Gegen Morgen - Deniz Utlu - E-Book

Gegen Morgen E-Book

Deniz Utlu

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Beschreibung

Als Kara von Berlin nach Frankfurt fliegt, gerät das Flugzeug in ein schweres Gewitter. Im Angesicht des drohenden Absturzes scheint plötzlich Ramón wenige Reihen vor ihm zu sitzen. Ramón, der nie eingeladen war und trotzdem immer kam, der bei Kara und Karas bestem Freund Vince auf dem Sofa in der Küche übernachtete, bis er von einem Tag auf den anderen verschwand. Nach der Notlandung kehrt Kara ruhelos nach Berlin zurück, wo er sich auf die Suche nach Ramón begibt und damit auf die Spuren seiner eigenen Vergangenheit. Er findet den Verlorengeglaubten in einer Plattenbausiedlung und bietet ihm an, in Vince’ ehemaliges Zimmer zu ziehen. Dort bekommt Ramón eines Nachts Besuch von Fremden. Wenig später ist er wieder verschwunden. Dass es diesmal ein Abschied für immer sein könnte, wird Kara bewusst, als er ihm bis nach Paris folgt, dort aber nur mehr eine Stadt in Aufruhr findet.
Deniz Utlu erzählt in Gegen Morgen von einer tiefen Erschütterung und fragt, was uns ausmacht: das, was wir zurückgelassen haben, oder das, was vor uns liegt. In flirrenden Bildern spürt er den Versäumnissen und Potentialen eines Lebens nach sowie der Menschlichkeit, die da beginnt, wo wir nicht auf uns selbst, sondern auf andere achten.

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Seitenzahl: 326

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Deniz Utlu

Gegen Morgen

Roman

Suhrkamp

I

Himmlische Müdigkeit fühl’ ich in mir.

Novalis, Hymnen an die Nacht

Schwerkraft

Ich will nicht fliegen. Nadia hat recht, ich hätte wie Vince aus der Wohnung ausziehen, wir hätten sie auflösen sollen. Dann müsste ich jetzt nicht zum Flughafen fahren, ins Flugzeug steigen, zu Nadia nach Frankfurt fliegen. Ich will nicht. Lieber knete ich den Riemen meiner Tasche. In dieser Küche. Auf diesem Stuhl. Immer hier.

Am Ende des Flurs stehen die drei restlichen Umzugskartons von Vince. Zehn, elf, zwölf, dreizehn Jahre in Kartons – haben wir hier wirklich so lange zusammengewohnt?

Im Treppenhaus riecht es scharf nach Essig. Die letzten Stufen glänzen nass. Ein Mann wringt einen Lappen aus, er habe frisch gewischt. Wir stehen da, ich auf halber Treppe, er unten vor dem Treppenabsatz, und schauen auf das trocknende Holz der Stufen.

Im Taxi die Autobahn hoch nach Tegel, durch den Nieselregen, vorbei an Hausfassaden mit aufgemalter Werbung aus den Siebzigerjahren, an den drei großen Schornsteinen des Heizkraftwerks, dem Messeparkplatz, der aussieht wie ein weißer Roboter neben der Stadtautobahn. Nadia schreibt: Hab einen guten Flug, ich freu mich auf dich. Ich lege das Telefon neben mich auf die Rückbank. Ich würde es anschnallen, wenn das möglich wäre, und mit ihm reden wie mit einem Gefährten. Wo fliegen wir hin?, würde es fragen. Hoch, würde ich sagen, sehr hoch. Verliert der Himmel da seine Farbe? Sind die Sterne nah? Und gibt es dort eine Vorstellung von Zeit? Werden wir Netz haben? Es wurden viele Flüge gestrichen heute, sagt der Taxifahrer, wenigstens keine Terrorwarnung, in diesen Tagen weiß man nie.

In der Schlange zu den Gates schwellen einem Mann die Adern am Hals an, weil ich drängle. Wir müssen alle heute noch fliegen, zischt eine Frau. Beim Scanner muss ich die Schuhe ausziehen, ich sage, dass ich nur nach Frankfurt fliege, den Flug verpasse, wenn es hier nicht schneller geht. Der Mann mit den Einweghandschuhen besteht darauf, dass ich die Arme öffne. Während er mir unter die Achseln streicht, denke ich, dass das für viele die einzige Form einer Umarmung ist.

Am Gate zieht eine Frau vom Bodenpersonal gerade das Absperrband zu, draußen schließen die Türen des Busses. Falls es zu spät ist, will ich nach Hause, ins Bett, mit Mantel und Tasche, auf mich ist Frankfurt nicht angewiesen. Ist es zu spät?, frage ich, die Frau nickt, sagt, dass das System um Viertel vor schließe, ihr seien die Hände gebunden, wobei sie auf ihre Handgelenke schaut, auf dem linken ist eine Kaligrafie tätowiert. Sechzehn, sage ich, es ist sechzehn vor. Sie zieht meine Bordkarte über den Scanner, es piept. Die Frau öffnet erst die Absperrung, dann die Tür, der Bus, der bereits angefahren war, hält wieder, die Fluggäste schauen ausdruckslos. Beeilen Sie sich. Ich weiß nicht, sage ich. Hitze überkommt mich, unter den Achseln, zwischen den Schulterblättern, schnürt mir die Kehle zu. Der Regen hat zugenommen.

Die Menschen im Bus schauen mich an, auch die Busfahrerin dreht sich zu mir um. Die meisten stehen, haben Koffer zwischen den Beinen oder Taschen um die Schultern, halten Bücher oder Zeitungen in den Händen oder unter den Arm geklemmt, ein alter Mann trägt einen Strauß gelber Blumen. In meinem Rücken spüre ich die Kälte der Tür, gegen deren Glas ich lehne. Ein Mann mit eckiger Hornbrille und wenigen, dafür gekämmten Haaren grüßt mich: Guten Tag. Er ist klein, mit auffällig gerader Haltung und kurzem Hals. Ich nicke, um seinen Gruß zu erwidern. Wir sind ja noch gut in der Zeit, grinst er. Die dicken Brillengläser vergrößern seine Augen, die er hinter den halbgeschlossenen Lidern in unregelmäßigen Abständen bewegt wie eine Echse. Seine Nase ist so klein, dass sie unter der Brille fast verschwindet. Am Flugzeug steige ich als Erster aus dem Bus. Ich will nicht zusammen mit ihm auf der Treppe warten müssen.

Auf meinem Fensterplatz kauere ich mich in die Ecke. Mit geschlossenen Augen höre ich die Geräusche der Menschen, die ihre Plätze suchen: Eine Tüte knistert, Gepäckfächer klappen auf und zu, ein Kind zählt die Sitznummern ab, ein Baby weint. Das Dröhnen der Turbinen beginnt.

Im Fenster bewegen sich eckige Fahrzeuge. Hallo, sagt ein Mann neben mir. Die Echse. Wir haben eine leichte Verspätung, aber die holen wir sicher ein. Ich habe es nicht eilig, sage ich. Er runzelt die Stirn.

Wir fliegen.

Wir müssten schon über Magdeburg sein, gibt der Mann nicht auf und lockert seinen Kragen. Draußen ist es weiß.

Irgendwann kündigt der Pilot durch die Lautsprecher die Landung an. Er habe die Landegenehmigung aufgrund des hohen Verkehrsaufkommens in Frankfurt erst jetzt erhalten, wir hätten circa dreißig Minuten Verspätung. Von mir aus können wir noch Stunden über der Stadt kreisen. Die Echse lächelt mir zu. Was führt Sie nach Frankfurt? Ich besuche meine Freundin, sage ich. Alles ist falsch an diesem Satz. Ich bin eine Motte und kreise um die Stadt. Die Echse sagt, dass sich ein Besuch in Frankfurt immer lohne. In dem Moment fällt das Flugzeug in ein Luftloch, die Echse ruft: Huch, und lacht verlegen, als hätte ich sie bei etwas Unanständigem ertappt. Dann fallen wir wieder.

Zum ersten Mal begreife ich körperlich die Bedeutung der Sicherheitsgurte. Meine Organe vollziehen eine andere Bewegung als der Körper, der sie umschließt. Sie ziehen auseinander, der Magen verformt sich, presst gegen die Lunge, erschwert das Atmen. Ein Gefühl nah an Übelkeit, aber anders.

Ich sehe den Lärm in der Kabine, höre ihn nicht, sehe nur: nasse Augen von Kindern, feuchte Wangen, Finger, die sich in die Stoffe der Vordersitze krallen, die Echse drückt ihren Kopf in den Schoß, die wenigen Haare sind strähnig nass vom Schweiß. Ich stelle mir vor, wie wir immer weiter fallen, wie das die letzten Minuten meines Lebens sind, vor dem Aufprall.

Vorne knallt ein Buch auf den Gang. Auch hinten ein Knall, ich schaue mich um, die Toilettentür schlägt auf und zu. Ein Mann boxt mit der Faust gegen die Rückenlehne seines Vordermanns. Er trägt Hemd und Krawatte, die kurzen blonden Haare sind stumpf, er schlägt noch einmal gegen den Sitz. Ich erkenne ein Lächeln in seinem Gesicht. Auch der Mann neben der Echse lächelt, aber: Freude und Schmerz sind nicht zu unterscheiden. Er hält sein Buch geöffnet auf dem Schoß und versucht, weiterzulesen, wann immer etwas Ruhe einkehrt. Woher diese Sicherheit? Oder misst er diesem Augenblick keine Bedeutung bei: nur eine Minute unter all den Minuten, die das Leben abgezählt hat. Im Nacken der Echse glänzt der Schweiß.

Ich habe meine Mutter lange nicht mehr gesehen. Wenn ich verunglückte, würde sie das nicht ertragen. Nicht ertragen heißt das Leben, wie sie es kennt, nicht mehr weiterführen. Nicht ertragen heißt den Staub in der Wohnung siegen lassen. Nicht ertragen heißt die Gardinen weder auf- noch zuziehen. Den Teekessel auf der Herdflamme vergessen. Verschimmeltes Toastbrot rösten. Ich weiß, dass wir nicht abstürzen werden. Und doch: Die Möglichkeit besteht. Die Müdigkeit heute Morgen, der Mann, der das Treppenhaus putzte, der Taxifahrer. Ich hätte diesen Flug nicht nehmen dürfen, sage ich vor mich hin, ich hätte diesen Flug nicht nehmen dürfen. Die Echse schaut mich von unten an, ihre Augen wirken in diesem Winkel riesig.

Nadia würde sicher versuchen, mich zu erreichen, aber mein Telefon wäre aus. Sie würde Vince anrufen, der wüsste von nichts, würde sagen, dass schon alles in Ordnung wäre. Bei meiner Mutter würde Nadia nicht anrufen, nicht heute. Nadia, die auf meine Mailbox sprechen würde, erst sanft, dann mit leichtem Zorn in der Stimme, dann wütend, dann verletzt, Stunden später Angst. Meine Mutter in fünf Jahren, Vince in fünf Jahren, die Asche, zu der mein Körper geworden wäre, in fünf Jahren. Ich weiß, wir stürzen nicht ab. Nadia, die sich ihren Sohn um die Brust geschnallt hätte, die in Frankfurt geblieben wäre, die am Main entlanglaufen und im Gehen das Abschlusskapitel ihrer Doktorarbeit planen würde. Vince in einer hundertzwanzig Quadratmeter großen Loftwohnung mit dem ferngesteuerten Auto seiner Tochter. Mutter in einem Heim, ein Pfleger würde mit ihr schimpfen, weil sie wieder die Suppe verschüttet hätte, warum sie denn nicht aufpassen könne. Und Ramón in einer Anstalt, aufgedunsen wegen der Medikamente. Ich atme.

Ramón, in diesem Flugzeug erscheint er mir, sitzt in einer der vorderen Reihen, mit seiner Daunenjacke, die er immer noch trägt. Auch er ganz ruhig. Im Fallen existiert alles gleichzeitig, was gewesen und was nicht gewesen und was nur in mir gewesen ist. Eine Multiplikation aller Erfahrungen.

Lange habe ich nicht mehr an Ramón gedacht. Ausgerechnet jetzt, in den Minuten, die die letzten sein könnten, taucht er auf. Er, für den nie Raum blieb, der immer zu viel war, immer überflüssig, nie willkommen, nur da. Ich merke, wie ich grinse. Ein Grinsen, das Gesichtsmuskeln anspannt, die ich nicht kannte, und das ich auf meinen Knochen spüre wie steifes Leder.

Nadia wirft mir eine trostlose Unordnung in der Zeit vor, sie sagt, du bist dreiunddreißig Jahre alt, aber du lebst wie ein Student. Ich sage, warum nicht mit fünfzehn studieren, mit sieben Märchen belächeln, mit zweiunddreißig an die Kraft der Liebe glauben? Warum nicht mit zwanzig Geschäftsmann sein und mit fünfundsiebzig auf dem Amt sitzen und Ausbildungsförderung beantragen? Erst sterben, dann leben. Huch, wiederholt die Echse, wiederholt auch das Lächeln der Ertappten. Die Organe in meinem Körper fallen.

Nadia und ich an einem Frühlingsabend in der Bergmannstraße, die Bäume noch ohne Blätter, es ist lau, Menschen auf den Terrassen der Cafés, der Himmel dunkelblau, Lichter in den Fenstern der Häuser, Küchen in den Fenstern, Töpfe und Bücher, Blumen. Ich will den Moment festhalten, bleibe stehen, sie, bei mir eingehakt, muss auch stehen bleiben, wir küssen uns, aber alles um uns herum verwandelt sich in einen Bahnhof, die Schaffner pfeifen, die Züge fahren an, Menschen rennen mit ihren Koffern den Bahnsteig entlang, und die Küssenden stehen schon halb in der Zugtür, etwas von ihnen ist bereits fort. Etwas von mir war schon immer längst fort. Ich mit zwanzig im Stadtwald, Licht fällt durch die Zwischenräume der Blätter auf den Pfad, aber ich bin bereits auf meinem Bahnsteig, schon in meinem Zug. Nadia, die mir von unserem ewigsten gemeinsamen Moment erzählt, von dem windigen Tag auf dem Turm in Swinemünde, unsere Gesichter lugten aus den Kapuzen und Raben spazierten auf der Balustrade, sie erzählt, aber ich denke, ich muss früh schlafen gehen, morgen wird ein langer Tag.

In diesem Flugzeug, das fällt, ist nichts schon fort, bin ich nicht mehr auf dem Sprung. Hier ist jede Eile unbegründet. Im Fallen löst sich die Schwerkraft auf, wir fallen nicht, wir schweben, die Schwerkraft und die Zeit. Eine Gleichgültigkeit, die mich überrascht: Die ungeahnte Möglichkeit, dass das Leben abreißt, trifft mich nicht.

Ich falle. Die Echse reißt den Kopf hoch und schnappt nach Luft. Becher und Taschen liegen auf dem Gang des Flugzeugs. In meinem verkürzten Leben herrscht eine Sekunde Ruhe, herrscht eine Sekunde Ewigkeit.

Nach einem Ruck ziehen wir wieder hoch, die Schwerkraft kehrt zurück und drückt uns in unsere Sitze.

Sehr verehrte Fluggäste, spricht der Pilot, aufgrund eines schweren Gewitters müssen wir den Anflug auf Frankfurt abbrechen, wir haben eine Landegenehmigung am Flughafen Hannover beantragt. Die Passagiere reden alle durcheinander. Eine Frau mit drei Kindern erklärt, dass sie ihren Anschlussflug nach New York nun kaum noch bekomme. Manchmal, sage ich zur Echse, führt Sie alles zurück zu Ihrer Mutter. Die Echse starrt mich an: Was?

Erst eine ganze Weile nach der Ankündigung des Piloten, dass wir nach Hannover fliegen, legt sich die Anspannung. Ein Mädchen mit geflochtenen Haaren hebt sein Buch auf und liest sofort darin. Ich höre einen Mann lachen, dann eine Frau. Wieder ruhige Gespräche, die sich in das Dröhnen der Turbinen mischen.

Wir landen in der Stadt meiner Geburt.

Meine Mutter weiß nicht, dass ich hier bin. Sie sitzt in der Wohnung meiner Kindheit und Jugend auf dem Sofa oder steht im Flur und streift die Schuhe ab oder räumt den Einkauf in den Schrank. Ich sitze in einem Flugzeug mit offenen Türen. Wir warten, heißt es, auf eine Besserung der Wetterbedingungen in Frankfurt. Die Motoren sind ausgeschaltet, die Leute flüstern beim Reden. Nur ein älterer Mann erzählt lautstark von einer Wanderung in Spanien, einem Unwetter auch dort. Die Stewardess lehnt an der Tür und schaut auf die Piste. Ich schnalle mich ab und gehe zu ihr, sage, dass ich aussteigen möchte. Sie sagt, dass wir den Flug jeden Augenblick fortsetzen würden. Ich bestehe darauf, auszusteigen, erzähle ihr, dass meine Mutter hier lebt, in Hannover, in dieser Stadt, in der ich nicht hatte landen wollen. Sie tritt einen Schritt zurück. Ich sage, dass ich Mutter lange nicht gesehen hätte und dass wir nie wüssten, ob der eben verpasste Augenblick in Wahrheit nicht der letzte sei, den wir hätten. Erzähle von der Wohnung, von Mutter und Vince. Die Stewardess paddelt mit den Händen, sie frage ja schon den Piloten, um Gottes willen. Ich warte vor der offenen Flugzeugtür: unter mir Asphalt, dahinter Wiesen, in der Ferne Zäune, dahinter wieder Wiesen, der Wind rauscht. Wir sind mit dem Flugzeug zum Picknicken gelandet. Jeden Moment verteilen die Flugbegleiter Picknickkörbe und Heizdecken, sicher spielt jemand Gitarre.

Ein Fuchs läuft über die Wiese und bleibt etwa zwanzig oder dreißig Meter von mir entfernt stehen. Er kratzt sich mit der Pfote die Schnauze und schaut mich direkt an. Wollen Sie wirklich aussteigen? Er hat eine Frauenstimme. Hören Sie?

Ich drehe mich um, die Stewardess. Möchten Sie immer noch aussteigen?

Als ich wieder rausschaue, ist der Fuchs verschwunden.

Hinter den Tresen der Reisebüros und Fluggesellschaften sitzen Angestellte in Anzügen mit Applikationen in den Farben des jeweiligen Unternehmens. Wie schon als Kind spüre ich die Höhe der Decke mit den Zylindern, die aussehen wie abgeschnittene Rohre. Ich sehe mich von oben, wie ich diagonal durch dieses stille Gebäude laufe, auch meine Schritte erzeugen keine Geräusche. Stunden meiner Kindheit sind an den Gepäckbändern dieses Terminals vergangen, auf dem Rückweg aus der Türkei, aus Griechenland und Italien. Vince und ich haben vor einigen Jahren zusammen auf diesen Wartesitzen aus Plastik gesessen – vor mehr als einer Dekade. Wir waren einem Schulfreund begegnet. Nur an die Begegnung erinnere ich mich, nicht an sein Gesicht oder seine Stimme, und das auch nur, weil wir später erfuhren, dass sich einer aus unserem Abiturjahrgang umgebracht hätte, genau der, den wir getroffen hatten. Er habe Tabletten geschluckt und sei Tage später in seinem Bett gefunden worden, wusste Vince. Ich konnte mich nicht daran erinnern, vor der Begegnung auf dem Flughafen jemals mit ihm gesprochen zu haben, aber Vince meinte, sie hätten oft zusammen Fußball gespielt. Seinen Körper sehe ich noch vor mir, den Körper des Jungen, in einem schwarzen Kapuzenpullover, wie er in einem Einzelbett liegt, zur Wand gedreht. Ich war natürlich nicht dort gewesen, ich weiß nicht, was er anhatte oder wie sein Zimmer aussah, aber dieses Bild sehe ich, wenn ich versuche, mich an mehr von ihm zu erinnern. Und das Bild des Supermarkts hinter unserer Schule, denn über diesem Supermarkt soll er damals gewohnt haben. Das Kopfsteinpflaster, der Kreisverkehr mit einem Baum in der Mitte, Bürogebäude, die in einem architektonischen Wagnis mit doppelter Fassade gebaut worden waren, die äußere Fassade rosafarben gestrichen. Schulhof, Kopfsteinpflaster, Supermarkt, Kreisverkehr, Baum, doppelte Fassaden, rosa. Kein Gesicht.

Nachdem mir Vince davon erzählt hatte, gingen wir wieder in unsere Zimmer und lernten weiter für die Prüfung in Doppelter Buchführung. Dabei hätte ich alleine schon bei dem Wort »Rechnungsabgrenzungsposten« das Studium abbrechen müssen. Aber ich entschied mich dazu, vernünftig zu sein, was auch meine Mutter mir geraten hatte, und »Rechnungsabgrenzungsposten« waren zweifellos vernünftig. Vince ging also in sein Zimmer und löste die Übungsaufgaben aus dem Tutorium, und ich in mein Zimmer und las im Handelsgesetzbuch, und Ramón, an den ich jahrelang kaum gedacht hatte, der mir in diesem fallenden Flugzeug erschien, plötzlich mit mir fiel, der damals zum Tod unseres Mitschülers über dem Supermarkt nichts gesagt hatte, unterstrich weiter jeden Satz in den Elementen und Ursprüngen totaler Herrschaft.

Ursprung

Mein Flugzeug, ohne mich, dürfte bald landen. Während Nadia vor der Absperrung bei jeder Person, für die sich die elektrische Tür öffnet, hofft, dass ich das endlich bin, sehe ich mich, fünfzehnjährig, mit Vince in den Seitenstraßen Hannovers. Er hat Locken, ist einen Kopf kleiner als ich und beansprucht den Nobelpreis, weil er sein erstes Mal hatte. Während Nadia im Frankfurter Flughafen ungeduldig hin und her läuft, stehe ich bereits vor der Tür, die fast mein halbes Leben lang der Eingang zu meinem Zuhause gewesen ist. Ich stehe vor dem Haus meiner Mutter, dem Haus, in dem ich aufgewachsen bin, vor dem ich in den Sommermonaten bis in die Morgenstunden mit Vince über Mädchen und Revolution redete, in das ich hineintorkelte als Jugendlicher, wenn ich zu viel getrunken hatte. Die Stufen schlich ich dann hoch, übte mich darin, so leise wie möglich aufzuschließen, aber zu irgendeinem Geräusch kam es immer. In meiner gesamten Jugend ist es mir nicht ein Mal gelungen, die Tür aufzuschließen, ohne Mutter zu wecken. Manchmal stand sie auf, um mich zu begrüßen, als käme ich von der Schule, meistens sagte sie nur Hallo mit heiserer Stimme von ihrem Schlafzimmer aus. Wenn sie nichts sagte, stand ich an ihrer offenen Schlafzimmertür in der Dunkelheit und wusste, dass sie wach war.

Heute liegen die Schlüssel in einer alten Box in meinem Regal in Berlin. An dem Haus zu klingeln, in dem man aufwuchs, ist wie eine Reise in die Vergangenheit: Ich bin es, der öffnet – ich, der mir selbst die Tür öffnet. Ich, vor fast zwanzig Jahren, fünfzehnjährig, mit dunklen Haaren, die bis zu den Schultern reichen, die Schultern etwas eingefallen, weil ich einen Wachstumsschub hatte. Mutter ruft aus dem Wohnzimmer: Wer ist es, Kara? Ein Fremder, antwortet mein fünfzehnjähriges Ich. In seinen Augen erkenne ich, wie er in meinen Augen erkennt, dass mich seine Auskunft traurig macht. Er schaut mich fragend an, verunsichert, ob wir uns nicht doch kennen, nicht, weil er eine Ähnlichkeit zwischen uns entdeckt hätte, sondern aus Empathie. Das Haar hat Mutter braun gefärbt, sie steht im Licht, das durch die Fenster ins Wohnzimmer fällt und bis zu ihr auf den Flur reicht. Sie hat nur wenige Falten im Gesicht, die Augenlider sind ein wenig runzlig, aber Stirn und Hals faltenlos. Der Junge in der Tür weiß nicht, dass seine Mutter eine junge Frau ist oder vor kurzem eine junge Frau war, dass sie Träume hatte, dass sie von Reisen und Musik geträumt hat, von Liebe, dass sie davon träumt. Mutter strahlt mich an. Ein Lächeln, das mein fünfzehnjähriges Ich nicht wahrnimmt. Warum bittest du ihn nicht herein, sagt sie, das bist du in achtzehn Jahren.

Im Treppenhaus komme ich an einer Eule vorbei, die die Tochter der Nachbarin vor fast dreißig Jahren gemalt hat und die immer noch an der Wand klebt. Im dritten Stock steht die Tür offen. Mutter im Dämmerlicht dahinter. An den hohen Wänden ist ihr Schatten winzig. Ihr Gesicht gewinnt an Kontur, je näher ich komme. Zuerst die Nasenspitze, rund wie eine Perle, dann das Kinn mit Fältchen, die aussehen wie Bisse von Kindern oder Katzen, der Mund mit den dünnen Lippen, zuletzt die Augen, die tief in ihrem Schädel sitzen – einige Schattenreste bleiben zwischen den Augenringen und ihrem Stirnknochen hängen. Sie öffnet die Arme, geht einen Schritt auf mich zu, sagt: Willkommen, mein Junge. Ihre Umarmung ist fest, was mir erst nach einigen Momenten bewusst wird. Ich lasse meine Tasche von der Schulter gleiten und umfasse sie jetzt auch mit beiden Armen. So stehen wir, dann lässt sie mich los und zieht mich ins Wohnzimmer, zum Sofa, sagt, dass ich mich hinsetzen solle, mich erholen, und geht schließlich in die Küche, Kaffee machen.

Das bordeauxrote Sofa, auf dem ich viele Tage meiner Kindheit verbracht habe und dessen weichgewordenes Leder ich durch unaufhörliches Herumspringen auf den Sitzpolstern maßgeblich zu verantworten habe. Hier hatte ich gehockt und im Fernsehen animierten Motorradgangs in Neo-Tokio zugesehen oder mit Shaolin-Meistern meine Augenmuskeln trainiert, um schnell wie Kung-Fu-Kämpfer alles um mich herum sehen zu können. Manchmal setzte Mutter sich dazu, in den Sessel, auch dieser bordeauxrot, und schaute mit. Oder sie tat zumindest so, denn sie interessierte sich nie wirklich für die Filme, die ich aussuchte. Sie mochte es nur, Zeit mit mir zu verbringen. Ich machte ihr das irgendwann zum Vorwurf, sagte, dass sie nicht so tun solle, als schaue sie mit mir Filme, wenn es ihr gar nicht um die Handlung gehe, sondern um mich. Bist du denn nicht wichtiger?, fragte sie.

Aus der Küche höre ich das Scheppern von Geschirr. Dieses Geräusch ist Teil der Zimmer hier. Die Abwesenheit von Geräuschen als Bedingung für Stille gilt an diesem Ort nicht. Ein Holzlöffel schlägt zwei Mal auf den Rand eines Kochtopfs, eine Pfanne wird über die Herdplatte geschoben, Besteck auf Porzellan gelegt. Am Rhythmus erkenne ich die Tiefe der Ruhe meiner Mutter. Mit einem Auftakt schließt sie nun einen Küchenschrank, synkopisch klopft sie wieder auf den Topfrand, weiteres Besteck fällt im Ganzton. Ich weiß, dass sie jetzt träumt, nur nicht, wovon. Von Kleidern und Bällen? Von Enkeln? Von einem Mann? Von einem anderen Leben, zu dem es nie gekommen ist, weil sie dieses gewählt hat, Umtausch ausgeschlossen?

Sie hat Salat zubereitet mit Granatapfelkernen und Chicorée in Olivenöl angebraten, ihren Reis mit Nüssen und getrockneten Tomaten soll ich probieren, den habe sie zum ersten Mal so gemacht. Das beste Geschirr hat sie auf dem runden Holztisch im Wohnzimmer aufgedeckt, und die Tischdecke ist jene, die sie für Gäste aufbewahrt. Wir bewegen das Besteck wie automatisch, führen Essen in die Münder, keiner von uns sagt etwas. Mutter weilt vielleicht noch bei den Synkopen des Ungelebten, und ich weile in den Bassläufen meiner Kindheit und Jugend und bei Bildern von Nadia, ihren braunen Lederstiefeln, die sich auf dem glänzenden Boden des Frankfurter Flughafens immer schneller auf und ab bewegen. Ich schneide den Chicorée, führe ein Stück in den Mund, die Blätter quietschen zwischen den Zähnen, bitterer Saft tritt aus, verbindet sich mit Salz und Olivenöl, kauend schaue ich zu Mutter, wir nicken uns zu. Für einen Augenblick, während ich ein weiteres Stück Chicorée abschneide, weiß ich nicht, weshalb wir das getan haben, ob wir nicht doch miteinander gesprochen hatten und uns jetzt mit der Kopfbewegung gegenseitig zustimmten. Ich versuche, mich zu erinnern, wann ich Mutter das letzte Mal gesehen, wann ich zum letzten Mal mit ihr zu Abend gegessen habe. Wir essen schweigend weiter. Hin und wieder Schritte in der Wohnung über uns. Das Besteck auf dem Porzellan hinterlässt Farben im Raum, sie sind grell, weißlich rot. Das Blau der Abenddämmerung färbt erst die Wände des Wohnzimmers und nach und nach alle Gegenstände, den Tisch vor dem Sofa, das Bücherregal, die Bücher, den ausgeschalteten Fernseher, die Fotos aus Mutters Studienzeiten im Rahmen an der Wand. Auch Mutter ist jetzt abendblau.

Sie hatte immer versucht, Vater und Mutter zugleich zu sein. Jede meiner Entscheidungen, die mich von ihr entfernten, hatte sie als Absage an sie selbst verstanden, ein Scheitern ihrerseits, nicht nur als Mutter, sondern auch als Vater. Tagelang war sie apathisch gewesen, als sie mich einmal von der Polizeiwache abholen musste. Vince und ich hatten uns nachts davongestohlen, waren über eine Garage in einen Hinterhof geklettert, von dort in einen Keller und hatten mit einem Taschenmesser das Schloss eines Kellerraums aufgebrochen. Darin lagen Werkzeuge auf einem Tisch, daneben alte Koffer und Bierkästen. In einer Schublade fand ich stapelweise Fotos, einige alte Bilder in Schwarzweiß. Auf einem davon ein Junge mit Schirmmütze, wenig älter als wir, der mit verschränkten Armen auf einem Kohlekarren posierte. Ich behielt es aus Trotz, als mich die Polizei erwischte, nur mich, weil Vince sich schnell genug versteckt hatte. Hinter einen großen Koffer gekauert, spähte er zu mir und den Polizisten und sprang schließlich doch hervor, rief, dass wir nichts Schlimmes getan hätten und außerdem erst zwölf seien. Mutters Augen waren weit aufgerissen, als sie mich von der Wache abholte. Im Auto starrte sie mich lange an, bevor sie losfuhr.

Wir räumen das Geschirr in die Spülmaschine. Sie brüht erneut Wasser für frischen Kaffee. Ich stehe vor den Fotos im Flur. Mutter mit Schlaghose und Haaren bis zur Hüfte, Mutter, jung, an einem Schlagzeug, Mutter, unwesentlich älter, mit mir und Vince, mit Pommes im Mund, vor dem Opernhaus. Da müssen Vince und ich etwa dreizehn gewesen sein. Eine Freundin von Vince’ Schwester, die fünf oder sechs Jahre älter als wir war, spielte Querflöte. Ich hatte sie kennengelernt, als ich einmal bei Vince schlief und sie zufällig am selben Tag bei seiner Schwester übernachtete. Wir saßen lange zu viert im Wohnzimmer von Vince’ Eltern, die schon längst zu Bett gegangen waren und Vince und mich schlafend glaubten. Die Freundin erzählte, dass sie sich an der Musikhochschule eingeschrieben habe und in einem Orchester spielen wolle und dass sie nichts attraktiver finde an einem Mann als einen entwickelten Musikgeschmack. Sie brauche keine Muskeln, sie zerfließe bei jemandem, der hören könne. Vince und ich nickten wie hypnotisiert und überredeten Mutter, mit uns in die Oper zu gehen. Mutter schüttelte den Kopf, sie verstehe die Jugend nicht – in die Oper? Aber sie kaufte uns Tickets für die Zauberflöte, und Vince und ich sitzen in meiner Erinnerung mit feuchten Augen auf unseren Rangplätzen, und später, vielleicht sogar am Imbiss vor dem Opernhaus, erklärten wir, wie tief uns die Musik berührt hätte. Dabei hatte ich während der drei Stunden im Konzertsaal kaum zugehört, sondern immer nur an die Freundin von Vince’ Schwester gedacht, an die dunklen Ringe unter ihren blauen Augen, von denen ich glaubte, dass sie das Schönste waren, was ich jemals gesehen hatte. Es stimmte, dass ich ergriffen war, aber das hatte nichts mit der Musik zu tun, sondern nur mit der Vorstellung von diesen Augen. Vince ging es nicht anders, das wusste ich. Mutter freute sich, dass uns die Oper gefallen hatte. Es blieb aber bei diesem einen Besuch. Die Freundin von Vince’ Schwester sahen wir danach nur noch selten, ich noch weniger als Vince, und vergaßen sie bald.

Neben dem Foto von uns vor dem Opernhaus ein Bild, das ich für Mutter im Kunstunterricht gemalt habe. Auch ein eingerahmtes Foto von Nadia und mir in Festkleidung auf einer Hochzeit. Ich schaue es lange an, bis mir die Gestalten darauf fremd geworden sind, bis ich Nadia und auch mich nicht mehr erkenne.

An der Tür meines Zimmers am Ende des Flurs fehlt das Verkehrsschild mit dem Symbol für Sackgassen. Die Wände sind kahl, allein meine Diplom-Urkunde schmückt die Wand, Mutter hat sie dort angebracht, obwohl mir das unangenehm war. Auf einer Untertasse im Regal liegt ein Radiergummi in Form eines Totenkopfs, daneben ein Feuerzeug mit dem Bild einer Frau, deren Bikini verschwindet, wenn man es länger in der Hand hält. Ich schaue mir ihre glitzernden Achtzigerjahre-Dauerwellen an, nehme dann den Daumen vom Plastik, zwei winzige rosa Punkte stellen ihre Nippel dar. Immer wieder betätige ich das Rädchen, lasse die Flamme aber sofort darauf erlöschen. Der Ausblick meiner Kindheit: die Fassade des Hauses gegenüber, die Robinien, die damals schon hier waren. Auch das Summen ist wieder da, ich habe nie herausgefunden, wo es herkommt.

Ich will Nadia anrufen, scrolle bis zu ihrem Namen, berühre mit dem Daumen die Anruftaste, will mit ihr sprechen, muss mit ihr sprechen, ihr sagen, was gesagt werden muss. Sie geht nicht ran.

Nadia sagt immer, wir sind noch jung. Sie sagt, jung, aber … Für Promotionsstipendien zum Beispiel sei es schon zu spät, deshalb die Stelle an der Uni. Sie sagt, besser jetzt schwanger werden und in den Mutterschutz gehen, danach könne sie immer noch promovieren. Sie sagt, sie wolle mindestens drei Kinder. Sie sagt, Babys duften. Sie sagt, wir bräuchten dann ganz sicher eine gemeinsame Wohnung. Wenn jeder ein Viertel des Nettogehalts zahle, sie habe das ausgerechnet, bekomme man schon etwas Schönes, sie wolle eine ruhige Gegend, sie sei keine zwanzig mehr. Ich sage nichts. Sie sagt, ich würde mich wie ein Sechzehnjähriger benehmen.

Hier im Haus meiner Mutter, wo die Lichter der Wohnungen gegenüber durch die Äste der Robinien leuchten, hat sie recht: Ich bin sechzehn und im Besitz eines Feuerzeugs mit dem Bild einer nackten Frau. Vince wohnt zwei Straßen weiter, er ist stolz darauf, dass er im Winter nur T-Shirt trägt und dass er innerhalb von neunzig Sekunden zwei große Weizen trinken kann. Ich bin Anarchist, sehe aber nicht so aus. Nur selten habe ich den Pullover mit dem Anarchisten-A an. Wann immer es geht, trage ich meine Lederjacke, die Haare hängen mir ins Gesicht, aber ich bin kein Punk. Ich sage, wir brauchen keine Gesetze, der Mensch ist gut. Vince ist das egal, er sagt, ein, zwei Jahre hart arbeiten und so viel Geld verdienen, dass es für immer reicht, dann ist er auch Anarchist. Er setzt sich auf die Fensterbank. Ich liege auf dem Bett, spiele mit dem Feuerzeug, sage, wir müssen uns befreien, der Mensch wird frei geboren und lebt in Ketten. Mutter habe ich überredet, das bärtige Gesicht von Karl Marx auf die linke Arschtasche meiner Jeans zu nähen. Kennt man den immer noch?, hatte sie gefragt. Wir leben in Zeiten, in denen sich die Widersprüche des Kapitals zuspitzen, hatte ich gesagt. Und was kommt danach? Das Reich der Freiheit. Wer sagt das? Karl Marx, Das Kapital, Band III, und in Band I, im Abschnitt zur transitorischen Notwendigkeit der kapitalistischen Produktionsweise. Gib deine Hose her! Mutter war idealistisch: Ich konnte Marx zitieren, ich bekam ihn auf die Hose. Einige Wochen später zitierte ich Einstein, Mutter griff sofort nach der Hose und wollte Marx übernähen, ich reichte ihr meinen Rucksack und rettete Marx. Vince kam mir zuliebe auch auf die Demonstrationen und brüllte laut die Slogans mit. Zumindest anfangs. Später war er immer seltener dafür zu haben. Mit siebzehn hatte er dann auch endlich seinen Wachstumsschub. Er, der einen Kopf kleiner als ich und die meisten unserer Freunde war, wurde der Größte. Die Haare schnitt er sich kurz und massierte Pomade ein. Er kaufte sich sogar ein Hemd mit Manschettenknöpfen, die er allerdings bei erster Gelegenheit verlor. Seit seine Schwester ausgezogen war, hatte er ein großes Zimmer, in dem er nun an den Wochenenden und nicht selten auch in der Woche Partys feierte. Wir waren bald zehn, fünfzehn Leute, viele aus unserem Jahrgang, die sich regelmäßig bei ihm trafen. Die Wohnung war groß, und seine Eltern merkten nicht, wenn wir am Fenster kifften. Jeden Tag sahen wir uns in der Schule und an den Abenden bei Vince.

Wäre Ramón auf unserer Schule gewesen, hätte er zu unserer Gruppe gehört? Gab es jemanden wie ihn auch in unserem Jahrgang? Jemanden, der da war, aber unsichtbar? Ramón wäre nicht mit zu Vince gekommen, wir hätten ihn nicht beachtet. Zwei Jahre später in Berlin war das etwas anderes. Wir kannten selbst niemanden an der Uni. Allein in der Mathe-Vorlesung saßen sechshundert Studierende. Und Ramón besuchte uns bald jeden Tag, bis er verschwand und mit ihm scheinbar jede Erinnerung an eine gemeinsame Zeit. Bis heute, bis zu diesem abgebrochenen Flug nach Frankfurt.

Vince und ich sahen uns nach der Abifeier, fast während des gesamten Zivildienstjahres gar nicht mehr. Ich schmiss keine Abschiedsparty, bevor ich zum Studium nach Berlin ging. Ich fuhr, ohne die Leute noch einmal zu treffen, die ich jahrelang beinahe jeden Tag gesehen hatte, und kam in der Wohnung einer ehemaligen Schulfreundin unter, die gleich nach dem Abitur nach Berlin gezogen war. Noch vor Ende der ersten Woche – ich hatte erst eine WG besichtigt, alle drei Mitbewohner waren über fünfzig, hatten weiße Bärte und Körper von enormer Größe – rief Vince an: Lass uns zusammenziehen. Wo bist du?, fragte ich. In zehn Minuten bei dir vor der Tür.

Mein Telefon blinkt auf. Nadia hat mir ein Foto geschickt. Das Bild ihres Unterarms mit einem Verband. Darunter steht: Ich habe mir die Hand verstaucht. Wo warst du?

Ich rufe sie an. Sie nimmt ab, aber sagt nichts.

Ich halte das Telefon ans Ohr, schaue auf das Zündrädchen des Feuerzeugs. Ich höre Nadias Atem nicht. Dass die Verbindung noch besteht, weiß ich nur, weil es leise rauscht. Manchmal setzt das Rauschen aus, und ich höre meinen Herzschlag.

Ich stelle mir vor, wie sie auf ihrem Sofa in ihrem Zimmer in Frankfurt hockt, in die Lehne gekauert, die Füße auf dem Sitzkissen, das Kinn auf den Knien oder auf dem heilen Arm. In dieser Stadt, in der sie keine richtigen Freunde hat, niemanden, mit dem sie sich treffen, den sie anrufen kann. Mich konnte sie anrufen, ich war erreichbar für sie. Meistens. Es stimmt, dass ich manchmal nicht abnahm, das Telefon in der Küche liegen ließ oder in meiner Tasche. Was nicht stimmt, ist, dass es mir egal war, wenn sie anrief oder sich einsam fühlte in Frankfurt oder unfair behandelt im Institut. Andererseits konnte ich stundenlang in Vince’ Zimmer über seine nächtlichen Abenteuer lachen, von denen er, wenn er mal da war, mit vollem Mund, im Bett sitzend, erzählte, immer wieder unterbrochen, wenn er erneut von seiner Pizza oder seinem Burger abbeißen musste. Die ganze Zeit über saß ich angespannt bei ihm auf dem Fußboden oder im Sessel in der Ecke, kurz davor, aufzuspringen und zum Telefon zu rennen, das ich angeblich verlegt hatte, wenn ich tags darauf mit Nadia sprach, von dem ich in Wirklichkeit aber wusste, dass es in der Küche neben dem Toaster unter der Zeitung lag. Wann kommst du?, hatte sie mich immer wieder gefragt. Das letzte Mal hatte ich geantwortet, dass wir uns doch erst am Wochenende gesehen hätten. Ja, da sei sie in Berlin gewesen, aber wann käme ich zu ihr? Vor drei Wochen, sagte ich, hätte ich sie doch besucht. Aber, sagte sie, da hätte ich auch einen Termin in Frankfurt gehabt. Wann kommst du?, hatte sie wiederholt. Bald. Das hast du vor Wochen schon gesagt. Ich schwieg. Sie haben mich alle Tische für die Veranstaltung durch den Regen tragen lassen, sagte sie. Das dürfen sie nicht. Ich weiß. Warum hast du es getan? Ich weiß. Was? Wann kommst du? Ich antwortete wieder nicht. Ich will, dass du ein Mal kommst, nur für mich, nicht, weil es sich einrichten lässt. Ich würde überall hinkommen, nur für dich. Nächste Woche, die Konferenz, ich weiß nicht, ob ich das schaffe. Soll ich kommen? Bitte komm, meine Chefin hasst mich. Du weißt, dass das nicht stimmt. Du verstehst von diesen Dingen nichts. Warum fragst du mich dann? Ich frage dich gar nicht, ich habe dich lange nichts mehr gefragt.

Wenn ich Nadia besucht hatte oder wegen eines Termins in Frankfurt gewesen und das restliche Wochenende bei ihr geblieben war, fuhr ich Montag früh mit dem Vier-Uhr-Zug zurück, oder ich nahm den Flug um sechs. Jedes Mal war ich vom Bahnhof oder Flughafen direkt ins Büro gefahren. Wenn ich dann die Tür hinter mir schloss und für einige Momente alleine war, der Stille lauschen konnte, oder wenn ich mich abends daheim aufs Bett warf und minutenlang nichts weiter machte, als zu atmen, und nichts weiter hörte als die Luft, die mir in die Lunge und durch die Atemwege fuhr, erreichte ich einen Zustand, der zwar nicht Frieden war, aber wenigstens das Potential dazu hatte.

Welchen Grund haben Menschen, zusammen zu sein? Welchen Grund, sich zu trennen? Wenn Zusammensein ein Versprechen ist, heißt Trennung dann Verrat? Ich hatte Nadia dieses Versprechen gegeben. Ich hatte es nicht ausgesprochen, ihr nie geschrieben, es sind die Körper, die die wirklichen Schwüre leisten – mit Gesten und Blicken, mit Berührungen. Nadia hatte einmal gesagt, ihr bleibe nicht viel Zeit, sie müsse planen, ab fünfunddreißig gelte eine Schwangerschaft als Risiko. Ich hatte gesagt, ich liege hier die ganze Nacht schon wach, gleich klingelt der Wecker, warum redest du jetzt darüber? Du bist nicht der Einzige, der nicht schlafen kann.

Ich zünde das Feuerzeug und starre auf die Flamme, höre das Rauschen in der Leitung. Es dringt in mich ein, blockiert meinen Atem. Es ist, als wäre ich unter Wasser. Nadia hockt jenseits dieses Rauschens auf ihrem Sofa in ihrem Zimmer in Frankfurt. Sie hatte mich erwartet. Ich bin nicht gekommen. Ich werde nicht mehr kommen. Es rauscht, und ich starre auf das Zündrädchen, bis es heiß wird, starre darauf und sage, ich werde nicht mehr kommen. Dann ist die Verbindung weg, und ich höre nur noch den Signalton. Ich lasse den Daumen auf dem Rädchen, bis ich die Hitze, den Schmerz nicht mehr aushalte und das Feuerzeug fallen lasse.

Es ist Nacht, ich wache auf, ich bin in Berlin, ich liege mit dem Kopf am Fußende des Bettes, ich bin in Frankfurt, jemand liegt neben mir, ich brauche eine Sekunde, die Fenster gehen nach Norden, da sind Jalousien, ich bin bei Mutter. Die Fenster im Haus gegenüber sind schwarz, im Laternenlicht die dicken Äste der Robinien. Ich richte mich auf im Bett, lehne mich gegen die Wand. Vor meinen Augen noch der Traum, das Flugzeug von heute, wie es auf dem Rollfeld steht, ohne Piloten, ohne Flugbegleiter, die Sitze leer, alles dunkel. Ich laufe zwischen den Reihen entlang, bis ich an meinem Platz bin. Der Mann, der neben mir saß, die Echse, ist jetzt der einzige Fluggast. Ich lasse mich in den Sitz neben ihn fallen. Er dreht sich langsam zu mir und sagt, ich möchte bloß, ich wäre nie gewesen. Ich stehe auf, steige aus der Sitzreihe, laufe zum Cockpit, reiße die Tür auf: Ramón steht dort, er brennt, die Flammen züngeln aus seiner Daunenjacke, seine Augen lachen.

Ich kenne die Wege dieser Wohnung auch ohne Licht, ich sehe die Bilder im Flur auch im Dunkeln, die Bilder von Mutter, von Mutter allein, von Mutter mit mir, mit mir als Kind, mit mir als Jugendlichem – ich spüre sie den ganzen Flur entlang, während ich schrumpfe, in meinen sechsjährigen Körper, und den Flur mit kleinen Schritten entlanglaufe, ich will wieder Boxer werden, ich bin ein Boxer, aus meinem kindlichen Körper bricht ein schlaksiger Vierzehnjähriger, und ich schnippe mit den Fingern den Gang hoch, ich kann die Rhythmen sämtlicher Rocksongs seit den Siebzigern, von Stairway to Heaven bis Smells Like Teen Spirit, das lange Haar streiche ich mir aus der Stirn, ich will selbst einmal Rockstar sein, mir wächst ein grader Rücken, ich bin achtzehn, ich glaube an den Anarchosyndikalismus, schreibe Gedichte, ich bin dreiundzwanzig, trage eine Umhängetasche und studiere Volkswirtschaftslehre, ich habe lange keine Gedichte mehr geschrieben, ich versuche, zu verstehen, was der Unterschied zwischen einem erwarteten Nutzen eines Wertes und dem Nutzen eines Erwartungswertes ist, ich bin sechsundzwanzig, habe meine Diplomarbeit abgegeben und eine Sinusitis. Ich suche die Wand nach dem Foto von Nadia und mir in Festkleidung ab, nehme es aus dem Rahmen und lege es in die Schublade der Kommode. Daneben zwei weitere Fotos von Nadia und mir. Wir, vor der Ägäis, der Wind bläst uns die Haare zur Seite, und wir, vor dem Tempel des Apollon mit Katzen, die sich neben uns sonnen, hinter uns das Blau des Himmels. Sie brauchen hier nicht mehr zu hängen.