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Wann Ist deine Not groß genug, dass du deine Heimat verlässt und in der Ferne das Glück suchst? Schottland 1696 : Ein Land in großer Not! Missernten durch Klimaveränderungen, die Entmachtung des eigenen Königs, ein blutiger Krieg mit dem Nachbarn England sowie die grassierende Verarmung haben in sieben Jahren gut zehn Prozent der Bevölkerung in den Hungertod getrieben. In dieser Situation bringt die Idee Hoffnung, an der Landenge von Panama eine eigene Kolonie zu gründen. Nach englischem Vorbild hofft man, mit regem Welthandel dem verarmten Mutterland aus der Krise zu helfen. Diese Hoffnung trägt den Namen "Darién-Projekt". Der 19-jährige Waise Aiden Hunter und die Nachbarstochter Orla Drummond nehmen uns mit auf dieses geschichtlich verbriefte Abenteuer. Sie sind Teil der Siedlergemeinschaft, die im Sommer 1698 nach "Westindien" aufbricht. Aidens Cousin Riley MacIntyre und die schöne Lady Marjorie Bonny Buchanan sind zwei weitere der 1500 starken Frauen und mutigen Männer, die sich mit aller Kraft der Not entgegenstellen. Ein abwechslungsreicher und spannnender Roman, der als erster Band einer Trilogie diesen weitgehend unbekannten Teil der Geschichte erlebbar macht und damit einen tiefen Einblick in die schottische Seele gewährt.
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Seitenzahl: 653
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In den 90er-Jahren des 17. Jahrhunderts verschärften sich die ohnehin harten Lebensbedingungen für die Bevölkerung Schottlands noch einmal drastisch. Eine Entvölkerung des Landes war die Folge, zum einen verursacht durch starke klimatische Veränderungen, zum anderen durch politische und ökonomische Umwälzungen.
Der Zeitraum von 1693 bis 1699 mit seinen verheerenden Unwettern und darauffolgenden Missernten wird in Schottland bis heute als „The Seven Ill Years“ bezeichnet. Durch gewaltige Ausbrüche von Vulkanen auf Island (1693) und Indonesien (1693 und 1694) war es zu einer dramatischen Abkühlung des Klimas in ganz Nordeuropa gekommen. Es folgten gnadenlose Kälte und nicht enden wollende Regenperioden, sodass in der letzten Dekade des 17. Jahrhunderts zwischen zehn und fünfzehn Prozent der schottischen Gesamtbevölkerung von etwa 1,3 Millionen Einwohnern verhungerten. Wer noch genügend Kraft und Energie besaß, sich dem Hungertod entgegenzustellen, wanderte entweder aus oder suchte irgendwo nach einer neuen Lebensgrundlage. Waren zu Beginn der 1690er-Jahre üblicherweise knapp 100 000 Menschen als Wanderarbeiter in Schottland unterwegs, so verdoppelte sich diese Zahl in den „Schlimmen 90ern“. Jetzt waren es plötzlich weit über 200 000 Menschen, die mit ihren bettelnden Familien in die wenigen größeren Städte des Landes drängten. Soziale Konflikte verschärften sich.
Politisch fühlten sich die Schotten bereits 1688/89 durch die sogenannte Glorious Revolution von den Engländern massiv gedemütigt. Ihr amtierender König von England, Schottland und Irland, Jakob II. aus dem schottischen Adelshaus der Stuarts, war aus Angst vor einem katholischen Thronfolger von den Engländern abgesetzt und durch Wilhelm von Oranien ersetzt worden. Dieser war mit der protestantischen Tochter des vertriebenen Königs aus erster Ehe verheiratet. Der abgesetzte König musste nach Frankreich fliehen und erhielt Unterstützung vom „Sonnenkönig“ Ludwig XIV. In Schottland selbst fand sich eine Gruppe von Königstreuen und Verbündeten zusammen, die sich Jakobiten nannten. In immer wieder neu aufbrandenden Wellen des Widerstandes gegen die Absetzung ihres Königs kämpften diese, auch mit ausländischer Unterstützung, gegen die englisch-protestantische Krone. Eine erste Schlacht in Killiecrankie am 27. Juli 1689 gewannen die Aufständischen gegen die englischen Truppen. Dieser Sieg war jedoch mit so hohen eigenen Verlusten erkauft, dass die rebellischen Jakobiten trotz des militärischen Vorteils danach nicht mehr in der Lage waren, den englischen Thron nachhaltig zu gefährden. Die blutigen Auseinandersetzungen um die Thronfolge gingen weiter.
Wie verlockend muss in dieser schwierigen Gemengelage aus Armut, Hunger und Unterdrückung die politische Idee gewesen sein, endlich selbst, nur für Schottland, eine eigene Kolonie in Übersee zu gründen? Dort, an der Landenge von Panama, plante man, mit einem internationalen Handelshafen ähnlich erfolgreich zu werden wie die Engländer mit ihren Kolonien, von deren Handel die Schotten ausgeschlossen waren. Ein Ausweg aus dem niederdrückenden Elend schien plötzlich in greifbare Nähe zu rücken …
Vor diesem verbrieften Hintergrund entspinnt sich die Handlung meines Romans, der im Jahr 1696 beginnt. Meine Protagonisten sind frei erfunden, andere Figuren basieren auf Personen, deren Existenz und geschichtliche Rolle tatsächlich überliefert sind (s. hierzu auch das Personenverzeichnis am Ende des Buches), wobei ich die Ausgestaltung vieler Details meiner Fantasie zugestanden habe.
Ich erzähle diese besondere Geschichte so, wie sich die dramatischen Ereignisse damals hätten abspielen können.
Markus Bruckner, Dezember 2022, Bad Homburg
„Wenn der Herr nicht das Haus baut, so arbeiten umsonst, die daran bauen. Wenn der Herr nicht die Stadt behütet, so wacht der Wächter umsonst.“
PSALM 127, ZITIERT IM STADTWAPPEN VON EDINBURGH
Teil 1
[1] Freitag, 17. Februar 1696, bei Familie MacIntyre in der Michell Street, Leith
[2] Freitag, 30. März 1696, vor dem Palast von Holyroodhouse, Edinburgh
[3] Samstag, 1. April 1696, im
White Hart Inn
am Grassmarket, Edinburgh
[4] Samstag, 21. April 1696, in der Hütte der MacIntyres, Leith
[5] Freitag, 4. Mai 1696, im Haus der Buchanans in der Hillhouse Road, Edinburgh
[6] Montag, 4. Juni 1696, am Hafen von Leith
[7] Mittwoch, 3.Oktober 1696, im Haus von Andrew Fletcher in der George Street, Edinburgh
[8] Dienstag, 6. November 1696, im Haus der Buchanans, in der Hillhouse Road, Edinburgh
[9] Dienstag, 4. Dezember 1696, im Haus von Carrioncrow
[10] Donnerstag, 14. Februar 1697, im Hafen von Leith
[11] Montag, 11. März 1697, bei Familie Drummond in der Michell Street, Leith
[12] Mittwoch, 10. April 1697, auf der
Clear Sky
in den Gewässern vor Island
[13] Donnerstag, 4. Juli 1697, auf der Hauptstraße von Edinburgh
[14] Montag, 15. Juli 1697, in der Hütte der Drummonds, Leith
[15] Dienstag, 16. Juli 1697, Unruhe im Haus der Buchanans, Edinburgh
[16] Dienstag, 16. Juli 1697, in der Hütte der Drummonds, Leith
[17] Mittwoch, 17. Juli 1697, im Haus von Bronwyn Hampdon am Victoria Quay, Leith
[18] Donnerstag, 18. Juli 1697, in der Segeltuchfabrik
[19] Mittwoch, 24. Juli 1697, im Hafen von Leith
[20] Samstag, 10. August 1697, vor dem
Viewpoint Inn
in der Portland Street, Leith
[21] Donnerstag, 22. August 1697, in einer Nebenstraße in Leith
[22] Freitag, 30. August 1697, in der Hütte der MacIntyres, Leith
[23] Mittwoch, 25. September 1697, in der Hütte der MacIntyres, Leith
[24] Mai bis Juli 1698, Vorbereitungen für die Abreisein Leith
[25] Mai bis Juli 1698, weitere Vorbereitungen für die Abreise in Edinburgh
[26] Freitag, 18. Juli 1698, Abreise aus der Heimat, im Hafen von Leith
Teil 2
[1] Donnerstag, 24. Juli 1698, auf dem Atlantik
[2] Montag, 28. Juli 1698, auf der
Endeavour
[3] Freitag, 1. August 1698, auf der
Rising Sun
[4] Samstag, 2. August 1698, auf der
Endeavour
[5] Montag, 18. August 1698, Ankunft in Funchal auf Madeira
[6] Donnerstag, 21. August 1698, Funchal
[7] Freitag, 29. August, bis Dienstag, 21. Oktober 1698, mitten auf dem Atlantik
[8] Samstag, 25. Oktober 1698, in Charlotte Amalie auf Sankt Thomas
[9] Sonntag, 2. November 1698, Ankunft in Darién
[10] Samstag, 6. Dezember 1698, in Darién
[11] Mitte Dezember 1698 bis Mitte Januar 1699, in New Edinburgh, Darién
[12] Sonntag, 1. März 1699, in New Edinburgh
[13] Donnerstag, 5. März 1699, Fieber an Bord, Darién
[14] Freitag, 6. März 1699, im Hafen von New Edinburgh
[15] Samstag, 7. März 1699, im Fort Saint Andrew, New Edinburgh
[16] Montag, 9. März 1699, auf der
Rising Sun,
Darién
[17] Mittwoch, 11. März 1699, auf der
Rising Sun,
Darién
[18] Mittwoch, 18. Mai 1699, im Fort Saint Andrew, New Edinburgh
[19] Donnerstag, 12. März 1699, unterwegs auf der
Rising Sun
[20] Sonntag, 15. März 1699, Ankunft auf Sankt Thomas
[21] Dienstag, 24. März 1699, Fieber im Fort Saint Andrew, New Edinburgh
[22] Mittwoch, 25. März 1699, in New Edinburgh
[23] Montag, 6.April 1699, in New Edinburgh
[24] Donnerstag, 9. April 1699, der Spähtrupp ist unterwegs, Darién
[25] Montag, 30. März 1699, auf Sankt Thomas
[26] Mittwoch, 1. April 1699, Besuch der Zuckerrohrplantage „AUFRECHT HELFEN“ auf Sankt Thomas
[27] Donnerstag, 2. April 1699, in Charlotte Amalie, Sankt Thomas
[28] Freitag, 24. April 1699, Festmahl im Fort Christian, Charlotte Amalie
[29] Montag, 27. April 1699, Sankt Thomas
[30] Mittwoch, 29. April 1699, in der Magens Bay, Sankt Thomas
[31] Mittwoch, 6. Mai 1699, in der Magens Bay, Sankt Thomas
[32] Mittwoch, 13. Mai 1699, Rückkehr nach New Edinburgh, Darién
[33] Freitag, 29. Mai 1699, New Edinburgh
[34] Montag, 29. Juni 1699, Abreise von New Edinburgh
[35] Donnerstag, 3. September 1699, Ankunft in Leith, Schottland
„Wenn ihr die Kerzen auf dem Tisch anzündet, wird es auch gleich wärmer.“ Farlan MacIntyre glaubte stets an das, was er seiner Familie mitteilte. Er kniete nieder, schob einen Holzscheit in den Ofen, schloss die kleine eiserne Tür und erhob sich wieder.
„So jedenfalls kann es nicht weitergehen. Wenn es anhaltend so kalt bleibt, dass unsere Bucht auch nur teilweise zufriert, werden wir in kürzester Zeit nichts mehr zu essen haben. Ich bin jetzt schon so lange Fischer hier auf dem Firth of Forth, aber das habe ich noch nie erlebt. Unser Boot ist zu klein, als dass es Eis verdrängt.“ Der muskulöse und trotzdem schlanke Mann im Alter von Mitte vierzig fing wieder an, in der kleinen Stube auf und ab zu gehen. „Leider muss auch ich inzwischen einsehen, dass unser Boot zu klein ist, um uns alle durch den Winter zu bringen.“
Farlan kraulte sich mit der Rechten den nur an den Schläfen angegrauten, sonst noch dunklen Vollbart, hielt den Blick aber weiter vor sich auf den Fußboden gerichtet, als er zögerlich fortfuhr. „Ich habe mit eurer Mutter zusammen Folgendes beschlossen.“
Jetzt unterbrach er seine Rastlosigkeit. Er blieb vor einem der beiden jungen Männer stehen, die nebeneinander auf Hockern saßen. Beide lehnten mit dem Rücken an der Kante des Esstisches, die erwartungsvollen Gesichter dem Redner zugewandt. Der räusperte sich mehrmals, bevor er dem Sohn seiner verstorbenen Schwester endlich ins Gesicht blickte.
„Aiden, also, wie soll ich es dir sagen? Zuerst einmal sollst du wissen: Seit wir dich vor fünf Jahren nach Leith geholt haben, bist du uns wie ein eigener Sohn ans Herz gewachsen. Aber Riley“, jetzt deutete er auf Aidens rotblonden Sitznachbarn, „also, Riley ist nun mal zwei Jahre älter und daher auch schon länger Fischer als du.“ Er machte eine kurze Pause und wandte den Blick ab. „Ja, und so habe ich mich entschlossen, nur noch mit Riley fischen zu gehen.“
Sekundenschnell überkam Aiden wieder dieses Angst machende, ungute Gefühl. Das Gefühl, schon wieder von einer schlimmen, schicksalhaften Nachricht getroffen zu werden. Sein Oberkörper straffte sich. Er richtete sich im Sitzen auf.
„Ihr – schmeißt mich raus?“, fragte er mit trockener Kehle.
„Nein, nein, das nicht. Aber Ailis und ich haben beschlossen, dass du jetzt eigenes Geld verdienen musst.“ Wie um sich seiner Worte noch einmal zu vergewissern, schaute Farlan über die Köpfe der Jungs hinweg zu seiner Frau Ailis, die auf der anderen Seite des Tisches saß und ihm bestätigend zunickte.
„Die gute Nachricht dabei“, Farlan nahm jetzt sein Schreiten im Raum wieder auf, „also, die gute Nachricht ist die: Wir haben für dich in der Giant’s Trading Company schon einen Arbeitsplatz gefunden. Ailis hat vor zwei Wochen nach dem Sonntagsgottesdienst den edlen James Andrew Fleece angesprochen. Und, dem Himmel sei Dank – welch ein Zufall! – suchte der gerade nach einem Mann, den er zum Einschmelzen des Walfetts gebrauchen kann. Schon eine Woche später hat er uns verbindlich zugesagt.“ Farlan fuhr sich jetzt in einer Art Verlegenheitsgeste mit der rechten Hand durch sein volles Haar, als wolle er es nach hinten kämmen. „Äh, außerdem glauben wir, dass du mit fast neunzehn Jahren auch schon lange genug zur Schule gegangen bist.“
„Oh Scheiße, Bruder!“ Farlans Sohn Riley klopfte dem neben ihm sitzenden Aiden grob auf die Schulter. „Da ist für unseren Kleinen mit dem Faulenzen auf der Schulbank endlich Schluss, was?“ Er lachte provozierend. „Ein bisschen mehr Arbeit schadet dir aber sicher nicht, Mann!“
Die Worte seines Cousins überhörte Aiden absichtlich. Doch über Farlans Entscheidung musste er erst einmal nachdenken. Schon einige Male in seinem noch jungen Leben hatte er wirklich schlechte Nachrichten verdauen müssen und dabei die Erfahrung gemacht, dass selbst durch lautestes Schreien eine böse Wahrheit sich nicht zum Guten wandte.
„Ach, Aiden, bevor ich es vergesse: Mr. Fleece erwartet dich schon am kommenden Montag. Und da wir keine Fische gefangen haben, musst du auch keine austragen.“
Damit schien für Farlan die Ansage an Aiden erledigt, denn er wandte sich ab und bemerkte zu seiner Frau: „Ich wusste es. Aiden ist vernünftig. Der sieht die Notwendigkeit unserer Entscheidung ein.“ Er schien zufrieden, dass sich aus seiner kurzen Rede keine unangenehme Diskussion entwickelt hatte. Mit Riley an Aidens Stelle wäre das Gespräch anders verlaufen.
Sein Gesicht hinter dem dichten Vollbart entspannte sich. Er fuhr sich erneut mit der Hand durch das dunkle Haar, ließ sie aber für mehrere Sekunden auf der Mitte des Kopfes ruhen, und fragte dann in veränderter Tonlage nach: „Eigentlich hätte ich schon wieder Hunger. Wie lange braucht die Suppe noch, Ailis?“
„Die müsste schon fertig sein. Ich habe die Fischgräten der letzten zwei Tage nochmals aufgekocht. Und heute bekommt ihr die letzten Brotstücke dazu. Also, Männer: Esst sie mit Bedacht!“
Wenige Minuten später saßen alle am Tisch und löffelten die säuerlich riechende Fischsuppe, wobei Aiden in der Magengrube spürte, dass ihn, der er aus den Highlands kam, schon allein der säuerlich-gärende Geruch sättigte. Der Unterschied der Suppe zu reinem Wasser bestand eigentlich nur darin, dass Wasser deutlich besser schmeckte. So etwas wäre ihm in Glenkindie nicht vorgesetzt worden. Ein Anflug von Heimweh überkam ihn. Aber er ließ sich nichts anmerken. Er dachte immer noch nach.
„Die Engländer suchen noch Söldner für ihre Armee und sollen auch sehr gut bezahlen.“
Ailis hatte nicht damit gerechnet, mit ihrer Aussage Aiden dermaßen zu provozieren, auch wenn sie es sich hätte denken können. Beim Thema Engländer verstand Aiden keinen Spaß.
„Vorher hacke ich mir den Arm ab! Diese verdammten Engländer!“, knurrte Ailis’ Neffe, obwohl er noch den Mund voll hatte. „Wenn ich bei denen anheuern würde, wäre das wie eine zweite Ermordung meines Vaters!“ Es gab wenige Themen, bei denen Aiden so emotional reagierte wie beim Thema England. Den Hass auf die Engländer war er schließlich seinem Vater schuldig, der vor sieben Jahren bei der Schlacht in Killiecrankie gefallen war. „Wir als Schotten und das Heer der Jakobiten haben trotz unseres Sieges in Killiecrankie bis heute den Thron nicht zurückgewinnen können. Ich werde nicht eher Ruhe geben, bis …“ Er unterbrach sich bei diesem Satz, den er schon so oft nicht hatte zu Ende denken können. Er vermochte einfach nicht präzise zu sagen, was seinen Hass auf die Engländer besänftigen könnte.
„Sonst wäre Vater völlig umsonst gestorben.“
„Entschuldige bitte, Aiden. Ich wollte nicht alte Wunden aufreißen, aber es gibt tatsächlich viele Männer, die dieses Angebot der Engländer im Moment annehmen. Die sagen sich, dass der Dienst in deren Armee immer noch besser ist, als zu Hause zu verhungern.“
„Ich würde eher verhungern!“ Aiden zeigte sich unversöhnlich. Instinktiv griff er nach seinem Talisman, den er seit dem Tod des Vaters an einem Lederband um den Hals trug. Seine Mutter hatte diesen blauen Stofffetzen mit dem messingfarbenen Uniformknopf von der Jacke, in der sein Vater auf dem Feld bei Killiecrankie verblutet war, an ein Lederband genäht.
Ja, der Tod war Aiden schon zwei Mal hart und gnadenlos begegnet. Er erinnerte sich unwillkürlich an seine Mutter Kendra, die er im Alter von zwölf Jahren ein letztes Mal und viel zu kurz an ihrem Sterbebett hatte besuchen dürfen. An dem Bett, das eigentlich als fröhliches Wochenbett gedacht gewesen war. Aiden sah das Zimmer wieder vor sich. Sah seine Mutter, die so stark schwitzte, wie er es danach nie mehr bei einem anderen Menschen erleben sollte. Ihr langes dunkelbraunes Haar sah schwarz, schwer und nass aus. Es klebte ihr auf Kopf und Hals. Seine Mutter schien zu glühen, von innen heraus zu verbrennen. Obwohl ihre weit aufgerissenen Augen in den dunklen Höhlen nicht mehr braun, sondern inzwischen zu Schwarz verdunkelt waren, hatten sie noch einmal geleuchtet und das Lächeln, zu dem sie bei seinem Anblick noch fähig war, unvergesslich gemacht.
Und dann war da noch dieser Geruch. Das ganze Zimmer war voll davon gewesen, aber je näher er seiner Mutter gekommen war, desto stärker war diese Ausdünstung geworden. Die wabernde Schicht lag wie ein Raubtier über dem Bett der Mutter, ihr sterbendes Opfer schon am Nacken gepackt. Es roch süß – und doch gleichzeitig metallisch herb. Seit diesem Moment war für Aiden dieser süßsaure Geruch, die tödliche Mixtur aus Eiter und Blut, die er sogar schmecken konnte, gleichbedeutend mit der Pestilenz des Todes.
Vom Kindsbettfieber bis zur offenen Tuberkulose – es war immer wieder diese tödliche Mischung aus Wundsäften und Blut. Auch wenn Aiden das als Kind nicht wissen konnte, war ihm schon damals klar: Diesen Geruch würde er auf der ganzen Welt wiedererkennen.
Obwohl seine Mutter unter seinen Augen zu verglühen schien, war ihr letzter Händedruck eisig gewesen. Sie hatte ihn festgehalten, ja, an seiner Hand geklammert, und ihre letzten Worte hatten sich ihm eingebrannt, als wäre alles erst gestern geschehen.
„Dein Vater und ich … du wirst den Erfolg haben, den wir nicht hatten.“
In seiner Erinnerung hatte er damals geweint. Aber nach der Erzählung von Tante Ruthy hatte er wohl dermaßen zu schreien angefangen, dass sie ihn aus dem Haus bringen mussten. Es hatte lange gedauert, bis er sich beruhigen konnte. Als zierlicher Junge, mit braunen, schulterlangen Haaren, die ihm bei Wind oft im Gesicht klebten, hatte er sich damals, als Vierzehnjähriger, bei den Schafen ausgeweint. Er war seitdem nur noch wenig in die Länge gewachsen und wirkte daher mit einer Größe von knapp einem Meter siebzig besonders neben seinem Cousin Riley eher schmächtig. Seit er schon in jungen Jahren allein verantwortlich für sein Äußeres geworden war, achtete er darauf, das Haar stets so lang zu tragen, dass es die seiner Meinung nach zu großen Ohren überdeckte, die er von seinem Vater geerbt hatte.
Ein Talisman und zu große Ohren, in denen ein letzter Satz der Mutter nachhallte – so sah sein Erbe aus. Ein Erbe, von dem niemand ahnen konnte, wie schwer Aiden Hunter daran noch tragen sollte.
Aiden wurde durch das lebhafte Gespräch der anderen aus seinen traurigen Gedanken gerissen. Riley schimpfte wieder einmal: „Verdammt, überall, wo man hinschaut, diese Scheißbettler und Wegelagerer!“
Ailis versuchte, von der Schimpferei abzulenken. „In Edinburgh sind inzwischen so viele Bettler unterwegs, dass sie angefangen haben, sie einzusperren und dann mit Kutschen aus der Stadt zu bringen. Und das, obwohl diesen Menschen gesetzlich Schutz zusteht. Die können doch schließlich auch nichts dafür …“
„Ich kann das aber auch nachvollziehen, Ailis. Denn: Irgendwann ist es einfach auch genug. Wenn ein Boot voll ist, ist es eben voll! Die Menschen von Edinburgh verhungern doch selbst. Was, bitte, sollen sie noch teilen?“ Farlan schüttelte den Kopf und rührte mit dem Löffel im fast leeren Blechnapf.
Riley stimmte seinem Vater zu. „Verdammt, wenn es ja nur Bettler wären. Aber ein Großteil sind eben doch Diebe und Einbrecher. Geschieht denen nur recht! Die Zuständigen sollten dieses Pack dahin zurückbringen, wo es hergekommen ist, basta!“
„So hart darfst du nicht urteilen, Riley. Schließlich können diese Menschen auch nichts dafür, dass es jetzt schon so viele Jahre nur Missernten gegeben hat. Wo sollen sie denn hin?“ Ailis klang hilflos.
„Scheiße, jedenfalls nicht hierher! Ich bin auch nicht schuld an diesem verdammten Mistwetter.“
„Solange hier kein Engländer bettelt, ist für mich noch alles in Ordnung“, stellte Aiden sarkastisch in den Raum.
Sein Ausspruch führte zumindest dazu, dass dieses Thema für heute beendet war.
„Habt ihr eigentlich auch schon etwas von den Plänen gehört, für Schottland eine eigene Kolonie zu gründen?“ Farlans Frage ging im Gepolter unter, das im selben Moment an der Haustüre entstand. Neben dem stampfenden Abtreten von Füßen und dem dumpfen Klopfen an die Holztüre war auch eine Frauenstimme zu vernehmen.
„Mr. MacIntyre! Seid Ihr da? Wir brauchen wieder einmal Hilfe!“
Riley war als Erster an der Tür, zog seinen Kopf ein und trat unter dem Türsturz hindurch nach draußen. „Oh, là, là, das Fräulein Nachbarin. Orla, wie kann ich helfen?“
„Du gar nicht, ich brauche deinen Vater!“ Mit diesen Worten schlüpfte die junge Frau an ihm vorbei in die Stube.
Riley schloss rasch wieder die Tür hinter sich. „Was für ein scheißkalter Regen“, murmelte er vor sich hin.
Die junge Frau, sie war um die zwanzig Jahre alt, wirkte gegenüber dem langen Riley fast kindlich. Sie war schlank, zierlich und hatte einen breiten dunkelbraunen Wollschal um Kopf und Schultern gewickelt. Diesen hielt sie mit der linken Hand vor der Brust fixiert. Langes blondes Haar fiel aus dem hinteren Ende des Schals auf ihren Rücken. Ihr Gesicht, das von ihren blauen, lebhaften Augen und von den breit über den Nasenrücken verlaufenden Sommersprossen dominiert wurde, war wohl vom eisigen, regnerischen Wind gerötet. Vielleicht war an der Färbung auch die Aufregung schuld, mit der sie die Familie MacIntyre jetzt überfiel.
„Bitte, Mr. MacIntyre, könnt Ihr helfen, meinen Vater zu beruhigen? Auf Euch hört er. Meine Brüder sind nicht da … Und beim letzten Mal, da wart Ihr der Einzige, der ihn ins Bett bringen konnte. Vater hat wieder einmal zu viel getrunken. Seit er blind ist … Auf mich und Mutter hört er nicht. Er schlägt nach uns.“
„Ach, Orla! Klar mach ich das. Komm, lass uns gehen.“
Orla schaute in die Runde. „Entschuldigung, aber wir Frauen können da wenig …“
Farlan MacIntyre nahm seine dicke Lederjacke, die schon so manchen Sturm ausgehalten hatte, vom Haken, und nach wenigen Sekunden war er mit Orla durch die Tür.
„Oje, ist wirklich schlimm!“ Ailis nickte mitfühlend. „Bei den Drummonds wird die Situation immer schwieriger. Seit Archie geblendet wurde, ist er nicht mehr der Alte. Seine Unzufriedenheit und Verzweiflung lässt er an der Familie aus. Die arme Skye! Ich glaube, dass Archie mehr und mehr dem Alkohol verfällt. Vor einigen Tagen hat ihn Orla wieder einmal völlig betrunken nach Hause gebracht. Man hat ihn schon von Weitem gehört. Lästerliche Flüche über Gott und die Kirche hat er ohne jede Rücksicht in die Nacht gebrüllt. Die halbe Mitchell Street hat er damit geweckt.“
„Ist aber auch verdammt übel gewesen, wie ihm der Reverend mitgespielt hat!“, wandte Aiden ein. Alle nickten.
Ailis sprach weiter. „Die arme Familie! Gott sei Dank hat Skye ihre Stelle in der neuen Leinenweberei am hinteren Hafenbecken behalten. Sonst hätten sie eventuell sogar unsere Stadt verlassen müssen, um in die Highlands zurückzukehren. Da sollen sie noch Verwandtschaft haben.“
„Welches Verhältnis haben eigentlich unser Vater und Archie zueinander?“, wollte Riley wissen.
„Weißt du, Vater war lange Jahre Kunde bei Archie, und als sie noch jung waren, hat Archie eurem Dad sogar manchmal auf dem Boot geholfen. Sie sind sicher keine engen Freunde, aber sie respektieren sich. Und vor gut zwei Wochen, es war noch nachmittags, kam Orla und hat zum ersten Mal um Hilfe gebeten. Vater ist rübergegangen und hat mit seiner ruhigen Art verhindert, dass Archie zu viel Geschirr zerschlägt.“
„Ja, Kacke – Aiden! Du siehst, es geht nicht nur dir so.“
Aiden blickte Riley fragend an.
„Na ja, seit Archies Erblindung – oh Scheiße, Mann, das ist auch schon wieder anderthalb Jahre her – geht Orla auch schon nicht mehr zur Schule, sondern hat in Edinburgh diese Stelle als Zimmermädchen annehmen müssen.“
„Das Leben kann hart sein!“ Mehr als diese platte Bemerkung, die viel zu oft zitiert wurde, fiel Aiden im Moment dazu nicht ein.
„Mann, deshalb ist die Süße auch nur noch an Wochenenden in Leith“, bemerkte Riley trocken.
„Stimmt, ist schade; man sieht sich nur noch selten.“
„Scheiße, ich wüsste nicht, was ich machen würde, wenn ich blind wäre.“
„Du würdest wahrscheinlich das Gleiche nicht machen, was du jetzt auch nicht machst“, antwortete Aiden gedankenschnell und musste über Rileys verblüfften Gesichtsausdruck lachen.
„Sag bloß, du nimmst mich nicht ernst, Kleiner!“
„Wenn sich nur die Hälfte von dem bewahrheitet, was dieser Kerl da vorne verspricht, dann sind wir auf dem Weg in ein Goldenes Zeitalter!“
Aiden stellte sich im Gedränge auf die Zehenspitzen und hielt sich mit beiden Händen an den Schultern seines Cousins vor ihm fest. Er brüllte ihm erneut ins Ohr: „Hey, Bruder! Ist das wirklich der Kerl, der diese brillante Idee hatte?“ Aiden hatte sich, ohne das jemals thematisiert zu haben, angewöhnt, Riley als Bruder anzusprechen, obwohl sie eigentlich Cousins waren, und Riley verwendete diese Anrede ebenso natürlich für Aiden.
Doch Riley, der Aiden um gut zwanzig Zentimeter überragte und ihm dadurch zeitweise die Sicht nach vorn verdeckte, zeigte auch weiterhin keine Reaktion. Seine Aufmerksamkeit war zu einhundert Prozent auf die Holzbühne in gut achtzig Metern Entfernung gerichtet.
Sie waren gekommen, um genau diesen Mann zu hören. Alle waren sie gekommen, um seinen Vorschlag für Schottlands Zukunft zu hören. Zumindest war diese Versammlung heute auch entsprechend großspurig angekündigt worden. Ja, dieser Redner wollte gehört werden, die Menschen aufrütteln und Hoffnung wecken!
„Mensch, Riley, wer sind denn eigentlich all die anderen, die da vorne mit auf der Bühne stehen?“
Aber der junge Mann mit dem rotblonden Haar blieb erneut eine Antwort schuldig.
Auf der Bühne hatte sich ein auffallend schlanker, hochgewachsener Mann, er mochte knapp vierzig Jahre alt sein, an der vorderen Kante breitbeinig aufgestellt und versuchte im Moment wieder einmal gestenreich, sich Gehör zu verschaffen. Seiner Kleidung nach musste der Mann einfach adelig sein, denn derart teures Tuch war in diesen schwierigen Zeiten selbst hier in Edinburgh wirklich selten zu sehen. In deutlichem Abstand zum Redner stand hinter ihm eine weitere Gruppe von Männern, die sich ebenfalls durch ihre teure Kleidung sowie ihre aufwendigen Perücken als zum Adel gehörig auswiesen.
„Ruhe bitte! Nein, unsere Idee von einer eigenen Kolonie in Westindien ist kein Hirngespinst! So wenig, wie die reiche Ostindien-Kompanie unserer englischen Konkurrenten nur eine Einbildung ist!“ Jetzt stemmte der Redner theatralisch beide geballten Fäuste in die Hüften. „Was glaubt ihr wohl, warum wir Schotten an diesem so einträglichen Handel mit den Kolonien nicht teilhaben dürfen?“
Wieder schwoll die Unruhe an, diesmal durchsetzt von Schmährufen gegen die Engländer.
Der alte Mann rechts neben Aiden pflanzte sein breitestes Grinsen auf und schrie: „Gott möge die Engländer, diese ungläubigen Hunde, bestrafen!“ Die komplette obere Zahnreihe, bis auf einen einzelnen schiefen Schneidezahn, war ihm bereits abhandengekommen.
Aiden musste den Kopf abwenden, da der Alte seinen Fluch in einer ekelhaften Mischung aus fauligem Mundgeruch und dem Dunst von hochprozentigem Alkohol über seine Nebenleute verteilte. Dem üblen Gestank ausweichend drehte sich Aiden der jungen Frau an seiner linken Seite zu. Es war die Nachbarstochter Orla. Aiden kämmte sich mit einer parallelen Handbewegung beider Hände die fast schulterlangen Haare nach hinten. Er meinte, einen leichten, angenehmen Seifenduft an Orla bemerkt zu haben. Mit Seife kannte er sich inzwischen aus. Schließlich arbeitete er seit über fünf Wochen an seiner neuen Arbeitsstätte, bei der aus dem Fett der Wale, das er selbst mühsam einschmelzen musste, neben Lampenöl auch Seifen hergestellt wurden.
Er beugte den Kopf zu seiner Begleiterin und stöhnte: „Hoffentlich ist das hier bald vorbei! Der Kerl hier neben mir stinkt wie ein seit zwei Wochen totes Kaninchen!“
Orla lachte kurz auf, lockerte dabei aber nicht ihren Klammergriff, mit dem sie sich jetzt schon seit einiger Zeit an Aidens grober, zu weit ausgefallener Wolljacke festkrallte.
„Orla, du ziehst mir das Teil noch aus“, beschwerte sich Aiden und versuchte, sich von der jungen Frau zu lösen.
„Aiden, bitte, ich kann hier nicht alleine stehen! Ich verliere dich, wenn ich mich nicht festhalte. Vielleicht sollten wir besser raus hier …“ Es war offensichtlich, dass Orla Angst hatte; aber genauso offensichtlich war auch, dass sie die Nähe von Aiden genoss. Ja, sie fand den gleich großen und auch noch gleich alten Jungen mit dem filigranen Körperbau und den langen nussbraunen Haaren, die ihm nach ihrer Meinung einen „verwegenen Ausdruck“ verliehen, schon seit einiger Zeit anziehend. Er unterschied sich stark von seinem Cousin Riley, diesem groben Kerl, der sein Herz oft zu lautstark auf der Zunge trug. Es war gerade die zurückhaltende Art, die sie an Aiden mochte.
Im Moment war die Unruhe der Zuhörer abgeklungen. Eine Verständigung, ohne schreien zu müssen, war jetzt wieder möglich.
„Kann nicht mehr lange dauern.“ Aiden versuchte, beruhigend zu klingen. Doch auch er hatte sich noch immer nicht an die Großstadt gewöhnt, und eine solche Menschenmenge hatte er noch nie erlebt. Es mochten wohl an die vier- bis fünftausend Bürger aus Edinburgh und Umgebung sein, die trotz des kühlen und regnerischen Wetters dicht gedrängt vor dem festungsähnlichen Palast von Holyroodhouse im Herzen der Hauptstadt zusammengekommen waren. Alle waren um diese Holzbühne versammelt, die den sonst so markanten Brunnen des Platzes fast vollständig verdeckte. Orla rüttelte wieder an ihm.
„Hast du keinen Hunger? Außerdem habe ich auch einen richtig trockenen Hals!“ Sie löste sich endlich von Aidens Jacke, fasste ihn dafür aber mit einer Hand fest am Unterarm. Ihre Angst war greifbar.
„Hey, Riley! Bruder, hör doch mal!“ Aiden versuchte jetzt erneut, mit seinem Cousin Kontakt aufzunehmen.
Doch der schien ihn gar nicht hören zu wollen. Denn er beugte den Kopf nur etwas nach hinten und rief: „Mann! Aiden, das ist auch einer von uns! Hör doch mal, wie der über die Engländer redet! Der scheißt auf diese Mistkerle, genau wie wir!“
Aiden gab es auf. Er wandte sich wieder Orla zu.
„Ich bin zwar erst seit fünf Jahren in Leith, aber ich habe auch in den ganzen langen neunzehn Jahren meines Lebens noch nie so viele Menschen auf einem Fleck gesehen!“
Orla nickte. „Macht mir aber auch ein bisschen Angst“, brachte sie etwas kleinlaut über die Lippen.
Seit über drei Stunden waren sie jetzt schon zu dritt unterwegs. Zu Fuß waren sie, zuletzt im Sog der Schaulustigen, die ganze Strecke von Leith nach Edinburgh gelaufen.
Aiden hatte Riley zur Teilnahme an dieser Versammlung überredet. Nur einen Tag später war er dann auch noch von Orla darauf angesprochen worden. Da sie allein nicht zur Versammlung durfte, hatte er ihr am Ende versprechen müssen, sie mitzunehmen.
Ja, Aiden war vor einer Woche der Erste gewesen, der die Familie MacIntyre mit der Idee, dass Schottland allein, ohne die englischen Besatzer, eine eigene Kolonie in Übersee gründen sollte, infiziert hatte.
„Ich glaube, dass diese Idee unsere Zukunft verändern kann! Wir dürfen uns von den Engländern nicht einschüchtern lassen. Wir müssen uns finanziell unabhängig machen. Vielleicht mache ich dabei sogar eines Tages mit. Schlechtere Zeiten, als wir sie hier im Moment erleben, werden wir in der Kolonie niemals haben“, hatte er vollmundig und fast ein wenig pathetisch angekündigt.
Riley hatte trocken gekontert: „Du bist doch hier nur ein kleines Würstchen. Ein Depp, der täglich im stinkenden Walfett baden muss. Das wirst du nie ändern!“
Genauso trocken war die Antwort Aidens gekommen: „Sag niemals nie!“
Und jetzt waren sie hier, mittendrin im Gewühl, umzingelt und gefangen!
Orla trug ihre schöne weiße, Bluse, die sie sonst nur an Feiertagen anzog. Sie war froh, die grobe graue Strickjacke ihrer Mutter übergestreift zu haben, da ein frischer Wind von See hier heraufwehte. Die Entscheidung, ihre lange Baumwollhose anzuziehen, hatte sie ebenfalls nicht bereut. Ihr langes blondes Haar trug sie zum Zopf geknotet über der rechten Schulter. Die leuchtend blauen Augen und die vielen Sommersprossen stammten noch aus „der Erbmasse ihres Großvaters“, der, aus Dänemark stammend, hier in Schottland einst gestrandet war, wie ihr Vater immer wieder betonte, wenn die Sprache auf ihr Äußeres kam.
Die Lust auf dieses Gedränge war ihr eigentlich schon seit einer guten Stunde vergangen. Trotzdem versuchte sie immer wieder aufs Neue, sich stärker auf den Redner zu konzentrieren. Dessen Worte wurden, vom Wind getragen, deutlich von der großen Wand der seitlich den Platz begrenzenden Abtei reflektiert. „Mein Glaube an unsere gerechte Sache ist unerschütterlich! Es ist jetzt schon sicher, dass wir in Kürze genug Geld haben werden, um dort unten in Leith“ – mit großer Geste zeigte er ausholend nach Südosten – „die Schiffe auszubauen und auszurüsten, die wir für unsere Fahrt in unsere erste eigene Kolonie benötigen!“ Erneut wurde seine Rede, diesmal jedoch von Jubelrufen, unterbrochen.
„Lasst uns dieses große Ziel, das ich heute das Darién-Projekt taufe, gemeinsam angehen! Gemeinsam sind wir stark! Ich habe auch schon Zusagen von internationalen Händlern in Holland, Frankreich und Italien, die uns in Darién unterstützen und mit uns Handel treiben wollen. Schiff auf Schiff wird zu uns nach New Edinburgh kommen, und wir werden die Güter dieser Flotten über die Landenge von Panama vom Atlantik an den Pazifik schaffen und von dort andere, wertvolle Güter im Austausch wieder zurückbringen!“
Mit einer weiteren ausholenden, großen Geste seines rechten Armes zeigte der Redner nun unter dem Jubel der Zuhörer auf die Gruppe der anderen Männer auf der Bühne. „Damit wir euch beweisen, dass ihr nicht allein seid, sind diese ehrenwerten Herren hier und heute mit mir erschienen.“ Der von sich selbst und seinen Worten berauschte Redner faltete zunächst für eine kurze Pause die Hände vor den Lippen, um dann beide Hände bogenförmig in Richtung der anderen Männer zu strecken und auf sie zu zeigen. „Bitte schaut alle genau hin: Hier steht John Hay, 2. Marquess of Tweeddale, Euer Lord High Commissioner, der Vertreter eures eigentlich rechtmäßigen Königs in unserem edlen schottischen Parlament, unseres allseits geliebten Königs Jakob II. von Schottland, England und Irland.“
Hurrarufe brandeten auf. Zustimmendes Gelärme.
„Bereits im letzten Jahr hat Mr. Hay in unseres rechtmäßigen Königs Namen die Company of Scotland Trading to Africa and the Indies gegründet, die nun die eingehenden Gelder verwalten und für unser aller großes Ziel einsetzen wird. Neben ihm könnt ihr den edlen Andrew Fletcher erkennen, der den Vertrag sowie die hehren Ziele der Company of Scotland formuliert und niedergeschrieben hat. Dem edlen John Smith hier ist die Verwaltung des Geldes zugeteilt. All diese Herren haben selbst bereits beträchtliche Summen in die Kasse der Company eingezahlt. Denn auch sie glauben, wie wir alle hier, an unsere gemeinsame und gute Sache! Sie werden, wie auch wir, das eingesetzte Geld, um ein Vielfaches vermehrt, wieder aus der Kolonie zurückbekommen!“
Zustimmender Jubel im Publikum.
Der in Rage gekommene Redner schüttelte jetzt beide geballten Fäuste neben dem Kopf und lief am Bühnenrand auf und ab. Dann griff er zu seiner emotionalsten Waffe, dem Appell an antienglische Gefühle. „Das Geld wird uns auch helfen, diese verdammte Entmachtung unseres Königs, unseres edlen Jakob II., wieder rückgängig zu machen. Die Engländer verhöhnen uns jedes Mal, wenn sie die Absetzung unseres rechtmäßigen Königs auch noch eine ‚gloriose Revolution‘ nennen! Wollen wir uns wirklich für immer der brutalen Knute Englands beugen, die wir vor nicht einmal vier Jahren in Glencoe so bitter und gnadenlos zu spüren bekamen?“
Jetzt geriet das Publikum außer Rand und Band, und zum ersten Mal bekam Aiden in dem höllischen Gedränge Angst, obwohl er die Ansichten des Redners teilte.
„Rache, Rache, schlagt diese Engländer!“, tönte es in immer lauter werdenden, geifernden Hasstiraden über den Platz. Die Menge fing an, sich wellenförmig zu bewegen, und rückte bedrohlich eng zusammen, während gleichzeitig ein starker Druck in Richtung Bühne entstand.
Der Redner nahm die kämpferische Stimmung seines Publikums auf. „Denkt daran: Vor sieben Jahren haben wir die Truppen der englischen Krone schon ein erstes Mal entscheidend auf den Feldern bei Killiecrankie geschlagen!“
Jubel brandete erneut auf, während sich Aiden beim Wort Killiecrankie dreimal bekreuzigte. „Meinem Vater die ewige Ruhe“, murmelte er zu sich selbst und tastete nach seinem Talisman.
„Liebe Güte! Lange kann ich das hier nicht mehr aushalten. Aiden, der Druck nimmt so stark zu! Ich kann nicht mehr …“ Orlas Stimme versagte. Sie konnte ihre Angst kaum noch beherrschen. Auch Aiden überkam ein mulmiges Gefühl.
„Lass uns hier abhauen, Bruder!“, brüllte er in voller Lautstärke und rüttelte wieder mit beiden Händen an der Schulter seines Vordermannes. Endlich reagierte der.
„Wohin denn?“
„Am besten nach rechts und dann hinter der Abtei durch! Nur raus hier!“
„Na gut, Kleiner, haltet euch an mir fest. Los!“
Fast prügelnd kämpften sich die drei, im wahrsten Sinn nach einem Ausweg suchend, seitlich durch die aufgepeitschte, wogende Menschenmenge. Begleitet wurden sie von Flüchen und Verwünschungen vieler hungriger Frauen mit ängstlich zeternden, mangelernährten Kindern an ihren Händen neben ihren verarmten, zu Bettlern degradierten Männern, die viel zu häufig eine gefährlich vergiftete Aura von Hass und Zorn auf ein ungerechtes Schicksal mit sich schleppten. Trotzdem konnten die drei noch deutlich die feurigen Schlussworte des Redners verstehen: „Ich selbst werde bei euch sein! Ich fahre mit euch an den Golf von Darién! Ja, ich glaube fest an unsere gemeinsame goldene Zukunft! Ich will euch ermutigen! Auf zu neuen Ufern! Ich, euer William Paterson!“
„Was ist eigentlich Darién?“
Die beiden jungen Männer nahmen Orlas Frage nicht wahr. Im Moment war es wichtiger, ungeschoren aus dem Gedränge zu kommen.
Hätte nicht ein plötzlich von See her einsetzender kalter Regen die brenzlige Situation schnell und deutlich abgekühlt, hätte diese aufgeheizte Veranstaltung mit Sicherheit erste Opfer gefordert.
Eine Runde von etwa einem Dutzend gut gekleideter Männer jeden Alters saß um den großen runden Holztisch, der die linke Hälfte des White Hart Inn mit den zwei großen Fenstern zum Marktplatz hin dominierte. Dieser Teil des Schankraumes war dem Adel oder zumindest den reichen und bekannten Bürgen von Edinburgh vorbehalten. Von hier aus hatte man durch die großen Fenster den besten Überblick über den leicht abschüssigen Grassmarket. Das war besonders bei Hinrichtungen von großem Vorteil, wurden doch die Galgen jeweils in einer Entfernung von weniger als zwanzig Metern vor den Fenstern dieses Pubs aufgestellt. Ohne sich persönlich in das Gedränge des niederen Volkes begeben zu müssen, hatte die höhergestellte Gesellschaft hier bei einem Glas Bier oder Brandy selbst im Sitzen noch eine herausragende Übersicht über den Platz. So wurde man auch an Tagen ohne Hinrichtungen allein durch das geschäftige Treiben auf dem Platz bestens unterhalten.
Heute war der Raum ausschließlich mit Männern gut gefüllt. Um die auf den typischen schmalen Holzstühlen sitzenden Herren hatten sich, in kleineren Gruppen zusammenstehend, noch viele weitere Personen eingefunden. Die Luft war warm, stickig und rauchgeschwängert. Die Magd hatte Mühe, sich mit den Getränken ihren Weg durch die Menge zu bahnen. Die Gesichter an den Tischen, zum Teil schon rotfleckig und erhitzt, richteten sich augenblicklich auf einen älteren Herrn, der sich gerade etwas schwerfällig von seinem Stuhl erhob. Sein volles graues Haar sah gepflegt aus, und auch seine Kleidung verriet eine gut gefüllte Geldbörse.
„Das war am Freitag der perfekte Auftritt, mein lieber William!“ Sein Blick richtete sich auf den Redner der großen Versammlung vor dem Holyroodhouse zwei Tage zuvor, der ihm am Tisch gegenübersaß.
In einer Art stummer Zustimmung reagierte der Angesprochene mit einem wohlwollenden, gnädigen Kopfnicken.
„Sagt mir, William, wo habt Ihr diese außerordentliche Kunst der Rhetorik erlernt? Ich weiß, dass Ihr schon viel herumgekommen seid, aber ich bin ehrlich: Ich habe noch nie einen so mitreißenden und klaren Vortrag erlebt wie den Euren zu diesem Anlass, Mr. Paterson! Selbst der letzte Hochlandbewohner hat inzwischen wohl verstanden, dass die Company of Scotland eine Erfolgsgeschichte wird. Unsere Kinder werden endlich die Chance bekommen, der ewigen Armut zu entkommen. Ehrenwerter William, erläutert doch bitte nochmals für mich und die Herren dieses erlesenen Zirkels hier, welche Geschäftsidee hinter dem Vorhaben unserer schottischen Kolonie in Darién steht.“
Unter zustimmenden Äußerungen der mit am Tisch sitzenden Männer nahm der ältere Herr wieder auf seinem Stuhl Platz. Dafür erhob sich sein angesprochenes Gegenüber.
„Lieber Malcolm Buchanan, ich bedanke mich für Ihre wertschätzenden Worte, und ich bin froh, dass Ihr ein solcher Eiferer für unsere Sache geworden seid. Euer Clan vom Ostufer des Loch Lomond gehörte zu den Ersten, die bereits Anfang dieses Jahres Anleihen bei der Company gezeichnet haben. Ein Beweis Eurer Schlauheit und Eures Weitblicks! Denn bis zum heutigen Tag ist der Wert Eurer Anleihen bereits kräftig gestiegen!“
„Ach, William“, unterbrach ihn Laird Buchanan. „Wenn ich nicht schon so alt wäre, ginge ich gerne selbst mit Euch auf große Fahrt!“
Paterson nickte erneut gönnerhaft und fuhr in seiner Rede fort. „In der Tat bin ich viel in der Welt umhergereist und lebte länger in Boston, Massachusetts. Wie Ihr sicher wisst, ist Boston eine Stadt in der sehr erfolgreichen englischen Kolonie Neuengland. Ein junger presbyterianischer Prediger lehrte mich, den Katholiken, die Kunst der Worte. Er hoffte sicherlich, mich dabei zu den Lehren des John Knox, unseres bekannten schottischen Reformators, bekehren zu können. Doch Gott schien dieser Plan nicht zu gefallen, kam doch der gute Joseph Maria Turner plötzlich bei einem Kutschenunfall mitten in Boston tragisch ums Leben. Seine Witwe Elisabeth und ich kamen uns näher, und so wurde Gottes Wille wahr, dass ich dieser Frau helfen sollte. Ich wurde ihr zweiter Ehemann. Warum erzähle ich das hier?“ Der Redner machte eine schöpferische Pause, in der er sich, mit beiden Händen auf die Tischkante stützend, auffordernd in der Runde umblickte. „Die Antwort ist: Weil Gottes Wege manchmal unergründlich sind!“ Dabei richtete er sich auf und stand kerzengerade. „Aber, meine Herren, wer im wahren Glauben festbleibt, den schützt der Herr und lässt sein Handeln fruchtbar werden! Ich weiß, wovon ich rede!“
Ein Mann mit glatter braunhaariger Perücke, die bis über den weißblauen Besatz der Schulterstücke seines Rockes reichte, bemerkte zustimmend: „Gott ist mit den Gläubigen und Fleißigen!“ Der angegraute Bart des Redners mochte nicht so recht zu seiner Haarfarbe passen. Die starke Rötung seines Gesichts, entweder innerer Erregung oder schon dem Alkohol geschuldet, zeichnete sich trotz der einbrechenden Dunkelheit noch deutlich ab.
„Da kann ich Ihnen nur zustimmen, Mr. Fletcher.“ Mr. Paterson zog wieder die volle Aufmerksamkeit auf sich. „Ich weiß inzwischen auch, dass Gott die, die ihn besonders lieben und die er deswegen auch besonders liebt, Prüfungen unterzieht. So hat es dem Herrn gefallen, kaum dass er mir die gute Elisabeth geschenkt hatte, sie mir auch schon wieder durch einen tragischen Badeunfall zu nehmen.“
Ein Raunen wanderte um den Tisch und Paterson machte eine Pause, wobei er seinen Kopf gesenkt hielt. Mit einem Ruck, mit dem er auch die Stirnlocke aus dem Gesicht schleuderte, baute er sich wieder zu seiner vollen Größe auf, um mit seiner Rede fortzufahren.
„Da Gott mich aber schon immer, ja, mein ganzes Leben lang, mit seiner Güte begleitet hat, gibt mir diese Tatsache die Gewissheit, dass der Herr auch bei mir und bei uns sein wird, wenn wir endlich nach Neukaledonien lossegeln. Ich hoffe übrigens, dass das schon in einem guten Jahr so weit sein wird!“
Aufgeregte Zwischenrufe der Anwesenden unterbrachen den Redner.
„Lasst mich nun noch einmal das Ziel unserer Koloniegründung erläutern. Die wunderschöne Region Darién liegt in Mittelamerika an einer Stelle, wo die Landmasse zwischen Atlantik und Pazifik besonders schmal ist. Ihr alle wisst auch, was es bedeutet, mit dem Schiff zum Pazifik zu wollen … Wenn wir also in dem Bereich Dariéns, der von niemandem beansprucht wird, unser Neukaledonien gründen, wird die Hafenstadt New Edinburgh eine der wichtigsten Handelsmetropolen der Welt werden! Denn von dort werden wir den Weitertransport der Waren auf dem Landweg zum Pazifik übernehmen und darauf unseren Reichtum gründen.“
Wieder entstand größere Unruhe im Auditorium.
„Wart Ihr schon dort, William? Und wie genau sieht es dort aus?“, fragte Andrew Fletcher aufgeregt dazwischen.
„Lieber Andrew, in der Tat bin ich dort schon vorbeigesegelt und habe Landschaften von unvorstellbarer Schönheit gesehen. Dichte Wälder wechseln sich ab mit fruchtbaren Tälern, in denen klare Flüsse einen Fischreichtum vorhalten, dass man diese mit bloßen Händen fangen kann.“
In das zustimmende Raunen der Zuhörer drang plötzlich Unruhe von der Eingangstür des White Hart Inn.
„Wer bist du denn, dass du als Mädchen hier in den Pub willst? Halt! Du hast hier keinen Zugang!“, hörte man einen Mann schimpfen.
„Ich bitte Euch. Lasst mich durch! Ich bin Orla Drummond, die Tochter von James Archibald Drummond, der Euch bekannt sein sollte.“ Die schlanke junge Frau hatte, wie fast immer, ihr auffällig blondes Haar zu einem Zopf zusammengeknüpft, den sie auch heute über der rechten Schulter trug. Wie um sich daran selbst vorwärtszuziehen, hatte sie den Zopf mit beiden Händen vor der Schulter gefasst, während sie sich mit dem jetzt abgespreizten Ellbogen an dem in der Tür stehenden Mann vorbeidrängen wollte. Sie trug dasselbe weiße Oberteil mit der grauen Jacke darüber, das sie schon vor zwei Tagen bei der Versammlung getragen hatte. Von der Kleidung und vom Körperbau hätte man sie noch für einen Jungen halten können, aber ihr mädchenhaftes blasses Gesicht mit den Sommersprossen, die sich besonders deutlich quer über dem Nasenrücken abzeichneten, wiesen sie zweifelsohne als Mädchen aus. Sie sprach mit klarer Stimme, die sogar den allgemeinen Lärm übertönte. „Ich bitte Euch! Habt Ihr hier vielleicht noch mehr Blinde, die abgeholt werden müssen? Kommt schon. Lasst mich durch! In nicht einmal zwei Wochen werde ich zwanzig Jahre alt. Dann darf ich sowieso hier rein!“
Das höflich-bestimmte Auftreten der jungen Person ließ den älteren Mann am Eingang verstummen. Im Vorbeigehen blitzte sie den Alten mit ihren stahlblauen Augen zornig an.
„Orla, ich bin hier hinten. Aber du bist viel zu früh!“
„Nein, Vater, es ist an der Zeit. Es ist genug für heute. Ich bringe dich nach Hause.“
„Was ist nur aus mir geworden?“ Jammernd erhob sich ein hagerer, unrasierter Mann in heruntergekommener Kleidung von einem Schemel in der hintersten Ecke des Schankraumes. Mit leeren Augenhöhlen schaute er sich suchend um. Seine schrille, klagende Stimme übertönte den Lärm im Pub. „Da bin ich noch nicht siebenundvierzig Jahre alt und schon nichts mehr wert! Ich kann nicht mehr arbeiten und eigenständig mein Brot verdienen! Jetzt sammeln mich sogar schon meine Kinder ein und bestimmen über mein Leben! Ich hasse dieses Scheißleben! Es ist nutzlos geworden! Herrgott, warum hast du mich derart verlassen?“
Orla hatte sich durch die Grüppchen der stehenden Männer gedrängt, fasste den alten Mann an der Hand und zog ihn in Richtung Tür. „Nutzlos bist du erst, wenn du tot bist!“, war ihre trotzige Äußerung, bevor sie ihren Vater durch die Eingangstür schob und das White Hart Inn verließ.
Die Männer um William Paterson waren während dieses Intermezzos den weiteren Ausführungen des Redners gefolgt. In aufmunternden, vor Enthusiasmus sprühenden Worten hatte der ausufernd die goldene Zukunft der Kolonie beschrieben. Unter dem Applaus der Zuhörer beendete er seinen Vortrag mit einem Hoch auf die Company of Scotland. Mit einer eleganten Verbeugung nahm er wieder auf seinem Stuhl Platz.
Der Lärmpegel am Tisch nahm rasch wieder zu.
„War das nicht eben Archie, der bestrafte Friseur aus Leith, der da herumjammerte?“, fragte der mit am Tisch sitzende John Smith seinen Nachbarn, John Hay.
„Ja, das war er. In der Tat! Ein armer Kerl! Der ehemals katholische Reverend von Leith, dieser Abel Cockburn, hat ihm übel mitgespielt.“
„Wie bitte? Ist er nicht selbst schuld gewesen? Er hat ein Gottesurteil der Inquisition nicht gut überstanden, so wurde mir berichtet“, wandte Smith ein.
John Hay verzog sein Gesicht kurz zu einer Grimasse. „Nun ja“, gab er zu bedenken und dämpfte merklich seine Lautstärke. „Wenn mir die Inquisition die Dornen eines Kerzenleuchters in die Augen rammte, wäre ich ebenfalls blind, egal, was ich vorher gesehen habe.“
„Und das soll der Reverend so veranlasst haben? Was hat Archie denn Schlimmes gesehen? War er nicht selbst Gemeindemitglied der South Leith Parish Church?“
„Ja, das ist es ja! Er hatte sogar einen Schlüssel für die Kirche und hat dort ehrenamtlich geputzt. Doch dann muss wohl der Teufel in ihn gefahren sein. Das war vor etwa anderthalb Jahren. Da hat er plötzlich überall herumerzählt, Reverend Abel Cockburn höchstpersönlich bei unzüchtigen Handlungen mit einem kleinen Jungen in der Sakristei gesehen zu haben. Nach dem Jungen wurde dann sogar gesucht. Aber trotz intensivem Nachspüren konnte er nie gefunden werden. Die gottesfürchtige Ehefrau des Friseurs, Skye Drummond, hat auf dem Wochenmarkt der dicken Ellen die ganze schreckliche Wahrheit erzählt. Die hat dann schnell dafür gesorgt, dass jeder Marktbesucher in Wochenfrist aufgeklärt wurde. Mein Wissen habe ich also von meiner Frau. Es soll so gewesen sein, dass nur wenige Tage später, nachdem Archies Anschuldigung wie ein Lauffeuer die Runde machte, Hilfskräfte des Reverend Archie mitten in der Nacht mit drei Mann aus dem Bett gezerrt und ihn zum Reverend geschleppt haben. In allen Verhören hat Archie seine Behauptung bis zum Schluss wohl nicht widerrufen!“
John Hay machte eine bedeutungsvolle Pause.
„Der gewiefte Reverend hatte wohl schon damit gerechnet, und so war es sicher kein Zufall, dass weitere Geistliche vor Ort waren und direkt eine Art Kirchengericht einberufen werden konnte. Eigentlich sind das Dinge, die in der presbyterianischen Kirche heutzutage so nicht vorkommen dürften, aber Reverend Cockburn, von dem wir ja wissen, dass er vom Katholizismus konvertierte, hat seine Macht genutzt und ein angebliches Gottesurteil veranlasst. Um die Wahrheit herauszufinden und zu beurteilen, ob James Archibald Drummond mit teuflisch-bösem oder mit einem gesegnet-göttlichen Auge gesehen habe, schlug er vor, mit einem Kerzenleuchter die Wahrheit von Archies Aussagen zu überprüfen Damit hatte der arme Archie sicher nicht gerechnet. Einem presbyterianischen Reverend hat er das so sicher nicht zugetraut. Er soll mächtig geschrien haben, als er in nur zwanzig Sekunden sein Augenlicht verlor. Er hat im Übrigen dieses angebliche Gottesurteil nur knapp überlebt, meine Güte!“ Hay machte eine weitere Pause und fuhr sich mit Daumen und Zeigefinger über die zugepressten Augenlider.
„Das ist ja“, stammelte Mr. Smith mit angeekelter Miene, „das ist ja – äh – ein hartes Urteil.“
„Das muss man ehrlich so benennen! Aber damit nicht genug. Archie wurde aus der Kirche ausgeschlossen und ihm wurde seitdem verboten, sich auf öffentlichen Plätzen und in Pubs seiner Heimatstadt Leith aufzuhalten. Sein Friseurladen wurde geschlossen. Nur aufgrund der Tatsache, dass er Vater von vier Kindern und seine Frau unbescholten ist und sein Bruder die Miete für ihn weiterbezahlt, durfte er in seinem kleinen Häuschen in der Mitchell Street wohnen bleiben.“
„Deswegen trinkt er hier, wenn er sonst schon zu Hause eingesperrt ist.“ John Smiths Stimme klang fast mitfühlend.
„Es wäre ja auch verheerend gewesen, wenn seine komplette Familie noch obdachlos geworden wäre. Dann hätten sie sie alle in das Bettlerlager gesperrt, das die Stadt im hinteren Bereich von Greyfriars Kirkyard eingerichtet hat. Es verstößt zwar hier gegen jedes geltende Recht, die Bettler und Wanderarbeiter einzusperren, aber die Stadtoberen von Edinburgh haben behauptet, dass sie sonst die Diebstähle und das Verbrechen nicht in den Griff kriegen könnten. Sie haben übrigens angefangen, die Bettler mit Kutschen wahllos ins Umland abzuschieben.“
Mr. Hay schüttelte den Kopf. „Es sind wirklich harte Zeiten! Noch ein letzter Satz zum bestraften Drummond. Der Reverend hat in seiner Sonntagspredigt extra darauf hingewiesen: Sollte Archie seine Behauptung von damals öffentlich wiederholen, würde er vor Gericht gestellt und dann mit größter Wahrscheinlichkeit hier auf dem Grassmarket gehängt!“
„Apropos: Ist eigentlich schon bekannt, wann die nächste Hinrichtung stattfinden soll?“, fragte John Smith unvermittelt nach und provozierte damit bei Mr. Hay ein nachdenkliches Stirnrunzeln.
„Die Dinge sind in Bewegung geraten!“ In Farlan MacIntyres Stimme schwang ein Hauch von Euphorie. Mit sichtlichem Appetit löffelte der muskulöse Mann die Suppe, die seine Frau Ailis auch am heutigen Samstagabend für die Familie zubereitet hatte.
„Du hältst die Pläne von einer schottischen Kolonie also auch für gut, Vater?“, fragte Aiden nach und nahm am Tisch Platz.
„Klar, in der Stadt ist doch viel mehr los als sonst! Und es kommen nicht mehr nur Bettler! Heute früh zum Beispiel haben mir zwei noble Herren die Hälfte meines Fischfangs auf einen Schlag abgekauft. Von ihrem Akzent her stammten die Männer aus dem Süden. Die arbeiten sicher auch für die Company of Scotland. Zu der Zeit war Riley noch mit einer Ladung Fisch zu den Kenwoods unterwegs. War da noch irgendwo am Rumtrödeln. Larry, der Kutscher, hat mir auch erzählt, dass inzwischen schon drei große Lagerhäuser hier in Leith gebaut und ausgestattet werden. Alles für diese große Expedition. Also ja, ich bin inzwischen wirklich überzeugt, dass die Gründung dieser Kolonie eine gute Idee ist. Oder was meint ihr?“ Farlan schaute erwartungsvoll.
Ailis und Aiden nickten zustimmend.
„Du hast recht, Vater.“ Jetzt musste Aiden erst einmal seinen Mund leeren. „Ich habe gerade einmal nachgerechnet: Es ist jetzt tatsächlich schon gut fünf Jahre her, dass ihr mich nach Leith geholt habt. Ich habe in diesem ganzen Zeitraum noch nie einen solchen Trubel hier in der Stadt erlebt. So viele fremde Leute. So viele Kutschen. Voller war es nur auf dieser wahnsinnigen Versammlung in Edinburgh vor drei Wochen.“
„Aber die reden nicht nur!“ Farlan fiel ihm ins Wort. „Nein, die tun endlich etwas! Ich verstehe zwar nicht genau, wie das mit dem Geld funktionieren soll, aber wenn es wahr ist, dass auch die Reichen schon viel Geld eingezahlt haben und auf Gewinn hoffen, dann muss da auch etwas dran sein! Außerdem: Bei den Engländern funktioniert der Handel mit den Kolonien doch auch, und das schon seit vielen Jahren!“
Es entstand eine kurze Stille, die Farlan mit einem kurzen Räuspern unterbrach. „Aiden, äh, wir sind jedenfalls sehr froh, dass du mit deiner Arbeit bei Mr. Fleece so zufrieden bist.“ Er räusperte sich erneut.
Aiden legte den Löffel auf den Rand seines Blechnapfs und lehnte sich zufrieden auf seinem Stuhl zurück. „Stellt euch vor: Mr. Fleece schaut des Öfteren nach mir. Er hat mir versprochen, dass ich in Kürze kräftigere Arme als ihr Fischer bekommen würde. Das Einschmelzen des Fetts ist aber auch kräftezehrend! Ich will ehrlich sein: Für immer will ich nicht an dieser Stelle arbeiten. Aber Mr. Fleece mag mich, und vielleicht bekomme ich ja mal eine Gelegenheit –“ Das schwungvolle Öffnen der Haustüre unterbrach seine Rede.
Riley betrat den Raum und zog, wie immer, schon reflexartig den Kopf ein, während er in die warme Stube trat.
„Hallo, na, was schaut ihr mich so an? Ja, is’ ganz schön frisch draußen! Verdammt! Ich hoffe, ihr habt mir noch was von der Suppe übrig gelassen.“ In einer ruckartig zerrenden Bewegung streifte er seine dicke Jacke ab und warf sie in hohem Bogen in Richtung eines leeren Stuhles. Die Tatsache, dass die Jacke den Stuhl verfehlte, schien Riley nicht zu interessieren. Geschmeidig glitt er auf den letzten freien Platz am Tisch. Den gequälten Zwischenruf seiner Mutter: „Hey, seit wann schmeißen wir die Kleidung durch die Wohnung?“ beantwortete er nur mit einem: „Heb’ ich gleich auf!“ Doch zuerst fiel er wie ein hungriger Wolf, kaum dass sein verbeulter Napf gefüllt war, über seine Suppe her.
„Wir reden gerade davon, dass die Kolonie eine gute Sache werden könnte für unser Land!“, brachte Farlan MacIntyre das Gespräch wieder in Gang.
„Ja, ja!“, grunzte Riley zustimmend mit vollem Mund.
Aiden hatte inzwischen seinen Teller geleert und schaute seinem Cousin beim Essen zu. Dann stellte er seine Bemerkung fast ein wenig provokant in den Raum: „Mein Chef hofft auch auf die Gesellschaft! Unserem Handwerk sollte es dadurch schnell besser gehen. Das könnte ein guter Zeitpunkt für mich werden, um mit Unterstützung von Mr. Fleece zu wechseln und aufzusteigen, weg von der Schinderei am Blubberpot.“
Ailis hakte nach. „Verstehe ich das gerade richtig? Mr. Fleece plant auch schon mit der Kolonie?“
„Na klar, da will der gerissene Kerl auch mitverdienen. Die Kolonie ist für mich aber eher nichts, weil ich auf einen Aufstieg innerhalb unseres Arbeitsbereiches, hier in Leith, hoffe. Mr. Fleece hat mir gesagt, ich wäre der Einzige, der in seiner Produktion lesen und schreiben kann.“ Aiden machte eine vielsagende Pause. „Ist zwar im Moment ein stinkig-anstrengender Job, aber – wer weiß …?“
„Hört, hört, unser Schlaumaxe spricht! Hat zwar nichts in den Oberarmen, aber dafür ständig Flausen im Kopf!“ Riley lachte über seine eigene Bemerkung.
„Wenn ich richtig informiert bin, hast du ja mit der Sonntagsschule ganz flott und nicht ganz freiwillig aufgehört, oder?“ Aiden konterte damit Rileys Provokation.
„Ich habe nur eine Person zur Ordnung gemahnt, Kleiner, und, bei Gott, ich würde es immer wieder tun.“
„Ach komm, du hast einen Kleinen in der Kirchenbank umgehauen, weil der sich vorgedrängelt hatte. Wahrscheinlich soll ich dir auch noch das Lesen …“
Ailis sah sich genötigt, das Wortgefecht, das wieder einmal zu eskalieren drohte, zu unterbinden. „Lasst das Streiten, ihr beiden! Übrigens, Aiden: Ich hatte auch den Eindruck, dass Mr. Fleece die Company gut findet, bei dem, was er uns nach dem letzten Sonntagsgottesdienst erzählt hat. In den acht Wochen, die du jetzt schon für ihn arbeitest, ist er mit deiner Arbeit wirklich sehr zufrieden. Und er hält dich für schlau.“
„Ich kann, bitte schön, auch lesen und schreiben!“, knurrte Riley mit vollem Mund dazwischen.
„Im Moment rede ich mit Aiden.“ Ailis’ Stimme klang ärgerlich. „Also: Mr. Fleece hat noch erzählt, dass du vor Besuchern von der Company eine besondere Bemerkung gemacht hättest, über den Gestank bei der Tranverarbeitung.“
Aiden lachte laut los. „Ja, das muss ich euch erzählen! Ist schon ziemlich genau zwei Wochen her. Ich war wie jeden Tag dabei, am großen Blubberpot das Walfett auszuschmelzen, da führte Mr. Fleece eine Gruppe von gut zehn Personen, Männer und Frauen, alle schick und teuer gekleidet, an mir vorbei. Er blieb stehen und erklärte meine Arbeit. Gerade waren wieder zwei Quardeelen Walfischtran in Fässern bei mir angeliefert worden. Arbeit für vier Wochen! Und natürlich riecht Walfisch entsprechend streng. Um nicht zu sagen: Das Zeug stinkt erbärmlich! Ich nehme das gar nicht mehr so intensiv wahr, aber wer es nicht gewohnt ist … Na ja, die Damen standen also da und begannen nun, während Mr. Fleece ausführlich über Walfischtran erzählte, sich eine nach der anderen die Nase zuzuhalten. Sie drückten sich immer näher an ihre Begleiter, als wäre die Luft in Jackennähe ihrer Männer weniger säuerlich. Doch eine von denen stellte sich nicht so an. Und ehrlich: Ich muss gestehen, dass ich noch nie eine so – schöne – Lady gesehen habe wie sie!“ Aiden machte eine verzückte Miene, schloss die Augen und drückte beide geballten Hände in einer Geste der Bewunderung an seine Brust.
„Ja, und wie ging es dann weiter?“, fragte Riley, der Aidens Erzählung mit einem lauten Rülpser unterbrochen hatte. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Riley schon den dritten Napfinhalt geräuschvoll in sich hineingeschaufelt.
„Also, Riley: Diese Hübsche trat einen Schritt nach vorne, und mitten in die Ausführungen von Mr. Fleece hinein fragte sie mich ganz ungeniert und laut: ‚Hallo, du da! Wie kannst du nur diesen Gestank hier aushalten?‘ Mr. Fleece unterbrach seinen Vortrag etwas überrumpelt und schaute, wie inzwischen auch die ganze Gruppe, auf mich, der ich mit dem Holzpaddel weiter im Blubberpot rührte. Ich richtete mich auf und antwortete: ‚Ma’am, ich tröste mich damit, dass unser Chef, der edle Mr. Fleece, aus diesem stinkenden Gebräu durch Zufügen von Pottasche und Geruchsstoffen überaus wohlriechende Seifen herstellen kann. Und: Einer muss die Arbeit hier schließlich machen.‘“ Aiden lachte kurz auf, bevor er fortfuhr.
„Da hättet ihr die Gesichter dieser Truppe sehen sollen … Erst war alles totenstill, dann fingen die doch tatsächlich an zu lachen, und dann quakte auf einmal die schrille Stimme einer älteren Dame dazwischen: ‚Marjorie, du hast Mr. Fleece unterbrochen. Komm bitte sofort hierher und entschuldige dich!‘ Und jetzt gestehe ich euch etwas.“ Aiden faltete die Hände vor seinem Gesicht. „Diese Marjorie zeigte mir in dieser Sekunde ihr zuckersüßestes, engelhaftes Lächeln, um sofort danach wie ein Teufel mit den Augen zu rollen und eine genervte Grimasse zu ziehen. Als hätte ich das alles nur geträumt, drehte sie sich im selben Moment mit der gleichmütigsten Miene der Welt zu der alten Dame und fügte an meinen Chef gewandt hinzu: ‚Ich bitte um Entschuldigung, Mr. Fleece.‘ Ja, der hat dann gar nichts mehr gesagt, sondern nur noch irgendetwas von Seife gemurmelt und ist danach mit dem ganzen Tross verschwunden.“
„Mensch, Aiden, so habe ich dich ja noch nie über ein weibliches Wesen reden hören“, kommentierte Riley die Geschichte seines Cousins und bekam von diesem prompt einen Schlag gegen den Oberschenkel.
„Vorsicht, Kleiner, sonst ist der Traum von dieser süßen Marjorie ausgeträumt, bevor er überhaupt begonnen hat. Weil du nämlich vorher schon von mir entmannt wurdest wegen deiner Respektlosigkeit!“
Es hätte sich aufgrund Rileys höhnischen Lachens fast noch ein Handgemenge unter den Cousins ergeben, wenn nicht Farlan mit einem energischen „Lasst das!“ für Ruhe am Tisch gesorgt hätte.
Für einige Sekunden war es mucksmäuschenstill.
Riley lehnte sich auf dem Stuhl zurück und hielt sich den Bauch mit beiden Händen. Dann sagte er: „War lecker, Mutter“, um das Thema zu wechseln.
Danach ergriff Aiden wieder das Wort. „Ich muss noch etwas loswerden an dieser Stelle. Ich empfinde es immer noch als großes Glück, dass ich heute hier sitze, wieder Eltern und sogar einen Bruder habe, auch wenn der sich meistens wie ein ungehobelter Klotz benimmt.“
Trotz dieser Vorlage zum Widerspruch blieb Riley diesmal stumm.
„Ich hatte nach dem Tod meines Vaters nicht damit gerechnet, nur vier Monate später auch noch meine Mutter unter der Geburt meiner kleinen Schwester zu verlieren. Was Nachkömmlinge ihren alten Müttern antun können? Na ja, Gottes Wille war es, dass die kleine Linda nach der Nottaufe doch noch überlebt hat. Und wie gut, dass Tante Ruthy damals uns beide zu sich genommen und mich dann zu euch gebracht hat.“
Es entstand wieder eine kleine Pause, in der alle betreten zu Boden schauten.
„Also, ich will nur sagen, dass ich froh bin, hier in Leith eine Heimat gefunden zu haben. Ich will hier eigentlich nicht mehr weg.“