Vaters Meer - Deniz Utlu - E-Book

Vaters Meer E-Book

Deniz Utlu

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Beschreibung

Vaters Meer erzählt von einem Schicksalsschlag, der eine ganze Familie trifft, von einer Vater-Sohn-Beziehung, die abrupt endet, von Migration und Zugehörigkeit. Deniz Utlu zeichnet die unerwarteten Wege des Lebens wie der Erinnerung nach. Sein Roman zeugt von der Kraft des Erzählens – die dann am deutlichsten wird, wenn die Sprache das Letzte ist, was einem bleibt.

Yunus ist dreizehn Jahre alt, da erleidet sein Vater zwei Schlaganfälle und ist fortan nahezu vollständig gelähmt. Er kann nur noch über Augenbewegungen kommunizieren. Zehn Jahre wird er von Yunus’ Mutter gepflegt, erst in einem Heim, dann zu Hause, bevor er stirbt. Und Yunus, der zum Studium ausgezogen ist aus der elterlichen Wohnung, ruft sich immer wieder Bilder aus seiner Kindheit wach: Erlebnisse und Gespräche mit dem Vater, von denen er manchmal gar nicht mehr wusste, dass er sie noch in sich trägt. Sie fügen sich zu dem warmherzigen Porträt eines Mannes, der mit lauter Stimme lachte oder auf Arabisch fluchte, der häufig abwesend und leicht reizbar war und der einst aus Mardin nahe der türkisch-syrischen Grenze nach Istanbul ging, dort den Militärputsch miterlebte und schließlich mit einem Frachtschiff nach Deutschland kam.

»Dieses Buch hat mein Herz gebrochen und wieder zusammengeflickt. Die Figuren und die Sprache, sie werden mich für immer begleiten.« Fatma Aydemir

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Seitenzahl: 473

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Cover

Titel

DenizUtlu

Vaters Meer

Roman

Suhrkamp

Impressum

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2023

Der vorliegende Text folgt der 3. Auflage der Erstausgabe, 2023.

Originalausgabe© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2023

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Umschlaggestaltung: Designbüro Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Umschlagfoto: Mathias Reding

eISBN 978-3-518-77749-7

www.suhrkamp.de

Widmung

Für Sevim Öztimur Utlu, von der ich lernte.

Auch, dass es im Leben kein Aufgeben gibt.

Motto

Ich brauchte lange, bis ich begriff, woher er kam.

Antoine de Saint-Exupéry, Der kleine Prinz

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Motto

Unser Name

Ich trage das Meer in meinem Namen

Schau, hier ist die Tischkante, sagte Mutter

Nachts legte sich Vater zu mir und erzählte

Ein Foto zeigt die linke Kummerfalte

Kürbiskern in der Schale der Unendlichkeit

Mein Vater fiel, wie ein Mensch fällt im Weltraum

Wir, Mutter und ich, warteten an der Schnellstraße

Ich habe ihn gefragt, da hat er die Augen weit geöffnet

Der Antragsteller, dessen Personalien oben eindeutig aufgeführt sind

Locked-in

Der Zweitjüngste an Bord

Gott hat dir eine Zunge gegeben

Das Wasser, das uns verbindet

Meine erste Reise

Gefährten der Nacht an diesem letzten Tag

Dank

Informationen zum Buch

Vaters Meer

Unser Name

Unser Name ist bedeutungslos, sagte Vater. Ein Name, den ein Beamter seinem Vater, also meinem Großvater, gegeben habe. Vater sagte: Viele Namen aus der Zeit, in der die Türkei die Nachnamen einführte, gehen auf die Launen geistloser Beamter zurück. Auch sind erstaunlich viele Menschen damals offiziell am 1. Januar geboren. Ganz einfach. Name: Stein. Geburtsdatum: 1.1.

Aber unser wahrer Name ist schön, sagte er. Irgendwann werde er diesen Namen in seinen Pass eintragen lassen, und dann hätten wir einen neuen, nämlich unseren alten und wahren Namen. Wie lautet er?, fragte ich. In meiner Erinnerung gingen wir spazieren, die Sonne schien durch wassergrüne Blätter, da war ein See in der Stadt. Vater sagte: Beyt Haydo, das ist unser wahrer Name. Was bedeutet er? Vater lachte, es war dieses tiefe Lachen aus seiner Kehle. Banditen, sagte er, und das schien ihn ungemein zu freuen. Auch mich freute das. Ich hatte einen geheimen Namen. Er gehörte Banditen.

Einige Zeit später sah ich, bei einer Buchvorstellung in der Aula unserer Schule, zum ersten Mal einen Schriftsteller und konnte es kaum fassen. Für mich gehörte so jemand zu höheren, nahezu unsterblichen Wesen. Sie waren nicht aus Fleisch und Blut, womöglich sogar nicht irdischen Ursprungs, ihre Worte hatten mit Gravitation und Sternen zu tun, mit Licht und Dunkelheit. Wir, mehrere Hundert Kinder, betrachteten diesen Mann auf der Bühne unserer Aula. Er hatte tatsächlich etwas Außerirdisches an sich. Das dünne, blonde Haar fiel auf den Kragen seines Trenchcoats. Die Beine hatte er übergeschlagen. Er machte auf mich den Eindruck, dass die Kinder, für die er doch schrieb, ihm gleichgültig blieben. Womöglich verfasste er diese Texte gar nicht für sie, oder nicht für jene, die hier vor ihm saßen, sondern für noch Ungeborene oder längst Verstorbene.

Zu Hause erzählte ich Vater, dass ich dieses Buch über Räuberhelden im mittelalterlichen England lesen wolle. Das graue Licht schimmerte durch die Glastür des Balkons, vor der Vater stand und hinausschaute, er antwortete, dass ich keinen Grund hätte, von den halbgaren, letztlich gestohlenen Erzählungen des Westens beeindruckt zu sein. Aber ich will sie gerne lesen, sagte ich. Das ist Schwachsinn, rief Vater. Ich bräuchte solche Märchen nicht, die mich vor falschen Götzen knien ließen, in mich selbst sollte ich blicken, dort lägen die Geschichten vergraben.

Mutter sagte: Alles ist für den Menschen. Das galt für Mandelentzündungen, Windpocken, Durchfall und Liebeskummer – alles für die Menschen. Wer bestimmt das?, fragte ich. Gott. Warum hat Gott das so gewollt? Wir brauchen Mandelentzündungen, damit wir glücklich sind, wenn wir morgens aufwachen und schmerzfrei schlucken.

Alles für die Menschen galt auch für Autounfälle, Fahrradunfälle und Unfälle im Haushalt. Es galt nicht für Erdbeben und Flugzeugabstürze, zumindest sagte Mutter es dann nicht. Es galt auch nicht für das Stürzen von der Leiter, wenn man allein zu Hause war, denn Einsamkeit sei nur für Gott, nicht aber für Menschen, deshalb habe Gott erst die Tiere für Adam geschaffen und dann, als es nichts an der Einsamkeit änderte, seinesgleichen. Es galt auch nicht für eine Mittelohrentzündung, wenn man trotz empfindlicher Ohren tauchte. Aber es galt für Fieber und Erkältungen, und das war hilfreich. Denn was für die Menschen bestimmt war, das ertrug ich leichter als die Dinge, die nicht für die Menschen waren. Vaters erstes Fallen war für die Menschen. Vaters zweites Fallen war ein Erdbeben.

Aus mir würde kein Muslim mehr werden, aber das sei seine Schuld und nicht meine. Am Tag des Jüngsten Gerichts müsse Vater Rechenschaft ablegen vor Gott, weshalb er sich keine Zeit für mich genommen habe, sodass ich von unserem Glauben abgekommen sei, ihn nie erlernt oder auch nur verstanden hätte. Er werde irgendwann sterben, und auch meine Mutter könne nicht ewig leben, und dann gebe es nichts mehr, was mich mit unserem Glauben verbinde. Selbst wenn ich mir einiges selbst beibringen, den Koran lesen, die Biografie des Propheten studieren würde, wäre das wohl kaum der Islam, wie er, mein Vater, ihn auch schon seit langem, seit Jahrzehnten, nicht mehr praktiziere. Wir liefen gerade am Zaun des Hofs meiner Grundschule entlang, das Klettergerüst, auf dem in den Pausen die Mädchen turnten, stand verlassen da. Was Vater sagte, kam mir schrecklich vor. Während wir zusammen die Straße in Richtung Kreuzung hinunterliefen, wo wir in die Kollenrodtstraße abbiegen würden, sagte er, dass selbst dann, wenn ich es schaffen würde, an die Religion meiner Eltern anzuknüpfen, meine Kinder dies nicht tun würden. Vater sagte: Ich habe es nicht besser gewusst und nichts dafür getan, es zu verhindern, aber hier, in Deutschland, reißt die Kette unserer Kultur. In dem Moment flogen schwarze Vögel auf und zogen über das Dach der Schule. Ich fragte meinen Vater, welche Religion Tiere hätten, waren sie auch Muslime? Natürlich, sagte Vater, alle Tiere sind Muslime, sie kommen auf direktem Wege ins Paradies, wenn sie sterben. Einzig der Mensch wird geprüft, indem er über einen haardünnen Faden balancieren muss und nur mit reinem Herzen die Hilfe der Engel bekommt. Aber die Herzen aller Tiere sind rein, deshalb müssen sie nicht geprüft werden. Werden mir die Engel auf diesem Faden nicht mehr helfen, wenn ich unsere Religion vergesse? Doch, sagte Vater, auch dein Herz ist rein, und die Engel werden dir helfen. Er hingegen, er, mein Vater, werde vermutlich fallen.

Er werde nicht immer da sein, so sei es nun einmal für die Menschen bestimmt. Er sagte: Im besten Fall sterben die Eltern vor den Kindern, und ihre Aufgabe ist es, die Kinder darauf vorzubereiten, deshalb wirst du beschnitten.

Ich habe ein Bild von meiner Vorhaut, dessen Richtigkeit unwahrscheinlich ist, nämlich, dass sie von zwei winzigen weißen Knochen, die ein Kreuz bilden, aufgehalten wird. Ich meine Vater damals gefragt zu haben, was es mit diesen Knochen auf sich habe – immerhin handelte es sich um die einzigen nicht von Haut und Fleisch verdeckten, also für mich sichtbaren Knochen meines Körpers. In diesem Gespräch, das womöglich niemals stattgefunden hat, sagte Vater: Das ist unwichtig, das kommt ohnehin bald alles weg, ein unumgänglicher Schritt, um ein Mann zu werden. Aber bin ich kein Mann? Nein, du bist ein Kind. Und nach der Beschneidung werde ich ein Mann sein? Richtig, das heiße aber nicht, dass ich dann nichts mehr zu lernen hätte, im Gegenteil, es sei nur der Beginn meines Lebens als Mann. Tut das weh? Sehr, sagte Vater, das Schmerzhafteste, was ein Mensch erfahren kann, nur ein Kind zu bekommen, ist wohl heftiger. Wenn ich das hinter mich gebracht hätte, müsse ich nichts mehr fürchten und könne mich allen Herausforderungen des Lebens stellen. Vorerst sei er für mich da und bewahre mich.

Vater sagte, er verachte Cowboys. Er sagte das, wenn wir an Samstagen Western im Fernsehen schauten. Vater sagte: Die Kommunisten sind Idioten. Vater sagte: Du kannst Millionär werden, wenn du wirklich willst. Er sagte: Gewalt ist nicht gut, aber wenn du in so eine Situation gerätst, musst du schnell reagieren. Er sagte: Deine Mutter ist die bessere Mathematikerin, auch wenn ich der Ingenieur bin. Er sagte: Deine Mutter opfert sich für dich auf, weißt du das zu schätzen? Er sagte: Du schadest dir selbst, wenn du eingeschnappt bist und auf eine Geburtstagsfeier verzichtest. Er sagte: Du lebst zwischen zwei Wattebällchen, ich bin im Dreck der Gassen meiner Stadt aufgewachsen.

Er sprach mit mir über Begehren, sagte, nichts sei besser, als mit einer Frau zu schlafen, von der man wochen- oder monatelang geträumt habe. Ich sagte ihm, dass ich die Augenbrauen der Frau im Film, den wir zuletzt gemeinsam gesehen hatten, so schön fand und mich fragte, wie sie wohl nackt aussehe. Er sagte: Eleganz zeigt sich nicht an Nacktheit, sondern an ausgewählter Kleidung, der Art, wie sich jemand bewegt, und an den Worten.

In den zehn Jahren, in denen mein Vater nur noch mit den Augen sprechen konnte und nicht mehr mit dem Mund, in den Jahren nach seinem Fallen, sprach ich nur noch auf Türkisch zu ihm. Ich hob die Stimme, damit er mich hörte. Sein Türkisch war in gewisser Weise mein Deutsch, und mein Türkisch so gesehen sein Arabisch. Die Sprache, die uns mit unserer Mutter verband und die eine andere Sprache war als die, mit der wir durchs Leben schritten und nach uns selbst suchten. Deutsch war die dritte herznahe Sprache, über die mein Vater verfügte, immerhin war er in seinen Zwanzigern nach Deutschland gekommen und hatte den Großteil seines Lebens hier verbracht. In den Jahren des Alleinseins in Deutschland, stelle ich mir vor, hatte Vater fast gar nicht gesprochen, doch wenn er sprach, muss das Deutsch gewesen sein. Es war also auch die Sprache seiner Einsamkeit und saß vielleicht dort, wo Schriftsteller auf ihre Schreibsprache stoßen. Auch ich erlernte irgendwann eine dritte herznahe Sprache, nämlich in den Monaten in Paris, nach Vaters Tod. Aber Französisch blieb eine Fremdsprache für mich, wenn auch eine mir nahe, eine, in der die Stimme meines Vaters mitklingt. Denn ich erinnere mich, wie gerne mein Vater französisch gesprochen und wie er sich einmal bemüht hatte, mir einige Wörter beizubringen. Wir waren nach Disneyland in Paris gefahren, meine Eltern, ich und eine weitere Familie mit ihren zwei Kindern. Eine furchtbare Reise. Meine Eltern hatten sich zerstritten, und mein Vater weigerte sich, in Paris zu übernachten, und so waren alle erschöpft und am Ende ihrer Nerven gewesen. Für eine kurze Rast hatten wir im bereits abenddunklen Paris gehalten. Vater und ich liefen eine Straße hinunter, und ich war fasziniert von den Gebäuden, die aus einer anderen Zeit stammten. Für ein Kind, das in Hannover in einem Nachkriegsbau aufwuchs, in jener Stadt also, die im Zweiten Weltkrieg zu neunzig Prozent zerstört worden war, bargen diese Häuser etwas Fantastisches. Viel mehr jedenfalls als Disneyland, wo es vor jedem Zauber einen Ticketschalter gab und in der Feenburg nur Souvenirläden mit Etiketten, Kassen, Quittungen und anderen Symbolen beleidigender Profanität und Entzauberung. Wo du hinsiehst, Geschichte, sagte Vater, als wir durch diese Straße spazierten. In der Nähe war die Trasse der Metro zu sehen, und später, als ich in Paris lebte, suchte ich in der Gegend um Bir-Hakeim nach dieser Gasse, durch die ich mit meinem Vater gelaufen war. Uns rannte damals ein Junge entgegen, etwa in meinem Alter, er hatte krauses Haar, war dunkler als ich und sah uns ängstlich an, mein Vater machte ihm Platz und gab ein Zeichen, dass er sich nicht zu fürchten brauche, dass dieser Mann mit seinem Sohn nachts in einer leergefegten Gasse von Paris völlig ungefährlich war. Der Junge rannte an uns vorbei. Warum hatte er Angst?, fragte ich Vater. Hättest du keine, fragte er mich, nachts alleine? Ich dachte, Franzosen sind hellhäutig und haben glattes Haar, sagte ich. Und Vater antwortete, dass der Junge so wie ich sei, nur dass seine Eltern vermutlich aus Algerien gekommen waren und er in Frankreich lebe und meine Eltern aus der Türkei und ich in Deutschland, aber letztlich sei er wie ich. Fortan verband ich diesen Jungen mit Paris, und nichts symbolisierte für mich das Frankreich meiner Zeit mehr als ein arabisches Kind, nachts allein in einer Gasse, umringt von erhabenen Häusern aus dem neunzehnten Jahrhundert.

Ein andermal auf dieser Reise, auf den Rolltreppen zu den Eingangsschaltern des Vergnügungsparks, las Vater mit mir die Wörter auf den Schildern: Bienvenue, Entrée. Ich wunderte mich über die Buchstaben, die nicht ausgesprochen wurden. Aber Vater erklärte, daran sei nichts seltsam, es reiche, die stummen Buchstaben mitzudenken, und schon verändere sich der Klang. Vielleicht hatte er mit dieser kurzen Lehreinheit, bei der es gar nicht darum ging, zu lehren, sondern vielmehr darum, etwas miteinander zu teilen, die Struktur in mir angelegt für eine weitere Sprache, eine Vatersprache. Womöglich war das einer der Gründe, weshalb ich später, nach seinem Tod, in wenigen Wochen Französisch lernte und mich in meinen schlaflosen Nächten im Quartier Latin wenig mehr beruhigte als die Stimme Albert Camus’. Fast jede Nacht hörte ich die Aufnahme einer Radiosendung aus dem Jahr 1943, in der er Seite für Seite mit einer festen und sicheren, aber nicht unnahbaren Aussprache seinen ersten Roman L’Étranger eingelesen hatte.

Die eine, einzige Frage, die ich meinem Vater stellte, als er nur noch mit den Augen sprach, bezog sich auf die Sprache seiner Mutter. Sprach Großmutter Türkisch? Vaters Augen blickten nach oben, was Nein bedeutete. Sprach sie Arabisch? Vater schloss die Augen für einen Moment, sein stimmloses Ja. War sie Araberin? Vaters Augen zeigten nach oben. Kurdin? Vater schloss die Augen. Sprach sie Kurdisch? Vaters Augen zeigten nach oben.

So glaubte ich, verstanden zu haben, dass meine Großmutter, die ich nur ein einziges Mal gesehen hatte, nämlich bei meiner ersten Reise nach Mardin, Kurdin war, die aber weder Kurdisch noch Türkisch sprach, die niemals lesen oder schreiben gelernt hatte und deren Muttersprache Arabisch war. Mutter sagte, es sei fraglich, dass mein Vater mich richtig verstanden hätte. Ich hatte meinem Vater diese Frage Ende der neunziger Jahre gestellt. Der Bürgerkrieg in der Türkei hatte seinen Zenit gerade überschritten und auch in unserer Wohnung in Hannover für heftige Ausbrüche gesorgt. Politische Auseinandersetzungen, bei denen meine Mutter von Separatismus sprach und ich von Auflehnung. Der Konflikt in der Türkei reichte bis in unsere Küche, ohne dass es dabei je um den ethnischen Ursprung unserer Familie ging, denn das war nie Thema gewesen. Das Wort Kurde hatte ich zum ersten Mal in der Tagesschau gehört.

In dem Sommer, in dem mein Vater zwei Mal fiel, lernte ich Gitarre spielen. Auch vorher hatte es Versuche gegeben. Ich muss etwa zehn Jahre alt gewesen sein, als meine Eltern mir im Musikfachgeschäft Bornemann in der Königstraße eine Akustikgitarre kauften, auf der ich heute noch spiele. Ich erinnere mich genau, dass es eine Gitarre für dreihundert Mark und eine für fünfhundert gab, der Verkäufer sagte, man müsse spüren, welche Gitarre zu einem gehöre, und ich bildete mir eine tiefe Verbindung zu der 500-Mark-Gitarre ein. Mein Vater, der niemals auch nur einen Pfennig zu viel ausgab, dessen deutsche Lieblingsredewendung lautete, Wer den Pfennig nicht ehrt, ist des Talers nicht wert, atmete tief ein und zählte die fünf Scheine auf den Tresen des aus seiner Sicht gewieft, aus meiner Sicht wohlwollend lächelnden Verkäufers. So standen meine Eltern zwischen lauter Musikinstrumenten wie in einem Garten und schauten sich um, als wären Pflanzen gewachsen, die sie nicht kannten, aber über die sie sich verhalten freuten. Ich fühlte mich dort wohler als in einem Spielzeuggeschäft und wäre am liebsten geblieben, nur die Fähigkeit, all diese Instrumente zu spielen, fehlte mir noch.

Eigentlich kann ich mich nicht genau erinnern, ob mein Vater wirklich tief einatmete angesichts der fünf statt drei Scheine, es könnte sein, dass er an jenem Tag, in diesem Musikgarten, voller Liebe und Freude fünfhundert Mark zahlte und auch keine Scheu vor tausend gehabt hätte. Er sagte mir, dass er es bereue, niemals ein Instrument gelernt zu haben, ein Musikinstrument sei etwas, was einen ein Leben lang begleite. Ein paar Jahre Unterricht oder ein wenig Mühe, sich selbst ein paar Töne beizubringen, und schon begleite einen die Musik ein ganzes Leben, sechzig, siebzig, achtzig Jahre lang. Ich stellte mir Musik als eine Gefährtin vor, die einem nicht von der Seite weicht, wenn man sie einmal verstanden hat. Eine Sprache, ein Mensch, sagte Vater. Ein Instrument, ein Freund.

Bevor mein Vater fiel, lernte ich zwei Lieder auf der Gitarre. Letztlich nur eines, denn das erste war lediglich die Blues-Kadenz, die sich auf leeren Saiten spielen lässt. Das zweite und also im Grunde einzige Lied war When The Saints Go Marching In. Mein Vater liebte es. Entweder das Lied oder mein Spiel, genau erfuhr ich das nie. Ich vermute beides, denn mein Versuch, Der Mond ist aufgegangen zu lernen, ließ ihn kalt. Andererseits liebte er es auch, wenn ich sanft alle Saiten nacheinander anschlug und sie klingen ließ. Ich fühlte mich von ihm verhöhnt, als täuschte er nur Gefallen vor, denn die Saiten eines Instruments anzuschlagen und tönen zu lassen, war aus meiner Sicht weder Leistung noch Ausdruck von Talent. Heute denke ich, dass diese Lieder und die leeren Saiten, die ich für Vater anschlug, so gut wie die einzige und seltene Form von Musik waren, die es bei uns zu Hause gab – meine leeren Saiten und die Musikauswahl der Sendung Köln Radyosu. Aber wenn es so beruhigend war für Vater, ihm so gefiel, die leeren Saiten einer Gitarre zu hören, weshalb legte er dann niemals eine Schallplatte auf oder nahm das fernsehgroße Tonbandgerät in Betrieb? Weshalb drückte er nie auf die Play-Taste des Kassettenrekorders? Weshalb hörte ich meine Mutter allenfalls in den Sommermonaten in der Türkei singen? Mit der Gitarre, die meine Eltern mir in dem kleinen Musikfachgeschäft in der Königstraße kauften, kam ein Musikinstrument in ein Haus ganz ohne Musik, fast ohne Klang. Vielleicht war meine Mutter viele – oder gar nicht so viele, nämlich nur zwölf – Jahre vorher so in dieses Haus gekommen: wie diese Gitarre, die ich an ihrem ersten Tag in unserer Wohnung versehentlich gegen den Türrahmen schlug und so ihren Lack beschädigte – zwei kleine, rundliche Sprünge, einer etwas größer als der andere, wie ein Planet und sein Mond. Erst viele Jahre später – nur drei, aber für mich fühlte es sich an wie ein halbes Leben –, also gefühlt ein halbes Leben später wurde das Instrument zu meinem Freund, zu einem verdinglichten Teil meiner Seele. Es war Sommer, es roch nach Meer, an den Abenden flanierten Jugendliche mit unstillbarem Begehren am Strand, ich war dreizehn Jahre alt, mein Vater fiel, ich lernte auf der Dachterrasse eines Cafés, das Regencafé hieß, von Fremden das Gitarrespielen.

Ich trage das Meer in meinem Namen

Ich trage das Meer in meinem Namen. Yunus bedeutet Delfin.

Im Umkleideraum des Stadionbads hinter dem Maschsee sagte Vater, während er über den Rand der schmalen, grünen Kabinentür zu mir hinabschaute, dass er mich mit zweitem Namen hätte Emre nennen sollen, dann würde ich Yunus Emre heißen, wie der Dichter, und er, mein Vater, liebe die Dichtung. Jetzt hieße ich Yunus, wie Meer und Delfin und der Prophet im Leib eines großen Fisches, was nicht weniger schön sei. Ich fragte ihn, ob er und meine Mutter auch Namen hätten. Vater hielt inne: Du kennst unsere Namen nicht? Er heiße Zeki und sie Senem. Aber es bestimme uns nicht, was im Pass stehe, ich wisse jetzt, dass mein Vater auch an den Dichter denke bei meinem Namen. Er möge das: die unbekannten Namen, die unausgesprochenen Buchstaben.

Ich mochte es, mit dem Wasser verwandt zu sein: Meine Lungenflügel waren eingeschlafene Kiemen. Ich war unter Wasser zu Hause. Sowohl im Stadionbad in Hannover als auch im Mittelmeer in Kızkalesi, jenem Sommerort in der Nähe der Mittelmeerstadt Mersin an der türkischen Südküste, unweit von Silifke, wo im Jahr 1190 Friedrich I., eher bekannt unter dem verheißungsvollen Namen Barbarossa, kein Geringerer als der Kaiser des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation, ertrunken war. Vorher hatte Barbarossa bereits Konya geplündert und war mit seinem für die damalige Zeit ungewöhnlich großen Heer von fünfzehntausend Mann in das kleine christliche Königreich Kleinarmenien gelangt, in dem die Stadt Seleukia lag, wie Silifke damals hieß. Niemand weiß genau, wie es zu seinem Tod kam, nachdem er doch von Regensburg bis in die Tiefen des Byzantinischen Reichs geritten war und erfolgreich gegen Turkmenen gekämpft hatte. Vielleicht hatte er gemütlich ein paar Züge im Fluss Saleph schwimmen wollen, den mir mein Vater einmal zeigte, als wir in Silifke waren, und der heute Göksu heißt. Siehst du, sagte Vater in einem der Sommer vor meinem ersten Schwimmkurs in Hannover, wie wichtig es ist, schwimmen zu können? Du kannst die halbe Welt erobern und ertrinkst am Ende in einem Fluss mit braunem Wasser. Schwimmen sei sogar wichtiger als Mathematik, aber das erkläre er mir wann anders.

Ich konnte lange unter Wasser bleiben – meine Kiemen aufwecken in den Sommern am Meer. Im Schneidersitz ließ ich mich sinken, bis mein Po den Sand berührte, unter den Rippeln wohnten grüne Schnecken. Ich öffnete die Augen und schaute nach oben in Richtung Wasseroberfläche, wo die Sonnenstrahlen einfielen, baumstammdicke Lichtbalken, deren Formen nur für Wasserwesen wie mich sichtbar waren. Ich hatte eine Uhr für unter Wasser. Nicht um die Zeit abzulesen, sondern um auch am Festland etwas an mir zu tragen, das zu meiner eigentlichen Heimat, nämlich der Unterwasserwelt, gehörte, jenem grünen Ort, an dem die Stille ein Rauschen war, das Licht gefiltert eintraf und kalte Ströme angenehm meinen Körper erschauern ließen. Ich lief den Meeresgrund mit jener bunten Schweizer Uhr ab. Sie hatte eine Lünette mit Ziffern, die im Dunkeln leuchteten. Ich stellte mir vor, dass unter Wasser eine andere Zeitordnung galt und ich diese mit der Lünette meiner Uhr beeinflusste.

Die Uhr nahm ich auch vor dem Schlafengehen nicht ab. Nicht beim Duschen, Sonnen, nicht beim Armdrücken mit Großvater Sinan, dessen weißes Haar zitterte wie Möwenfedern. Vater besaß ebenfalls eine Uhr, sie hatte ein Armband aus Stahl, das die Härchen an meinem Arm schmerzhaft ausriss, wenn ich sie anprobierte. Obwohl Vaters Arme behaarter waren, schien ihm das nichts auszumachen – ein zu schwacher Stimulus für sein Schmerzempfinden. Er streifte die Uhr stets ab, bevor er sich an den Mittagstisch setzte, in den Sessel fallen ließ, duschte oder schlief. Er trug sie wie eine Jacke, die man auszieht und an den Haken hängt. Warum nimmst du deine Uhr immer ab?, fragte ich ihn einmal. Da krempelte er die Hemdsärmel bis zur Hälfte des Unterarms hoch, hob am Küchentisch sitzend beide Arme und zeigte mir seine nackten Handgelenke: Ich binde nichts an meinen Körper, meine Arme sind so frei wie am Tag, an dem meine Mutter mich auf die Welt brachte. Ich werde gehen, wie ich gekommen bin.

Ein andermal saßen Vater und ich auf dem bordeauxroten Ledersofa in unserem Wohnzimmer in Hannover. Ich fragte ihn, ob Uhren teuer seien. Für mein Alter, sagte er, hätte ich eine recht teure Uhr – eine besondere Uhr, mit der ich bis zu fünfzig Meter in die Tiefe des Meeres tauchen könne. Mit seiner Uhr sei das nicht möglich, aber er verwende sie auch nicht zum Schwimmen, sondern um die Zeit abzulesen. Ich tauche mit meiner, sagte ich. Ich weiß, antwortete er, was mich erfreute, denn alle durften, alle sollten wissen: Ich war verwandt mit dem Meer. Wie viel kosten Uhren?, fragte ich. Das ist unterschiedlich, sagte Vater, eine Uhr ist eine winzige Präzisionsmaschine, viel Wissen und Feinarbeit gehörten dazu, einen Mechanismus zu bauen, der jahrelang, manchmal jahrzehntelang, die Zeit exakt erfasst. Zwanzig Mark?, fragte ich Vater. Das ist viel Geld, sagte er, aber eine Uhr kann auch zwanzigtausend Mark kosten, nach oben gibt es keine Grenzen. Ich richtete mich auf dem Sofa auf und umfasste mit meinen vergleichsweise kleinen Händen sein Handgelenk: Zwanzigtausend?, rief ich, etwas so Kleines? Ich würde mich von äußeren Dingen beeinflussen lassen. Gerade die Tatsache, dass eine Mechanik auf engem Raum präzise funktioniere, mache sie komplex. Hat deine Uhr zwanzigtausend Mark gekostet?, fragte ich ihn. Er verneinte, sagte aber, dass er mir, wenn ich eines Tages mein Abiturzeugnis in der Hand halten würde, eine solche Uhr schenken wolle.

Ob ich an dem Tag, an dem mein Vater fiel, meine Uhr trug, weiß ich nicht mehr. Ein Foto zeigt mich in einem Sommer in der Türkei: Ich trage eine abgeschnittene schwarze Jeans, ein weites T-Shirt, das oben weiß und unten schwarz ist, und habe glänzendes, glatt fallendes, blauschwarzes Haar – das einzig Bunte an mir, jene Swatch am Handgelenk. Mein Blick ist melancholisch, nicht mehr ganz kindlich, eher mit einer pubertären Abwehrhaltung. Ist es der Sommer des Falls oder jener davor? Ein weiteres Bild aus demselben Film: Ich sitze mit meiner Mutter und Vince auf einer Bank in der Türkei. Die Bank steht vor einem Felsen oder der Innenwand einer Höhle, jedenfalls eine Art Stein, die ich aus Deutschland nicht kenne. Ich habe mich aufgerichtet und den Arm um meine Mutter gelegt. Sie ist es, die in meinem Arm liegt, nicht ich in ihrem. Neben mir, auf der anderen Seite, fläzt Vince, blondlockig mit Segelohren, seine Schulter berührt meine.

Wie jung Mutter auf diesem Bild aussieht. Damals, als es nur das Alter der Erwachsenen und das Alter der Kinder gab, gehörte sie zu den Älteren, denen, die ewig weit weg sind, jedes Unglück ertragen und für jedes Problem einen Ausweg kennen. Ihr braunes Haar ist lang, nach hinten gebunden. Sie trägt eine blaue Jeans. Ihr Gesicht lässt eine zurückgenommene Freude vermuten, vielleicht weil sie gehalten wird, weil sie stolz ist auf ihren Sohn, auf sich, auf dieses Team. Aber die Freude ist wie ein Sonnenstrahl, der durch den bedeckten Himmel an einem eisigen Wintertag dringt. Freude und Unglück stehen nicht im Widerspruch, sie sind ineinander verklammert. Ich frage mich, ob vielleicht genau das das Leben der Sterblichen auszeichnet. Und sterblich sind nur die im Erwachsenenalter, nicht die im Kindesalter, was paradoxerweise nicht die Angst vor dem Tod nimmt, nur seine Konkretion. Manch einer erreicht in der Grundschule das Erwachsenenalter. Ein anderer bleibt Kind bis zum letzten Atemzug.

Meine Haltung auf jenen Bildern verrät mir, dass ich schon der bin, der ich wurde nach dem Fall, dem zweifachen Fall meines Vaters. Aber zeitlich kann das nicht stimmen, sagt meine Mutter, weil die Reise mit Vince nach Kızkalesi davor stattgefunden hat. Nicht 1996, eher ein Jahr früher. Das passt nicht zu meiner Erinnerung, dass ich, nachdem mein Vater nicht mehr für die Familie, also für meine Mutter und mich, da sein konnte, versuchte, den leeren Raum, den Platz, den er zurückließ, zu füllen, auch durch körperliche Präsenz: meine gerade Haltung, wie ich den Arm um Mutters Schulter lege und sie an mich drücke auf jenem Bild von uns dreien, das vermutlich Tante Sema aufgenommen hat. Vielleicht begann die Abwesenheit meines Vaters nicht erst mit seinem Schlaganfall im Juli 1996 in der Nähe unseres Hauses in Kızkalesi vor einem Yörüken-Zelt, in dem ein turkmenischer Bauer Wassermelonen verkaufte, sondern lange davor. Eine mentale Abwesenheit in unserem Wohnzimmer in Hannover. Fragte ich, was los sei, antwortete er, das würde ich verstehen, wenn ich groß bin. Und eine physische Abwesenheit damals schon, wenn er erst Wochen später in Kızkalesi zu uns stieß oder auch in Hannover spät von der Arbeit nach Hause kam, nachdem er noch Stunden durch die Innenstadt gestreunt war. Die Konsequenzen zeichnen sich manchmal vor den Ursachen ab, denke ich, eine Veränderung der Körperhaltung, eine Kraftzunahme, ein klarerer Blick, lange vor der Katastrophe. Es ist gar nicht so wichtig, wann dieses Bild aufgenommen wurde, ob vor oder nach dem Fall meines Vaters. Ich sehe darin die Zeit danach.

Bevor ich schwimmen konnte, stellte ich mir vor, unendlich lange unter Wasser zu bleiben. Unter Wasser hob sich die Grenze zwischen innerer und äußerer Stille auf, zwischen mir und der Welt.

Später begann der Schwimmunterricht, zu dem mich Mutter und Vater abwechselnd zwei Mal die Woche nach dem Kindergarten brachten. Wir waren im Unterricht noch lange nicht so weit, dass wir ins Wasser des Nichtschwimmerbeckens stiegen. Die Lehrerin zeigte uns die Übungen im Trockenen, und wir Kinder in Badesachen öffneten und schlossen Arme und Beine auf den harten Fliesen. Ich war ungeduldig, und meine Mutter sagte nach dem Unterricht, dass Lernen Zeit brauche, Geduld sei das wichtigste Element der Lernfähigkeit. Geduld und Fokus.

Bei einem unserer Gespräche in der Umkleidekabine erzählte Vater mir endlich die Geschichte vom Mathematiker und vom Fischer: Der Mathematiker fragt einen Fischer, ob er in seinem Kutter mitfahren dürfe. Auf dem Meer, während der Fischer rudert, fragt der Mathematiker, ob der Fischer lesen und schreiben könne. Der Fischer verneint. Der Mathematiker schüttelt bedauernd den Kopf und sagt, dass ihm ohne diese Fähigkeiten ein Viertel des Lebens fehlen würde. Dann fragt der Mathematiker, ob der Fischer rechnen könne. Dieser verneint wieder, und der Mathematiker bedauert ihn auch dieses Mal, sagt, dass ihm somit der Zugang zu einem weiteren Viertel des Lebens fehle, er also sein halbes Leben verloren habe. Ein Sturm kommt auf, der Kutter beginnt zu schwanken. Der Mathematiker hält sich ängstlich an den Holzrändern fest. Diesmal fragt der Fischer, ob der Mathematiker schwimmen könne. Nun ist er es, der verneinen muss, und der Fischer sagt daraufhin, auch er kopfschüttelnd und bedauernd: Dann hast du dein ganzes Leben verloren.

Am Ende des Schwimmkurses sollten wir Kinder vom Sprungbrett ins Schwimmerbecken springen. Die Lehrerin sagte, wir hätten nun alles gelernt, seien sogar einige Züge frei geschwommen, ohne es selbst zu merken, weil wir dachten, sie würde uns halten. Jetzt gehe es nur noch darum, dass wir uns überwänden. Ich, der das Meer in meinem Namen trug, bekam Panik. Ich stieg aufs Brett, lief langsam und frierend bis an den Rand, über den ich die Zehenspitzen stülpte. Ich wusste, die Lehrerin schaute zu mir, auch die Kinder, die nach mir drankommen würden, aber bis dahin noch ihre Schonzeit auskosteten, und einige derjenigen, die bereits bestanden hatten und erleichtert, plötzlich größer und erwachsener auf den Liegen hockten, hatten sich zu mir gewandt. Ich wusste auch, dass meine Eltern hinter den Glaswänden in der Etage über mir an einem Tisch saßen oder am Fenster standen und meine Prüfung abwarteten. Mir schossen Tränen in die Augen, die niemand sah, auch das Zittern verbarg ich. Mir war kalt, mir war übel. Ich sah auf die perfekt rechteckigen Fliesen auf dem Boden und die schwarzen Streifen, die die Schwimmbahn bestimmten. Ich wollte springen, zum ersten Mal stand ich auf einem Sprungbrett. Von hier aus war die Wasseroberfläche so weit entfernt. Ich wollte springen, aber ich hatte es nie zuvor getan. Ich blickte auf, hoffte, dass nur ich die Menschen verschwommen sah durch die tränenden Augen, sie aber nicht erkannten, dass ich weinte. Schließlich lief ich den ganzen Weg vom Ende des Sprungbretts bis zum Beckenrand zurück. Es war ein schrecklich langer Weg. Waren die anderen gewachsen, so war ich geschrumpft. Ich stieg vom Sprungbrett, die wartenden Kinder sahen mich kalt an, ich wich ihren Blicken aus. Hinter den Glaswänden erkannte ich meinen Vater, der mich mit einem langen Gesicht betrachtete. Die Lehrerin rief das nächste Kind auf, während ich mich gebückt auf den Weg zu den Duschen machte. Auf halbem Weg blieb ich stehen und schaute noch einmal zurück zum Sprungbrett. In dem Moment sprang ein Junge ins Wasser. Die Lehrerin hatte recht gehabt, die Techniken beherrschten wir, nur noch aufs Überwinden kam es an. Der Junge glitt durchs Wasser im Schwimmerbecken, er strahlte, auch die Lehrerin schien glücklich und lief neben ihm her, während er die erste Bahn seines Lebens schwamm.

Vater trug eine sommerliche Jacke in Mintfarben und schüttelte wie in Zeitlupe den Kopf. Er sagte nichts, als ich ihn erreichte. Ohne ein Wort fuhren wir nach Hause in dem roten Ford, ich auf der Rückbank, er fahrend und meine Mutter auf dem Beifahrersitz. Mutter, die sagte, dass das nicht schlimm sei, wann anders würde ich springen, ich hätte schwimmen gelernt, müsste nur darauf vertrauen.

Ich weiß nicht mehr, ob es während dieser Fahrt war oder am Abend oder wann anders, dass mein Vater zu mir sagte, was für eine große Enttäuschung ich sei, wie feige, mutlos und wenig heldenhaft, weit weg davon, ein Mann zu sein. Dass ich eigentlich nicht sein Sohn sein könne.

Fast zwanzig Jahre nach meinem Abitur habe ich eine Uhr geschenkt bekommen. Sie liegt in ihrer roten Originalschachtel auf dem Schreibtisch in meinem Zimmer in der Wohnung meiner Mutter. Der Schreibtisch ist nicht aufgeräumt, vieles sammelt sich dort, was ich einmal vergessen habe mitzunehmen oder wofür bei der Abreise kein Platz mehr gewesen war oder was ich bewusst in Hannover lasse, um mich nur dort damit zu beschäftigen: eine alte Ausgabe der Gedichte von Ungaretti, in der Übersetzung Celans, die ich als Jugendlicher in der Stadtbibliothek ausgeliehen und wohl niemals zurückgegeben habe; ein Bündel getrocknetes Johannisbrot, das man mir schenkte, als ich mit Mitte zwanzig für einige Monate im Schwarzwald gewohnt hatte; ein Schreiben von der Commerzbank, in dem ich auf veränderte Bedingungen für ein Konto hingewiesen wurde, das ich nur aufgrund einer Werbeaktion als Student eröffnet und nie benutzt hatte; ein Buch über die Collagen von Kurt Schwitters, die ich versucht hatte als Jugendlicher nachzuahmen – einer meiner Versuche mit Zigarettenfiltern und Kronkorken klebt noch immer an dem schwarzen Bücherregal im Zimmer. Inmitten all dessen hätte die kleine Schachtel untergehen müssen, aber sie fällt mir sofort auf, sie leuchtet rot zwischen den Gegenständen meines früheren Lebens im Zimmer meiner Jugend. Ich nehme die Uhr aus der Box, eine Omega-Uhr mit goldenem Gehäuse und braunem Lederarmband. Das elfenbeinfarbene Ziffernblatt schimmert silbern. Eine Gravur auf der Rückseite zeigt ein mir unbekanntes Wappen. Darunter steht: 40 Jahre Wille und Fleiß. Meine Mutter sagt, dass es sich um die Armbanduhr des verstorbenen Mannes von Güneş handele. Güneş sei nun weit über neunzig, sie verteile, was ihr geblieben sei und von dem sie nicht wolle, dass es verschwindet, wenn es sie selbst einmal nicht mehr gebe. Sie habe mir diese Uhr anvertrauen wollen, die ihrem Schwiegervater gehört und die sein Sohn, ihr Mann, in Ehren gehalten habe. Nun, da sie selbst bald nicht mehr auf die Uhr aufpassen könne, wolle sie die Uhr in meine Obhut geben. Meine Mutter sagt, Güneş ließe mir ausrichten, dass ihr Mann gerne für mich da gewesen wäre in den Jahren nach dem Unglück meines Vaters. Doch dann wäre alles ja schnell gegangen, auch ich zu beschäftigt gewesen, hätte selber nie Zeit gehabt, immer gelesen und wäre ständig verreist – ihr Mann habe mein Gedicht über den Schlaf geliebt, das ich mit sechzehn Jahren in einer Schülerzeitung veröffentlicht und das meine Mutter ihnen gezeigt hatte: Schlaf, komm / komm langsam und / sink auf mich herab // komm mit der Geschichtenstimme meiner Mutter / durch mein fünfjähriges Ohr // komm mit den Lippen meiner ersten Geliebten / und weile lang auf meiner Stirn // komm mit zudeckender Hand.

Ich drehe das Rädchen der Uhr, bis sie läuft, lege sie ans Ohr. Sie klingt zart. Obwohl sie zwei Mal pro Sekunde tickt, also doppelt so schnell wie eine Quarzuhr, hat ihr Klang etwas Beruhigendes. Ich habe das Gefühl, sowohl Güneş’ verstorbenen Mann neben mir zu haben als auch meinen Vater, der, als ich im Sommer 2002 einen Leinenanzug anzog, um mein Abiturzeugnis entgegenzunehmen, nicht mehr in der Lage war, sein einstiges Versprechen einzulösen.

Im Jahr meiner Geburt schrieb Elias Canetti: Niemand bekannt, das Geheimherz der Uhr.

Ich war noch Grundschüler, als Vater und Mutter bei einem gemeinsamen Spaziergang vor einem grauen, mächtig wirkenden Gebäude mit großen quadratischen Steinen und einer enormen, beinah pfortenartigen Eingangstür stehen blieben. Es war Sonntag und die Tür war verschlossen. Wir schauten durchs Glas. Der Eingangskorridor bestand aus einem kleinen Kuppelsaal und einer steil ansteigenden Treppe mit geschwungenem Geländer aus dunklem Holz. Die Wände waren bemalt, sie zeigten verschiedene Menschen: eine Gruppe mit roten Fahnen, Demonstranten, dickbäuchige Männer, die die Finger hoben wie Politiker, eine Frau mit welligem Haar und ernstem Blick, die ich später einmal als Ricarda Huch identifizieren sollte. Wer hat das gemalt?, fragte ich meine Eltern. Schüler, sagte mein Vater. Das schüchterte mich ein, auch ich war Schüler. Viel ältere als du, sagte meine Mutter, wenn du so alt bist, kannst du das auch, es gibt nichts, was du nicht kannst, wenn du nur willst.

Das bläute sie mir ein. Viele Jahre später las ich nachts Das Kapital. Manchmal war ich dabei auch angetrunken, wenn ich vorher ausgegangen war, oder einfach übermüdet. Ich saß an meinem Schreibtisch mit dem dicken blauen Buch und dachte: Es ist nicht schwer. Es sind Worte, wenn du jedes Wort in einem Satz verstehst, wirst du auch den Satz begreifen, wenn du die Sätze in einem Absatz verstanden hast, durchdringst du eine Sinneinheit. Ganz gleich, wie kompliziert ein Gedanke ist, wie unbekannt ein Wort, wie viele Seiten ein Text hat, wenn du so vorgehst, ganz bei dir bist, dich nicht hetzen lässt – da ist ja die ganze Nacht, da sind viele ganze Nächte –, gibt es nichts, keinen einzigen Text, der jemals verfasst worden ist, den du nicht verstehen wirst.

Als wir vor dem grauen Gebäude standen, Vater, Mutter und ich, hatte ich keine Ahnung, dass mich diese nächtlichen Lektüren erwarteten, dass sie es sein würden, die mich eines Tages beruhigten, es zu einer Strategie wurde, jemanden anzuhören, zu lesen, der weit weg war, meistens längst tot, der einem aber viel zu sagen hatte. Oder ich wusste es doch. Und meiner Mutter und meinem Vater war es ebenfalls klar, dass das eines Tages so sein würde, als wir gemeinsam auf die Gemälde schauten, die mich einschüchterten. Aber hätten sie wissen können, weshalb ich eine Strategie brauchte, um mich zu beruhigen? Erahnte Vater sein Fallen viele Jahre vorher schon? Ein Schmerz in seinem Knie hatte begonnen, für den kein Arzt einen Rat wusste. Sie hatten Diabetes diagnostiziert. Hatte meine Unruhe überhaupt etwas mit dem Fallen meines Vaters einige Sommer später zu tun? Der Ursprung der Unruhe ist opak, immer. Auch mein Vater musste voller Unruhe gewesen sein, warum hätte er sonst seine Stadt, sein Land verlassen? Wozu auf dem Bau arbeiten und dann nachts lesen und lernen, um ein zweites Mal zu studieren, diesmal in einer Sprache, die er erst vor einigen Jahren gelernt hatte. Aber er hatte finanzielle Nöte. Er brauchte das Geld. Ich saß nachts in meinem unordentlichen Zimmer über dem blauen Marx-Band, angetrunken, weil ich die Nacht mochte, weil ich die Unordnung liebte und die Stille und das Rauschen in meinem Kopf und weil mir Sätze von anderen Menschen halfen, für die ich mir so viel Zeit nahm, wie ich wollte, und die, da sie nun einmal nicht weglaufen konnten aus den Büchern, in die sie gedruckt waren, sich für mich so viel Zeit nahmen, wie ich beanspruchte. Auch ich hatte Nöte. Aber anders als mein Vater kannte ich sie nicht. Während ich nachts las, lag mein Vater in einem Pflegeheim einige Straßen weiter und folgte dem Einzigen, was ihm geblieben war: dem Atmen. Meine Mutter schlief längst im Schlafzimmer meiner Eltern, in dem jetzt ein Einzelbett stand, weil sie das Ehebett nicht mehr ertragen hatte und nie wieder eins zu brauchen glaubte. Wir hatten kein Geld, was ich wohl wusste, aber nicht spürte. Meine Mutter kaufte die rote Fender Stratocaster, weil ich dachte, ich bräuchte sie, bezahlte die Reise nach Sardinien mit Vince und Giri, kam für jedes einzelne Buch auf. Mir war bekannt, dass wir kein Geld hatten, das Pflegeheim mehr als tausend Mark im Monat kostete und das gesamte Vermögen meines Vaters dafür verbraucht worden war. Ich wusste das, aber ich spürte es nicht. Da war ein Gefühl in meiner Brust, aber ich hatte keinen Namen dafür. Ich las Marx. Nachts. An einem überwucherten Schreibtisch. Und ich fühlte mich gut dabei.

Vater folgte meinem Blick und sagte auf die bemalte Wand schauend: Auf diese Schule wirst du später gehen. Hier wirst du Abitur machen und dann studierst du. Die Schule hieß Ricarda-Huch-Schule. Ich verstand Ricarda-Hochschule, weil ich nicht wusste, wer Ricarda Huch war, und vermutete, dass eine Hochschule das Höchste sein müsste, was für Schüler erreichbar war. Wer zugelassen war, diese Treppen aus Holz durch diesen Kuppelsaal in dieses alte Gebäude hinaufzusteigen, der müsste die Fähigkeit haben, nicht nur so zu malen, sondern auch zu verstehen, was diese Bilder aussagten. Was, wenn ich das nicht schaffe?, fragte ich. Ob du etwas schaffst oder nicht, hängt von deinen Bemühungen ab, sagte Vater, und nicht von deiner geistigen Ausstattung. Ich weiß nicht mehr, ob er geistige Ausstattung sagte. Aber ich erinnere mich noch daran, dass er mit dem Autoschlüssel gegen seine Schläfe klopfte. Bist du dümmer als andere, die diese Schule besuchen? Nein, beantwortete er seine Frage selbst, das ist ausgeschlossen, irgendeine Fähigkeit hat Gott jedem Menschen gegeben, also liegt es allein an dir. Das machte mir Angst, weil das hieß, dass ich die ganze Verantwortung trug, und die Gruppen mit den roten Fahnen auf der Wand und der Politiker mit Weste, Zylinder und Zeigefinger flößten mir ebenfalls Furcht ein. Ich hatte das Gefühl, dass allein schon die erste Stufe, die nicht einmal Teil der Treppe war, sondern lediglich zur Glaspforte hinführte, so hoch war, dass ich nur mit Mühe meinen Fuß darauf bekam.

Als Mutter Jahre später am Morgen des ersten Tages auf der neuen Schule meine Stirn küsste, war sie längst allein.

*

Mutter trägt die graue Baumwolljacke, wenn wir telefonieren. Wir sprechen jeden Tag. Seit einiger Zeit haben wir es uns angewöhnt, die Video-Funktion zu nutzen. Ich sehe mich in einem kleinen Viereck am oberen Rand des Bildschirms in meinem grünen Rollkragenpullover, den ich nun schon seit mehreren Tagen trage, und daneben Mutters ungeduldigen Mund, weil ich nichts erzähle. Wir sagen einige Dinge, aber wenig ist es, was wir einander zu erzählen haben.

Ich erzähle ihr, dass heute der fünfzigste Todestag von Paul Celan ist, der sich vermutlich am 20. April 1970 in die Seine geworfen hat. Mir ist aufgefallen, dass ich ihn fast seit der Hälfte seiner Todeszeit lese, nämlich seit 1996. Womöglich auch 1997 oder 1998, höchstens 1999. Jedenfalls sei ich schon auf der Ricarda-Huch-Schule gewesen, folglich also nach dem Sommer 1996, denn mein Vater habe ja nicht mehr selbst mitbekommen, dass ich aufs Gymnasium versetzt worden war. Mutter schaut mich irritiert an, was bei ihr oft heißt, dass sie den Kopf ein Stück zurückzieht und leicht schüttelt. Die Haut ihrer Stirn kräuselt sich für einen Moment unter dem tiefen Haaransatz der halblangen, dünn gewordenen Haare, die sie mittlerweile nicht mehr blond färbt, sondern grau belässt – ein Grau mit Blauschimmer. Ihre grünbraunen Augen liegen tief in den Augenhöhlen. Die gerade, schöne Nase lässt mich an Großvater Sinan denken und die von den hohen Wangenknochen betonten Wangenkissen über den Kummerfalten stimmen mich melancholisch. Ihre Stirn ist wieder glatt. Die wenigen Rabenfußfältchen über der Oberlippe verschwinden, wenn sie spricht. Natürlich habe mein Vater das noch mitbekommen, er sei doch sogar einmal bei mir im Geschichtsunterricht gewesen. Ach, sage ich, Werte und Normen, nicht Geschichte, stimmt. Wie hatte ich das vergessen können. Meine Erzählung besagte, dass mein Vater ab der Zeit auf dem Gymnasium nicht mehr für mich da gewesen war. Oft hatte ich diese Geschichte so gedacht, einige Male erzählt, das war meine, eine meiner Wahrheiten gewesen.

In jener Nacht, in der Mutter und ich Vater für seine Trauerfeier am nächsten Morgen im Leichenwagen durch die kurvige, ewig lange Straße begleiteten, in der niemand fuhr außer uns, hatte ich mir vorgenommen, nichts zu vergessen, jede Erinnerung an Vater in mir wiederzufinden und zu sammeln, festzuschreiben. Auch wollte ich mir die Gegenwart einprägen, den Moment mit meiner Mutter in jenem Wagen in jener Nacht, die ewig lange, kurvenreiche Straße, die über Hügel verlief, hinter ihnen abtauchte und weit hinten unter dem Mond wieder sichtbar wurde. Aber die Erinnerungen in mir veränderten sich mit der Zeit. Zeitabfolgen, Bilder, Dialoge variierten, fielen weg, kamen hinzu. Sie wurden nicht weniger, sie wurden anders. Ich hatte nicht vergessen, dass Vater zu mir in den Unterricht gekommen war. Nur hatte diese Erinnerung meiner Erzählung, dass Vater meine Gymnasialzeit nicht mehr mitbekommen hatte, nicht widersprochen. Vater war mein ganzes erstes Jahr auf der Ricarda-Huch-Schule noch fähig zur Bewegung und es stimmte, einmal war er in den Unterricht gekommen. Ich hatte ihn darum gebeten, weil unser Lehrer über den Islam geredet und ich das Gefühl bekommen hatte, dass er Lügen verbreitete, nicht nur über die Religion, sondern auch über meine Familie und mich.

Nach der Stunde hatte ich den Lehrer gefragt, ob er damit einverstanden sei, wenn mein Vater für eine Unterrichtsstunde seinen Job übernehmen würde. Herr Bodo, der im Vergleich zu den Debatten, die ein paar Jahre später begannen, nämlich nach dem Anschlag aufs World Trade Center 2001, überhaupt nicht schlecht über den Islam geredet hatte, höchstens etwas undifferenziert, und der sicherlich auch zum Christentum kritisch referiert hätte, stimmte sofort mit einem offenen Lächeln zu. Meinen Vater im Klassenzimmer zu sehen, kam einer Offenbarung gleich. Alle durften plötzlich wissen, wer der Mann war, der mich gezeugt hatte. Zunächst empfand ich Scham, aber das änderte sich schnell, und aus Scham wurde Stolz. Vater stand mit gerader Haltung und dennoch leger vor der Tafel. Sein dreiteiliger grauer Anzug schimmerte im Sonnenlicht, das durch die hohen Fenster des Klassenzimmers fiel und den Kreidestaub in der Luft vor der Tafel glänzen ließ. Vater strahlte eine gelassene Freude aus, die sich wie das Licht im Raum ausbreitete. Sein Lächeln war unschuldig, fast kindlich. Ein Junge, der sich aufs Spielen freute. Seine Stirn war weit, durch die tiefen Geheimratsecken wirkte sie noch breiter. Das Haar färbte er sich kastanienbraun. Fragen nahm er mit einem klaren, unausweichlichen Blick entgegen. Herr Bodo stand in seinem dunkelblauen Kaschmir-Rollkragenpullover mit verschränkten Armen neben dem Fenster und überließ ihm den ganzen Raum – was, wie ich erst jetzt bei diesem Telefonat mit Mutter verstehe, eine Geste war, die Größe bewies –, und Vater füllte diesen Raum.

Ich kann mich bei diesem Gespräch mit Mutter nicht mehr daran erinnern, worüber er sprach. Kein Wort. Ich sehe ihn in meiner Erinnerung von der einen Seite der großen grünen Schreibtafel zur anderen treten, wie über einen Laufsteg oder an einem Filmset. Vor meinem inneren Auge notiert er etwas auf die Tafel – nur was? Er schreibt, aber es entsteht keine Schrift. Wie er den Arm ausstreckt, um die Meldung einer Schülerin anzunehmen, wie er nickt und antwortet, sehe ich vor mir. Alles tonlos. Meine Erinnerung an jenen Tag ist voller Farbe, aber ohne Klang. Alle klatschten am Ende von Vaters Vortrag, das weiß ich, auch Herr Bodo, alle waren euphorisiert und spürten, meine ich, auch eine Art Erfüllung, wie sie einen etwa nach einer gekonnten Performance überkommen mag. Ich war stolz auf meinen Vater, alle durften wissen, ich war sein Sohn. Und ich stelle mir vor – beim Gespräch mit Mutter, da, wo die Erinnerung wieder aussetzt –, dass wir am Ende der Stunde zusammen den Schulkorridor hinunterlaufen, nebeneinanderher wie zwei Kumpels, er legt vielleicht kurz den Arm um meine Schulter, sagt: Das war Teamwork, du hast mich hier eingeschleust, und ich habe die Dinge richtiggestellt, jetzt kannst du ganz beruhigt sein, sie sind korrigiert, die Blicke, die dich treffen. Zwei Freunde auf einem Siegeszug, unaufhaltsam.

*

Ich stand mit Vater auf unserem Balkon in Kızkalesi, über uns der Silbermond, rund und so groß, dass er den nach Disteln riechenden Nachthimmel ganz ausfüllte. Wie weit entfernt ist der Mond?, fragte ich Vater. Nah, sagte er, sehr nah, aber in Mardin ist er noch näher, dort gibt es eine Straße zum Mond. Ich nehme dich bald einmal mit nach Mardin.

Vater und ich fanden in einem Stauraum unserer Wohnung in Kızkalesi ein Motorboot und eine Harpune. Habe ich alles besorgt, sagte Vater, das ist eine Pistole für unter Wasser, damit bist du ausgestattet wie James Bond. Warum fahren wir nie mit dem Motorboot raus?, fragte ich. Muss geflickt werden, sagte Vater, für den Fall der Fälle weißt du jetzt, wo du alles findest.

Ich sah Vater und mich auf Mission. Wir, unter Wasser, im Kampf gegen Bösewichte.

Wir tauchten nicht, kämpften zunächst auch nicht gegen Staatsfeinde und Weltzerstörer. Die Harpune kam niemals zum Einsatz. Wir gingen zusammen ins Wasser und schwammen aufs offene Meer hinaus. Auf einem Boot in der Nähe hörte jemand die Single einer der vielen neuen Stars des in jener Zeit aufkommenden Türk-Pops, den Hit 8:15 Vapuru, in dem sich die Sängerin auf der Fähre um 8:15 Uhr Hals über Kopf in einen atemberaubend gutaussehenden Mann verguckt, der schön sei wie ihr Vater und in den sie sich sofort verliebte, wie es einst bei ihren Eltern passiert war. Das Lied handelt von der Sehnsucht nach einer Liebe, die so groß ist, dass sie als Legende und Epos weitergetragen wird. Nur weil sich jemand in einem Boot entschieden hatte, dieses Lied zu hören – vielleicht auch zufällig, denn er lief in jenem Sommer auf allen Radiosendern –, kann ich heute dieses gemeinsame Schwimmen mit Vater zeitlich einordnen: Es handelte sich um den Sommerhit des Jahres 1994. Wir waren beide gute Schwimmer, mittlerweile auch ich, der ich, einige Wochen nachdem ich mich nicht getraut hatte zu springen, doch die Prüfung bestanden hatte und weiter im Schwimmverein geblieben war. Vater und ich hatten keine Angst davor, weit hinauszuschwimmen. Die Burg auf offenem Meer, die Mädchenburg genannt wurde und, wie es heißt, entweder die Festung des ersten Königs von Kleinarmenien, Lewon, oder eines byzantinischen Admirals namens Eustathios gewesen war, sah gar nicht so groß aus, weil sich kaum schätzen ließ, wie weit sie in Wirklichkeit vom Strand entfernt war und wie riesig die Fenster eigentlich waren, die vom Strand aus nur daumengroß schienen. Vater und ich schwammen nicht bis zur Burg, das galt als einfältig und gewagt, wir bewegten uns nur so weit raus ins Gewässer, dass wir dem Lärm der Badenden nicht mehr ausgeliefert waren. Vater fragte, ob ich das Lied mochte, ich bejahte. Und er sagte, dass ihm das Lied und das Auftreten der selbstbewussten, jungen Sängerin Yonca Evcimik auch gefielen.

In einem dieser Sommer in Kızkalesi begleitete ich zusammen mit meinem Vater eine Gruppe Touristen zur Mädchenburg. Hierfür organisierte Vater Bootstouren vom Festland aus. Zusammen mit zwei Touristen setzten wir uns in ein Ruderboot, und ein älterer Mann, der vermutlich viel älter aussah, als er war, betätigte die Paddel. Wir schauten uns gemeinsam die Festung an, die ich aus der Ferne deutlich spektakulärer fand als vor Ort: Innerhalb der Mauern war alles überwuchert von Gräsern, die Gemächer und Verliese, die ich fantasiert hatte, wichen einem ungepflegten Garten mit Sträuchern, die überall in der Region wuchsen und für die es sich kaum lohnte, übers Meer zu paddeln. Jahre später fand man dort Knochen. Da fuhren wir aber schon lange nicht mehr nach Kızkalesi, weil der Ort gestorben war wie ein Lebewesen – die wenigen sterblichen Reste bieten einem keine gemeinsame Zeit mehr, so schwer es auch fällt, sich von ihnen zu trennen. Jedenfalls ließ sich – angeblich – nicht herausfinden, was das für Knochen waren, auf die man während Restaurationsarbeiten an der Festung gestoßen war. Erst hieß es, dass ein Serienkiller vor etwa fünfundvierzig Jahren dort Leichen begraben hätte. Dann meldeten sich Forscher, die sagten, die Gebrechlichkeit der Knochen und andere Indizien wiesen darauf hin, dass sie mindestens hundert Jahre alt waren, womöglich noch viel älter. Plötzlich fielen einer Forscherin die angeschnittenen Zähne in einigen Kiefern auf und diese ließen sie vermuten, es handele sich um Skelette der Maya. Solche Methoden der Gebissverzierung kenne man hauptsächlich von dort, in Anatolien hätte es bisher jedenfalls keine Beispiele dafür gegeben. Einige Zeitungen feierten diesen Befund als Autoritätsgewinn gegenüber Kolumbus – die Maya hätten Anatolien entdeckt, bevor die Santa Maria vor den Bahamas den Anker ausgeworfen hatte. Andere sprachen davon, dass an einigen Fingerknöcheln Ringe von christlichen Heiligen saßen, was darauf hindeutete, dass das Christen in einem Massengrab waren. Schließlich hatte die Presse wohl das Interesse an den zweiundzwanzig Skeletten verloren, denn mehr Artikel, die das Mysterium endlich auflösen würden, fand ich nicht. Als Vater und ich etwa acht Jahre vor der Entdeckung jener Knochen über das verwucherte Innere der Festung spazierten, ahnten wir nicht, dass wir uns auf verscharrten Leichen bewegten. Von einem Mauerturm aus sahen wir die Sonnenschirme am Strand von Kızkalesi wie kleine, bunte Punkte leuchten, dahinter die weißen Häuser, hinter denen sich wiederum der Taurus wie ein graugrüner Waldschrat von enormer Größe erhob. Welche Seite magst du lieber, fragte ich meinen Vater, das Land oder die Burg? Ich schaue lieber aufs Land, sagte er, und du? Ich auch.

Schließlich stiegen wir wieder ins Ruderboot und derselbe alte – wahrscheinlich gar nicht so alte – Mann ruderte uns zurück zum Festland. Wir befanden uns etwa auf halber Strecke. Dort, stellte ich mir vor, war das Wasser am tiefsten, Fische, groß wie Häuser, bewohnten den Meeresboden. Ich streckte den Arm ins Wasser und berührte die kleinen, blauen Wellen. Na, Yunus, traust du dich, ins Wasser zu springen?, fragte Vater. An seinem Grinsen erkannte ich, dass das keineswegs eine Erlaubnis war, er spaßte mal wieder mit mir. Ich sagte: Klar, und sprang. Vor lauter Euphorie hatte ich vergessen, das T-Shirt auszuziehen oder die Kappe abzunehmen, die mir meine Mutter aufgesetzt hatte. Das Boot schwankte leicht, mein Vater stieß einen Schreckensschrei aus, ich schwamm los, in Richtung Küste. Ich hatte nicht die Absicht gehabt, meinem Vater oder den Touristen oder mir selbst etwas zu beweisen. Das Wasser hatte mich angezogen, mich gerufen, und in mir war etwas passiert. Ich war im Wasser und ich war frei. Von hier aus wirkte das Ruderboot übermäßig groß und meine Arme kamen mir wie die Knöchel eines kleinen Tieres vor. Ich war winzig im Schoß dieses Meeres, das drei Kontinente verband, verschwindend klein. Aber dieses Gefühl der Winzigkeit war nicht schlecht, im Gegenteil, es war, als könnte ich mich plötzlich verorten, als wäre endlich mein Verhältnis zu allen Dingen geklärt. Ich tauchte ab, und dass sich dabei meine Kappe vom Kopf löste und verloren ging, störte mich nicht. Ich schwamm nicht die ganze Strecke zurück an den Strand, nach einer Weile kehrte ich um, wo mich die Touristen aufs Boot zogen. In den Augen meines Vaters sah ich, dass er abwog, ob er mich wütend auf Arabisch verfluchen sollte oder ob er mich für meinen Mut loben durfte. Ich setzte meine nasse Kappe auf, die einer der Touristen aus dem Meer gefischt hatte, und lächelte ihn an. Ich sagte: Ich trage das Meer in meinem Namen. Die Touristen lachten. Mein Vater schüttelte einen Augenblick den Kopf, sagte, jag mir nie wieder so eine Angst ein, und lächelte mir dann zu, während sich, so stelle ich es mir zumindest vor, unser Ruderboot der Küste näherte.

Mutter sagt, an dem Tag, an dem ich nicht gesprungen sei, habe mein Vater erzählt, er sei stolz auf mich gewesen. Ich hätte in der vorbereitenden Unterrichtsstunde gefehlt und sei trotzdem zur Prüfung gegangen. Dass ich entschieden hätte, nicht zu springen, weil ich noch nicht so weit gewesen sei, hätte ihn beeindruckt. Wie käme ich dazu, zu denken, dass er mich jemals als mutlos und feige bezeichnen würde? Sie fragt: Bist du dir sicher, dass er so etwas zu dir gesagt hat? Nein, sicher bin ich mir nicht. Die Bilder, die ich sehe, sind meine. Die Worte, die er sprach, kamen aus mir. Je tiefer ich eintauche, desto unergründlicher werden die Erinnerungen an baba. Und doch: In diesem Wasser aus Erinnerungen und Erfindungen berühren mich Strömungen, deren Temperaturen ich jetzt spüre.

Mutter zeigt mir ein Bild aus einem Sommer, den wir nicht in Kızkalesi verbracht hatten. Das muss zwei Jahre nach dem Sommer 1996 gewesen sein. Zwei Jahre nach jenem Juli also, an dem meine Mutter ein Flugzeug und ein Ärzteteam organisierte, um ihren Mann aus der Klinik in Mersin zurück nach Deutschland zu überführen. Denn 1997, also ein Jahr danach, waren wir noch einmal in Kızkalesi. Aber es sei dort kaum auszuhalten gewesen, erzählte sie einmal. Sie habe sich dort allein als Frau nicht mehr wohlgefühlt. Die Freier, die am Hotel Korykos herumlungerten, seien ihr bedrohlicher vorgekommen als in den Jahren zuvor. Und sie hätte mehr denn je Angst um mich gehabt, der ich getrieben gewesen sei und, wie sie meinte, mit vierzehn Jahren für einen Jungen in einem vulnerablen Alter.