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Die Tudors: Liebe, Macht und Intrigen.
England 1553. Der Waisenjunge Brendan Prescott wird an den Londoner Hof geschickt, um einem der Söhne der mächtigen Adelsfamilie Dudley zu dienen. Bald wird ihm klar, dass man ihn als Werkzeug in einem Komplott gegen das Königshaus benutzen will. Doch als Brendan der brillanten, majestätischen Elizabeth begegnet, weiß er, wem seine Treue gehört. Fortan riskiert er sein Leben als ihr Doppelagent und bringt so Licht in das Dunkel seiner eigenen mysteriösen Vergangenheit. Denn Brendan trägt das Zeichen der Rose ...
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Seitenzahl: 523
Die Tudors: Liebe, Macht und Intrigen.
England 1553. Der Waisenjunge Brendan Prescott wird an den Londoner Hof geschickt, um einem der Söhne der mächtigen Adelsfamilie Dudley zu dienen. Bald muss er begreifen, dass man ihn als Werkzeug in einem Komplott gegen das Königshaus benutzen will. Doch als Brendan der brillanten, majestätischen Elizabeth begegnet, weiß er, wem seine Treue gehört. Fortan riskiert er sein Leben als ihr Doppelagent und bringt so Licht in das Dunkel seiner eigenen mysteriösen Vergangenheit. Denn Brendan trägt das Zeichen der Rose …
Über C. W. Gortner
C. W. Gortner wuchs in Südspanien auf. In Kalifornien lehrte er an der Universität Geschichte mit einem Fokus auf starke Frauen inder Historie. Er lebt und schreibt in Nordkalifornien. Im Aufbau Taschenbuch ist bereits sein Roman »Marlene und die Suche nach Liebe« erschienen.
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Christopher W. Gortner
Die Tudor-Verschwörung
Historischer Roman
Übersetzt von Peter Pfaffinger
Titelinformationen
Titelseite
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Titelinformationen
Informationen zum Buch
Newsletter
Einleitung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Nachwort des Autors und Danksagung
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Für Linda, die beste Freundin
Jeder hat ein Geheimnis.
Wie die Auster ihr Sandkorn verbergen wir es tief in unserem Innern, hüllen es in Schichten aus Kristall, als ob das unsere tödliche Wunde heilen könnte. Manche von uns verbringen ihr ganzes Leben damit, unser Geheimnis in seinem Versteck zu bewahren, es vor jedem zu schützen, der es uns entreißen könnte. So werden wir zur Auster und verschließen unsere Perle nur um zu entdecken, dass sie uns in einem Moment entschwindet, da wir am wenigsten damit rechnen – enthüllt durch das Aufblitzen von Angst in unseren Augen, wenn wir unversehens ertappt werden, durch einen jähen Schmerz, durch Raserei, Hass oder verzehrende Scham.
Ich weiß alles über Geheimnisse. Geheimnisse sind überall, ob sie mit Waffen verteidigt, in Ketten gelegt oder in der Bettkammer mit Koseworten ummantelt werden. Die Wahrheit allein kann nie genügen. Geheimnisse sind die Münze unserer Welt, der Grund, auf dem wir unser Pracht- und Lügengebäude errichten. Wir brauchen unsere Geheimnisse, damit sie uns als Eisen für unsere Rüstung dienen, als Brokat für unseren Körper und als Schleier für unsere Ängste. Sie täuschen und trösten uns, und immer schützen sie uns vor der Tatsache, dass am Ende auch wir sterben müssen.
»Schreibe alles auf«, bef iehlt sie mir, »bis zum letzten Wort.«
So sitzen wir im Winter unseres Lebens oft zwanglos zusammen, sie und ich, zwei chronisch Schlaflose in der außer Mode geratenen Kleidung, die nicht mehr auf das Schachbrett oder das liegen gebliebene Kartenspiel auf dem Tisch achten, während ihre Augen – immer noch flink, wachsam und scharf wie die einer Löwin in einem vom Alter hohlwangig gewordenen Gesicht – sich nach innen richten, auf einen Ort, den kein Mensch je betreten hat, auf ihr eigenes Geheimnis, von dem ich jetzt weiß, vielleicht schon immer gewusst habe, dass sie es mit sich in ihr Grab nehmen muss.
»Schreibe es auf«, sagt sie, »damit du dich daran erinnerst, wenn ich nicht mehr bin.«
Als ob ich je vergessen könnte …
WHITE HALL, 1553
Wie alles Wichtige im Leben begann es mit einer Reise – auf der Straße nach London, um es genau zu sagen, und es war mein erster Ausflug in diese so erregende wie elende Stadt.
Wir brachen noch vor Sonnenaufgang auf, zwei Männer zu Pferde. Noch nie im Leben war ich über Worcestershire hinausgekommen, sodass mich Master Sheltons Ankunft mit dem Befehl, ihm zu folgen, umso unerwarteter traf. Ich hatte kaum Zeit, meine wenigen Habseligkeiten zu packen und mich von den anderen Bediensteten zu verabschieden (unter ihnen auch die süße Annabel, die zum Steinerweichen weinte), dann ritt ich auch schon von Dudley Castle los. Mein ganzes bisheriges Leben hatte ich dort verbracht, und jetzt war auf einmal völlig unklar, wann oder ob ich überhaupt zurückkehren würde.
Eigentlich hätten mich allein schon meine Aufregung und Bangigkeit wach halten müssen, doch eingelullt von der Einförmigkeit der an mir vorbeiziehenden Landschaft und dem gemütlichen Trott meines Rotschimmels Cinnabar, schlief ich bald ein.
Master Shelton rüttelte mich wach. »Brendan, Junge, wach auf! Wir sind fast schon da.«
Ich richtete mich in meinem Sattel auf. Noch schlaftrunken blinzelnd, griff ich mir an den Kopf, um die Kappe zurechtzurücken, spürte aber nur mein widerspenstiges hellbraunes Haar zwischen den Fingern. Bei seiner Ankunft hatte Master Shelton die Nase über seine Länge gerümpft und gegrummelt, dass kein Engländer so ungepflegt wie die Franzosen herumlaufen sollte. Er würde über den Verlust meiner Kappe nicht gerade erbaut sein.
»O nein!« Ängstlich sah ich zu ihm auf.
Er musterte mich mit regungsloser Miene. Über seine gesamte linke Wange verlief eine hervortretende Narbe, die sein zerklüftetes Gesicht verunstaltete. Nicht, dass sie ihn störte! Ein schöner Mann war Archie Shelton noch nie gewesen, gleichwohl eine beeindruckende Gestalt, die Achtung gebietend auf dem Ross thronte. Sein bestickter Umhang und sein Stab wiesen ihn als Haushofmeister derer von Dudley aus. Jeden anderen Menschen hätte sein granitharter Blick in Angst und Schrecken versetzt, doch ich hatte mich an seine schweigsame Art gewöhnt, seit er vor acht Jahren auf dem Gut der Dudleys eingetroffen war und von da an meine Entwicklung überwacht hatte.
»Sie ist vor einer Wegstunde heruntergefallen.« Mit diesen Worten streckte er mir meine Kappe entgegen. »Seit meinen Tagen in den schottischen Kriegen habe ich nie wieder jemanden so fest zu Pferd schlafen sehen. Man könnte fast meinen, du wärst schon Hunderte von Malen in London gewesen.«
Ich hörte herben Humor aus seinem Tadel heraus. Das bestätigte mich in meiner Vermutung, dass er sich insgeheim über die jähe Wendung meines Schicksals freute, obwohl es wirklich nicht in seiner Natur lag, über seine persönlichen Gefühle zu sprechen, die ein Befehl des Herzogs oder von Lady Dudley in ihm auslösen mochte.
»Am Hof kannst du deine Kappe nicht ständig verlieren«, hielt er mir vor, als ich mir die rote Mütze auf den Kopf setzte und zu einem Hügel spähte, über den sich die im Sonnenlicht gesprenkelte Straße wand. »Ein Junker muss zu allen Zeiten auf seine Erscheinung achten.« Er unterzog mich einem prüfenden Blick. »Mylord und Mylady erwarten viel von ihren Dienern. Ich muss davon ausgehen können, dass du dich im Beisein höhergestellter Herrschaften zu benehmen weißt.«
»Selbstverständlich.« Ich straffte die Schultern und rezitierte in meinem unterwürfigsten Ton: »Es ist das Beste, wann immer möglich Stille zu wahren und stets den Blick zu senken, wenn man angesprochen wird. Ist man bezüglich der Anrede einer Person im Zweifel, genügt ein einfaches ›Mylord‹ oder ›Mylady‹.« Ich machte eine Kunstpause. »Ihr seht, ich habe es nicht vergessen.«
Master Shelton schnaubte. »Sieh zu, dass es so bleibt. Du wirst Lord Robert, dem Sohn Seiner Lordschaft, als Junker dienen, und ich werde nicht dulden, dass du diese Möglichkeit vergeudest. Wenn du dich bewährst, wer weiß, was dann auf dich wartet? Aus dir könnte ein Kammerherr oder sogar Haushofmeister werden. Die Dudleys sind dafür bekannt, dass sie diejenigen, die ihnen gute Dienste leisten, reich belohnen.«
Kaum hatte er den Satz zu Ende gesprochen, hielt ich mir vor, dass ich mir das hätte denken können.
Als Lady Dudley ihrer Familie an den Königshof gefolgt war, hatte sie Master Shelton zweimal jährlich zur Burg der Familie geschickt, wo ich und eine kleine Schar von Dienern zurückgeblieben waren, damit er nach dem Rechten sah. Vordergründig lautete sein Auftrag zu überprüfen, ob ich meinen Unterhalt auch wirklich verdiente, doch während ich zuvor ausschließlich als Stallknecht gearbeitet hatte, übertrug er mir auf einmal andere Pflichten und zahlte mir zum ersten Mal in meinem Leben einen bescheidenen Lohn. Er ging mit mir sogar zu einem in der Gegend lebenden Mönch und ließ mich von ihm unterrichten. Dieser war einer von Tausenden, die sich nach der Auflösung der Klöster durch den alten König Henry mit Betteln und Gelegenheitsdiensten durchschlugen. Beim übrigen Personal von Dudley Castle hatte der Haushofmeister Ihrer Ladyschaft als widernatürlich gegolten, als kalter, einsamer Mann, der unverheiratet und kinderlos geblieben war – doch mir hatte er eine völlig unerwartete Gunst erwiesen.
Und jetzt wusste ich, warum.
Er wollte, dass ich seine Nachfolge antrat, wenn Alter und Siechtum ihn zwangen, sich zur Ruhe zu setzen. Das war freilich nicht gerade die Rolle, die ich anstrebte, bestand sie doch aus all jenen langweiligen Aufgaben, für die Lady Dudley weder Zeit noch Interesse hatte. Andererseits war das immer noch viel besser, als jemand in meiner Lage es für sich erwarten konnte oder sollte. Nur wäre ich eben lieber in den Stallungen geblieben, als ein privilegierter Lakai zu werden, der von den Launen der Dudleys abhängig war. Pferde verstand ich wenigstens, wohingegen der Herzog und seine Frau Fremde für mich waren, und zwar in jeder Hinsicht.
Dennoch durfte ich nicht undankbar wirken. So neigte ich den Kopf und murmelte: »Es wäre eine Ehre für mich, wenn man mich einer solchen Stellung für würdig erachtete.«
Ein schiefes Lächeln, das umso verblüffender war, da es Seltenheitswert hatte, hellte Master Sheltons Züge auf. »Wäre es das? Das habe ich mir schon gedacht. Na gut, dann werden wir eben sehen müssen, nicht wahr?«
Ich erwiderte sein Lächeln. Lord Robert als Junker zu dienen würde mich vor genügend Herausforderungen stellen, ohne dass ich mir den Kopf über eine zukünftige Anstellung als Haushofmeister zu zerbrechen brauchte. Der drittälteste Sohn des Herzogs und ich waren ungefähr gleich alt und hatten unsere Kindheit auf der Burg seiner Eltern verbracht. Allerdings hatte ich ihn seit Jahren nicht mehr gesehen.
Um die Wahrheit zu sagen, Robert Dudley war mein Fluch gewesen. Schon als Knabe war er der ansehnlichste und begabteste der Dudley-Sippe und hatte sich in allem, was er unternahm, ausgezeichnet, gleichgültig, ob Bogenschießen, Musik oder Tanz. Außerdem hegte er einen übertriebenen Stolz auf seine Überlegenheit – er war ein Tyrann, dem es königlichen Spaß bereitete, seine Brüder in dem stets aufs Neue lustigen Spiel »Prügelt das Findelkind« herumzukommandieren.
Wie geschickt ich mich auch versteckte, wie heftig ich mich auch wehrte, am Ende gelang es Robert immer, mich zur Strecke zu bringen. Und dann wiegelte er seine Brüder, diese Schlägerbande, dazu auf, mich in den mit Fäkalien verschmutzten Burggraben zu tauchen oder mich über den Brunnen im Innenhof zu hängen, bis meine Schreie in Schluchzen übergingen und meine geliebte Mistress Alice herbeistürzte, um mich zu retten. Den größten Teil meiner Zeit verbrachte ich damit, auf Bäume zu klettern oder mich verängstigt auf Dachböden zu verbergen. Schließlich wurde Robert an den königlichen Hof geschickt, um dem jungen Prinzen Edward als Edelknabe zu dienen. Und als seine Brüder mit ähnlichen Stellen versorgt waren, entdeckte ich eine nie erlebte und hochwillkommene Freiheit von ihrer Grausamkeit.
So schwer es mir fiel, mich mit diesem Gedanken anzufreunden, jetzt war ich auf dem Weg zu Robert, um ihm zu dienen. Keine Geringere als seine Mutter hatte es befohlen. Aber natürlich zogen Adelsfamilien unglückliche Findelkinder wie mich nicht aus reiner Nächstenliebe auf. Mir war von Anfang an klar gewesen, dass der Tag kommen würde, an dem sie meine Schuld bei ihnen einfordern würden.
Meine Gedanken waren mir wohl am Gesicht abzulesen, denn Master Shelton räusperte sich und murmelte verlegen: »Du brauchst dich nicht zu grämen. Du und Lord Robert, ihr seid jetzt erwachsene Männer. Achte einfach auf deine Manieren, und tu, was er dir aufträgt, dann geht alles gut für dich aus. Du wirst schon sehen.« Und in einem neuerlichen Anflug von Empfindsamkeit tätschelte er mir die Schulter. »Mistress Alice wäre stolz auf dich. Sie hat immer daran geglaubt, dass aus dir etwas wird.«
Plötzlich schnürte sich mir die Kehle zu. Wieder sah ich sie vor meinem inneren Auge, wie sie mahnend den Finger hob, während auf dem Herd der Topf mit den Kräutern blubberte und ich mit den von der frisch gekochten Marmelade verklebten Lippen und Fingern wie verzaubert dasaß. »Du musst immer zu Großem bereit sein, Brendan Prescott«, pflegte sie mir vorzuhalten. »Wir können nicht wissen, wann wir dazu aufgerufen werden, uns über unser Schicksal zu erheben.«
Ich wandte die Augen ab und gab vor, die Zügel anzuziehen. Das nun eintretende Schweigen wurde nur vom steten Klipp-klapp der Hufe auf den mit getrocknetem Lehm bedeckten Pflastersteinen durchbrochen.
Schließlich brummte Master Shelton: »Hoffentlich passt deine Livree. Du könntest ein bisschen Fleisch auf deinen Knochen durchaus vertragen, aber deine Haltung ist gut. Hast du regelmäßig mit dem Kampfstab geübt, wie ich es dich gelehrt habe?«
»Jeden Tag«, antwortete ich und zwang mich, zu ihm aufzusehen. Master Shelton hatte keine Ahnung davon, was ich in den letzten Jahren noch alles geübt hatte.
Es war Mistress Alice, die mich mit dem Gebrauch der Buchstaben vertraut gemacht hatte. Sie selbst war eine Seltenheit gewesen: Als gebildete Kaufmannstochter war sie in Not geraten, und nachdem sie in den Dienst der Dudleys getreten war, um »Leib und Seele zusammenzuhalten«, wie sie gerne sagte, hatte sie mir immer gepredigt, dass unser Geist nur eine einzige Grenze hatte – diejenige, die wir uns selbst setzten. Nach ihrem Tod hatte ich mir geschworen, meine Studien zu ihrem Gedenken fortzusetzen. Von da an beeindruckte ich den Mönch mit dem fauligen Atem, den Master Shelton gedungen hatte, mit derart glühendem Eifer, dass er mich bald durch die Feinheiten von Plutarchs Stil lotste. Oft blieb ich ganze Nächte lang wach und las Bücher, die ich aus der Bibliothek der Dudleys entwendet hatte. Die Familie hatte Regale voller schwerer Bände erworben, hauptsächlich, um mit ihrem Wohlstand zu prahlen, denn ihre Söhne hielten sich mehr auf ihr Geschick bei der Jagd zugute als auf irgendeine Begabung für die Feder. In meinem Fall dagegen wurde das Lernen zur Leidenschaft. In diesen muffigen Schwarten entdeckte ich eine Welt ohne Beschränkungen, in der ich sein konnte, wer immer ich sein wollte.
Ich unterdrückte ein Lächeln. Auch Master Shelton war des Lesens und Schreibens kundig. Das musste er auch sein, um die Geschäftsbücher des Hauses Dudley zu führen. Gleichwohl legte er Wert darauf zu betonen, dass er nie mehr anstrebte, als ihm aufgrund seines Geburtsrechts zustand, und dass er solche Anmaßung bei anderen ebenfalls nicht dulden würde. Seiner Auffassung nach sollte kein Diener, so fleißig er auch sein mochte, danach streben, Gespräche über die humanistische Philosophie eines Erasmus oder die Traktate von Thomas Morus zu führen, und schon gar nicht in fließendem Französisch oder Latein. Und ich bezweifle stark, dass er begeistert gewesen wäre, wenn er gewusst hätte, wie viel von seinen Zahlungen an den Lehrer gerade dafür verwendet worden war.
Schweigend ritten wir weiter und erreichten die Kuppe des Hügels. Da sich die Straße unter uns von hier an durch eine baumlose Ebene zog, stach mir die Leere des Landes ins Auge. Von den Midlands her war ich einen weiten Blick gewohnt, und wir waren auch noch gar nicht weit von ihnen entfernt – dennoch fühlte ich mich, als beträte ich fremdes Hoheitsgebiet.
Rauch zog sich über den Himmel wie ein schmieriger Fingerabdruck. Ich bemerkte Zwillingstürme, dann massive Mauern, die sich in einem weiten Bogen um eine ausgedehnte Siedlung mit Wohngebäuden, Kirchtürmen, am Flussufer gelegenen Herrenhäusern und einem schier endlosen Gitterwerk von Straßen auftürmten – und all das wurde von der Themse geteilt.
»Das ist sie«, erklärte Master Shelton. »Die große Stadt. London. Du wirst den Frieden des Landlebens früh genug vermissen – wenn dich nicht schon vorher Halsabschneider oder die Pest erwischen.«
Ich konnte nur noch starren. London wirkte genauso riesig und unheilvoll, wie ich es mir vorgestellt hatte, und am Himmel segelten Rotmilane, als gäbe es in der Stadt Aas zuhauf. Doch als wir uns den gewundenen Mauern näherten, erspähte ich in ihrem Umkreis mit Nutztieren gesprenkelte Weiden, Kräuter- und Obstgärten und reiche Weiler. Allem Anschein nach konnte sich London auch großer ländlicher Gebiete rühmen.
Wir erreichten eines der sieben Tore der Stadt. Verzaubert nahm ich alles in mich auf, was sich meinen Augen darbot: eine Gruppe übertrieben vornehm gekleideter Kaufleute, die auf einem Ochsenkarren hockte, einen Kesselflicker, der auf den Schultern ein mit klirrenden Messern und Kupfer behängtes Joch trug und dabei lauthals sang, eine Horde von Bettlern, Lehrjungen, geschäftigen Handwerksgesellen, Metzgern, Kürschnern und Pilgern. Mit einem Mal brach ein Streit mit den Torwächtern aus, die der Menge abrupt Stillstand befohlen hatten. Als Master Shelton und ich uns ebenfalls in die Schlange einreihten, blickte ich zu dem über mir aufragenden Tor hoch, umrahmt von zwei wuchtigen Gefechtstürmen, mit ihren von Ruß geschwärzten Schießscharten.
Jäh erstarrte ich. Aufgespießt auf Pfählen, starrte aus blinden Augen eine Sammlung von blutbesudelten Köpfen auf mich herab – ein gespenstisches Festmahl für die Raben, die gierig an dem faulenden Fleisch zerrten.
»Papisten«, knurrte Master Shelton neben mir. »Seine Lordschaft hat befohlen, dass ihre Schädel als Warnung zur Schau gestellt werden sollen.«
Papisten waren Katholiken. Nach ihrem Glauben war nicht unser Monarch das Oberhaupt der Kirche, sondern der Papst in Rom. Mistress Alice war Katholikin gewesen. Obwohl sie mich dem Gesetz gemäß nach den Grundsätzen des reformierten Glaubens erzogen hatte, hatte ich sie nachts oft den Rosenkranz beten sehen.
In diesem Moment fiel mir wie Schuppen von den Augen, wie weit ich hier von dem Ort entfernt war, den ich als mein Zuhause gekannt hatte, das einzige, das ich je gehabt hatte. Dort ließ man die Leute einfach so gewähren, wie sie wollten. Niemand machte sich die Mühe, die örtlichen Behörden zu holen und irgendjemandem Ärger zu bescheren. Hier dagegen konnte derlei einen Menschen anscheinend den Kopf kosten.
Ein struppiger Wächter schlurfte auf uns zu und wischte sich im Gehen die fettverschmierten Hände an seinem Rock ab. »Keiner darf rein!«, bellte er. »Die Tore sind auf Geheiß Seiner Lordschaft geschlossen!« Er stockte abrupt, als er das Abzeichen an Master Sheltons Umhang bemerkte. »Bist du einer von Northumberlands Männern?«
»Der Haushofmeister seiner Gemahlin.« Master Shelton zog eine Rolle mit Dokumenten aus seiner Satteltasche. »Hier habe ich Pässe, die mir und dem Jungen freies Geleit sichern. Wir werden am Hof erwartet.«
»Ach, wirklich?« Der Wächter grinste ihn hämisch an. »Jeder erbärmliche Wicht behauptet, er würde irgendwo erwartet. Der Pöbel redet viel. Erst gehen diese Gerüchte von der tödlichen Krankheit Seiner Majestät um, und jetzt verbreiten sie diesen Unsinn, dass Prinzessin Elizabeth mitten unter uns sein soll.« Er zog Schleim hoch und spuckte ihn aus. »Idioten, sag ich! Die würden sogar glauben, dass der Mond aus Seide ist, wenn genug Leute das beschwören.« Er gab sich gar nicht erst damit ab, unsere Papiere zu überprüfen. »An eurer Stelle würde ich mich von Menschenmengen fernhalten«, riet er uns und winkte uns durch.
Ungestört ritten wir weiter und am Torhaus vorbei. In unserem Rücken hörte ich die wütenden Schreie der anderen, die nicht durchgelassen wurden. Master Shelton verstaute die Dokumente wieder in seiner Satteltasche. Als er seinen Umhang auseinanderschlug, kam ein an seinen Rücken geschnalltes Breitschwert zum Vorschein. Einen Moment lang bannte mich der Anblick der Waffe. Verstohlen griff ich nach meinem Dolch – ein Geschenk von Master Shelton zu meinem vierzehnten Geburtstag –, der mitsamt Scheide in meinem Gürtel steckte.
»Seine Majestät, König Edward … liegt er tatsächlich im Sterben?«, wagte ich zu fragen.
»Natürlich nicht!«, schnaubte Master Shelton. »Der König ist ein bisschen krank, das ist alles. Und daran geben die Leute dem Herzog die Schuld, wie sie ihn für praktisch alles verantwortlich machen, was in England nicht stimmt. Absolute Macht, mein Junge, hat eben ihren Preis.« Er schob den Unterkiefer vor. »Doch jetzt halt die Augen offen. Du kannst nie wissen, wann du an einen Halunken gerätst, der dir im Handumdrehen die Kehle aufschlitzt, nur weil er auf deine Kleider aus ist.«
Das glaubte ich ihm sofort. London war ganz und gar nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Statt den friedlichen, auf beiden Seiten von Geschäften gesäumten Prachtalleen aus meinen Fantasievorstellungen durchquerten wir ein Gewirr von krummen Gassen, wo sich gewaltige Abfallberge auftürmten und Durchgänge in finstere, Unheil verkündende Hinterhöfe führten. Über uns lehnten sich ganze Reihen von verfallenen Häusern aneinander, sodass sich ihre morschen Giebel geradezu ineinander verkeilten. Sonnenlicht drang kaum noch nach unten. Hier herrschte gespenstische Stille, als wären alle Bewohner verschwunden, eine Ruhe, die umso beängstigender wirkte, nachdem am Tor gerade noch ein solches Getöse geherrscht hatte.
Unvermittelt brachte Master Shelton sein Pferd zum Stehen. »Hör nur.«
Meine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Ein gedämpfter Laut drang an meine Ohren, der aus allen Richtungen gleichzeitig zu kommen schien. »Rühr dich besser nicht«, warnte mich Master Shelton. Ich gehorchte und straffte Cinnabars Zügel, womit ich ihn an die Seite lenkte. Im nächsten Augenblick drängte sich eine gewaltige Menschenmenge durch die Straße. Das geschah so unerwartet, dass Cinnabar trotz meines festen Griffs scheute. Aus Sorge, er könnte jemanden zertrampeln, ließ ich mich aus dem Sattel gleiten und packte ihn am Zaumzeug.
Die Menge teilte sich um uns und eilte weiter. So ohrenbetäubend laut, wie dieser bunt zusammengewürfelte, nach Schweiß und Kloake stinkende Haufen war, befiel mich die Angst, jemand könnte mir nach dem Leben trachten. Unwillkürlich tastete ich nach dem Dolch an meinem Gürtel, nur um zu bemerken, dass überhaupt niemand auf mich achtete. Ich spähte zu Master Shelton hinüber, der immer noch auf seinem mächtigen Fuchs saß. Er bellte einen unverständlichen Befehl. Ich reckte den Kopf und versuchte, die Anweisung zu verstehen.
»Steig wieder auf!«, brüllte er. Doch während ich das versuchte, wurde ich von der weiterdrängenden Menge fast umgerissen. Mit Mühe und Not schaffte ich es, auf Cinnabars Rücken zu klettern, dann wurden wir auch schon von den Menschen fortgeschwemmt. Hilflos schlingerten wir durch einen engen Durchgang und wurden unversehens an ein Flussufer gespült.
Mit einem Ruck am Zügel brachte ich Cinnabar zum Stehen. Vor mir wälzte sich die von grünen Algen bedeckte Themse vorbei. Stromabwärts verstellte in der Ferne ein in Dunst gehüllter Steinhaufen die Landschaft.
Der Tower.
Ich erstarrte, unfähig, den Blick von der berüchtigten königlichen Festung abzuwenden. Hinter mir kam Master Shelton herangeritten. »Habe ich dir nicht gesagt, dass du die Augen offen halten sollst? Los, weiter. Jetzt ist nicht die Zeit, um Bauwerke zu bewundern. Die Meute in London kann so grausam werden wie ein Bär im Burggraben.«
Ich riss mich von dem Anblick los und kümmerte mich zunächst um mein Pferd. Cinnabars zitternde Flanken waren von einer feinen Schweißschicht bedeckt, und seine Nüstern blähten sich, doch er wirkte unversehrt. Die Menge stürmte unterdessen weiter zu einer breiten Straße mit Wohnhäusern auf beiden Seiten und mehreren Gasthöfen, deren Schilder im Wind schwangen. Viel zu spät fasste ich mir im Weiterreiten an den Kopf. Wie durch ein Wunder saß die Kappe immer noch darauf.
Dann blieben die Leute stehen, ärmliche, einfache Menschen. Ich schaute zu, wie Gassenjungen auf Zehenspitzen herumschlichen und Hunde hinter ihnen hertrotteten. Diebe – und dem Aussehen nach zu schließen, nicht einer davon älter als neun Jahre. Bei ihrem Anblick fiel mir die Vorstellung nicht schwer, was für ein Halunke aus mir hätte werden können, wenn mich die Dudleys nicht bei sich aufgenommen hätten.
Master Shelton zog eine verdrießliche Miene. »Sie versperren uns den Weg. Laufe los und sieh zu, dass du herausfindest, was die Leute da so anglotzen. Ich möchte uns nicht mit Gewalt einen Weg dort hindurch verschaffen, wenn es sich vermeiden lässt.«
Ich reichte ihm meine Zügel, stieg erneut ab und zwängte mich durch die Menge. Dieses eine Mal wenigstens war ich dankbar für meine schmächtige Gestalt. Ich wurde beschimpft, mit Ellbogen gestoßen, geschubst, schaffte es aber, mich bis ganz nach vorn zu drängeln. Auf Zehenspitzen stehend, spähte ich vorbei an den gereckten Köpfen zu einer festgetretenen Lehmstraße, auf der sich ein unscheinbarer Reiterzug näherte. Schon wollte ich mich enttäuscht abwenden, als sich eine rundliche Frau neben mich schob und einen welken Blumenstrauß schwingend schrie: »Gott segne Euch, süße Bess! Gott segne Eure Hoheit!«
Mit einem kräftigen Schwung schleuderte sie die Blumen in die Luft. Auf einen Schlag herrschte Stille. Einer der Männer im Reiterzug ritt näher zur Mitte, als wollte er etwas – oder jemanden – verdecken.
Erst in diesem Moment bemerkte ich, halb hinter den größeren Pferden verborgen, ein scheckiges Streitross. Ich hatte ein gutes Auge für Pferde, und in diesem Tier mit dem gewölbten Rücken, der geschmeidigen Muskulatur und den tänzelnden Hufen erkannte ich auf Anhieb eine in England selten gesehene spanische Rasse, von der ein Exemplar mehr kostete als der gesamte Reitstall des Herzogs.
Und dann wurde mein Blick von der darauf sitzenden Person angezogen.
Obwohl ein Kapuzenumhang das Gesicht verdeckte und die Hände in Lederhandschuhen steckten, erkannte ich auf Anhieb, dass es eine Frau war. Gegen alle Gepflogenheiten war sie rittlings wie ein Mann aufgestiegen und trug kniehohe Reitstiefel, die sich vor den mit Mustern verzierten Seiten des Sattels abzeichneten – eindeutig Frauenstiefel. Nichts an ihr wies auf eine hohe Persönlichkeit hin, nur das Pferd. Zielstrebig ritt sie weiter, als wollte sie möglichst bald ihr Ziel erreichen.
Und doch wusste sie, dass wir sie beobachteten, und hörte den Ruf der Frau, denn sie wandte ihr den Kopf zu. Zu meiner Überraschung schob sie sogar die Kapuze zurück, womit sie ein längliches, zart geschnittenes Gesicht offenbarte, das von einer Korona aus kupferfarbenem Haar umrahmt wurde.
Und sie lächelte.
Plötzlich nahm ich alles wie durch einen Nebel wahr. Die Worte des Torwächters fielen mir wieder ein: … jetzt verbreiten sie diesen Unsinn, dass Prinzessin Elizabeth mitten unter uns sein soll. Und ich verspürte tatsächlich einen Stich im Herzen, als der Reiterzug vorbeisprengte und verschwand.
Nach und nach löste sich die Menge auf. Nur einer der Gassenjungen schlich gegen den Strom auf die Straße hinaus und barg den liegen gebliebenen Blumenstrauß. Die Frau, die ihn in die Luft geworfen hatte, stand immer noch wie gebannt da und starrte, die Hände gegen die Brust gepresst, den längst entschwundenen Reitern nach. In ihren müden Augen schimmerten Tränen.
Mit verklärter Miene drehte sie sich zu mir um. »Hast du sie gesehen?«, flüsterte sie. Obwohl sie mir ins Gesicht schaute, beschlich mich das Gefühl, dass sie mich gar nicht wahrnahm. »Hast du sie gesehen, unsere Bess? Endlich ist sie zu uns gekommen – gepriesen sei Gott, der Herr! Nur sie kann uns aus den Klauen dieses Teufels von Northumberland retten.«
Regungslos stand ich da, dankbar, dass meine Livree in der Satteltasche steckte. War das also das Bild, das die Londoner von John Dudley, Duke of Northumberland, hatten? Ich wusste, dass der Herzog dem König jetzt als oberster Minister diente, seit er nach dem Fall von dessen Onkel und vormaligem Protektor, Edward Seymour, die Macht ergriffen hatte. Viele Untertanen hatten die Seymours wegen deren Habgier und Machtbesessenheit verflucht. Hatte der Herzog denselben Hass auf sich gezogen?
Ich wandte mich von der Frau ab. Hinter mir war Master Shelton herangeritten. Wütend funkelte er die Frau von seinem Pferd herab an. »Du bist eine Närrin«, grollte er. »Nimm dich bloß in Acht, dass deine Torheiten nicht den Männern meines Herrn, des Herzogs, zu Ohren kommen, sonst schneiden sie dir noch die Zunge heraus, so wahr ich hier sitze.«
Sie glotzte ihn mit offenem Mund an. Als sie das Abzeichen auf seinem Umhang bemerkte, taumelte sie benommen zurück. »Der Mann des Herzogs!«, kreischte sie und stolperte davon. Diejenigen, die zurückgeblieben waren, retteten sich, die gleiche Warnung schreiend, in das verwinkelte Gassengeflecht oder das nächste Gasthaus.
Auf der anderen Seite der breiten Straße hielt auf einmal eine Gruppe von äußerst grobschlächtig aussehenden Männern inne und starrte uns unverwandt an. Als ich unter einem Ärmel eine Dolchscheide aufblitzen sah, sackte mir das Herz in die Hose.
»Sitz besser auf«, forderte mich Master Shelton auf, ohne den Blick von den Männern abzuwenden. Das brauchte er mir nicht zweimal zu sagen. Im Nu schwang ich mich in den Sattel, während Master Shelton sich umdrehte und den Blick über die Umgebung schweifen ließ. Unterdessen hatten sich die Männer in Bewegung gesetzt und überquerten die Straße, womit sie teilweise den Weg versperrten, den der Reiterzug genommen hatte. Ich wartete mit hämmerndem Herzen. Uns blieben zwei Möglichkeiten. Wir konnten auf dem Weg zurückreiten, auf dem wir gekommen waren, also über die Uferstraße wieder in das Labyrinth von Gassen eintauchen, oder aber auf die verfallenen Fachwerkhäuser in der anderen Richtung zuhalten, zwischen denen es jedoch keine Lücke zu geben schien. Einen Moment lang sah es so aus, als würde Master Shelton zögern. Dann lenkte er seinen Fuchs wieder herum und taxierte die sich uns nähernden Männer.
Jäh breitete sich ein wildes Grinsen auf seinem vernarbten Gesicht aus, dann rammte er seinem Fuchs die Fersen in die Flanken und sprengte los – geradewegs auf die Männer zu.
Ein leichter Tritt in Cinnabars Seiten, und ich folgte in halsbrecherischem Galopp. Die Männer schienen zu Salzsäulen zu erstarren. Mit hervorquellenden Augen sahen sie diesen Angriff von harten Muskeln gepaart mit fliegenden Hufen auf sich zukommen. Erst in letzter Sekunde warfen sie sich wie die Erdklumpen, die unsere Pferde aufwirbelten, zur Seite. Während wir vorbeidonnerten, hörte ich einen qualvollen Schrei. Ich riskierte einen Blick zurück. Einer der Männer lag mit dem Gesicht nach unten auf der Straße; aus seinem zerschlagenen Kopf sickerte Blut.
Zwischen den verfallenen Gebäuden jagten wir weiter. Alle Lichter waren gelöscht. Ein Pesthauch von Exkrementen, Urin und faulenden Essensresten legte sich über mich und drohte, mich zu ersticken, als drückte mir jemand einen Umhang auf das Gesicht. Über mir ragten Balkone über die Straße, bildeten ein beängstigendes Gewölbe, festlich geschmückt mit tropfnasser Wäsche und noch nicht fertig abgehangenen Fleischschwarten. Schmutzbrühe spritzte auf, als unsere Pferde durch die überfließenden Rinnen jagten, die die Fäkalien der Stadt in den Fluss spülten. Ich hielt die Luft an und presste die Zähne aufeinander, denn schon hatte ich den Geschmack der Gallenflüssigkeit in der Kehle. Und die gewundene Gasse schien einfach nicht enden zu wollen! Aber dann erreichten wir keuchend und hustend doch noch eine freie Fläche.
Ich zügelte Cinnabar. Erst als wir standen, merkte ich, dass sich alles um mich herum drehte. Ich schloss die Augen und atmete tief durch, um den Wirbel in meinem Kopf zu beruhigen. Nun wurde ich der plötzlichen Stille gewahr. In der Luft hingen die Gerüche von saftigem Gras und Äpfeln. Ich schlug die Augen auf.
Wir hatten eine andere Welt betreten.
Um uns herum wiegten sich hoch aufragende Eichen und Buchen in der Brise. So weit mein Auge reichte, erstreckte sich vor mir eine Wiese. Eine Oase mitten in der Stadt? Wie überaus merkwürdig! Voll des Staunens wandte ich mich zu Master Shelton um. Der spähte in die Ferne, das wettergegerbte Gesicht verwittert wie ein Fels. Noch nie hatte ich bei ihm ein Verhalten beobachtet wie gerade eben. Wie ein Besessener war er über einen hilflosen Mann hinweggeritten, als hätte er seine Haut einfach abgeworfen und unter der Schicht des hochherrschaftlichen Burgvogtes einen Söldner offenbart.
Ich musste immer noch meine Gedanken sammeln. Zögernd fragte ich: »Diese Frau … sie hat sie Bess genannt. War sie … die Schwester des Königs, Prinzessin Elizabeth?«
»Wenn sie es wirklich war, dann bringt sie nur Ärger«, knurrte Master Shelton. »Der folgt ihr sowieso überallhin, genauso wie dieser Hure von ihrer Mutter.«
Darauf entgegnete ich nichts mehr. Natürlich hatte ich von Anne Boleyn gehört. Wer hatte das nicht? Wie so viele auf dem Land draußen war ich mit blutrünstigen Geschichten über Henry VIII. und seine sechs Frauen aufgewachsen, mit denen er seinen Sohn, unseren gegenwärtigen König Edward VI., und zwei Töchter gezeugt hatte, die Prinzessinnen Mary und Elizabeth. Um Anne Boleyn heiraten zu können, hatte Henry seine erste Frau, die spanische Prinzessin Katharina von Aragón, die Mutter von Lady Mary, verstoßen. Danach hatte er sich zum Oberhaupt der englischen Kirche ausgerufen. Es hieß, Anne Boleyn hätte bei ihrer Krönung gelacht, doch das Lachen sollte ihr bald vergehen. Vom Volk als Ketzerin und Hexe beschimpft, die den König dazu angestachelt hatte, das Reich aus den Angeln zu heben, wurde sie nur drei Jahre nach Elizabeth’ Geburt wegen Inzest und Landesverrat angeklagt. Zusammen mit ihrem Bruder und vier weiteren Männern wurde sie geköpft. Einen Tag nach Annes Tod wurde Jane Seymour, König Edwards Mutter, mit Henry verlobt.
Ich wusste, dass viele, die Annes Aufstieg und Fall erlebt hatten, sie auch noch nach ihrem tragischen Ende zutiefst verachteten. Von den einfachen Leuten verehrten immer noch viele Katharina von Aragón. Ihre Unbeirrbarkeit und Würde waren nie in Vergessenheit geraten, selbst wenn ihr Leben zerstört worden war. Wie auch immer die Verhältnisse sein mochten, ich war von Master Sheltons heftigem Ton verunsichert. Er sprach von Elizabeth, als wäre sie schuld an den Verbrechen ihrer Mutter.
Während ich noch versuchte, aus alldem schlau zu werden, lenkte er meine Aufmerksamkeit auf eine Silhouette, die sich von dem rasch dunkler werdenden Abendhimmel abhob. »Das ist der Whitehall-Palast«, sagte er. »Komm, es wird spät. Für einen einzigen Tag haben wir genug Aufregung erlebt.«
Durch den riesigen, nach allen Seiten offenen Park erreichten wir Straßen, gesäumt von den hinter den Mauern aufragenden Herrenhäusern und dunklen Kirchen. Ich bemerkte eine große Steinkathedrale, die einem Wachposten gleich auf einem Hügel stand, und staunte über ihre düstere Pracht. Und als wir uns dem Whitehall-Palast näherten, wurde ich von Ehrfurcht schier überwältigt.
Schlösser und Burgen waren nichts Neues für mich. Ja, der Sitz des Geschlechts Dudley, auf dessen Landgut ich aufgewachsen war, war eine Burg, die als eine der beeindruckendsten im ganzen Reich galt. Doch Whitehall war anders als alles, was ich bisher gesehen hatte. An eine Flussbiegung geschmiegt, türmte sich die königliche Residenz von Henry VIII. vor mir auf – ein farbenprächtiger Bienenkorb aus bizarren Türmchen, spiralenförmig gewundenen Türmen und Säulengängen, die sich vor mir zu recken schienen wie schläfrige Raubtiere. Soweit ich das erkennen konnte, zogen sich zwei größere Hauptwege durch die Anlage, und überall wimmelte es von äußerst geschäftigen Menschen.
Wir ritten in gemächlichem Trab durch das nördliche Tor, vorbei an einem überfüllten Vorhof zu einem Innenhof, wo sich zahllose Dienstboten, Amtsträger und Höflinge drängten. Die Zügel unserer Pferde straff im Griff, gingen wir zu Fuß weiter, zu den Stallungen, wie ich annahm, als uns ein schmucker Mann in karmesinrotem Wams zielstrebig entgegentrat.
Master Shelton hielt mit einer steifen Verbeugung an. Der Mann neigte ebenfalls den Kopf zum Gruß, um uns dann mit seinen blassblauen Augen abzuschätzen. Seine lebhaften Züge wurden durch einen goldbraunen Bart abgerundet. Er erweckte bei mir den Eindruck, alterslose Männlichkeit und einen scharfen Verstand zu besitzen.
Als ich ehrerbietig den Kopf senkte, erspähte ich unter seinen Fingernägeln getrocknete halbmondförmige Tintenflecken. »Master Shelton, Ihre Ladyschaft hatte mir mitgeteilt, dass Ihr heute eintreffen könntet«, hörte ich ihn in kühlem Ton sagen. »Ich nehme an, dass Eure Reise nicht allzu beschwerlich war.«
»Nein, Mylord«, antwortete Master Shelton leise.
Der Blick des Mannes streifte mich. »Und das ist …?«
»Brendan«, platzte ich heraus. Erst, als es zu spät war, begriff ich, was ich getan hatte. »Brendan Prescott, Euch zu Diensten, edler Herr.« Einem Impuls folgend, vollführte ich eine Verbeugung, die erkennen ließ, dass stundenlanges mühevolles Üben dahintersteckte, auch wenn ich schrecklich albern auf ihn wirken musste.
Wie um meine Gedanken zu bestätigen, stieß er ein herzhaftes Lachen aus. »Ihr müsst Lord Roberts neuer Junker sein.« Sein Lächeln wurde breiter. »Privat mag Euer Herr eine solch erhabene Anrede von Euch verlangen, ich dagegen bin mit einem einfachen ›Master Secretary Cecil‹ oder ›Mylord‹ zufrieden, wenn Euch das recht ist.«
Ich spürte, wie ich errötete. »Selbstverständlich!«, rief ich. »Vergebt mir, Mylord.«
»Der Junge ist müde, das ist alles«, brummte Master Shelton. »Wenn Ihr Ihre Ladyschaft über unsere Ankunft in Kenntnis setzt, werden wir Euch nicht länger behelligen.«
Master Secretary Cecil wölbte eine Augenbraue. »Ich fürchte, Ihre Ladyschaft ist gegenwärtig nicht hier. Sie und ihre Töchter sind in das Durham House in The Strand gezogen, um für die Edlen und ihr Gefolge Unterkunft zu schaffen. Das Haus Seiner Lordschaft ist heute Abend voller Gäste, müsst Ihr wissen.«
Master Shelton erstarrte. Meine Augen schossen zwischen ihm und Master Secretary Cecils unergründlichem Lächeln hin und her. In diesem Moment begriff ich, dass Master Shelton nicht Bescheid gewusst hatte und soeben zurechtgewiesen worden war. So freundlich Cecils Gebaren auch sein mochte, gleichrangig waren die zwei Männer nicht.
»Lady Dudley hat allerdings eine Nachricht hinterlassen, dass sie Eurer Dienste bedarf«, fuhr Cecil fort. »Ihr sollt ihr umgehend in das Durham House folgen. Ich kann Euch eine Eskorte zur Verfügung stellen, wenn Ihr möchtet.«
Um uns herum rannten Bedienstete hin und her und zündeten mit ihren Fackeln an den Mauern angebrachte Leuchten an. Die Dämmerung hüllte den Hof und Master Sheltons Gesicht ein. »Ich kenne den Weg«, knurrte er und winkte mich zu sich. »Komm mit, Junge. Das Durham House ist nicht weit.«
Ich wollte ihm schon folgen, als Cecil mich am Arm fasste. Seine Finger übten einen leichten, doch überraschend gebieterischen Druck aus. »Ich glaube, unser neuer Junker wird hier, bei Lord Robert, Unterkunft beziehen. Ich bringe ihn zu seinen Gemächern.«
Ich hatte nicht damit gerechnet, so bald schon mir selbst überlassen zu werden, und einen Moment lang fühlte ich mich verloren wie ein verlassenes Kind. Insgeheim hoffte ich, Master Shelton würde darauf bestehen, dass ich ihn zum Rapport bei Lady Dudley begleitete. Stattdessen sagte er nur: »Geh, Junge. Du musst deine Pflicht erfüllen. Ich sehe später nach dem Rechten.« Ohne Cecil eines weiteren Blicks zu würdigen, schritt er zurück zum Tor. Die Hand fest um Cinnabars Zügel geschlossen, folgte ich Cecil.
Unter dem nächsten Durchgang blickte ich noch einmal über die Schulter.
Master Shelton war verschwunden.
Mir blieb keine Zeit, die riesigen Stallungen, bevölkert von zahllosen Pferden und Jagdhunden, zu bewundern. Nachdem ich Cinnabar einem jungen, dunkelhaarigen Knecht mit – was Münzen betraf – äußerst zupackender Hand anvertraut hatte, schulterte ich meine Satteltasche und hastete Cecil hinterher, der mich über einen weiteren Innenhof, durch eine Seitentür und eine Stiege hinauf zu einer Serie von ineinander übergehenden Kammern führte, jede mit gewaltigen Wandbehängen geschmückt.
Dicke Wollteppiche dämpften unsere Schritte. Die Luft roch stark nach Wachs und Moschus. Von den mit Kerzen gespickten Lüstern, die an den Deckenbalken hingen, tropfte stetig Wachs herunter. Die Klänge einer unsichtbaren Laute wehten an unsere Ohren, während Höflinge vorbeihuschten, und die Juwelen an ihrem Damast und Samt glitzerten wie schillernde Schmetterlingsflügel.
Niemand achtete auf mich, doch ich hätte mich nicht einmal dann unbehaglicher fühlen können, wenn jemand mich angehalten und nach meinem Namen gefragt hätte. Ich überlegte, ob ich mich jemals in diesem Labyrinth zurechtfinden, geschweige denn mir den Weg zu und von Lord Roberts Gemächern würde merken können.
»Am Anfang wird man von alldem regelrecht erschlagen«, meinte Cecil, als hätte er meine Gedanken gelesen, »aber Ihr gewöhnt Euch mit der Zeit daran. So ist es uns allen ergangen.«
Ich stieß ein unsicheres Lachen aus. Im Innenhof hatte sein Äußeres einnehmend gewirkt, doch hier, in der endlos langen Galerie, deren Erhabenheit uns alle wie Zwerge erscheinen ließ, ähnelte er auf einmal den Kaufleuten, die regelmäßig zu Dudleys Burg kamen, um dort ihre Waren feilzubieten – kleine Händler, die gelernt hatten, die Wechselfälle des Lebens frohgemut und wachsam zu überdauern, und sich so eine behagliche Nische geschaffen hatten.
»Ihr habt einen bestimmten Gesichtsausdruck«, erklärte Cecil. »Ich empfinde ihn als erfrischend.« Er lächelte. »Er wird nicht lange erhalten bleiben. Die neuen Eindrücke verblassen schnell. Bevor Ihr es Euch verseht, werdet Ihr darüber klagen, wie beengt hier alles ist und dass Ihr für eine Prise frischer Luft alles hergeben würdet.«
Eine Gruppe von lachenden Frauen mit eindrucksvollem Kopfputz und klirrenden Duftkugeln um die Taillen schwebte auf uns zu. Ich gaffte sie mit offenem Mund an. Noch nie hatte ich etwas derart Raffiniertes gesehen. Und als eine von ihnen mich verführerisch anblinzelte, vergaß ich alles, was ich gelernt hatte, und trat dicht heran, so verzaubert war ich von ihrer erlesenen Blässe. Sie lächelte mich an, nur um sich dann abzuwenden, als gäbe es mich gar nicht. Benommen starrte ich ihr nach. Neben mir hörte ich Cecil leise lachen, während wir um die nächste Ecke bogen und in einen menschenleeren Gang traten.
Ich nahm all meinen Mut zusammen und fragte: »Wie lange lebt Ihr schon hier?« Bereits während ich sprach, befielen mich Zweifel, und ich überlegte, ob er mich nicht vielleicht für zu forsch halten würde. Dann wiederum beschwichtigte ich mich damit, dass ich nie etwas lernen würde, wenn ich keine Fragen stellte. Außerdem war auch er nur ein Bediensteter. Unabhängig davon, dass er einen höheren Rang einnahm als Master Shelton, empfing er seine Befehle von Lady Dudley.
Einmal mehr wurde mir sein rätselhaftes Lächeln zuteil. »Ich lebe nicht hier. Ich habe mein eigenes Haus in der Nähe. Gemächer am Hof sind für diejenigen reserviert, die sie sich leisten können. Wenn Ihr wissen wollt, welche Funktion ich ausübe, dann sage ich Euch, dass ich erster Sekretär Seiner Lordschaft, des Herzogs, und der Ratsversammlung bin. Gewissermaßen speist uns dieselbe Hand.«
»Oh.« Ich bemühte mich um einen lässigen Ton. »Ich verstehe. Ich wollte Euch nicht zu nahe treten, edler Herr.«
»Wie gesagt, ›Master Cecil‹ genügt vollauf. Hier gibt es auch ohne unser Zutun schon genügend Gespreiztheit.« Ein schalkhaftes Glimmern hellte seine blassen Augen auf. »Und Ihr braucht Euch nicht kleiner zu machen, als Ihr seid. Es geschieht nicht oft, dass ein Höfling die Ehre hat, mit jemandem zu sprechen, der frei von jeder Verstellung ist.«
Ich schwieg, als wir die Treppenflucht hinaufstiegen. Der Korridor, den wir oben erreichten, war schmäler als die Prunkgänge. Statt Wandbehängen und Teppichen gab es hier nackte Mauern und Holzbohlen.
Vor einer von mehreren identisch aussehenden Türen blieb Cecil stehen. »Das sind die Gemächer der Söhne des Herzogs. Ich weiß nicht, welcher von ihnen oder ob überhaupt einer anwesend ist. Von ihnen hat jeder seine Aufgaben. Wie auch immer, ich muss Euch hier zurücklassen.« Er seufzte. »Die Arbeit eines Sekretärs hört leider nie auf.«
»Danke, Master Cecil.« Wegen der Satteltasche, die ich mir aufgeladen hatte, fiel meine Verbeugung weit weniger aufwändig aus, auch wenn ich ihm für seine freundliche Hilfe aufrichtig dankbar war. Ich spürte, dass er sich eigens Umstände gemacht hatte, damit ich mir am Hof weniger verloren vorkam.
»Gern geschehen.« Er zögerte, während er mich nachdenklich musterte. »Prescott …«, murmelte er. »Euer Nachname hat lateinische Wurzeln. Reicht er in Eurer Familie weit zurück?«
Seine Frage traf mich völlig unvorbereitet. Kurz geriet ich in Panik, weil ich nicht wusste, wie oder ob ich überhaupt antworten sollte. Wäre es besser, ihm unverfroren ins Gesicht zu lügen oder darauf zu setzen, dass ich vielleicht einen neuen Freund gefunden hatte?
Ich entschied mich für Letzteres. Irgendetwas an Cecil erweckte mein Vertrauen, aber den Ausschlag gab vor allem die Überlegung, dass er es bereits wusste. Er war darüber im Bilde, dass ich an den Hof gebracht worden war, um Lord Robert zu dienen. Da war die Annahme doch logisch, dass Lady Dudley, wenn nicht sogar der Herzog selbst, ihm auch andere, weniger schmeichelhafte Wahrheiten über mich erzählt hatte. Es war ja nicht so, als wäre ich ihrer Verschwiegenheit wert. Und wenn ich jemanden, der ihr Vertrauen genoss, mit einer groben Unwahrheit abspeiste, konnte das die wenigen Aussichten, die ich hatte, es am Hof zu etwas zu bringen, im Ansatz zunichtemachen.
Ich erwiderte seinen sanften Blick und sagte: »Prescott ist nicht mein wirklicher Name.«
»Oh?« Seine Augenbrauen wanderten nach oben.
Erneut befielen mich Zweifel. Noch hatte ich Zeit, es mir anders zu überlegen. Noch konnte ich ihm eine Erklärung geben, die nicht allzu weit von der Wahrheit abwich. Ich hatte keine Ahnung, warum ich das nicht tat, warum ich das überwältigende Bedürfnis verspürte, die Wahrheit zu sagen. Nie hatte ich einem Menschen wissentlich das Geheimnis meiner Geburt anvertraut. Von dem Tag an, da ich entdeckt hatte, dass mein persönlicher Mangel mich zur Zielscheibe von Sticheleien und grausamen Mutmaßungen machte, hatte ich mir vorgenommen, nur immer das Nötigste über mich preiszugeben. Es bestand kein Anlass, Einzelheiten zu verraten, die keiner hören wollte, oder Spekulationen herauszufordern.
Doch in seinen Augen spürte ich eine stille Nachdenklichkeit, die mir das Gefühl vermittelte, dass er mich verstehen, vielleicht sogar Anteil nehmen würde. Mistress Alice hatte mich oft so angeschaut und ein Verständnis gezeigt, das auch den kompliziertesten Wahrheiten keineswegs auswich. Ich hatte gelernt, diese Eigenschaft zu schätzen.
Ich holte tief Luft. »Ich bin ein Findelkind. Mistress Alice, die Frau, die mich aufgezogen hat, hat mir meinen Namen gegeben. In früheren Zeiten haben oft Kinder mit dem Namen Prescott im Pfarrhaus gelebt. Dort wurde ich auch gefunden – im ehemaligen Pfarrhaus in der Nähe von Dudley Castle.«
»Und Euer Vorname?«, erkundigte er sich. »Geht der auch auf Mistress Alice zurück?«
»Ja. Sie stammte aus Irland. Sie verehrte den heiligen Brendan aus tiefstem Herzen.«
Ein bedrückendes Schweigen trat ein. Die Iren waren in England wegen ihrer Aufsässigkeit verhasst, doch bisher hatte mein Name nie übermäßige Neugier geweckt. Während ich auf Cecils Antwort wartete, befiel mich wieder die Furcht, einen Fehler begangen zu haben. Zwar konnte man den Nachteil, ein uneheliches Kind zu sein, mit viel Fleiß durchaus ausgleichen, doch nur wenigen gelang der Aufstieg. In der Regel war man aufgrund des fehlenden Stammbaums im besten Fall zu einem Leben als namenloser Knecht verdammt, und im schlimmsten zu einem Bettlerdasein.
Schließlich sagte Cecil: »Wenn Ihr von ›Findelkind‹ sprecht, meint Ihr damit wohl, dass Ihr ausgesetzt wurdet?«
»Ja. Ich war höchstens eine Woche alt.« Obwohl ich mir alle Mühe gab, ungerührt zu wirken, hörte ich die nur zu vertraute Anspannung in meiner Stimme, die Last meiner Hilflosigkeit. »Mistress Alice musste in der Stadt eine Amme verpflichten, damit ich gestillt werden konnte. Wie es das Schicksal so wollte, hatte dort gerade eine Frau ihr Kind verloren, sonst hätte ich vielleicht gar nicht überlebt.«
Er nickte. Bevor sich erneut verlegene Stille über uns senken konnte, plapperte ich weiter. »Mistress Alice hat oft gesagt, die Mönche hätten Glück gehabt, dass ich nicht vor ihrer Tür ausgesetzt worden bin. Ich hätte ihnen gewiss die Speisekammer leer gegessen – und was hätten sie dann noch gehabt, um den Sturm zu überstehen, den der alte Henry für sie zusammengebraut hat?«
Ich war schon in Lachen ausgebrochen, als ich meinen Fehler bemerkte. Ich hatte mich zur Religion geäußert, die am Hof wohl nicht gerade ein sicheres Thema war. Fast hätte ich noch hinzugefügt, dass es laut Mistress Alice nur eines gab, was noch größer war als mein Appetit: mein Mundwerk.
Cecil blieb stumm. Schon hielt ich mir vor, dass ich mir jetzt mit meiner Indiskretion Scherereien eingebrockt hatte, als er murmelte: »Wie schrecklich für Euch.«
Die gefühlvollen Worte fanden keine Entsprechung in seinen forschenden Augen, die mich fixierten, als wollte er sich mein Gesicht für immer einprägen. »Diese Mistress Alice … könnte es sein, dass sie wusste, wer Eure Eltern waren? Solche Dinge geschehen normalerweise in der näheren Umgebung. Ein unverheiratetes Mädchen gerät in andere Umstände und schämt sich zu sehr, um sich jemandem anzuvertrauen – das kommt leider viel zu oft vor.«
»Mistress Alice ist tot«, sagte ich tonlos. Manche Wunden waren zu schmerzhaft, als dass ich sie verschweigen konnte. »Sie wurde auf der Straße nach Stratford von Räubern überfallen. Wenn sie irgendetwas über meine Eltern wusste, hat sie das mit ins Grab genommen.«
Cecil senkte die Augen. »Es tut mir leid, das zu hören. Jeder Mensch sollte wissen, woher er kommt.« Unvermittelt beugte er sich näher zu mir. »Ihr dürft Euch davon nicht entmutigen lassen. In unserem neuen England können es selbst Findelkinder weit bringen. Das Schicksal lächelt oft den am wenigsten Begünstigten.«
Er wich zurück. »Es war mir ein Vergnügen, Junker Prescott. Bitte zögert nicht, Euch an mich zu wenden, solltet Ihr irgendetwas benötigen. Ich bin leicht zu finden.«
Einmal mehr schenkte er mir dieses rätselhafte Lächeln, dann drehte er sich um und schritt davon.
Ich blickte Master Cecil nach, während er sich entlang der Galerie entfernte, dann holte ich tief Luft und wandte mich zur Tür. Ich klopfte. Keine Antwort. Ich pochte noch einmal und drückte versuchsweise die Klinke. Die Tür ging auf.
Ich trat ein und erkannte, dass die Gemächer – wie Cecil sie bezeichnet hatte – aus einer einfachen Schlafkammer bestanden, die zum größten Teil von einem Bett mit durchhängendem Baldachin ausgefüllt wurde. Zerkratzte Täfelungen schmückten die untere Hälfte der Wände, und das kleine Fenster war mit grünlichen Rauten verglast. Ein brennender Kerzenstumpf schwamm in Öl in einer Schale auf dem Tisch. Strohmatten lagen über den Boden verteilt, großzügig garniert mit ganzen Haufen besudelter Kleidung, dazwischen achtlos hingeworfenes Besteck und benutztes Geschirr. Der Geruch war ekelerregend, eine Mischung aus ranzigen Essensresten und Schmutzwäsche.
Ich ließ meine Satteltasche an der Türschwelle fallen. Manche Dinge änderten sich offenbar nie. Selbst am Hof hausten die jungen Dudleys noch wie im Schweinestall.
Aus dem Bett dröhnte ein Schnarchen. Vorsichtig trat ich näher. Unter meinen Sohlen knirschten Knochen, die sich in den Strohmatten festgetreten hatten. Einer Lache von Erbrochenem ausweichend, zog ich den Vorhang beiseite. Die Ringe klirrten an der Stange. Ich sprang zurück, halb darauf gefasst, die ganze Dudley-Sippe johlend und die Fäuste schwingend über mich herfallen zu sehen, genau wie in meiner Kindheit.
Stattdessen lag nur eine einzige Gestalt mit ausgebreiteten Gliedern auf dem Bett, Hose und Hemd zerknittert, das verfilzte Haar von der gleichen Farbe wie verschmutztes Getreide, dazu die unverkennbare Ausdünstung von billigem Bier. Guilford, das Nesthäkchen der Meute, ganze siebzehn Jahre alt und in trunkener Betäubung niedergestreckt.
Ich kniff in seine über den Bettrand baumelnde Hand. Als dies nur ein weiteres röchelndes Schnarchen hervorrief, rüttelte ich ihn an der Schulter.
Er ruderte mit den Armen und hob sein verquollenes Gesicht, in das sich die Kissenfalten geprägt hatten. »Hol dich der Teufel«, lallte er.
»Euch ebenfalls einen guten Abend, Mylord Guilford«, erwiderte ich. Zur Sicherheit trat ich noch einen Schritt zurück. Obwohl er der jüngste der fünf Dudley-Sprösslinge war, gegen den ich öfter gesiegt als verloren hatte, wollte ich in meiner ersten Stunde am Hof nicht gleich eine Tracht Prügel riskieren.
Er glotzte mich an, während sein benebeltes Hirn mein Gesicht zu identifizieren suchte. Als ihm das gelang, lachte Guilford hämisch. »Ach, der elternlose Bastard. Was machst du denn …« Plötzlich würgte er, beugte sich vor und spie auf den Boden. Stöhnend fiel er aufs Bett zurück. »Ich hasse sie. Das wird sie mir büßen, die elende Hexe.«
»Hat sie Euch das Bier vergällt?«, fragte ich unschuldig.
Er funkelte mich an und hievte sich mühsam aus dem Bett. Groß und kräftig wie alle Dudleys, hätte er mich sicher wie ein wütendes Raubtier angefallen, wäre er nicht so besoffen gewesen. Instinktiv tastete ich nach meinem Dolch. Nicht dass ich es hätte wagen dürfen blankzuziehen. Ein Gemeiner musste mit der Todesstrafe rechnen, wenn er einen Adeligen auch nur mit Worten bedrohte. Doch das Gefühl des abgewetzten Griffs zwischen meinen Fingern wirkte beruhigend.
»Ja, vergällt hat sie es mir.« Guilford schwankte. »Bloß weil sie mit dem König verwandt ist, bildet sie sich ein, sie kann mich von oben herab behandeln. Aber ich werde ihr schon zeigen, wer hier der Herr und Meister ist. Sobald wir verheiratet sind, schlage ich sie grün und blau, diese erbärmliche …«
»Halt dein Drecksmaul, Guilford!«, peitschte eine Stimme durch den Raum.
Guilford erbleichte. Ich fuhr herum.
In der Tür stand kein anderer als mein neuer Dienstherr, Lord Robert Dudley.
Trotz meiner Ängste vor einer Wiederbegegnung nach zehn Jahren musste ich zugeben, dass er einen beeindruckenden Anblick bot. Schon immer hatte ich ihn heimlich beneidet. Während mein Gesicht so unauffällig war, dass man es so schnell vergaß wie einen Landregen, war Robert ein Prachtexemplar von einem Edelmann: die beeindruckende Statur, die breite Brust und die muskulösen Schenkel seines Vaters, die fein gemeißelte Nase seiner Mutter, volles schwarzes Haar und dunkle Augen, die gewiss so manche Jungfer dahinschmelzen ließen. Er besaß alles im Überfluss, was ich nicht hatte, dazu jahrelange Erfahrung am Hof. Seit König Edwards Thronbesteigung war er mit äußerst förderlichen Aufgaben betraut, was zu einem erfolgreichen, wenn auch kurzen Feldzug gegen die Schotten geführt und ihm eine junge, begüterte Dame als Gemahlin und Bettgefährtin eingebracht hatte – oder vielleicht eher ihn ihr.
Ja, Lord Robert hatte alles, was ein Mann sich nur wünschen konnte. Und einer wie ich hatte allen Grund, ihn zu fürchten.
Mit dem Stiefelabsatz trat er die Tür zu. »Sieh dich nur an, vollgesoffen wie ein Pfaffe. Du ekelst mich an. Du hast ja Fusel statt Blut in den Adern!«
»Ich wollte …« Guilford war weiß wie die Wand. »Ich wollte doch nur sagen …«
»Spar’s dir.« Mich behandelte Robert wie Luft. Schließlich aber wandte er den Kopf. Seine Augen verengten sich. »Wie ich sehe, hat der Stallknecht es unversehrt hierhergeschafft.«
Ich verbeugte mich. Offenbar sollte unser Verhältnis genau dort anknüpfen, wo es unterbrochen worden war, sofern ich ihm nicht beweisen konnte, dass ich mehr zu bieten hatte als einen biegsamen Buckel, den er verprügeln konnte.
»Jawohl, Mylord«, antwortete ich in meiner vornehmsten Sprechweise. »Ich fühle mich geehrt, dass ich Euch als Junker dienen darf.«
»Tatsächlich?« Sein Grinsen ließ blendend weiße Zähne aufblitzen. »Das solltest du auch. Obwohl … meine Idee war das nicht. Mutter fand, du solltest allmählich deinen Lebensunterhalt verdienen, auch wenn ich dich viel lieber auf die Straße hinausgejagt hätte, woher du gekommen bist. Aber da du nun schon mal hier bist« – er streckte den Arm aus –, »kannst du auch gleich den Dreck hier beseitigen. Danach kannst du mich zum Bankett ankleiden.« Er hielt inne. »Ach was, beschränk dich aufs Putzen. Es sei denn, du hast in den letzten Jahren beim Stallausmisten in Worcestershire gelernt, einem Gentleman das Wams zu schnüren.« Er lachte laut, wie immer von seinem eigenen Witz begeistert. »Ich kann mich selbst ankleiden. Tu’s ja schon seit Jahren. Geh lieber Guilford zur Hand. Vater erwartet uns in einer Stunde im Thronsaal.«
Ich verbeugte mich, ohne eine Miene zu verziehen. »Mylord.«
Robert prustete. »Was für ein Gentleman aus dir geworden ist! Mit deinen feinen Manieren wirst du bestimmt die eine oder andere Dirne finden, die gewillt ist, deinen fehlenden Stammbaum zu übersehen.« Er wandte sich wieder seinem Bruder zu und stieß ihn mit seinen silbern beringten Fingern an. »Und du halt das Maul und tu, was man dir sagt. Sie ist nichts weiter als ein Eheweib. Nimm sie an die Kandare, reite sie und schick sie auf die Weide, wie ich es mit meiner gemacht habe. Und tu, um Himmels willen, was für deinen Atem!« Robert lächelte mir verkniffen zu. »Bis später dann im Festsaal, Prescott. Bring ihn besser zum Südeingang. Wir wollen doch nicht, dass er unsere erlauchten Gäste vollkotzt.«
Mit einem hämischen Lachen drehte er sich um und schritt hinaus. Guilford streckte ihm hinterrücks die Zunge heraus und übergab sich zu meinem Entsetzen erneut.