Die Ungehaltenen - Deniz Utlu - E-Book

Die Ungehaltenen E-Book

Deniz Utlu

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Beschreibung

Generationenporträt, Einwandererschicksal, Berlinroman, Road-Novel. Utlu erzählt pointiert und poetisch die Geschichte zweier Berliner Gastarbeiterkinder der zweiten Generation. Elyas lebt in Kreuzberg, verbringt die Nachmittage bei Veit in der Kneipe und erzählt seiner Mutter irgendwas von Jurastudium. Ihre Anrufe drückt er weg, denn wie es seinem Vater geht, kann er sich selbst denken. Es reicht ihm schon der Blick von Onkel Cemal. Der ist der Einzige, von dem er sich traurige Wahrheiten sagen lässt. Denn Cemal hat sich Mutterwitz bewahrt, obwohl er gleich zweimal seine Heimat verloren hat: die Türkei und nun, nach dem Mauerfall, auch seinen Kiez. Aber dann trifft Elyas die junge Ärztin Aylin – ausgerechnet auf der offiziellen Feier zum Anwerbeabkommen, wo sich beide wie im falschen Film fühlen. Aylin ist stark und klug, aber auch sie trägt eine Traurigkeit in sich, die die beiden nur gemeinsam loswerden können.

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Über das Buch

»Ich mochte es, dass die Untertassen bei Onkel Cemal immer dreckig waren.«

Elyas lebt in Kreuzberg, verbringt die Nachmittage bei Veit in der Kneipe und erzählt seiner Mutter irgendwas von Jurastudium. Ihre Anrufe drückt er weg, denn wie es seinem Vater geht, kann er sich selber denken. Es reicht ihm schon der Blick von Onkel Cemal. Der ist der einzige, von dem er sich traurige Wahrheiten sagen lässt. Denn Cemo hat sich Mutterwitz bewahrt, obwohl er gleich zweimal seine Heimat verloren hat: die Türkei und nun, nach dem Mauerfall, auch seinen Kiez. Aber dann trifft Elyas die junge Ärztin Aylin – ausgerechnet auf der offi ziellen Feier zum Anwerbeabkommen. Aylin ist stark und klug, aber auch sie trägt eine Traurigkeit in sich, die die beiden nur gemeinsam loswerden können.

Ein poetischer, kraftvoller Text, dessen Autor aus dem Vollen schöpft: Seine Figuren sind lebensecht. In der Türkei oder in Deutschland, in der akademischen oder in der Arbeiterwelt, im Ärztezimmer einer Klinik in Kreuzberg oder in türkischen Teestuben.

Über den Autor

Deniz Utlu, geboren 1983 in Hannover, lebt in Berlin. VWL-Studium in Berlin und Paris. Herausgeber des Kulturmagazins freitext, Verfasser von Essays, Theaterstücken und Kurzprosa, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Institut für Menschenrechte. Er twittert dreisprachig zu tagesaktuellen politischen und kulturellen Themen. (https://twitter.com/DenizUtlu)

Utlu kuratierte eine Lesereihe im Ballhaus in Kreuzberg, die er seit 2013 an der Studiobühne des Gorki-Theaters fortsetzt. Die Ungehaltenen ist sein erster Roman.

DENIZ UTLU

DIE UNGEHALTENEN

ROMAN

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ISBN 978-3-8437-0690-2

© 2014 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

Umschlaggestaltung:

Geviert, Christian Otto, unter Verwendung zweier Motive von: © gettyimages / Chris Clinton, © plainpicture / Zenshui

Alle Rechte vorbehalten.

Unbefugte Nutzung wie etwa Vervielfältigung,

Verbreitung, Speicherung oder Übertragung

können zivil- oder strafrechtlich

verfolgt werden.

eBook: LVD GmbH, Berlin

ERSTER TEIL

Eins

1

Meine Stadt bestand aus zwei Straßen. Die eine führte ins Hühnerhaus, die andere zu Onkel Cemal.

Ich schob die schwere Eingangstür auf und ließ die Hand über das zerkratzte Holzgeländer gleiten. Im Treppenhaus roch es nach Keller und Essen. Onkel Cemals Wohnungstür mit dem absplitternden Lack und dem geschwärzten Guckloch öffnete sich. Der lange, schmale Flur mit hoher Decke und rotbraun überstrichenen Dielen führte ins Wohnzimmer. Auf dem Sofa lag ein eingedrücktes Kissen. Ein Überwurf war aufgeschlagen. Cemo stellte zwei Teegläser auf den Tisch und knüllte sich das Kissen ins Kreuz.

»Elyas, Junge, lass dich nicht hängen.«

Onkel Cemals Haar, der Rest, der über den Ohren anfing und bis zum Hinterkopf reichte, war zerzaust. Graue und weiße Stoppeln stachen aus seinem ­Gesicht, die faltigen Augenlider hingen.

In letzter Zeit erzählte Cemo mir häufig – ohne dass ich ihn gefragt hätte –, wie es hier in den Siebzigern war.

»Da, wo du jetzt sitzt, saß dein Vater. Er war nicht viel älter als du heute«, sagte er, »gerade aus Köln hierhergezogen, deine Mutter wohnte noch dort. Damals war hier vieles anders. Zwei Straßen weiter stand die Mauer. Sie war nicht schön, aber es war ruhiger mit ihr. Wir haben sie niedergerissen. Kaum war sie weg, wollte man, dass auch wir weggingen. Das ganze Land feierte die Einheit, aber niemand fragte uns. Dabei waren wir am meisten betroffen. Wir hatten unsere Jahre an dieser Mauer verbracht. Dein Vater ist ein guter Mann. Sein Herz ist rein.«

Ich nahm das heiße Glas in die Hand und atmete den scharfen Geruch schwarzen Tees ein.

Onkel Cemal stellte sich vor mir auf und richtete seinen Finger auf mich. »Junge, du bist jung. Wie alt? Dreiundzwanzig? Vierundzwanzig? Was ihr durchmacht, du und deine Mutter, ist nicht einfach.«

Ich hörte den Teekessel in der Küche scheppern. Onkel Cemal legte die Hand auf meinen Kopf, und ich bemerkte, dass ich mir die Augen rieb.

»Wenn du so weitermachst, hängen dir die Lider bis zu den Knien, bevor du dreißig bist.«

Ich vergaß oft zu essen und ernährte mich hauptsächlich von Leitungswasser oder stopfte mir Socken in den Mund und spuckte sie wieder aus, sobald ich mich an den Flusen verschluckte. Wenn ich mich an meinen Hunger erinnerte, zog ich eine Jogginghose und einen Kapuzenpullover an, lief die Straße runter zum Hühnerhaus und bestellte ein halbes Hähnchen mit ­Pommes.

Ich hatte mir die Kapuze tief ins Gesicht gezogen und eben ein fettes Stück von einer Keule gerissen, da hörte ich Veits Stimme: »Alter«, sagte er, »Kreuzberg ist tot.«

Ich sah ihn zwischen Kapuzenzipfel und Hähnchenkeule. Ich hatte seine Stimme lange nicht mehr gehört. Sie war rau vom vielen Rauchen, aber sie war auch sanft. Vielleicht weil er langsam sprach oder immer gerade so laut, dass man ihn hörte.

Ich sagte: »Du bist tot, Alter.«

Wir grinsten uns an, er warf sich ein paar Pommes zwischen die Zähne. »Aber du machst auch nicht grad einen lebendigen Eindruck.«

»Warte, bis ich aufgegessen habe.«

Nach der Trennung von Fiona und der Nachricht, Vater habe Krebs, hatte ich mich zwei Monate lang nirgends blicken lassen. Erst hatte ich mich weniger blicken lassen, weil ich mit Fiona mein Gefühl für Zeit verlor, und dann gar nicht mehr, weil ich mich selber verlor.

Fiona und ich hatten uns auf einer Vernissage in Mitte kennengelernt. Ich kannte den Fotografen. Veit hatte ihn mir vorgestellt, weil ich damals nach einem Künstler suchte: Ich hatte Mao Tse-tungs Theorie des Gue­rilla­krieges zwischen der Brigitte und dem Focus in einem Asia-Imbiss in der Lausitzer Straße entdeckt und sie in der Form eines interaktiven Fotoromans auf Berlin übertragen.

Einige Bilder aus dem Fotoroman wurden ausgestellt, und ich war so etwas wie ein Ehrengast. Ich hatte vorher fünf Wodka-Shots gekippt, um Berlin-Mitte mit der nötigen Gelassenheit zu begegnen.

Fiona und ich waren die einzigen Betrunkenen auf der Vernissage. Ich sagte zu ihr: »Man sieht vom anderen Ende des Raumes, dass es dich viel Kraft kostet, nicht zu taumeln.«

Sie sagte: »Und ich frage mich die ganze Zeit, warum du eine Hornbrille trägst, wenn du dich dafür schämst.«

Ich sagte: »Weil ich kleinen Mädchen wie dir damit imponieren möchte.«

Sie: »Du näherst dich deiner Kastration.«

Ich: »Super, das ging schneller, als ich dachte.«

Ich war einundzwanzig Jahre alt, Fiona war drei Jahre älter. Ich wollte ihr die Kleider vom Leib reißen, ihre engen Jeans, ihre Lederbluse. Alles. Vorher würde ich nicht nach Hause fahren. Und ich blieb.

Wir hatten tagelang Sex. Und tagelang Krieg. Wir liefen erschöpft vom Ficken durch Kreuzberg und blätterten in alten Büchern, die wir in Antiquariaten fanden. Wenn ich krank war, band sie mir einen Schal um den Hals. Wenn sie krank war, durfte ich sie nicht sehen.

Es hätte immer so weitergehen können. Aber eines Tages rief Mutter an, Vater habe Krebs. Fiona fand, dass es ein guter Zeitpunkt sei, mir zu sagen, dass sie mir in Zukunft keinen Schal um den Hals binden werde, wenn ich krank sein sollte, und verpisste sich, bevor es ernst wurde. Ich schlug die Seitenspiegel von fünf Autos ab und sprach in den nächsten Wochen lieber mit Figuren, die ich aus Büroklammern bog, und nicht mit Menschen.

»Machst du eigentlich immer noch so kreative Geschich­ten?«, fragte Veit.

»Kannst du das irgendwie anders formulieren, mir wird schlecht.«

»Wenn ich einen Laden aufmache, brauche ich jemanden, der das Ding designt, die Homepage macht, Flyer und so.«

Veit hatte gesagt: Hier ist die Kohle. Lass dir Zeit. Mein Laden ist dein Laden.

Tagelang stand ich alleine in der ehemaligen Schlachterei und haute Kacheln von den Wänden. Ich hatte keinen Bock aufs Studium.

Ich kaufte Vogelkäfige in den Prinzessinnengärten und hängte sie unter die Lampen. Ich bohrte ein Pissoir an die Wand und schrieb mit Edding Whiskysorten drauf: Talisker, Lagavulin, Caol Ila. Veit sagte: cool. Ich griff nach einem Hammer und schlug faustgroße Löcher in den Putz. Veit sagte: cool. Ich sprühte mit einer Spraydose »Your Own Personal Jesus« an die Wand. Er sagte: cool. Veit fing eine Ratte und nagelte sie an die Wand. Mir wurde übel.

Zur Eröffnung gab es eine riesige Party. Mein Platz an der Bar war in der Ecke des Raumes, wo der Tresen einen Bogen machte. Mit dem Rücken zur Tür. Am Geräuschpegel, an der Intensität des Zigarettenqualms, der wie ein Nebel aufstieg, an Bier- und Weinpfützen auf dem lackierten Tresenholz, an Veits beschleunigten Bewegungen, wenn er Kronkorken von Bierflaschen abklopfte und über die Schulter in eine Vase warf, an den immer glasigeren Augen der Party­gäste, wenn sie neben mir auf den Tresen fielen und unbeirrt weiter Gin Tonic oder Wodka Redbull tranken, erriet ich die Uhrzeit. Gegen fünf lagen zwei Typen auf dem Ledersofa neben dem Pissoir und aßen sich auf. Eine Frau rauchte schweigend an der Bar, ihre Freundin tanzte alleine und beinah bewegungslos davor. Ich lehnte mich gegen den Tresen, mir fielen die Augen zu. Ich öffnete sie wieder, aber das Mädchen war verschwunden. Auf dem Sofa lag niemand mehr. Die Frau an der Bar schlief.

Ich fläzte mich aufs Sofa und ließ den Finger am Pissoir die Whiskynamen entlanggleiten, bis Veit mir ein Zeichen gab: Caol Ila. Er drückte mir ein Glas in die Hand und blieb vor mir stehen. Er grinste, seine Zähne waren lang und gelb und schief. Trotzdem hatte sein Lächeln etwas Inniges. Jedenfalls für mich. Er hob das Glas, wir stießen an, dann brannte der Caol Ila rauchig auf der Zunge. Veit setzte sich neben mich. Unsere Köpfe fielen auf die Lehne, und wir versuchten im Käfig, den ich an die Decke über dem Sofa gehängt hatte, die Zukunft zu lesen.

Manchmal dachte ich, Veit hatte mich die Bar designen lassen, weil er glaubte, eine Ergotherapie würde mir bekommen.

»Du bist ein guter Junge!«, murmelte ich.

Er grinste mich an und sagte: »Falsch. Meine Seele ist so rein wie die Pisse eines Säufers.«

Ich sagte: »Wenigstens hast du eine.«

»Du nicht?«

»Kermit der Frosch hat sie gegessen.«

»Meine hätte ihm nicht geschmeckt.«

»Meine hat er wieder ausgekotzt.«

Er riss die Wodkaflasche aus dem Regal, wir grölten Trinksprüche. Bis die Frau, die am Tresen eingeschlafen war, aufwachte.

Veit strich ihr mit der Hand übers Gesicht – zum ersten Mal fiel mir auf, wie groß seine Hände waren, die Fingernägel.

Sie setzte sich mit einem Glas Wodka-Kirsch zu mir, sagte sie heiße Lara. Sie hatte große, runde braune Augen. Unter dem rechten Lid tropfte ihr ein schwarzes Muttermal über die Haut wie eine Träne.

»Veit ist so cool«, sagte sie.

»Der Beste«, sagte ich.

Wir taumelten zu dritt durch Kreuzberg. Kurz vor Tagesanbruch war wenig geblieben von den Touristen und Zugezogenen mit engen Hosen, Jacketts, Seitenscheiteln und Schnauzbärten. Von den Punks, den Transvestiten, den türkischen Jugendlichen, die ihre neuesten Verse rappten, den Familienvätern, die Sonnenblumenkerne mit den Schneidezähnen aufbissen und die leeren Hülsen auf den Boden schnippten, von den Frauen mit Lederstiefeln, die bis über die Knie reichten. Der Blumenladen hatte noch geöffnet, aber niemand kaufte hier Blumen.

Ich deutete auf die rechteckigen schwarzen Flecken auf dem Kopfsteinpflaster am Ende der Waldemarstraße, wo früher die Mauer stand.

Ich war zu jung gewesen. Ich hatte von dieser ganzen Ost-West-Geschichte nur David Hasselhoff mitbekommen, der beim Mauerfall Looking for Freedom gesungen hatte. Die Tore der Türken- und Junky­viertel wurden für die Ostler geöffnet.

Mein Vater und Onkel Cemal und viele andere hatten gefeiert und gejubelt beim Mauerfall und die Neuen mit offenen Armen empfangen. Von älteren Brüdern von Freunden wusste ich, dass sie damals mit nichts als der Faust in den Taschen am Kottbusser Tor und am Mehringdamm gestanden und die Ostler beobachtet hatten, die grußlos an ihnen vorbei zu den Bänken gingen, um ihr Begrüßungsgeld abzuholen.

»Ich will euch was zeigen«, sagte ich.

Wir liefen zur Markthalle. Ich fand die Tür, die zum Aufgang aufs Dach führte. Im Treppenhaus war es dunkel, das Licht ging nicht. Es stank.

»Wo bringst du uns hin?«, fragte Lara mit gespielter Ängstlichkeit.

»Tja, das hättest du dir vorher überlegen sollen«, sagte Veit.

Wir tasteten uns vor und stiegen Stufe für Stufe die Treppen hinauf. Die Tür der Dachgeschosswohnung war einmal aufgebrochen und seitdem nicht repariert worden. Die Wohnung stand leer, die Fenster waren mit Brettern zugenagelt. Kein Licht, kein Wasser, keine Klos, nichts. Fast nichts.

Ich zippte ein Feuerzeug. Die Flamme erhellte die Dielen vor uns, eine Maus huschte aus dem Licht. Ich leuchtete die Wände ab.

»Was suchst du?«, fragte Veit.

»Ich hab’s gleich.«

Die rosafarbene Tapete mit Blumenmustern war an vielen Stellen eingerissen, und der Putz dahinter schimmerte hervor. Hier und da steckten Nägel. Endlich fand ich, was ich suchte. Ein beschriftetes Rechteck aus Butterbrotpapier.

»Was steht da?«, fragte Lara.

»Das ist Türkisch«, sagte ich. »Sie, die glauben, dass Tyrannei und Rohheit den Glauben und die Würde des Menschen ausradieren können. Werden sie dem unbestechlichen Fluss der Zeit standhalten? Nein, werden sie nicht. Diese Tyrannei, dieses Blut wird besiegt. Eines Tages.«

»Wer hat das geschrieben?«

»Der Regisseur Yılmaz Güney. Hier haben in den Siebzigerjahren Arbeiter aus der Türkei gewohnt. Freunde meines Vaters. Von ihnen ist nichts geblieben außer diesem bisschen Butterbrotpapier an der Wand.«

»Wo sind sie hin?«

»Weg.«

»Und dein Vater?«

Auf der anderen Seite fand ich einen weiteren Zettel an der Wand.

»Hier«, sagte ich, »hier ist ein Gedicht von Hikmet. Einer der Arbeiter hat es über sein Bett gehängt. Die Wände waren voll mit Betten, die haben zu zehnt in so einem kleinen Raum gewohnt.«

»Lasst uns die Welt den Kindern geben. Wenigstens für einen Tag. Wie einen großen, bunten Luftballon zum Spielen. Wie einen riesigen Apfel oder wie einen Laib warmen Brots. Damit sie sich satt essen, wenigstens für einen Tag. Und wenn es nur für einen Tag ist, soll die Welt lernen, was Freundschaft heißt.«

»Schön«, sagte Lara.

»Ich hasse Kinder«, sagte Veit.

Lara kicherte. Er packte sie am Schopf, sie sagte: »au«, er drückte sein Gesicht auf ihres. Ich ließ die Flamme erlöschen und hörte die beiden im Dunkeln schnaufen.

Wir liefen durch die Straßen. Wir hielten in den Kneipen, in denen noch Musik gespielt wurde, wir tranken. Wir setzten uns an den Kanal und beobachteten den Schlaf der Schwäne, wir warfen Steine ins Wasser, wir brachen Tannenäste ab und stellten sie in die leeren Bierflaschen, die jemand auf der Kaimauer aufgestellt hatte – Blumen für die Flaschenjäger.

2

Mutter versuchte sich nichts anmerken zu lassen, aber ihre Augen waren verquollen. Wir klirrten mit den Löffeln in unseren Teegläsern.

Ich fragte sie: »Wie geht es ihm?«

»Wie soll es ihm gehen!«

»Kann ich rein?«

»Das musst du nicht.«

»Ich weiß.«

»Er schläft ohnehin die meiste Zeit. Er ist kaum noch bei Bewusstsein.«

»Ich geh rein.«

Ich betrat das Schlafzimmer. Mutter lehnte mit verschränkten Armen im Türrahmen und schaute zu mir. Ich setzte mich zu ihm ans Bett. Auf der anderen Seite standen zwei große Metallflaschen, aus denen Schläuche abgingen. An einem Gestell hing eine Infusionsflasche, ein Katheter verband sie mit seiner Armbeuge. Vater sah friedlich aus. Die Haut glänzte, sie war wie aus Wachs. Die dünnen und lichten Haare hatte Mutter ihm nach hinten gekämmt. Die Deckenbeleuchtung spiegelte sich auf seiner Stirn.

»Papa, ich dachte, ich schau mal vorbei«, sagte ich.

»Wir haben lange nicht mehr geredet«, sagte ich.

»Ich weiß, du kannst nicht reden, aber hörst du mich?«

»Wahrscheinlich nicht.«

Ich kam mir blöd dabei vor, mit einem Bewusst­losen zu sprechen.

Im Zimmer roch es nach den verschiedenen Salben. Vater wurde regelmäßig eingecremt, damit er sich nicht wund legte. Ein süßlicher, aber penetranter ­Geruch, der mir Kopfschmerzen bereitete.

Ich nahm eine der Cremedosen in die Hand: ein weißer Plastikzylinder mit rotem Verschluss, auf einem Klebeschildchen stand handgeschrieben: Arnika.

Mutter war in die Küche gegangen, ich war allein mit meinem Vater. Ich versuchte es noch einmal: »Alter Mann«, sagte ich, »hörst du mich? Hier spricht dein Sohn.«

Auf seinen Lippen: keine Regung. In dieser Sekunde, vor ihm, wusste ich nicht mehr: Waren diese Lippen immer schon so dünn gewesen, oder verschwanden sie allmählich? Ich öffnete die Salbendose, der Geruch verstärkte sich. Ich malte Vater Lippen mit Arnika.

Dann schmierte ich mir selber Arnika auf die ­Lippen.

Ich lief mit dem Döschen durch den Raum, der einmal das Schlafzimmer meiner Eltern gewesen war. Der alte Kleiderschrank, in dem ich mich als Kind manchmal versteckt hatte, unverändert. Jetzt hing darin aber nur noch Kleidung, die nicht mehr getragen wurde, ein paar Hemden, ein paar alte Jacketts. Auf der Innenseite der Schranktür klebte der Rest eines Kaugummis, den ich da vor fast zwanzig Jahren hingedrückt hatte.

In der Lücke zwischen Schrank und Wand steckten alte Reisekoffer, groß genug für Geschenke, für Toaster und Kaffeemaschinen – für Instantkaffee und Schokolade, die sie jahrelang in die Türkei geschleppt hatten. Ganz oben Vaters bordeauxrote Tasche aus Kunstleder, das an einigen Stellen abblätterte.

An den Wänden hingen keine Fotos, nur ein eingerahmtes Kalenderblatt mit Monets Seerosen. Ich malte mit der Salbe an meinen Fingern Augen und Mund eines Gesichts auf die Tapete.

Ich hielt Vater meine Finger unter die Nase. Er schniefte.

Er öffnete die Augen und sah mich an.

Ich erschrak: »Papa?«, sagte ich. Aber er hatte die Augen schon wieder geschlossen.

»Was machst du denn?«, fragte Mutter.

Sie küsste mich zum Abschied und sagte, was sie immer sagte: »Viel Erfolg, mein Junge.« Sie meinte damit meine Prüfungen.

Ich traf Lara im Park. Zufällig. Sie stupste mich von der Seite an. Ich freute mich, sie zu sehen, zumal es schon einige Wochen her war, dass wir durch die Nacht gezogen waren. Wir setzten uns auf die Felsen im Görlitzer Park – laut Onkel Cemal waren sie aus der Türkei bestellt worden und nach dem ersten Regen zerbröselt.

Nach einer Weile fiel mir etwas auf: Lara hatte einen blauen Fleck im Gesicht. Über der linken Wange, auf dem Jochbein, fast symmetrisch zum Tränenmal, violett, groß wie zwei Daumen. Erst glaubte ich, es sei Dreck. Ich wollte es mir genauer ansehen, da riss sie ihr Gesicht zurück und drückte den Kopf in die ­Schulter.

Wir setzten uns in das Café im Park. Sie strich das Haar hinters Ohr und entblößte damit einen zweiten, viel größeren blauen Fleck auf ihrem Unterkiefer. An einigen Stellen wurde das Blau zu einem dunklen Violett.

Die Bedienung stand vor uns und zückte Notizblock und Bleistift. Lara bestellte Fencheltee.

Ich sagte: »Lara.«

Sie: »Der Zucker fehlt.«

Ich besorgte Zucker vom Nachbartisch. Sie verrührte ihn mit dem Löffel. Sie atmete den Dampf des Tees ein.

Sie sagte: »Ich liebe Fencheltee.«

Ich sagte: »Was ist passiert?«

Sie: »Ich will nicht darüber reden.«

3

Ich mochte es, dass die Untertassen bei Onkel Cemal immer dreckig waren. Bei Mutter wäre das undenkbar gewesen. Er hatte diese alten Teegläser mit blütenblattförmigen Plastikuntertassen, die Blüten abwechselnd rot und weiß. Das Weiß war schon grau, das Rot zerkratzt.

»Die Zeit vergeht so schnell«, sagte er, »es ist fast zehn Jahre her, dass Ays¸e gestorben ist.«

»Wie lange warst du allein?«

»Ein Jahr. Dann kam Hatice, mein Jugendfeuer aus Ankara. Sie tauchte auf wie aus dem Nichts. Aber die wollte nur mein Geld. Zwei Monate …«

»… nach der Hochzeit hat sie sich scheiden lassen, ich weiß, und das Geld …«

»… das ist futsch!« Onkel Cemal lachte laut. Die Oberfläche seiner Backenzähne war braun vom vielen Teetrinken.

»Du kannst darüber lachen!«

»Was soll ich machen: weinen?«

Er stellte das Glas auf dem Tisch ab und fing an, Geheul zu imitieren: »Ühühühühü, das Schicksal, ühühühühü, das Leben, so ungerecht, ühühühüh – los, mach mit!«

Wir liefen im Raum umher, die Fäuste in den Augen, und ahmten Klageschreie nach, wie ich sie einmal in einem alten türkischen Arabesque-Film gesehen hatte: »Ühühühü, alles Lüge, nur der Tod wahr, ühühühü, das Schicksal hat mich ausgepeitscht, ühühühü, achachach, wachwachwach, der Schmerz, unerträglich.«

Wir heulten und heulten, und dann lachten wir und lachten immer weiter. Onkel Cemal nahm mich in die Arme, mein Körper bog sich über seine Plauze.

»Lohnt sich all das überhaupt?«, fragte ich ihn.

»Es lohnt sich immer, mein Junge, immer. Dein Vater ist ein glücklicher Mann, weil er einen Sohn wie dich hat.«

Onkel Cemals Telefon klingelte. Er nahm ab, sagte »Alo?«, hörte eine Weile zu, sagte »Hm« und »Aha« und legte dann auf und sagte nichts mehr.

»Alles okay?«, fragte ich.

»Unser Verein sitzt seit fünfunddreißig Jahren in diesem Haus.«

»Ist es jetzt sicher?«

»Ja. Zum 1. Oktober müssen wir raus.«

»Scheiße.«

»Nach und nach verschwinden alle. Nichts wird bleiben in dieser Straße. Vierzig Jahre«, er pustete in die Handfläche, »weg. Wir haben diese Häuser mit eigenen Händen wieder aufgebaut. Die Hälfte des Vereins hat Rheuma bekommen, weil die kleinen Öfen nicht gereicht haben, um vor dem Berliner Winter zu schützen. Diese Wände erzählen eine Geschichte.« Er pustete noch einmal in die Hand: »Pff …« Er sagte: »Der Mauerfall hat uns fertiggemacht.«

Veit hatte die Bar schon geschlossen. Es war ein Wochen­tag, Mitternacht, die Straßen waren fast leer.

»Kennst du Car-Jumping?«, sagte Veit.

»Ich kenn nur Bungee-Jumping«, sagte ich.

»Das ist besser.«

Er zählte bis drei, dann rannten wir los – Lara und er auf der einen Straßenseite und ich auf der anderen. Wir sprangen auf die parkenden Autos.

»Wer als Erstes auf der anderen Seite ankommt, darf die Bar leer saufen!«, schrie Veit.

Wir sprangen von Wagen zu Wagen, sämtliche Alarmanlagen gingen an. Bei den Sprüngen auf die Motorhauben spürte ich, wie das Blech nachgab.

Ich war der Erste: »Gewonnen, würde ich sagen.«

»Das ist unfair«, sagte Lara, »wir waren zu zweit auf einer Seite, wir mussten aufpassen, uns nicht auf die Füße zu treten.«

Die gelben Lichter sämtlicher Autos blinkten in die Dunkelheit der Straße, die unterschiedlichen Alarmsounds schmerzten in den Ohren.

»Da können wir nichts machen«, sagte Veit, »hat gewon­nen, der Penner.«

In dem Moment mischten sich Polizeisirenen in das Alarmgehupe. Mehrere Streifenwagen mit Blaulicht bogen in die Straße.

»Du bist doch Jurist«, sagte Veit, »was kriegen wir dafür? Lebenslänglich?«

»Todesstrafe!«, rief ich.

»Sehr gut«, sagte er.

Dann rannten wir los, alle in verschiedene Richtungen. Nach einer Stunde klopfte ich an die Fenster der Bar, und Veit öffnete.

»Na dann: Die Bar gehört dir«, sagte er.

Wir machten eine Whiskyschlacht und lagen am Ende zu dritt auf dem Sofa – besoffen und nass.

»Das waren mindestens dreihundert Euro«, sagte Veit.

»Das nächste Mal rennst du schneller«, sagte ich, und dann tranken wir, bis wir einschliefen.

Am nächsten Tag wirkte Veit wie eh und je, als ich ihn in der Bar besuchte. Ich hatte immer noch Schwierigkeiten, geradeaus zu laufen.

»Wo ist Lara?«, fragte ich.

»Die verträgt fast so wenig wie du«, sagte er, »ist zu Hause geblieben.«

4

Vor der Tür von Veits Bar sprang mir eine junge Frau entgegen und schubste mich zur Seite.

»Ey!«, rief ich.

Sie blieb stehen: »Bist du nicht der Kumpel von Veit?«

»Ja.«

»Wichser!«

»Was willst du?«, sagte ich. Wir setzten uns vor den nächsten Spätkauf.

»Jetzt halt die Schnauze und hör zu«, sagte sie, »ich musste Lara ins Krankenhaus fahren. Mitten in der Nacht.«

»Warum war sie im Krankenhaus?«

»Ich hab ihr gesagt, sie soll ihn anzeigen. Sie hat sich dagegen entschieden.«

Ich kannte Lara kaum. Veit war ein guter Junge. Ein Mann, mit dem man reden konnte.

»Was hat das alles mit mir zu tun?«, fragte ich.

»Immer schön wegsehen!«, sagte sie. »Ekelhaft.«

Ich schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, eine leere Bierflasche, die man vergessen hatte abzuräumen, geriet ins Wanken.

»Du kennst mich nicht«, rief ich, »wenn ich was mitbekäme …!«

Sie beugte sich ein Stück vor zu mir und sprach jedes Wort einzeln und deutlich aus: »Dann – bekomm – es – mit!«

In meinem Kopf rückten Erinnerungen hin und her wie Möbel in einer Warenausgabe. Alles vermischte sich. Ich dachte an Veits Hände und seine breiten Fingernägel. Wie er Lara gepackt und sein fettes Gesicht auf ihres gedrückt hatte. Wie sie geschnauft hatten in dem Raum über der Markthalle. Der blaue Fleck in ihrem Gesicht, als ich sie im Park traf.

»Was erwartest du von mir?«

»Ey, weißte was, Mann, fick dich!«, sagte sie und verließ die Terrasse des Spätkaufs ohne ein weiteres Wort.

Ich sah ihr hinterher, bis sie in eine Seitenstraße einbog.