Heini von Seeburg, verursachten dem Trutzberger viel Verdruß. Gestützt auf ein altes, unklares Pergament, das sie durch Zufall aufgestöbert oder – nach Meinung von Herrn Melchers mißtrauischer Hausfrau – etwa gar gefälscht hatten, erhoben sie Anspruch auf den Jagdbann, den die Trutzischen in den wildreichen Seeforsten über die hundert Jahre als ritterliches Recht besaßen. Schon seit dem Winter wurde vor dem herzoglichen Gerichtshof zu München über diesen Streithandel hin und her geredet. Wohl hatte man die Brüder von Seeburg noch nie bei einem verfrühten Einfall in den Jagdbann der Seeforste betroffen; doch bei der letzten Netzjagd auf Rehwild und Butterhasen hatte Herr Melcher die unliebsame Entdeckung gemacht, daß des Gewildes ganz erschrecklich weniger geworden. Wenn diese heimliche Räuberei der Seeburger so weiterging, waren die Seeforste wildleer, bevor noch zu München ein Spruch in der strittigen Sache gefällt wurde.
Und als nun der Wanderpfaff so kraftvoll und überzeugend von der wunderwirkenden Macht des christlichen Willens redete, setzte Melcher von Trutz alle Stärke seines Willens nicht auf das Himmelreich, sondern auf dieses zunächst erstrebenswertere Ziel: daß er seinen Prozeß vor dem herzoglichen Gerichtshof gewinnen, oder daß ein hilfreicher Teufel die beiden Seeburger holen möchte. Ins Himmelreich hoffte Herr Melcher natürlich auch zu kommen. Später.
Neben dem Burgherrn saß mager, lang und steif seine Hausehre, Frau Angela, in einem apfelgrünen Kleid, mit kirschroter Haube und weißer Kinnbinde. Diese Tracht war vor zwanzig Jahren Mode gewesen, als man anno Domini 1425 geschrieben hatte. Doch dieses Kleid, das schon bei tausend Sonntagsfeiern und sonstigen Festlichkeiten seine Schuldigkeit getan hatte, sah noch immer aus, als wär' es erst kürzlich aus der Hand eines reinlichen Schneiders hervorgegangen. Kein Wunder, daß Herr Melcher an der Seite einer so sparsamen Hausfrau trotz seiner eigenen Schlamperei und Gefräßigkeit ein vermöglicher Burgherr geworden war und eine schier unzählbare Menge von jenen gelben Flöhen bewahrte, welche klingen, wenn sie hüpfen.
So unbeweglich Frau Angela während der langen Predigt saß, so ruhelos war sie als Hausfrau, war Tag und Nacht auf den Beinen, immer mißtrauisch, immer gereizt. Von der friedlos aufgerührten Galle hatte sie ein gelbes Gesicht bekommen. Frau Angela war alles, nur das eine nicht, was ihr Name besagte: ein Engel. Mit harten Händen meisterte sie das zahlreiche Gesinde und ärgerte sich täglich siebenmal über ihren Mann und über die Unordnung, die er im Haus verursachte. Sie liebte das Sprichwort: »Ein Fleck auf der Wad (Kleidung) ist ärgerer Schad als ein Teufelsrat.« Und während der Predigt von der Wunderstärke des rechten Willens lichtete Frau Engelein alle Kraft ihrer Christenwünsche nur auf dieses Ziel: ihrem Melcher die verschwenderische Unsauberkeit auf seine alten Tage noch abzugewöhnen und dann in Bälde herauszubringen, welcher Eierschlecker unter dem Burggesinde daran schuld wäre, daß die vierundsiebenzig Trutzbergischen Hennen in diesem Frühjahr weniger Eier legten, als es die fünfundsechzig Hennen des vergangenen Jahres löblicherweise getan hatten.
An der anderen Ecke der Sesselreihe saß als Flügelmann Herr Korbin zu Puechstein, mit Schwert und Dolchgehenk, mit blauem Stahl gerüstet; trotz der friedsamen Stunde trug er so viel Eisenzeug, daß von seinen Hausfarben Gelb und Grün, die darunterstaken, nicht viel zu sehen war. Nur den Helm hatte er abgelegt. Noch nicht alt, kaum ein paar Jährchen über die Vierzig, war er schon ergraut, geselcht und gerunzelt in einem abenteuerlichen Kriegsleben. Von Mittelgröße, sehnig und aus festen Knochen gebaut, hatte er einen kurzhaarigen Steinschädel und ein sonnverbranntes, spöttisches, glattrasiertes Gesicht mit klugen Augen. Die Predigt von der Macht des Willens begann ihn zu erheitern, weil er sah, daß der Prediger um so heftiger schwitzte, je leidenschaftlicher seine Worte klangen. Als Herr Korbin dieses Zeitvertreibes – den abspritzenden Schweißtropfen des Wanderpfaffen nachzugucken – schließlich müde wurde, dachte er wieder an die Botschaft, die er des Morgens bei seiner Ankunft auf dem Trutzberg vernommen hatte: daß man an der Donau erbittert kämpfte, und daß die von Johann Hunyady dem ungarischen Statthalter, geschlagenen Türken unter Mogul Murad mit verstärkten Heeresmassen gegen die österreichische Christenheit heranrückten. Der Puechsteiner dachte an diese Dinge, wie man Sperlinge fliegen sieht. Aber lieber wär' es ihm doch gewesen: an der Donau wider die Türken zu fechten, als im Trutzbergischen Gärtlein die lange Predigt hören zu müssen.
Neben ihm saß seine andächtig lauschende Gattin, Frau Scholastika, in blauem Reitgewande, bei aller Sparsamkeit sehr schmuck gekleidet, mit hoher Spitzhaube, von der die Schleierbänder lang herunterhingen. Obwohl sie nur um wenige Jahre jünger war als ihr Gatte, glich sie in ihrer lind gerundeten Gestalt und mit dem etwas vergrämten Schmalgesicht noch immer einem Mädchen, das durch ermüdende Zeit des fernen Bräutigams hatte warten müssen. Seit achtzehn Jahren war sie vermählt. Doch wenn sie die Tage zusammenzählte, die Herr Korbin seit der Hochzeitsnacht unter dem Dache der Puechsteiner Burg verbracht hatte, kamen keine anderthalb Jahre heraus. In diesem Frühling schien es aber, als wollte Herr Korbin seßhafter werden. Weil er des Reitens und Fechtens im Dienste wechselnder Fürsten müde geworden? Oder weil er bei den unruhigen Zeiten in Sorge war um die Sicherheit seiner verwahrlosten und spärlich begüterten Burg? Oder hatte ihn gelegentlich einer Heimkehr, die nicht lange dauern sollte, der muntere Liebreiz seines aufsprossenden Töchterleins im Bannkreis des Puechsteines festgehalten?
So oder so, Frau Schligga – wie Herr Korbin sein Hausehre zu nennen pflegte, für deren langen Namen Scholastika seine Zunge zu ungeduldig war – Frau Schligga befand sich in einem Zustande von gehobenem Glücksgefühl, weil sie sich der Einsamkeit und einer bitteren Haussorge halb entrissen sah. Sie vergötterte ihren Mann, ließ ihm die scharf gewürzten Speisen kochen, die er liebte, ließ ihn trinken als Zecher und Ehemann, solang er Durst hatte, und wagte nie von der drohenden Stunde zu sprechen, die Herrn Korbin wieder aus dem Burgfrieden des Puechsteins entführen würde. Drum vereinigte sie bei der Predigt des Wanderpfaffen heiß und seelenvoll alle Kräfte ihres Willens auf dieses einzige: daß der liebe, allmächtige Gott den Ritter Korbin für immer und ewig an der Seite seiner getreuen Hausehre festhalten möchte.
Zwischen den beiden ungleichen Müttern saßen ihre zwei Kinder: das verlobte Pärchen Eberhard und Hilde. Frau Schligga hatte nur diese einzige Tochter, die zehn Monate nach der Hochzeitsfeier der Puechsteinischen zur Welt gekommen war, während der Vater schon wieder bei einem Kriegshandel der bayerischen Herzöge als adeliger Söldner diente. Zur Beschaffung weiterer Mutterfreuden für Frau Scholastika hatte die knappe Zeit des Herrn Korbin nicht ausgereicht. Dagegen hatte Frau Angela von Trutzberg in dreißig Jahren wohl sieben Kinder geboren, doch sechse waren an Krankheiten gestorben, für deren Kur die Hausmittel dieser sparsamen Mutter nicht ausreichen wollten. Nur Jungherr Eberhard, der sich immer hartnäckig gegen den Gebrauch der mütterlichen Arzneien gesträubt hatte, war am Leben geblieben und zählte jetzt vierundzwanzig Jahre. Vor zehn Sommern, als er im Alter von vierzehn Jahren sein letztes Geschwister begraben und seinen ersten Hasen gehetzt hatte und Jungfrau Hilde von Puechstein als siebenjähriges Mägdlein das Lesen und Schreiben lernte, hatte man – um die beiden Edelsttze, die vor hundert Jahren ein ungeteiltes Herrengut gewesen, wieder zu vereinigen – die beiden Kinder verlobt und in geistlicher Ehe verbunden, mit der Bestimmung, daß diese Himmelsehe an Hildes achtzehntem Geburtstag auf irdische Weise vollzogen werden sollte. Dazu hatte man ein mit heiligen Eiden beschworenes und mit vielen Siegeln belastetes Testament errichtet: wenn Bräutigam oder Braut nach Gottes unerforschlichem Ratschluß das Zeitliche vor dem irdischen Vollzug der himmlischen Ehe segnen müßte, so sollte der überlebende Teil des Brautpaares das gemeinsame Kind der beiden zu Schutz und Wehr verbündeten Ehepaare sein und Erbe von Trutzberg und Puechstein werden.
Der Inhalt dieses unerschütterlichen Pergamentes zeitigte späterhin die üble Folge, daß in der mißtrauischen Seele der Frau Angela der Verdacht erwachte, als hatte ihr Söhnlein Eberhard von den Puechsteinischen die übelsten Gefahren für sein kostbares Leben zu besorgen. Aber Herr Korbin und Frau Scholastika waren redliche Leute, und Jungfrau Hilde benahm sich gütig und schwesterlich gegen ihren Bräutigam und Seelengatten. Der Verdacht, der sich im galligen Gemüt der Frau Engelein immer wieder bemerkbar machte, hatte seinen Urgrund nur darin, daß sie trotz aller Liebe zu dem ihr einzig verbliebenen Sohn den großen, für ein kommendes Eheglück bedrohlichen Unterschied nicht übersehen konnte, den jeder flüchtige Blick an den beiden Verlobten gewahren mußte.
Jungherr Eberhard – mit schiefen Tuchstreifen in Grün und Rot gekleidet – war eine sonderbare Mischung aus Vater und Mutter. Die untere Hälfte glich der langen, mageren Frau Angela, die obere Hälfte dem in die Breite wachsenden Vater. Ein hartgesträhntes, glanzloses Blondhaar umhing das gepolsterte Antlitz, das ihm Herr Melchior Trutz vererbt hatte. In diesem Gesichte funkelten die langwimprigen, unruhigen Augen der Mutter – Augen wie gelbbehaarte Hummeln, die immer davonfliegen wollten und nicht von der Stelle kamen, weil sie im Honig klebten.
Eberhard war herangewachsen wie andere Jungherren, mit der Peitsche in der rechten Hand, mit dem Sperber auf der linken Faust. Kein guter und kein böser Mensch, so einer von der Mittelstraße, fand er neben der ritterlichen Schulung im Waffengebrauch und Weidwerk noch reichliche Zeit für andere Dinge, bei denen die Mutter ihm allzu flinke Fortschritte nicht vergönnen wollte. Sonst ein fröhlicher, zu Streichen aufgelegter Kunde, war Eberhard vor einiger Zeit ein übelgelauntes Menschenkind geworden. Dieser bedauerliche Wandel hatte begonnen, seit Frau Angela, eine Gewohnheit ihrer ersten Ehejahre wiederholend, alle jungen Mägde aus der Burg entfernte und nur noch alte Jungfern und verwitwete Weiblein im Dienste behielt. Und des Schäkerspiels mit den drallen Bauerntöchtern in den Dörfern der hörigen Leute war der Jungherr überdrüssig geworden, seit ihn zwei vermummte Bauernburschen in einer Frühlingsnacht so unbarmherzig verprügelt hatten, daß er die Kratzwunden und blauen Male viele Wochen an sich herumtrug und zum erstenmal einiges Vertrauen zu den Salben der Frau Angela gewann.
Diese schmerzliche Lebenserfahrung fiel für Eberhard zusammen mit der Beobachtung, daß seine Brautgemahlin nach ihrem sechzehnten Lebensjahr aus einem hager aufgeschossenen Kind zu einem reizvollen und maienhaften Mägdlein zu erblühen begann. Und da bekehrte sich der mieselsüchtige Grobian plötzlich zu milden und freundlichen Sitten, nahm höfische Gebärden und zierlich gedrechselte Redewendungen an, trug hübsche Blumensträußchen zum Puechstein hinüber, drehte mit zärtlicher Geduld den Garnhaspel seiner heiteren Braut und machte in schlaflosen Mondscheinnächten Verse, die etwas feiner, doch sehr viel länger waren als die gesunden Vierzeiler der verliebten Bauernburschen. Bei jeder neuen Begegnung mit Fräulein Hilde hing ihm die Sehnsucht seines zum Besseren gewandelten Herzens mit gesteigerter Melancholie aus den dürstenden Hummelaugen heraus, mit jedem neuen Monat wurde der Hunger seines zur Karenz verdammten Blutes immer quälender. Und als er nun in dieser zaubervollen Frühlingsfrühe den Wanderpfaffen von der siegreichen Kraft des rechten Christenwillens predigen hörte und dabei immer die schmucke, reizumflossene Mädchenknospe an seiner Seite sah, richtete er alle Willensmacht nur auf den einen Gedanken: wie er den Tag der weltlichen Vermählung beschleunigen und das heiß ersehnte Himmelreich seines Lebens etwas rascher gewinnen könnte, als es ihm die gesiegelten Pergamente versprachen.
Während in der christlichen Seele des Jungherrn die Bilder solcher Himmelserfüllung glänzten, lauschte seine siebzehnjährige Brautgemahlin still und ahnungslos, andächtig und fröhlichfromm den feurigen Worten des Predigers. Sie dachte nur des wahren Himmelreiches da droben über dem schönen Blau, dem ihre Seele nach einem gottergebenen Leben dereinst entgegenfliegen würde. Von den kostbaren Gütern und Freuden der Erde wußte sie wenig. Die häusliche Knappheit, die auf dem Puechstein herrschte, hatte sie zur Genügsamkeit erzogen. Im Winter galt ihr das Schimmern der Schneekristalle als das schönste aller Dinge, und im Frühling und Sommer nahm sie jeden grünen Baum, jede Blume, jede schwergewordene Ähre und jeden Sonnenblitz auf gleitendem Wasser für das höchste Wunder in Gottes Schöpfung. Was ihr die Mutter, der selten heimkehrende Vater und die gealterten Puechsteinischen Knechte erzählten, das war alles, was sie vom Treiben der Welt erfuhr. Lesen und Schreiben, Reitschule und Kleidernähen, häusliche Arbeit, Sticken, Spinnen und Weben füllten ihre frohen Tage, ein fester Schlaf ihre Nächte. Brautstand und Himmelsehe hatten noch keinen Schatten auf ihre erblühende Jugend geworfen. Sie wußte: so war es, so ist es, und so wird es bleiben. Solcher Wahrheit, die als ein Gesiegeltes vor ihr stand, brauchte sie mit keinem aufgeschreckten Gedanken nachzuspüren. Jene Taten, mit denen Eberhard noch vor Jahresfrist die beiden Mütter in heftigen Zorn versetzt hatte, wurden vor Hilde verschwiegen. Zu beunruhigenden Vergleichen fand sie keine Gelegenheit – eine Braut bleibt sittsam zu Hause, geht nicht zu Hof und nicht zu Festen. Drum sah sie ihren Bräutigam und Seelengatten noch immer als den gleichen, den sie vor zehn Jahren gesehen hatte, damals in jener feierlichen Stunde, in der sie, scheu verlegen, mit halbem Verständnis und doch ein bißchen stolz auf das heilige Kränzlein in ihrem Haar, die zarte Kinderhand in die knochige Bubenfaust des reichgekleideten Jungherrn gelegt hatte. Damals trug er eine Goldkette um den Hals, einen toledanischen Degen am Gürtel, einen großen Siegelring am Zeigefinger der rechten Hand. Beim Hochzeitsmahl erzählte er von seiner ersten Hasenhetze und tat immer einen festen Trunk, sooft er dem Bräutlein, das nur Milch bekam, mit dem silbernen Becher zuwinkte. Darüber, daß ihm bald nach der Mahlzeit so entsetzlich übel geworden, war sie sehr erschrocken. Die Jahre hatten die Erinnerung an dieses unreinliche Bild in ihr verwischt. Und einer Frau muß doch ihr Mann gefallen! Nun hatte sie auch die hellen Mädchenaugen, mit denen sie sehen konnte, was sie früher als Kind nicht bemerkt hatte: wie höflich, wie galant und dienstbeflissen er war. Das gesiel ihr. Bei jedem Zusammensein war sie munter und schwesterlich gut zu ihm. Manchmal erschrak sie ein bißchen vor seinen sonderbaren Augen und wußte nicht, was diese Blicke ihr sagen wollten. Doch es war wohl so in der Welt: daß junge Frauen immer ein bißchen zittern müssen vor ihren Männern. War's nicht auch bei ihrer Mutter so? Freilich, auf dem Trutzberg schien Herr Melchior der Schwächere zu sein, und Frau Angela blieb ohne Furcht.
Den Trutzbergischen Farben zu Ehren trug Hilde ein grünes, kirschrot gesäumtes Reitkleid, das den knospenden, von ungelösten Lebenskräften flüsternden Mädchenkörper mit linder Glätte umschloß. Ein Kränzlein aus roten Nelken lag um das reiche, straffgezopfte Braunhaar, und viele braune Ringelchen überschatteten die Stirn und die dunkelblauen, in Ruhe fröhlichen Augen. Die schwellenden Kinderlippen waren beim Lauschen ein wenig geöffnet, und über dem zart gerundeten, bei allem Frohsinn seltsam strengen Gesichtchen spielten die Blätterschatten der Linde und die das Laub durchdringenden Sonnenlichter. Unbeweglich lagen die gefalteten Hände im Schoß, und das lauschende Köpfchen, einer von Tau beschwerten Blume gleichend, war nach vorne gebeugt. Gierig hingen die Hummelaugen des Jungherrn an der feingeschwungenen, reizvollen Nackenlinie, die sich unter dem roten Nelkenkranz hervorsenkte und umschleiert war von dunklen, im sanften Windhauch zitternden Löckchen. Ihres Verlobten und Seelengatten schien Hilde bei Gottes Wort vergessen zu haben. Während sie der Wunderbotschaft von der Macht des christlichen Willens lauschte, war in ihrem stillen Blick ein gläubiges Träumen von seligen Ewigkeiten eines Glückes, das ohne Körper, ohne irdisches Leben und ohne Namen war.
Fast der gleiche Blick einer ziellosen Sehnsucht, wie er in diesen gläubigen Mädchenaugen glänzte, war in den Augen der hörigen Leute, der Bauern und Bäuerinnen, die aus dem Burgdorf heraufgestiegen waren, um in ihrem harten Leben einen Trost und die Verheißung eines Himmels zu vernehmen, den sie sich so ähnlich vorstellten wie das Schlaraffenland mit unerschöpflichen Weinbrunnen und gebraten umherfliegenden Speckvögelchen. Steifknochig und in armseligem Sonntagsputze knieten sie an der Mauer entlang und in den Winkeln des Burggartens. Näher hatten sie sich an die Herrenleute nicht herangewagt.
Zwischen arm und reich, auf dem Rasen hinter den sechs Faltstühlen, knieten und saßen die vier grauköpfigen, in Grün und Gelb gekleideten, leicht gerüsteten Geleitsknechte des Puechsteiners und die vielen Burgleute des Herrn Melcher, unter Führung des langen, mageren Sergeanten Kassian Ziegenspöck, der, wenn Gott an ihm nicht ein Wunder wirkte, dem Säuferwahnsinn unaufhaltsam entgegenwandelte; er bot den Anblick eines grimmigen Kriegsmannes, hatte aber ein bitteres Schmerzensgesicht, wie Menschen, die von überschüssiger Magensäure gequält werden.
Sergeant, Söldner und Knechte des Herrn Melcher waren in Grün und Rot gekleidet. Nur ein einziger von den Trutzbergischen trug diese Farben nicht, trug ein grobes Hemd, einen rauhen, verblichenen Kittel, die kurze Berghose, verschnürte Lammfelle an den festen Waden und am Gürtel die lederne, vom Gebrauche vieler Jahre schon schwarzgewordene Salztasche. Das war der Schafhirt Lien, den die Leute, die ihn liebhatten, Liendl oder Lieni nannten.
Eigentlich hieß er Lienhard. Aber das ging nicht an, daß ein Scharfhirt zur Hälfte den gleichen Namen trug wie der edle Jungherr Eberhard. Drum hatte man dem Lien – der keines nennbaren Vaters Sohn, nur das Kind einer verstorbenen Mutter war – das ungebührliche Schwänzlein seines Namens abgezwickt, wie man ihm das Braunhaar wegschor von seinem harten, jungen, sonnverbrannten Schädel. Das Haar wollte heraus, wollte an die Sonne, sproßte wie dunkler Schatten auf der Oberlippe des braunen Gesichts und begann das Kinn und die Wangen zu umkräuseln, weil man es auf dem Kopfe nicht nach Belieben wachsen ließ. Unter der Stirne dieses derben und dennoch schmucken Kopfes glänzten zwei blanke Jünglingsaugen, die immer in aufmerksamer Spannung träumten, obwohl das Gehirn des Lien viel anderes nicht denken wollte, als wie er satt werden konnte und wie er seine dreihundertvierzehn Schafe vor Dieben und Wölfen sichern mußte.
Während der Wanderpfaff von der alles bezwingenden Macht des christlichen Willens predigte, hatte der junge Lien eine Sorgenfalte auf der Stirn, hörte kein Wort von der Predigt und spähte immer zu den fernen Moorflächen hinunter. In dieser braunleuchtenden Ferne, die von vielen Wassertümpeln blitzte, sah er einen kleinen, grauen, viereckigen Fleck. Das war der Pferch, in den er am vergangenen Abend seine Schafe getrieben hatte. Während er in der Haltung eines frommen Beters auf den Knien lag, streckte sich immer wieder der schlanke Körper mit dem kräftigen, langen Hals. Und wenn sich der Lien so streckte, preßte er das mürbe Hütl und die lange Schäferschippe mit dem blitzenden Eisenschäufelchen hart an seine Brust. Und dann hob auch der grau und schwarz gezottelte Schäferhund, der neben ihm lag, mit jähem Ruck den schlanknäsigen Kopf in die Höhe, ließ die Augen hinausblitzen gegen den fernen Pferch, bewegte unruhig die Spitzohren und peitschte mit dem buschigen Schweif das zerlegene Gras. Wie selbstverständlich und natürlich auch die beiden, der Lien und sein Wulli, anzusehen waren, so hatte ihr Bild doch auch etwas Fremdes, etwas schweigsam Heiliges, hatte etwas von jener biblischen Art, in der die frommen Täfleinmaler den jungen Sankt Johannes mit Hund und Schäferschippe zu konterfeien liebten,
»Wahrlich, ihr guten Christenkinder«, predigte der Wanderpfaff, der in der warm werdenden Sonne zu ermüden begann und über das ganze Gesicht bis in den Hals hinunter glänzte, »wer auf ein eilig Ding nit den rechten Willen hat, wird's nie und nimmer erringen. Das ist als wie mit einem Bauersmann. So er mit festem Willen zur Pflugschar greift und den Boden stürzet, wird er Segen in seiner Scheuer haben. So er aber nit pflügen will und die Fäust hinter den Rucken schiebt, wird sein Acker dürr bleiben, und der Bauer wird seinen Herren schädigen, wird selber Not erfahren und Hunger leiden in seiner Faulheit Ingeweid. Das ist als wie mit einem Kriegsknecht. So er mit herzhaftem Willen anrucket wider den Feind, wird er seinem guten Herren helfen und den eigenen Binkel fett machen mit kostbarem Kriegsgut. So er aber nit mutigen Willen haben, nit fechten und nit stechen mag, wird der Feind ihn überwerfen und ausrauben bis auf den letzten Faden. Das ist als wie mit dem Jäger. So er nit springen und hetzen und die Netz nit stellen will, fahet er nie ein Gewild, ist betrogen um sein Jägerrecht, und seines Herren Wildbretkeller muß trauern als ein ausgefressenes Ratzenloch. So er aber mit frischem Jägerwillen springt und hetzt und alles Haarwild und Federleinsvieh ins fängige Schlagnetz husset, wird seines Herren Tisch ein Paradies der irdischen Freuden sein, und des Jägers Pfann wird dampfen an jedem Abend. Was aber sind Netz und Schwert und Pflugschar neben dem rechten Himmelswillen einer sehnsüchtigen Christenseele? Gräslein sind sie neben dem Baum, Regentropfen neben dem See, ein Grillenloch neben der Herrenburg. Schauet den Baum! Grünet er nit dem Himmel zu? Schauet den See da draußen! Spiegelt er nit das Himmelsblau? Schauet die starke und stolze Burg, die mutig hinaufsteigt in das Himmelreich! Groß und stark wie Burg und See und Baum, so muß der rechte Himmelswillen in euren Seelen sein! Wahrlich, das Himmelreich ist euer, so ihr's wollet mit Kraft und Feuer! Die aber nit wollen fest und rein, bleiben draußen und gehen nit ein!«
Eine aufatmende Bewegung huschte über die Andächtigen hin. Sie wußten: wenn die Verse begannen, war die Predigt gleich zu Ende. Frau Angela schürzte mit ihren dürren Händen das Kleid, damit es beim Aufstehen sicher wäre vor der Nässe des Grases, Herr Korbin gähnte ein bißchen, Frau Schligga sah mit flehenden Augen zu Gott hinauf, Hilde erwachte lächelnd aus ihrem wesenlosen Traum von Glück und Seligkeit, Eberhard wandte die Hummelaugen zögernd von dem lieblichen Ziel seines aufgereizten Willens ab, und Herr Melcher nickte, als hätte er wider die Brüder von Seeburg einen heilsamen Entschluß gefaßt. Wulli, der Schäferhund, erhob sich lautlos, weil er sah, daß Lien einen raschen Blick hinüberwarf zum Pförtlein des Söldnerhauses und mit einem Ruck seiner nervigen Faust den Gürtel der Salztasche fester um die Hüften schnürte.
Schnaufend entraffte sich der Wanderpfaff seiner schweißperlenden Erschöpfung, steigerte die heiser gewordene Stimme und schüttelte die Hände mit gespreizten Fingern gegen das Blau hinauf:
»Nur wollen mußt du, o dürstige Seel', so wirst du finden und gehst nit fehl! Die da suchen, sind Kinder des Lichts, doch die nit wollen, die kriegen auch nichts. Sie fliegen nit auf zur seligen Ruh, Sankt Peter sperret das Türlein zu. Ausgestoßen von allen Freuden, müssen sie Glut und Hunger leiden, sind dem Teufel ein Höllensamen und müssen brennen in Ewigkeit, Amen!«
Nach einer devoten Verbeugung gegen den Burgherrn lüftete der Wanderpfaff das Barett, trocknete mit dem spitzenbesetzten Ärmel des Chorhemdes das erschöpfte Gesicht und ging auf die Tür der Burgkapelle zu, um sich zu kleiden für die heilige Messe.
Ein Funkeln von Eisen in der Sonne, ein Leuchten und Durcheinandergleiten bunter Farben. Hundert Menschen bewegten sich. Dennoch war, außer dem Säuseln der Lindenblätter und dem Taubengurren, kaum ein vernehmliches Geräusch im Burggärtlein. Der Rasen dämpfte den Schritt der drei adligen Paare, die sich an erhobenen Händen gefaßt hielten und zur Kapelle gingen.
Die Söldner, die alten häßlichen Burgmägde und die hörigen Leute guckten mit Wohlgefallen dem Fräulein von Puechstein nach. Nur Lien, der Schäfer, war mit seinen blitzenden Augen weit da draußen im Bruchland; von der langen Predigt haftete, das Amen ausgenommen, kein Wörtlein mehr in ihm, und während Wulli schon mit ungeduldig pendelndem Schweif beim Söldnerhaus stand, spähte Lien noch immer in Sorge nach seinem Pferch. Was kümmerten ihn die Herrenleute? Man ist ein Treuer und dient. Beschützen konnten die Herren sich selber. Aber die Schafe brauchten den Lien und hatten sonst keinen, der ihnen half.
Ohne zu grüßen, sauste Lien in das Söldnerhaus und kam in eine spitzgewölbte Halle, in der es kühl und dämmerig wie in einer Kirche war, weil nur spärliches Licht durch die winzigen, vergitterten Fenster hereinfiel. An Holzgestellen, die sich rings um die Wände zogen, hingen Hellebarden, Zwiehänder, Armbrusten, Faustbüchsen, Eisenhüte und Wehrstücke. Ein steinernes Wendeltrepplein schlängelte sich zu den Söldnerstuben hinauf, und durch eine offene Tür ging's über einige Stufen hinunter in eine dampfende, duftende Küche, aus der man Blechgeklapper und die Stimmen alter Weiber hörte. In der Mitte der Halle stand zwischen lehnenlosen Bänken ein langer, plumper Tisch, nicht mit Tuch bedeckt, nur bestellt mit Zinntellern und großen Holzschüsseln, in denen dicke Brotscheiben, Sauerkäse, Selchfleisch und schmalzgebackene Krapfen waren.
Während Wulli unter leisem Zittern gegen die dampfende Küche schnupperte, sprang Lien auf diesen Tisch zu, packte mit beiden Händen, was er zu fassen bekam, und stopfte alles in seine lederne Salztasche.
Eine zeternde Weiberstimme: »Du Lausbub, du gottvergessener! Laß deine schmierigen Hand von meinem Schüsselzeug!« Aus der Küche kam eine alte Frau herausgesurrt, die Schloßhauserin, brennend von Küchenhitze und Zorn, in einem ziegelroten Kleid, mit weißer Schürze umgürtet, auf dem Kopf ein mit Draht ausgesteistes Ungeheuer von grüner Haube.
Lien, der noch immer einhamsterte, sagte ruhig: »Mich hungert, Margaret! Seit dem Freitag ist dem Wulli und mir die Zehrung ausgegangen. Gestern zur Nacht bin ich spät gekommen, du hast geschlafen, und alles ist schon gesperrt gewesen. Ich hab' ins Stroh gebissen, und der Wulli hat Mäus gefangen. Schau, laß uns nehmen, eine Woch ist lang!«
Die Hauserin keifte noch immer weiter. Doch während sie schimpfte, half sie dem Lien die große Ledertasche polstern und brachte ein Säcklein, das schon bereitgestanden, und Mehl, drei Brotlaibe und die Schmalzschachtel enthielt. Lachend schwang der junge Schäfer den schweren Pack an den Tragstricken hinter die Schultern. »Wulliwulli, jetzt kriegst du was!« Der Hund begann wie irrsinnig zu kläffen. Erschrocken machte ihn der Schäfer schweigen und sagte ernst: »Nit, Wulli! Im Kirchlein segnet man den Leib des Himmelsherrn. Da müssen wir armen Erdenleut das Maul halten.« Er nickte der Hauserin dankbar zu. »Die heilige Jungfrau soll dich segnen, du gute Margaret!«
Indessen die alte Frau noch immer brummte, sprangen Lien und Wulli aus der Halle hinunter in das innere Wehrgehöft und durch ein schwer geschütztes Tor in den größeren Burghof. Die Erker und kleinen Spitzfensterchen des Herrenhauses waren noch von Schatten umwoben. Die Mauerzinnen und die groben Wände der Wehrtürme wuchsen still in die Sonne hinauf. Niemand war zu sehen. Von irgendwo in der Höhe ließ sich der Schritt eines Wächters hören, und in den niederen Ställen, die unter die Schützengänge eingebaut waren, stampften die Rosse und rasselte das Heimvieh an den Ketten. Ein goldfarbener Hahn krähte zornig, als möchte er zu Lien und Wulli sagen: »Macht, daß ihr weiterkommt! Der Hof ist mein!« Glucksende Hennen spazierten umher und pickten am Fuß der Mauer die Schnecken von den schmalen Rasenstreifen und aus dem Efeugeschling. Tauben flogen auf und nieder, fünf Ziegen lagen in einem sonnigen Winkel, und friedlich grunzte ein flink und neugierig umherzappelnder Schwarm von rosigen Ferkelchen. Innerhalb so enger Mauern war es bei dem vielen Tierzeug nicht zu ändern, daß Man im Trutzbergischen Burghof einen etwas unlieblichen Duft verspürte.
Eine tiefe, finstere Torhalle. Während Wulli verachtungsvoll das Feder- und Borstenvieh des Hofes übersah, rief Lien mit halber Stimme an der Wand des Torturmes hinauf: »Die Brück herunter! Ich muß zu meinem Pferch.« Ketten klirrten, ein Haspel ächzte, und ohne daß ein Mensch sich zeigte, legte sich die schwere Fallbrücke über den Wassergraben hinaus und ließ noch einen zweiten Bohlenlappen über den Grabenpfeiler hinüberfallen bis zur Kante des schmalen Burgsträßleins.
Wie ein goldener Engel flog eine Sonnenwoge in das Tor herein, besäte das grobe Pflaster mit farbigen Edelsteinen und umsäumte den Wulli und Lien mit so wundersamen Glanzlinien, als hätte das goldene Himmelskind an diesen beiden etwas abgestreift von seinem Heiligenschein. Doch draußen, wo nur noch Sonne war, sahen Lien und Wulli wieder aus wie gewöhnliche und nicht sehr reinliche Erdenkinder.
Wulli jagte dem Sträßlein nach. Für Lien waren die vielen Schlangenwindungen des niederkletternden Reitsteiges ein zu weiter Umweg. Er sprang gerade durch den steilen Wald hinunter, und unter seinen schwer mit Eisen beschlagenen Holzschuhen schwirrten die kleinen Steine und Rindensplitter hervor wie Vögelchen und Schmetterlinge, die sich flink wieder in den nächsten Stauden verbargen.
Als Lien herunterkam zum rauschenden Bach im Wiesental, stieg Wulli triefend mit glattgestrichenem Haar und erschrecklich mager aus dem Wasser heraus, kam schweifwedelnd und wasserspritzend herangetänzelt und hatte quer im Maul eine pfundige Forelle, die heftig mit der Schwanzflosse zappelte. Flink warf Lien die Schäferschippe ins Gras, haschte den Hund, zog ihm das Gebiß auseinander und atmete erleichtert auf, als die Forelle sich über den Rasenhang wieder hinunterschlug in das schießende Wasser.
Wulli bekam ein schlechtes Gewissen und zog den dünngewordenen, reichlich tröpfelnden Schweif unter den Bauch hinein. Hätte Lien bei der Predigt besser aufgepaßt, so hätte er wissen müssen, daß man nur zu wollen braucht wie der Wulli, um seine hungernde Seele rasch belohnt zu sehen durch den Himmelsbissen einer edlen Fischart. Lien aber hatte während der Predigt von der Allmacht des Christenwillens nur an seine Schafe gedacht; und weil er wußte, daß der Forellendiebstahl in den Trutzbergischen Gewässern bei schwerer Strafe verboten war, machte er ein strenges Gesicht und sprach: »Ein Mensch muß hungern können. Stehlen darf man nit. Tust du's wieder, so kriegst du Prügel!«
Der Hund fing zu zittern an. Und da wandte der Schäfer sich hastig ab, griff nach der Schippe, warf einen prüfenden Blick zur Burg hinauf und begann zu springen. Fromm trabte der magere Wulli hinter ihm her und schlapperte mit der roten Zunge gegen die schwarze Nase. Erst nach einer Weile fand er den Mut, das Wasser aus seinem Pelz zu schütteln, und war nun plötzlich wieder so dick und so rund wie früher.
Der Schäfer sprang, daß Wulli traben mußte, um dicht hinter seinem Herrn zu bleiben. Immer spähte Lien gegen den Pferch hinaus, niemals drehte er den Hals nach rückwärts. Und die kleine Mühe hätte sich doch gelohnt! Es war ein wundervolles Bild: wie die starke Burg sich in der Sonne aus den Buchenkronen hinaufstreckte zum Himmelreich und flimmernd sich abhob von der Wand der blauen Berge. Aber für den Lien war die Burg seines Herrn eine notwendige Sache nur an jedem Samstagabend, wenn er heimrennen mußte, um die neue Wochenzehrung zu holen. Als Schäfer tat er seine Pflicht. Was gingen ihn die Burgen der Trutzbergischen und des Puechsteiners an? Burgen sind steinerne Gesetze. Was Gesetz heißt, ist nach Bauernmeinung eine üble Sache, hat ein doppeltes Gesicht, ein gutes und ein böses, dreht das gute den Herren zu, das böse den Armen und Geplagten.
Der Weg des Schäfers ging an kleinen Dörfern der hörigen Leute und an hoch umzäunten Gehöften vorüber. Kein Mannsbild war zu sehen, nur manchmal ein altes Weib, das Kehricht und Unrat über den Flechtzaun schüttete. Durch die faulen Moosdächer der versteckten Hütten dunstete der bläuliche Herdrauch, und wo ein Haus war, hörte man das Geschrei eines kleinen Kindes, Hennengegacker und Schweinegrunzen.
Aus den Feldern, auf denen sich das grüne Getreide schon streckte, klang zuweilen der Schlag einer Wachtel, aus den kleinen Wäldchen das Locken der Wildtauben und der Kuckucksruf. Als hinter den letzten Sauerwiesen die von glänzenden Tümpeln durchsetzten Moorflächen begannen, hing das Geschrei der Kiebitze, das Pfeifen der Bekassinen und das Geschnatter hin und her streichender Wildenten wie ein ruheloser Lärm in der dunstigen Sonnenluft. Hoch droben im Blau, da flogen mit schönem Schwingenzuge oder standen mit kurzem Geflatter die Wanderfalken, die Sperber und Habichte. Stieß einer herunter gegen das Röhricht, so klang ein schmerzvoller Vogelschrei.
Seit Lien das feste, den Moorboden durchziehende Seesträßlein verlassen hatte, konnte er den Pferch nimmer sehen. Erlenstauden und Schilfbestände verdeckten ihn.
Jetzt tat sich eine weite Lichtung auf mit fetten Grasflecken, mit verschwenderisch wuchernden Blumenhaufen rings um die blitzenden Wasserbecken. Das Blau der Vergißmeinnichtbeete, der rote Blutschein des Heidekrautes und die Goldfarben der Dotterblumen wirrten sich ineinander wie zu einem auf die Erde gefallenen Heiligenmantel. Schwärme von Bläulingen und von weißen, gelben und sandbraunen Faltern gaukelten umher, und überall in der Sonne sangen die Grillen. Manchmal blitzte was Flinkes handhoch über das Moos herauf: eine Eidechse, die gesprungen war, um einen Schmetterling aus der Luft zu reißen. Überall Leben, überall auch der Tod.
Inmitten eines leidlich trockenen Bruchbodens, neben dem Schäferkarren, der sich ansah wie ein brauner Sarg auf zwei Rädern, stand der Pferch mit den dreihundert schlämmgrauen Schafen, umschwärmt von Fliegen und Schnaken. Als die Tiere ihren Hirten kommen sahen, streckten sie blökend die Hälse, drängten gegen eine Ecke des Pferches und trampelten sich zu einem so dicken Hauf zusammen, daß unter ihren Bäuchen die erst wenige Wochen alten Lämmer verzweifelt zu meckern begannen.
Ein klingender Ruf des Lien, Wulli umjagte den Pferch, die Schafe wichen in die Mitte des umhürdeten Raumes zurück, und die Lämmer hatten wieder Luft.
Lien stellte den Mehlsack nieder und leerte den Inhalt der Ledertasche in einen mit Blech ausgeschlagenen Winkel des Karrens. Auf der Deichsel stehend, das Kinn auf den Schaft der Schäferschippe gestützt, sah er aufmerksam dem Wulli nach, der ruhelos um den Pferch revierte, mit der Nase auf der Erde. Dem Hund fiel nichts Verdächtiges auf; also war in der Nacht weder Fuchs noch Dieb gekommen, und kein Schaf hatte die Hürde übersprungen. Lien fuhr sich mit dem Handrücken über die heiße Stirn und lachte. Jetzt war ihm die Welt wieder schön. Flink, immer singend und pfeifend, häufte er ein Bändel Reisig zusammen, schlug Feuer und kochte über dem knisternden Flämmlein in der alten Hundspfanne den Sterz für den Wulli. Dem Sonntag zu Ehren, an dem doch alles Getier die Liebe Gottes merken muß, schnipselte er einen Brocken Selchfleisch hinein. Die Sache duftete ein bißchen brenzlig; Frau Angela schied für den Schäfer immer jenes Schmalz aus, das schon zu verderben drohte; ein Glück, daß Wulli und Lien einen Magen hatten, der Steine vertrug und noch Schlimmeres.
Als der dampfende Sterz schon in der hölzernen Hundeschüssel war, kam für Lien eine harte Arbeit: den gierig gewordenen Wulli so lange zu zerstreuen, bis die Speise kühl geworden, die auf der Zinne des Schäferkarrens dampfte. Der Hund machte Sprünge wie ein Heuschreck. Um ihn abzuwehren, gab es kein anderes Mittel: Lien müßte mit dem Wulli raufen. Dabei vergaß der Hund auch seinen zweitägigen Hunger. So begann zwischen Lien und Wulli ein Spiel, das sich ansah wie ein ernster Kampf zwischen Mensch und Tier, wie eine Gefahr für Leib und Leben des Schäfers. Hätten Weiber das gesehen, sie hätten geschrien vor Angst. Lien aber lachte immer, wenn er mit dem Ellenbogen den anspringenden Hund von sich abprellte oder mit flinker Faust das klaffende, schnappende Gebiß des Wulli haschte und den Hund im Kreis um sich herumwirbelte wie eine vierbeinige Fahne. Zart waren sie nicht miteinander, diese beiden. Und plötzlich, als Wulli wieder in bedenklicher Spielfreude gegen den Schäfer anstürmte, streckte sich Lien und hob den Arm: »Gut ist's, Wulli! Komm! Jetzt kriegst du dein Sach!«
Der Hund mußte, bevor er fressen konnte, sich eine Weile hinlegen, die zappende Zunge triefen lassen und mit dem Schweif die pumpende Flanke peitschen. Gleich einem gebändigten Raubtier stand er auf und begann so gierig wie ein Wolf zu schlingen. Lien guckte zu und lachte. Im Nu war die große Schüssel leer. Wulli ging zu einem Tümpel, soff mit Behagen und war nun wieder der aufmerksame und willige Arbeitskamerad des Schäfers.
Für die beiden kam eine schwere Plage. Lien hatte die Ledertasche mit Salz gefüllt, Schaf um Schaf wurde durch das schmale Pförtlein aus dem Pferch gelassen, und während Wulli und die Schippe den Nachdrängenden die Freiheit wehrten, bekam jedes aus der Hürde tretende Tier der Herde ein Maulvoll Salz aus der linken Hand des Schäfers. Es dauerte fast eine Stunde, bis alle Schafe und der letzte der zwanzig bösen Zuchtböcke den Pferch verlassen hatten.
Die hungrigen Tiere fingen gleich zu weiden an, und die Mutterschafe säugten ihre Lämmer.
In weitem Bogen umkreiste Wulli die Herde und hielt sie in lockerem Häuf beisammen. Da konnte Lien nun für sich selber sorgen. Er begann in der hölzernen Schäferschüssel einen Teig aus Mehl, Salz und Wasser anzurühren und mischte ihn mit Speckwürfeln und mit zerbröseltem Sauerkäs. In der sauber gehaltenen Schäferpfanne kochte das Wasser schon, als Lien die Kasknödel rollen wollte. Bevor er diese kunstvolle Sache begann, sah er plötzlich seine Hände an und lachte. Ja, ja, die Margaret hatte schon recht: diese Hände waren ein bißchen schmierig.
Er holte aus dem Karren einen Brocken Seife heraus, ging zu einem Tümpel und wusch die Fäuste. Dann wurden die Knödel gerollt. Und während diese kinderkopfgroßen »Specknocken« im brodelnden Wasser tanzten – sie brauchten eine Stunde, um gar zu werden –, suchte Lien einen klaren, tiefen Weiher, legte die Kleider ab, dehnte die festgewölble Brust, daß alle Rippen hervortraten, und streckte die sehnigen Arme. Wie das schöne Werk eines großen Meisters stand dieser braune, schlanke, knabenhaft keusche Jünglingskörper in der Sonne des reinen Frühlingstages. Kleine blaue Schmetterlinge umgaukelten seine Schenkel.
Als er ins Wasser sprang, daß eine weiße Garbe aufspritzte, hüpften auch viele Frösche erschrocken in den Weiher hinein, und aus dem Röhricht ruderte mit Geschnatter ein aufgescheuchtes Entenpärchen davon.
Lien schwamm wie ein Hund, mit allen vieren fuchtelnd. Lange hielt er's in dem kalten Quellwasser nicht aus. Neben der Kälte gab's da noch eine andere Gefahr: die Roßegel, die überall in diesen Tümpeln wohnten. Als er wieder am Ufer stand, tat ihm die Sonne so wohl, daß er tanzte wie ein kleiner Junge. Und weil's nun schon mit der Reinlichkeit in einem hinging, wusch er auch das Hemd, den groben Kittel, die kurze Zwilchhose und die Wadenfelle. Fein säuberlich spreitete er alles zum Trocknen in der Sonne aus und kehrte zu seiner qualmenden Pfanne zurück: der Adam eines Paradieses, in dem schon die Kochkunst erfunden war.
Die Nocken waren lind geworden. Sie wurden, als das Wasser ausgegossen war, noch fein geschmälzt. Ja, der Lien verstand seine Sache, ohne daß es ihn wer gelehrt hatte. Der fand, wie sonst in allen Dingen, auch bei der Pfanne so gute Einfälle, daß er für den deutschen Kaiser hätte kochen können. Nun lag er ausgestreckt zwischen den roten Heideblumen, und in der Sonne schimmerte seine braune Haut wie poliertes Kupfer. Er aß mit dem Hornlöffel aus der Pfanne. Die zähen Fäden, die der gesottene Käse zog, hätten einen Eilfertigen zur Ungeduld gereizt. Lien war beim Essen wie ein sanftmütiges Kind und ließ sich Zeit. Immer einen Brocken von den spinnenden Nocken, dann wieder ein Bröcklein von dem schwarzen Brot. Dabei guckte er fleißig zu seinen weidenden Schafen und zum revierenden Wulli hinüber oder guckte hinauf ins Blau oder vor sich hin in das Farbenwunder der vielen Blumen. So flink sich der Lien bei allen sonstigen Hantierungen seines jungen Lebens erwies, beim Essen war er von den Langsamsten einer.
Zur Nachkost vergönnte er sich noch zwei schmalzgebackene Krapfen aus dem Schatz der Margaret. Bis er das Geschirr gesäubert und die Hände wieder gewaschen hatte, waren seine Kleider trocken geworden. Hose, Hemd und Kittel bügelte er über dem nackten Knie; zwischen den Fäusten rieb er die starrgerunzelten Lammfelle mürb. Bevor er sich ankleidete, machte er noch Ordnung in seinem Karren, in den durch ein Schuberloch eine goldene Hand der Sonne hereingriff. Liens Bett in dem engen Sarg bestand aus Schilfstroh mit einer Pferdedecke und zwei Wolfsfellen, die er selber erbeutet hatte. Hornlöffel und Messer, Pfanne und Zinnschüssel des Schäfers, Pfanne und Holzschüssel des Hundes staken hinter einer Latte. Ein Becher war nicht da; zum Trinken nahm Lien den Hut oder die Hände – oder auch gar nichts.
Zwei Ecken des Karrens waren mit Blech ausgeschlagen; in der einen war der Sack mit dem Schafsalz verstaut, in der anderen wurden die Kostbarkeiten der Margaret, das Brot, die Schmalzschachtel und das Mehl geborgen. An der Decke des engen Schlafkastens hing noch ein speerartiges Eisen wider die Wölfe und eine alte Armbrust wider die Lämmergeier. Mit dieser klapperigen Waffe schoß der Lien viel besser als der beste von den Trutzbergischen Armbrustern, und mit diesem langen Eisen, das halb Schwert und halb Lanze war, spaltete er jeden Distelkopf in gleiche Hälften und warf so sicher, daß ihm noch nie ein Fischotter entronnen war. Aber droben in der Truhburg stellte er sich bei allem Waffenwerk, daß Herr Melcher zu sagen liebte: wie ein Geißbock beim Seiltanzen. Immer fürchtete sich Lien vor diesem Schrecklichen: unter die Söldner eingereiht zu werden. Hätte man ihn von der Heide weggenommen, er hätte sterben müssen. In jedem Winter bekam er eine kranke Seele und genas mit dem Morgen, an dem er die Schafe aus den muffigen Ställen trieb.
Als er wieder in den Kleidern stak, guckte er lachend an sich hinunter. Das reinliche Zeug gefiel ihm.
Sein mürbes Hütl gegen die Sonne gedreht, ein Blumensträußl hinter der Hutschnur, stand er neben der äsenden Herde, auf die Schippe gestützt, und ließ den Wulli an seiner Seite rasten. Wenn eins von den Schafen zu weit ausgraste, faßte er mit dem Schippenschäufelchen einen Rasenbrocken und warf. Immer platzte das Geschoß eine Handbreit vor der Nase des Schafes, das hurtig kehrtmachte. Dann lachte der Lien, lehnte das Kinn wieder auf die Schippenstange, sang eins von seinen Schäferliedchen oder pfiff sich was. Dabei glänzte in seinen Augen eine ruhige Zufriedenheit.
Seit er satt war, hatte er keinen anderen Wunsch und Willen mehr als nur den einen, daß keines von seinen Schafen die Räude, den Hirnwurm oder den Durchfall kriegen möchte.
Die Sonne brannte über ihm, bei den Wassertümpeln zitterte die erwärmte Luft, ein leises Geraschel huschelte durch die Röhrichtfelder, alle Wildvögel schwiegen und waren verschwunden, die Schmetterlinge flogen hoch, und der herbe Geruch der vielen Bruchlandsblumen dampfte hinauf ins Blaue, wo kein Sperber und Falke mehr zu sehen war.
Vom fernen Trutzberg klang ein feines Gebimmel her. Dort läutete man auf dem Kapellentürmlein die Mittagsglocke.
In der niederen, aber sehr geräumigen Erkerstube der Trutzburg saß Herr Melcher mit seinen Gästen und Hausgenossen bei der Mahlzeit, die fast schon zu Ende war. Auf der weißen Tischleinwand, in deren roten Stickereien sich die Blumen, Tierbilder, Ornamente und Menschenfigürchen schwer voneinander unterscheiden ließen, standen nur silberne und zinnerne Becher von verschiedener Größe. Da hätte man vermuten können, daß die Mahlzeit nun erst beginnen sollte. Aber das, Weinfeuer auf den Gesichtern des Burgherrn, des Puechsteiners und des Jungherrn war verräterisch und erzählte von einer Tafelsitzung, die schon lange gedauert hatte. Jeder Zweifel wurde noch völlig entschieden durch einen Blick, der den Tischplatz des Herrn Melcher und seine der Tafel zugewandte Mannesbrust samt Halskragen einer kundigen Betrachtung unterzog. Schon ein flüchtiger Augenschein vermochte an untrüglichen Beweisen festzustellen: daß es eine Safransuppe gegeben hatte, geröstete Fische an Holzspießchen, junges Geflügel von zartem Knochenbau, Brunnenkresse mit gefärbten Eiern und Hasenläufe mit Hagebuttentunke. Doch von einer süßen Speise war noch keine verlorene Spur an Herrn Melcher oder in seiner Nähe zu gewahren. Also mußte diese Köstlichkeit erst noch kommen.
Mit dieser Tatsache hing der wunderliche Befehl zusammen, den die vor Zorn und Ärger spitznäsig gewordene Frau Angela einem Tafelknecht in das Ohr zischelte: »Für meinen Gemahl das Röhrlein!« Sie warf einen erbitterten Blick zu dem unverbesserlichen Missetäter hinüber. Verleitet durch die Nachwirkung der Sonntagspredigt von der Kraft des Willens, hatte sie vor der Mahlzeit sehr eindringlich mit Herrn Melcher gesprochen und unter Hinweis auf die Gäste ein Gefühl der Scham in ihm zu wecken versucht. Aber nie noch hatte er so grauenvoll gekleckst wie gerade heute. Frau Angela schien in gereiztem Mißmut zur Erkenntnis zu gelangen, daß sich für Herrn Melcher das Himmelreich der Reinlichkeit auch durch die Allmacht des heißesten Hausfrauenwillens nicht erfechten ließ. Er war sogar weit davon entfernt, ein schlechtes Gewissen zu verraten, legte sich mit breiten Ellenbogen über seinen Tafelplatz, erörterte in wachsender Weinhitze mit dem ihm gegenübersitzenden Korbin von Puechstein den Prozeß um den Jagdbann in den Seeforsten und machte geheimnisvolle Andeutungen über eine heilsame Lunte, die er unter den Diebsnasen der Brüder von Seeburg ins Bremseln bringen wollte.
»Die Lunt allein wird's nit tun«, meinte Herr Korbin, »da mußt du den Seeburgern erst die Nasenlöcher mit Pulver füllen. Aber ich sorg', sie werden schneuzen, eh du parat bist mit der Lunt.«
Außer den beiden Herren beteiligte sich niemand an diesem Wortgefecht. Frau Angela überwachte mit bösem Blick die Hantierungen der Tafelknechte, die neben dem Anrichtkasten die zierlichen Schüsselchen aus Buchsbaumholz mit einem Bäuschlein von Schachtelhalmen ausrieben und in einer großen Kupferwanne spülten. Frau Scholastika schwärmte stumm und mit glücklichen Augen ihren Gatten an und errötete stolz bei jedem derben Scherz, den er im Gespräch zu finden wußte. Der Wanderpfaff, der unter der Linde so mächtig geredet hatte, besaß jetzt keine Stimme mehr, nur noch eine schluckende Kehle und zwei aufmerksame, immer lauschende Ohren.
Sein Nachbar an der Tafel, der dreiundneunzigjährige Burgkaplan, schien sich mit Geduld der Beschäftigung des Wiederkauens hinzugeben. So sah es aus. Aber das ruhelose Gemummel seines Unterkiefers war nur eine ihm selber unbewußte Schwäche seines hohen Alters. Eine müde, hilflos in sich versunkene Gestalt, vom schwarzen Kuttenrock umschlottert, ein Runzelkopf, der das letzte Härchen schon längst verloren hatte, mit sanften, kindisch gewordenen Augen. Um seine Geisteskräfte war es schon übel bestellt. Predigen konnte er seit vielen Jahren nimmer, seit ihm die letzten Zähne ausgefallen waren. Bei der zunehmenden Schwäche seines Verstandes war von allen guten und starken Worten seines frommen Priestertums nur dieses einzige noch völlig hell in ihm zurückgeblieben: »Kindlein, liebet einander!« Doch wenn er so sprach, mußte man von früheren Zeiten wissen, wie es lauten sollte. Sonst verstand man's nicht. Halbwegs deutlich konnte er nur noch einsilbige Wörter herausbringen, zu denen man keine Zähne nötig hat, wie »Gott« und »Ach« und »Oh« und »Weh, ach weh!« Sooft er Ursache fand, ein solches Wort zu sagen, füllten sich seine rotgeränderten Kinderaugen mit großen Tränen, die immer lange in den tiefen Lidergruben hängenblieben, bevor sie über das weiße Runzelgesicht herunterkollerten.
Während der ganzen Mahlzeit hatte der Greis keinen Laut gesprochen, hatte nur immer hilflos, verlegen und dankbar vor sich hingenickt, wenn Hilde, die seine Nachbarin an der Tafel war, ihm die Speisen vorlegte, ihm das Fleisch zerkleinerte, ihm das Schüsselchen gegen die Brust rückte, ihn freundlich bediente und seinen Wein mit Wasser mischte.
Zwischen Schüssel und Schüssel, während die anderen Männer am Tische fleißig becherten, hatte er, tief in den Sessel zurückgesunken, immer dieses liebliche Mädchengesicht betrachtet, und sein stummes Kiefermummeln hatte sich verwandelt in ein Lächeln der Freude und des Wohlgefallens. Und weil er einmal wunderlich sehnsüchtig hinaufguckte zu den roten Nelken in Hildes Haar, zog sie eine der blutfarbenen Blüten aus ihrem Kranz und steckte sie dem erschrockenen Greis in ein ausgefranstes Knopfloch seines schwarzen Kuttenrockes. Als er darauf das Schüsselchen auslöffelte, darin ihm Hilde den Hasenbraten kleingerupft und mit Hagebuttentunke Übergossen hatte, hüllte er, während er mit der Rechten aß, die hohle Linke ängstlich über die rote Blume an seiner Brust.
Diesen Vorgang hatte Hildes Bräutigam und Seelengatte mit Ärger bemerkt. Er hielt in seinem zierlichen Geflüster inne, blieb schweigsam und ließ sich zweimal von einem Tafelknecht den hastig geleerten Becher füllen. Was in seinem Gesichte spielte, war nicht gut zu erkennen. Er saß mit dem Rücken gegen das Licht des Erkers, hatte Schimmerlinien um die starr von den Ohren abstehenden Blondsträhne und ein dunkel überschattetes Antlitz, in dem die großwimperigen Hummelaugen so heftig funkelten wie polierte Messingknöpfe.
Erst nach einer Weile wurde Hilde seines Schweigens gewahr und fragte lustig: »Eberhard? Schläfst du?«
»Ich wache, wie jene wachten, die mit brennendem Lämplein ihr Glück erwarteten.« Obwohl der Ärger und noch etwas anderes in ihm tobten, sprach er so höfisch zart wie immer seit Jahresfrist. »Ich schwieg nur, weil ich sinnen mußte über ein schmerzvolles Ding.«
»Schmerz?« Sie schien nicht zu verstehen.
»Ich bin in Fehde geraten mit meiner Jugend, muß meinen blühenden Jahren zürnen und mich getrösten mit dem Glück meines kommenden Alters. Da wirst du mir auch das Schüsselein behüten, das Becherlein füllen und für die Treue meines Herzens mit einer Blume danken.«
Sie betrachtete ihn verdutzt. Dann sagte sie heiter: »Ach, du! Sei froh, daß du junge, gesunde Hände hast, um dir selbst zu helfen. Alt sein, heißt warten müssen auf die Hilfe der anderen.« Der Klang ihrer Stimme wurde herzlich. »Wenn du von meinen Blumen haben willst, warum sagst du's nicht? Was mir gehört, ist alles dein.«
Hilde nahm drei Nelken aus ihrem Kranz. Er griff in gieriger Hast nach den Blumen und stammelte: »Alles mein!«
Als seine Faust ihre Finger umklammerte, fühlte sie die heiße Glut seiner Hand und fragte in ehrlichem Schreck: »Bist du krank?«
Unter dem Gebrüll, mit dem Herr Melcher gegen die bösen Brüder und Pergamentenschnüffler von Seeburg wetterte, fand Eberhard ein flötendes Gleichnis von einem blutenden Herzen und von Amors Pfeil.
Seine Brautgemahlin wurde ernst und sagte mit leisen Worten: »Ich fürchte, du hast zu schnell getrunken. Tu es mir zuliebe und trinke nimmer.«
Wie zu heiligem Eidschwur legte er die Hand auf seine Brust, faßte den Becher, schüttete den Wein über seine Schulter auf den Estrich, übersah den furiosen Blick der Mutter und stülpte den Silberkelch verkehrt auf die Tafel hin.
Einer von den weißbeschürzten Knechten stellte die mit Silber eingelegten Buchsbaumschüsselchen vor die Mahlgäste, einer legte die aus Horn geschnitzten Löffelchen dazu, und zwei andere brachten die beiden Schalen mit der süßen Speise: Ziegenrahm, der mit Honig und Erdbeersaft zu einem dicken rosenfarbenen Brei verrührt war.
Flink bediente Hilde ihr dankbar mummelndes Sorgenkind. Dann sagte sie lachend zu Eberhard: »Komm, du Greis! Gib mir dein Schüsselein! Laß dich päppeln, du Alterchen!«
Herr Melcher war an der Tafel der einzige, der keinen Hornlöffel bekommen hatte, sondern ein aus Silberblech gelötetes Röhrchen, mit dem er die süße Speise schlürfen mußte. Nun konnte er nimmer klecksen. Doch er hatte keinen glückhaften Tag. Denn kaum er zu schlürfen begonnen hatte, machte er mit dem Röhrchen eine fahrige Bewegung. Das Schüsselein kippte um und bekleckerte Herrn Welcher von den Brustknöpfen bis hinunter auf die Strumpfhosen mit einem rosigen Breistrom.
Unter dem Gelächter der anderen sprang Frau Angela auf und klagte in galligem Zorn: »Das ist, um zu verzweifeln!«
Herr Melcher, während ihn ein Tafelknecht mit der Handzwehle säuberte, antwortete gutmütig: »Das laßt sich jetzt nimmer ändern. Gib mir meine zwei verlorenen Finger wieder, so will ich mich geschickter anstellen.«
Korbin von Puechstein tröstete lachend: »Guck, Melcher, das ist nie kein rechter Fuhrmann, der nit auch umschmeißen kann!« Bevor er mit diesem Weisheitsspruche zu Ende kam, rief Frau Angela in der Härte ihres Ärgers dem Hausherrn zu: »Einmal, da hast du deine zwei Finger noch gehabt. Selbigsmal bist du schon das gleiche Schwein gewesen.«
Erschrocken sagte der greise Burgkaplan als erstes Wort dieses Tages sein zahnloses: »Oooh!«, indessen Herr Melcher von Trutz die Augenbrauen schweigsam in die Höhe zog und einen tiefen Trunk aus seinem großen silbernen Becher tat. Frau Scholastika war vor Angst erblaßt. Und Herr Korbin, der sich mit seinem Freunde verbündet fühlte wider allen weiblichen Übergriff und von den Schlachtfeldern an das Heraushauen bedrängter Mannsleute gewöhnt war, schob das Buchsbaumschüsselchen fort und sagte unbarmherzig: »Frau Engelein, Eure süße Speise ist überständig. Sie gärt und säuert. Besser, daß sie dem Melcher auf den Hosen liegt, als daß sie ihm Löcher in den Magen beißt.«
»Wahr ist's!« nickte Trutz von Trutzberg, fuhr mit dem Becher über den Tisch hinüber und verschüttete den Wein. »Komm, hilfreicher Bruder, stoß an mit mir, auf daß du lange lebest und daß es dir wohl ergehe auf Erden! Und bleib bei mir! Solang' du da bist, geschieht mir nichts!«
In diese friedsame Rede fuhr die scharfe Zunge der Frau Angela hinein: »Woher wisset denn ihr Puechsteiner, was überständig heißt? Ihr da drüben habt doch nicht gar so viel zu schlecken, daß euch der Honig gärt oder ein Käslein schimmlig wird.«
Entsetzt umklammerte Frau Scholastika den Arm ihres Mannes. Der lachte nur: »Recht hat sie! Wer die Wahrheit redet, den muß man loben. Bevor auf dem Puechstein ein Bissen verderben kann, ist er lang schon einem hungrigen Magen wohlbekommen. Gelt, Schligg? Wir lassen nit sauer werden, was süß ist!« Er gab seiner Hausehre einen schnalzenden Kuß auf den Mund, und während Frau Scholastika in Stolz und Glück des heiße Gesicht an seine Schulter schmiegte, hob er den Becher gegen die Trutzin von Trutzberg: »Euer Wohlsein, liebe Frau Engelein! Das müßt Ihr uns nachmachen mit dem Melcher!«
Wie es im Lauf der letzten Jahre sich schon mehrmals ereignet hatte, war an der gefährdeten Brücke zwischen dem Trutzberg und dem Puechstein wieder ein drohender Riß verstopft. Doch es blieb, obwohl man häufig lachte, eine ungemütliche Stimmung zurück, die sich am deutlichsten in Hildes erschrockenen Augen spiegelte. Den Vorwurf der Nothaberei wider Vater und Mutter, bei denen ihr das Leben als das schönste aller Dinge erschienen war, hatte sie wie eine tiefe Kränkung empfunden, die kein zärtliches Flüsterwort des Bräutigams in ihr beschwichtigen konnte. Viel kindliche Wärme für die harte Trutzbergerin hatte sie in ihrem Inneren nie zu erwecken vermocht. Dieser Wahrheit wurde sie nun plötzlich bewußt. Und während man zum Nachtisch die Nüsse des vergangenen Herbstes knackte, von den Hutzelbirnen und Dörrpflaumen knabberte und den gesüßten Würzwein schluckte, der die zwei angeduselten Herren noch lauter krakeelen machte, mußte Hilde zum erstenmal mit einer bangen Sorge der kommenden Zeit gedenken, in der sie unter der bitteren Fuchtel der Frau Angela auf dem Trutzberg Hausen sollte, von Vater und Mutter geschieden durch dicke Mauern und durch ein tiefes Tal. Was sie da zu ihrem jungen frohen Leben heranschleichen sah, das hatte ein anderes Gesicht als das leuchtende, jubelnde, namenlose Glück, von dem sie unter der Linde hatte träumen müssen, während der Predigt vom Himmelreich und von der sieghaften Allmacht des Christenwillens. In ihrem Traume hatte sie das Glück als einen goldschimmernden Engel gesehen; doch was da kommen mußte, hatte ein gelbes Gesicht, eine spitze Nase und eine gallige Stimme.
Als Tochter ihres Vaters und als gute Christin schlug sie aus diesem Schreck rasch ein Brückensteglein zu einem kindlichen Trost hinüber. Sie tat in ihrer Seele das Gelübde: dereinst auf der Trutzburg an jedem Morgen aus dem Bettlein zu springen, bevor Frau Angela noch erwachte, und von den Kleidern des Herrn Melcher – dem sie trotz seiner Unsauberkeit von Herzen gut war – alle Flecken bis auf den letzten grauen Hauch herauszuputzen. Und wenn ein rechter Christenwille so sieghaft ist, wie es der Wanderpfaff gepredigt hatte, dann mußte ihr mit froher Geduld auch das gelingen: das harte Wesen der Frau Angela durch ruhelose Dienstbereitschaft und inssonders durch makellose Reinlichkeit in freundliche Güte zu verwandeln.