Die Verführung des Elliot McBride - Jennifer Ashley - E-Book

Die Verführung des Elliot McBride E-Book

Jennifer Ashley

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Beschreibung

Juliana St. John wird am Tag ihrer Hochzeit am Traualtar von ihrem zukünftigen Ehemann stehen gelassen. Als sie wenig später ihrer ersten großen Liebe, dem Schotten Elliot McBride, wiederbegegnet, bittet sie ihn kurzerhand, sie zu heiraten. Elliot willigt ein, aber nach langer Gefangenschaft ist er nicht mehr der Mann, der er einst war. Kann Julianas Liebe die Schatten seiner Vergangenheit von ihm nehmen?

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Inhalt

Titel

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Danksagung

Die Autorin

Die Romane von Jennifer Ashley bei LYX

Impressum

JENNIFER ASHLEY

Die Verführung

des Elliot McBride

Roman

Ins Deutsche übertragen

von Susanne Kregeloh

Zu diesem Buch

Die schöne Juliana St. John hat es nicht leicht im Schatten ihrer skandalträchtigen Mutter und sehnt sich danach, endlich ein geregeltes Leben zu führen. Doch am Tag ihrer Hochzeit wartet sie vor dem Traualtar vergebens auf ihren Bräutigam. Zutiefst gedemütigt entflieht sie den Blicken der Hochzeitsgäste in eine kleine Kapelle – und begegnet dort ihrer heimlichen Jugendliebe Elliot McBride. Der gut aussehende Schotte willigt ein, Juliana zu heiraten, um sie vor Spott und Schande zu bewahren, und nimmt seine junge Braut mit in ein uraltes Gemäuer im tiefsten Schottland, weit fort von allem, was sie kennt. Elliot trägt seine hübsche Frau auf Händen – und doch weiß sie nicht, woran sie bei ihm ist. Auch Juliana merkt, was alle vermuten: Elliot hat während seiner Zeit in Indien Schreckliches erlebt und ist nicht mehr der Mann, der er einmal war. Über seine Erinnerungen spricht er nicht, und Julianas Liebe zu ihm wird auf eine harte Probe gestellt – Denn auch sie kann nicht mehr sagen, ob ihr Ehemann wahnsinnig ist, oder ob ihnen wirklich jemand nach dem Leben trachtet?

1

Schottland, 1884

Juliana St. Johns Bräutigam verspätete sich zu seiner eigenen Hochzeit bereits um eine Stunde. Während Juliana, wundervoll in Satin gekleidet und mit gelben Rosen geschmückt, dasaß und wartete, schwärmten diverse Freunde und Familienmitglieder durch das regengraue Edinburgh, um herauszufinden, was geschehen war.

Die Trauzeugin Ainsley Mackenzie versuchte, Juliana aufzumuntern, ebenso wie Julianas Stiefmutter Gemma, die diesen Versuch auf ihre ganz eigene Weise unternahm. Doch tief in ihrem Herzen wusste Juliana, dass irgendetwas Schreckliches vor sich ging.

Nachdem die Freunde des Bräutigams zurückgekehrt waren, verlegen und ohne Resultat, hatte Ainsley ihren Mann – einen hochgewachsenen Kerl von einem Schotten – gebeten, eigene Nachforschungen anzustellen. Und die erbrachten schließlich ein Ergebnis.

Lord Cameron Mackenzie öffnete die Tür zur Sakristei gerade weit genug, um den Kopf hindurchzustecken. »Ainsley«, sagte er nur und schloss die Tür sofort wieder.

Ainsley drückte Julianas Hand, die sich kalt wie Eis anfühlte. »Mach dir keine Sorgen, Juliana. Ich werde herausfinden, was geschehen ist.«

Julianas Stiefmutter Gemma – nur zehn Jahre älter als ihre Stieftochter – kochte vor Wut. Zwar sagte sie nichts, aber Juliana sah es in jeder ihrer Bewegungen. Gemma hatte Grant Barclay nie leiden und seine Mutter noch weniger ausstehen können.

Schon nach kurzer Zeit kehrte Ainsley zurück. »Juliana«, sagte sie sanft und streckte ihr die Hand hin. »Komm mit.«

Wenn jemand in diesem Ton sprach, folgten mit Gewissheit schreckliche Neuigkeiten. In einem Rascheln von Satin erhob sich Juliana. Gemma wollte ihr folgen, doch Ainsley hob die Hand. »Nur Juliana, denke ich.«

Gemma protestierte zwar, aber sie war nicht nur von ungezügeltem Temperament, sondern auch klug. Also nickte sie Juliana zu und drückte ihr die Hand. »Ich werde hier auf dich warten, Liebes.«

Auch Juliana verfügte durchaus über ein gewisses Temperament, doch als sie auf den Kirchvorplatz in den feinen Nieselregen hinausging, fühlte sie nichts als eine seltsame Taubheit. Sie war seit mehreren Jahren mit Grant verlobt. Die Heirat war immer so angenehm weit weg gewesen, dass sie es fast wie einen Schock empfunden hatte, als der Tag schließlich doch gekommen war. Und jetzt …

War Grant krank? Oder tot?

Dunst und leichter Regen hüllten die Stadt ein und verdeckten den Himmel. Ainsley führte Juliana über einen kleinen Hof, Schmutz spritzte auf Julianas Hochzeitsstaat und ihre weißen Stiefeletten mit den hohen Absätzen.

Sie betraten einen Laubengang, der von der Kirche wegführte, und gingen bis zu seinem Ende. Dem Himmel sei Dank, dass sich alle Gäste in der Kirche aufhielten, wartend und beobachtend und darüber spekulierend, was schiefgelaufen sein könnte.

Unter einem Arkadenbogen wartete Lord Cameron auf sie, ein breitschultriger Riese, der den Kilt in den Mackenzie-Farben trug. Als Ainsley und Juliana bei ihm ankamen, sah Cameron Juliana aus steinharten Augen an. »Ich habe ihn gefunden.«

Noch immer empfand Juliana nichts als Taubheit. Nichts von allem, was geschah, schien wirklich zu sein, weder Cameron noch der graue Himmel über der Kirche noch ihr Hochzeitskleid.

»Wo ist er?«, fragte sie.

Mit der kleinen silbernen Flasche in seiner Hand wies Cameron ihr die Richtung. »In einer Kutsche hinter der Kirche. Willst du mit ihm reden?«

»Natürlich will ich mit ihm reden. Ich werde ihn heiraten …«

Sie sah den Blick, den Ainsley und Cameron wechselten, erkannte das Aufblitzen von Zorn in Ainsleys Augen, in denen sich Camerons Wut widerspiegelte.

»Was ist los?« Juliana drückte Ainsleys Hand. »Sag es mir, bevor ich verrückt werde.«

Cameron antwortete, ehe Ainsley es tun konnte. »Barclay hat sich aus dem Staub gemacht«, sagte er ohne Umschweife. »Er hat geheiratet.«

Die Bögen der Arkade und die Kirche, massives Edinburgher Mauerwerk, schienen sich um Juliana zu drehen, aber nein, sie stand noch immer aufrecht da, Ainsley an ihrer Seite, und starrte Cameron Mackenzie an.

»Geheiratet.« Julianas Lippen fühlten sich steif an. »Aber er wird doch mich heiraten.«

Es musste das Letzte auf dieser Welt sein, was Lord Cameron heute hatte tun wollen: Julianas Bräutigam hinterherzujagen und Juliana mitzuteilen, dass der Mann mit einer anderen Frau durchgebrannt war. Unablässig starrte sie Cameron an, als würde er ihr etwas anderes sagen, wenn sie ihn nur lange genug ansah.

»Er hat gestern Nachmittag geheiratet«, sagte Cameron. »Und zwar die Frau, die ihm das Klavierspielen beigebracht hat.«

Das war verrückt. Es musste ein Scherz sein. »Mrs Mackinnon«, sagte Juliana unwillkürlich. Sie erinnerte sich an die stets schlicht gekleidete dunkelhaarige Frau. Sie war ihr einige Male bei Grants Mutter begegnet. »Sie ist Witwe.« Ein schluchzendes Lachen kam über ihre Lippen. »Aber jetzt wohl nicht mehr, wie es scheint.«

»Ich habe ihm gesagt, dass er zumindest den Anstand haben sollte, es dir selbst zu sagen.« Camerons Stimme klang rau. »Deshalb habe ich ihn hergebracht. Willst du mit ihm reden?«

»Nein«, wehrte Juliana rasch ab. »Nein.« Die Welt begann sich wieder um sie zu drehen.

Cameron drückte Juliana seine Taschenflasche in die Hand. »Trink das, Mädchen. Das macht den Schlag weniger hart.«

Eine anständige Lady trank keinen Alkohol, und Juliana war dazu erzogen worden, sehr anständig zu sein. Aber die Entwicklung der Ereignisse machte das Ganze zu einem höchst unanständigen Anlass.

Juliana nahm die Flasche und trank einige Tropfen des schottischen Whiskys. Er brannte ihr in der Kehle, und sie keuchte und schluckte, hustete und biss sich auf die Lippen, während Cameron die Flasche rettete.

Vielleicht hätte sie nicht davon trinken sollen. Denn was Cameron ihr eröffnet hatte, kam ihr jetzt zunehmend wirklicher vor.

Zweihundert Gäste warteten in der Kirche darauf, dass Juliana St. John und Grant Barclay getraut wurden, zweihundert Leute, denen man sagen musste, dass sie nach Hause gehen sollten. Zweihundert Geschenke, die zurückgegeben, zweihundert Entschuldigungen, die geschrieben werden mussten. Und die Zeitungen würden sich daran delektieren, so viel war gewiss.

Juliana schlug die Hände vors Gesicht. Sie liebte Grant nicht, aber sie hatte geglaubt, dass sie zumindest so etwas wie Freundschaft füreinander empfanden, gegenseitigen Respekt. Aber nicht einmal das … nicht einmal das hatte Grant ihr zugestanden.

»Was soll ich tun?«

Cameron steckte die Flasche in seine Jacke. »Wir werden dich nach Hause bringen. Ich habe meine Kutsche vorfahren lassen, sie wartet am Ende des Weges. Niemand wird dich sehen.«

Sie waren so verständnisvoll, Ainsley und Cameron – so ungemein verständnisvoll. Doch Juliana wollte kein Verständnis. Sie wollte um sich treten, wollte vor Wut auf jemanden einschlagen, nicht nur auf Grant, sondern auch auf sich selbst. Sie war sich ihrer Verlobung so sicher gewesen, fast selbstgefällig, so überzeugt, dass sie nicht Gefahr lief, eine alte Jungfer zu werden. Und nicht nur das. Sie hatte die Stabilität eines normalen Lebens gewollt, etwas, um das sie von Kindesbeinen an gekämpft hatte.

Ihre Zukunft war zu Staub zerfallen, der sichere Boden unter ihren Füßen weggerissen worden. Der Schock lähmte sie noch immer, aber sie spürte, dass ihm Selbstmitleid hart auf den Fersen folgen würde.

Als es sie plötzlich fröstelte, rieb sie sich die Arme. »Noch nicht. Bitte gebt mir einen Moment. Ich muss nur einen Moment allein sein.«

Ainsley schaute zum Kirchhof, der sich mit Gästen füllte, die die Kirche verließen. »Aber nicht dorthin. Den Weg hinunter ist eine kleine Kapelle. Wir werden dafür sorgen, dass dich dort niemand stört.«

»Gott segne dich, Ainsley.« Juliana konnte sich nicht dazu aufraffen, Ainsley zu umarmen, wie sie es verdient gehabt hätte.

Sie ließ sich von Ainsley zur Kapelle führen, und Cameron öffnete ihr die Tür. Cameron und Ainsley blieben zurück, als Juliana allein eintrat, die Tür fiel hinter ihr ins Schloss.

In der Kapelle war es kühl, schummrig und friedvoll. Juliana verharrte kurz vor dem ungeschmückten Altar und schaute hinauf zu dem schlichten Kreuz, das einsam und schmucklos darüberhing.

Grant, verheiratet. Mit Mrs Mackinnon.

Juliana dachte an die Kleinigkeiten, die sie in den vergangenen Monaten zwar bemerkt, denen sie aber keine Bedeutung zugemessen hatte – Grant und Mrs Mackinnon Seite an Seite am Klavier, wie sie einander anlächelten. Die Blicke. Grant, der Juliana nachdenklich anschaute, als wollte er über etwas Wichtiges mit ihr sprechen, und der dann stattdessen einen Scherz oder eine nichtssagende Bemerkung machte.

Jetzt wusste sie, was er hatte sagen wollen. Miss St. John, ich habe mich in meine Klavierlehrerin verliebt und möchte sie heiraten, nicht Sie.

Ein Skandal. Eine Demütigung.

Juliana ballte die Fäuste und wollte laut das Schicksal verfluchen, weil es ihr so hart mitspielte. Aber selbst in ihrem Zorn kam ihr Gotteslästerung in einer Kirche falsch vor.

Sie drehte sich um und betrat den Gang zwischen zwei Kirchenbänken, ihre Röcke bauschten sich. »Verdammt!«, sagte sie und ließ sich auf der Bank nieder.

Auf etwas, das sich bewegte. Ein Mann, der einen Kilt trug, ein muskulöser Körper, der sich auf starken Ellbogen aufstützte. Ein Mann, der beim Erwachen feststellte, dass hundertzwanzig Pfund Frau in einem Hochzeitskleid auf seinem Oberschenkel saßen.

»Was zum Teufel?« Augen vom selben Grau wie Ainsleys blitzten in einem Gesicht auf, das noch zu braun gebrannt war, als dass er schon lange wieder in Schottland sein konnte.

Elliot McBride kannte offensichtlich keine Skrupel, in einer Kirche zu fluchen. Oder in einer zu schlafen.

Rasch erhob sich Juliana, blieb aber wie angewurzelt vor der Kirchenbank stehen. Sie starrte auf Elliot herunter, der sich hochhievte und sich in die Ecke der Bank lehnte, die Füße in den hohen Stiefeln auf der Bank.

»Elliot?«, fragte Juliana atemlos. »Was tust du hier?«

»Ich versuche, etwas Ruhe zu finden«, sagte er. »Sind verdammt zu viele Menschen hier.«

»Ich meine, hier in Schottland. Ich dachte, du bist in Indien. Ainsley sagte, du seiest in Indien.«

Elliot McBride war einer von Ainsleys zahlreichen Brüdern, ein Mann, in den sich die junge Juliana vor hundert Jahren unsterblich verliebt hatte. Er war nach Indien gegangen, um sein Glück zu machen, und seitdem hatte sie ihn nicht mehr gesehen.

Elliot rieb sich mit einer Hand über das Gesicht. Sein Kinn war stoppelig, obschon er nach Seife und Wasser roch, als habe er vor Kurzem ein Bad genommen. »Ich hab beschlossen, nach Hause zu kommen.«

Ein Mann knapper Antworten, auf diese Art ließ sich Elliot wohl am besten beschreiben, der ungezähmte McBride. Dazu hochgewachsen und kräftig und von einer Präsenz, die Juliana den Atem raubte. So war es schon gewesen, als sie noch ein Kind und er Ainsleys ungestümer Bruder gewesen war, und auch, als sie eine stolze Debütantin gewesen und er in seiner Paradeuniform zu ihrem Ball gekommen war, mit dem sie in die Gesellschaft eingeführt wurde.

Juliana ließ sich wieder auf die Kirchenbank sinken, an deren anderem Ende, neben seinen Füßen. Hoch oben im Kirchturm schlugen die Glocken zur vollen Stunde

»Solltest du jetzt nicht in der Kirche sein, Mädchen?«, fragte Elliot. Er zog eine Flasche aus seiner Jacke und trank einen Schluck, aber im Gegensatz zu Cameron bot er sie ihr nicht an. »Um zu heiraten … diesen … wie war doch noch gleich sein Name?«

»Grant Barclay. Ich sollte Mrs Grant Barclay werden.«

Die Flasche hielt auf halbem Wege zu seinem Mund inne. »Sollte werden? Du hast diesen bleichgesichtigen Bastard also in die Wüste geschickt?«

»Nein. Wie es aussieht, ist er gestern mit seiner Klavierlehrerin durchgebrannt.«

Es war alles zu viel. Ein seltsames Lachen wallte in ihr auf und drängte sich über ihre Lippen. Es war kein hysterisches Lachen, sondern ein tief empfundenes, unbezwingbares Lachen, das sie nicht zurückhalten konnte.

Elliot rührte sich nicht, wie ein Tier, das abwägte, ob es angreifen oder fliehen sollte. Armer Elliot. Was sollte er von einer Frau halten, die ihn aus dem Schlaf gerissen hatte, indem sie sich auf ihn gesetzt hatte, und die dann unbeherrscht lachte, weil sie von ihrem Verlobten sitzen gelassen worden war?

Julianas Lachen verebbte, und sie fuhr sich mit den Fingerspitzen über die Augen. Ihr dunkelrotes Haar hatte sich gelöst und fiel ihr auf die Schultern, die gelben Rosen, die Ainsley hineingewunden hatte, purzelten ihr in den Schoß. »Dumme Blumen.«

Elliot saß wie erstarrt da, seine Hand umklammerte die Rückenlehne der Bank so fest, dass er sich wunderte, dass das Holz nicht splitterte. Er hatte Juliana beobachtet, als sie gelacht hatte, als ihr das herrliche Haar auf die nackten Schultern gefallen war. Sie lächelte, auch wenn Tränen in ihren blauen Augen schimmerten und die Hände, mit denen sie die Blumen von ihrem Schoß sammelte, zitterten.

Elliot wollte die Arme um sie schließen und sie festhalten. Was soll’s, wollte er sagen. Du bist ohne diesen Idioten besser dran. Ein noch stärkerer Instinkt trieb ihn, loszugehen, diesen Grant Barclay aufzutreiben und ihn dafür zu erschießen, dass er Juliana wehgetan hatte.

Aber Elliot wusste, dass er es nicht dabei belassen würde, sie zu trösten, wenn er den Fehler machte, Juliana jetzt zu berühren. Er würde ihren Kopf zurückneigen und ihre Lippen küssen, wie er es auf ihrem Debütball getan hatte, an dem Abend, als sie ihm diesen einen Kuss gewährt hatte.

Sie waren beide achtzehn gewesen. Bevor Elliot in die Hölle gegangen und zurückgekehrt war. Damals war jener unschuldige Kuss genug für ihn gewesen. Dieses Mal würde er nicht genug sein, bei Weitem nicht.

Er würde ihren schlanken Hals küssen, ihre Kehle bis hinunter zu ihrem Busen, er würde mit der feinen Spitze spielen, die ihr Dekolleté einrahmte, und federleichte Küsse auf ihre Schultern hauchen. Dann würde seine Zunge den Weg wieder hinauf zu ihren vollen Lippen finden, darüberstreichen und sie dazu bringen, ihn einzulassen.

Er würde sie küssen, lange und bedachtsam, würde die Tugend ihres Mundes kosten, während er sie in den Armen hielt und nicht mehr losließ.

Elliot würde alles nehmen wollen, weil nur Gott allein wusste, wann er wieder die Gelegenheit dazu haben würde. Ein gebrochener Mann lernte, so viel zu genießen, wie er nur konnte, wenn sich die Gelegenheit dazu bot.

»Es wird mich auf ewig verfolgen«, sagte Juliana. »Die arme Juliana St. John. Weißt du noch? Sie stand in ihrem Hochzeitskleid in der Kirche, das arme Ding.«

Was sagte ein Mann einer Frau, die sich in dieser Lage befand? Elliot wünschte sich die Beredsamkeit seines Bruders, der Anwalt war und sein Geld damit verdiente, im Gerichtssaal zu stehen und ausgefeilte Plädoyers zu halten. Elliot konnte immer nur die Wahrheit sagen.

»Lass die Leute reden, zum Teufel mit ihnen allen.«

Juliana lächelte ihn traurig an. »Die Welt nimmt es sehr genau mit dem, was die Leute sagen, mein lieber Elliot. Vielleicht ist das ja in Indien anders.«

Lieber Gott, wie konnte jemand das denken? »Die Regeln dort sind verdammt streng. Man kann sterben – oder jemanden töten –, wenn man sie nicht beachtet.«

Juliana blinzelte. »Oh. Nun gut, ich gebe zu, dass das schlimmer zu sein scheint als Leute, die von mir erwarten, dass ich mich für den Rest meines Lebens beschämt verkrieche und Socken stricke.«

»Warum zum Teufel solltest du Socken stricken? Tu, was dir gefällt.«

»Sehr optimistisch von dir. Ich will nicht übertreiben, aber ich fürchte, man wird lange über mich reden. Und ich bin jetzt eine alte Jungfer von dreißig Jahren, kein naives Mädchen mehr. Ich weiß, dass Frauen heutzutage, außer zu heiraten, alles Mögliche machen, aber ich bin zu alt, um die Universität zu besuchen, und selbst wenn ich es täte, mein Vater würde vor Scham sterben, wäre ich ein solcher Blaustrumpf. Ich wurde dazu erzogen, Tee einzuschenken, Feste zu organisieren und der Frau des Vikars die richtigen Worte zu sagen.«

Was sie sprach, glitt über Elliot hinweg, ohne dass er dessen Inhalt wahrnahm, ihre melodiöse Stimme klang sanft und beruhigend. Er lehnte sich zurück und ließ sie weiterreden, als ihm klar wurde, dass er sich seit Langem nicht mehr so entspannt gefühlt hatte.

Könnte ich ihr immer zuhören, könnte ich des Nachts ihre Stimme hören, ich könnte wieder gesund werden.

Nein, nichts würde gut sein, niemals mehr, nicht nach den schrecklichen Dingen, die er gesehen und getan hatte und die ihm angetan worden waren. Er hatte gedacht, es würde aufhören, hätte er sich erst einmal nach Schottland zurückgezogen. Die Albträume, das immer wiederkehrende Entsetzen, die undurchdringliche Finsternis, in der ihm die verstreichende Zeit nicht bewusst war. Aber das war nicht geschehen, und ihm war klar geworden, dass er den nächsten Schritt seines Planes in Angriff nehmen musste.

Juliana sah ihn an, ihre blauen Augen waren klar wie ein See im Sommer. Ihre Schönheit, die Erinnerung an diese Augen, hatte ihn in der Finsternis lange am Leben gehalten.

Manchmal hatte er geträumt, dass sie bei ihm wäre, ihn zu wecken versuchte und ihre süße Stimme an sein Ohr drang. Komm jetzt, Elliot. Du musst aufwachen. Mein Drachen hat sich in einem Baum verfangen, und nur du bist groß genug, um ihn für mich herunterzuholen.

Er erinnerte sich an jenen Tag, an dem ihm zum ersten Mal bewusst geworden war, was er für Juliana empfand – sie mussten beide um die siebzehn gewesen sein. Sie hatte den Papierdrachen eines Freundes ihres Vaters steigen lassen, und Elliot war gekommen, um zuzusehen. Er hatte für sie den Drachen aus einem Baum geholt und zum Lohn ein Lächeln und einen leichten Kuss auf die Wange bekommen. Von jenem Tag an war er verloren gewesen.

»Elliot, bist du wach?«

Seine Augen hatten sich bei den Erinnerungen geschlossen, und jetzt vermischte sich Julianas Stimme mit den geträumten Bildern der Vergangenheit. Er öffnete ein klein wenig die Augen. »Ich denke schon.«

»Du hast mir nicht zugehört, nicht wahr?« Ihr Gesicht schimmerte rosig im Dämmerlicht.

»Tut mir leid, Mädchen. Ich bin ein bisschen betrunken.«

»Gut. Nicht, dass du betrunken bist, aber dass du mir nicht zugehört hast. Vergiss es. Es war eine dumme Idee.«

Er öffnete die Augen weiter, und sein Verstand schlug Alarm. Was zum Teufel hatte er nicht mitbekommen?

Die Finsternis machte das manchmal mit ihm. Elliot konnte lange Phasen eines Gesprächs an sich vorbeigehen lassen, ohne dass ihm dies gegenwärtig war. Es wurde ihm erst bewusst, wenn die Leute auf seine Antwort warteten oder sich wunderten, was denn mit ihm los sei. Elliot hatte beschlossen, dass die beste Lösung darin bestand, Menschen und Gespräche zu meiden.

Bei Juliana jedoch wollte er wissen, was sie gesagt hatte. »Sag es mir noch einmal.«

»Ich denke nicht, dass ich das tun sollte. Wäre es eine großartige Idee, wärst du sofort darauf angesprungen. Aber so …«

»Juliana, ich beschwöre dich … ich war nur ein bisschen weggedämmert. Ich will deine großartige Idee hören.«

»Nein, willst du nicht.«

Frauen. Selbst die eine, in die er seit Jahren heimlich verliebt war, konnte ihn in den Wahnsinn treiben.

Elliot richtete sich auf, setzte die Füße auf den Boden und rückte näher zu Juliana. Er streckte den Arm auf der Lehne der Kirchenbank aus, ohne Juliana zu berühren, war ihr aber nah genug, ihre Wärme zu spüren. »Juliana, sag es mir, oder ich werde dich kitzeln.«

»Ich bin keine acht mehr, Elliot McBride.«

Fast hätte er über ihren hochmütigen Ton gelacht. »Ich auch nicht. Wenn ich kitzeln sage, meine ich damit nicht mehr dasselbe wie damals.« Er berührte ihre nackte Schulter mit einer Fingerspitze.

Ein Fehler. Die Berührung sandte einen Hitzestoß hinauf in seinen Arm und direkt in sein Herz.

Ihre Lippen waren seinen ganz nah, voll und reif. Sie hatte kaum sichtbare Sommersprossen auf der Nase, zehn an der Zahl. Sie hatte sie schon immer gehabt und schon immer versucht, sie loszuwerden, aber für Elliot war jede einzelne küssenswert.

Juliana wandte den Blick ab, ihre Stimme war nur ein gewisperter Hauch. »Ich habe dich gefragt, Elliot, ob du mich heiraten würdest.«

2

Elliot saß reglos da, seine Augen waren so grau wie der Himmel im Winter und ebenso kalt.

Juliana war bewusst geworden, dass sie bei ihrer Frage an Elliot, den stets zu einer Neckerei aufgelegten jungen Mann mit den freundlichen Augen gedacht hatte. Dieser Elliot McBride hier war ein Fremder. Sein helles Haar war kurz geschnitten, die Gesichtszüge wirkten hart, und feine Narben überzogen eine seiner Wangen.

Dieser Elliot hatte andere Männer verfolgt und getötet, war gefangen genommen und so lange in ein Gefängnis gesperrt worden, dass sie alle seinen Tod befürchtet hatten. Die zehn Monate, in denen er als vermisst gegolten hatte, waren die schlimmsten in Julianas Leben gewesen. Danach war er in das Haus seines Bruders zurückgekehrt, um zu genesen, aber Juliana hatte ihn nicht gesehen. Elliot hatte niemanden besucht, er hatte keine Besucher empfangen und war nach einer Weile nach Indien zurückgekehrt.

»Ich habe doch gesagt, dass es eine dumme Idee ist«, sagte Juliana rasch. »Du siehst ein wenig grün im Gesicht aus, Elliot. Ich wollte dich nicht zu Tode erschrecken. Schlummere weiter.«

Elliots Blick glitt zu dem ungeschmückten Altar und zurück zu Juliana, seine Finger in ihrem Rücken fühlten sich in der Kühle der Kapelle heiß an. »Gar nicht dumm. Ich denke, es ist eine fantastische Idee.«

»Ehrlich, Elliot, tu so, als hätte ich nichts gesagt. Du hast mich beim ersten Mal auch nicht gehört.«

Elliot legte ihr die Hand auf die Schulter und drückte sie. Seine Kraft schickte Wärme durch Julianas viel zu kalten Körper. »Ich kann aber nicht so tun, als hätte ich dich beim zweiten Mal nicht gehört, Mädchen.«

»Nun, dann nehme ich die Frage zurück. Ich werde jetzt in das Haus meines Vaters zurückkehren und damit anfangen, die Geschenke zurückzuschicken. Ich habe akribisch alles notiert, wie ich es immer tue. Gemma hat mich wegen meiner Listen und Notizen ausgelacht, aber jetzt wird sie mir dafür dankbar sein.«

Ihr Lächeln war so reizend, ihre Augen so strahlend, und Elliots Herz schlug so hart, dass es ihn überraschte, dass es in der Stille nicht widerhallte.

Er wollte aus der Kirchenbank springen und vor Freude schreien, er wollte Juliana zurück in die Kirche schleifen und dem Geistlichen befehlen, mit der Zeremonie zu beginnen. Seine Familie und die Julianas waren Mitglieder dieser Kirchengemeinde, sie waren beide im heiratsfähigen Alter, und es würde keine Einwände geben. Er kannte Leute, die rasch eine neue Lizenz erteilen konnten, die Sache wäre schnell erledigt.

Elliot war heute ihretwegen nach Edinburgh gekommen – um den Plan in die Tat umzusetzen, den er im Sinn hatte. Die endlose Warterei in der Kirche hatte angefangen, seine Nerven zu strapazieren, und um einen Moment allein zu sein, hatte er sich in die Kapelle zurückgezogen. Einige Schlucke Whisky, und sein müder Körper – er schlief des Nachts niemals gut – war vom Schlaf übermannt worden.

Um vom wundervollen Gewicht Julianas in all ihrem Satin und Tüll, dem Duft von Rosen und dem Klang ihrer Stimme geweckt zu werden. Ja. Dies war richtig.

»Ich werde nicht nach Indien zurückgehen«, sagte er. »Ich habe ein Haus gekauft, den alten McGregor-Besitz etwa dreißig Meilen nördlich von Aberdeen. McGregor ist mein Großonkel mütterlicherseits und brauchte ein wenig Bargeld. Du kannst ebenso gut mich heiraten und dich um das Anwesen kümmern.«

Juliana starrte ihn noch immer an. Ihre Lippen waren leicht geöffnet und weckten in ihm den Wunsch, von der Feuchtigkeit dazwischen zu kosten. Wenn sie Nein sagte oder dass sie warten wolle, hatte er weitere Pläne in der Hinterhand. Elliot mochte verrückt sein, aber er hatte vor, sehr, sehr überzeugend zu sein.

»Das ist ziemlich weit weg«, sagte Juliana. Ihre Stimme klang matt.

»Aye.« Die Züge mochten heutzutage häufiger fahren, nichtsdestotrotz lag der Norden des Landes weitab vom Schuss. Er war ein friedvoller Rückzugsort von Lärm und Geschrei, und Elliot brauchte Frieden.

In Julianas blauen Augen lag Beklommenheit. Angesichts ihrer Zweifel drohte die vertraute Mattigkeit in Elliot wieder aufzuwallen. Sie versuchte, ihn in die Benommenheit zurückzuwerfen, wollte, dass er sich gegen Julianas satinweiche Wärme lehnte und ihren Duft einatmete …

»Bist du dir sicher, Elliot?« Julianas Stimme ließ ihn wieder aufwachen.

Natürlich war er sicher. Elliot brauchte sie bei sich, damit er stark sein konnte und es ihm gut ging.

Er zuckte mit den Schultern, täuschte Lässigkeit vor. »Ich habe dir doch gesagt, dass es eine fantastische Idee ist. Jeder will eine Hochzeit. Du bist im Hochzeitsstaat, und ich werde nicht lange brauchen, um auch in vollem Glanz dazustehen.«

Ihre Augen wurden groß. »Du meinst, du willst es heute tun?«

»Warum nicht? Deine Gäste sind anwesend, der Geistliche wartet.«

Juliana schürzte die Lippen, und der Anblick heizte sein Blut an. »Es würde ein absoluter Skandal sein.«

»Und wenn schon. Während die Leute darüber reden, werden wir auf unserem Anwesen sein, weit fort von hier.«

Juliana zögerte, dann nahm ihr Lächeln etwas Mutwilliges an. »In Ordnung. Ganz wie du sagst – warum eigentlich nicht?«

Elliots Herz hämmerte, der Jubel, der sich in ihm erhob, ließ ihm fast den Atem stocken. Er musste dies zu Ende bringen, sie nach Hause bringen, mit ihr zusammen sein.

Elliot zog Juliana auf die Füße und führte sie aus der Kirchenbank. Juliana stolperte leicht in ihren hochhackigen Schuhen, doch er stützte sie mit seiner starken Hand. Ihre Nähe, ihren weichen Arm unter seinen vernarbten Fingern zu spüren, drängte ihn weiter. Er musste diesen Handel besiegeln, ehe die Finsternis zurückkam, und damit meinte er nicht die Dunkelheit der Nacht.

An der Tür veranlasste Elliot Juliana, stehen zu bleiben, sein Griff um ihren Arm war viel zu fest, aber er schaffte es nicht, ihn zu lockern. »Bleib bei meiner Schwester, während ich dem Geistlichen erkläre, warum der Bräutigam ein anderer Mann sein wird als vorgesehen. Wirst du bereit sein?«

»Ja.« Juliana befeuchtete ihre Lippen. »Natürlich.«

»Gut.«

Sie streckte die Hand nach dem Türgriff aus, aber Elliot zog sie zurück. »Warte.«

Sein Arm, den er um sie legte, fühlte sich so hart an wie der Ast eines Baumes. Er zog sie näher. So nahe, dass sie das Muster der weißen Narben auf seiner Wange sah, die dünnen Linien, die auf dem Wangenknochen begannen und unter dem Haaransatz endeten. Schnitte, die mit einer fein gezackten Klinge gemacht worden waren.

Gleich würde Elliot sie küssen. Juliana hielt den Atem an, während sie auf die kühle Berührung seiner Lippen wartete, den Druck seines Mundes. Sie hatte viele Male von seinem Kuss geträumt, nach diesem einen, den er ihr vor so langer Zeit gestohlen hatte.

Doch er tat es nicht. Stattdessen zog Elliot ihre Hand an seine Lippen, drehte sie herum und drückte einen langen, brennenden Kuss auf ihre Handinnenfläche. Jegliche Enttäuschung löste sich in der Hitze auf, die ihren Arm hinaufflutete, und in dem sündigen Feuer, das ihren Körper entflammte.

Elliot öffnete die Tür der Kapelle, führte Juliana hinaus in den kalten Nebel und schloss die Tür hinter ihnen. Juliana stand wieder der besorgten Ainsley gegenüber, dem massigen Lord Cameron und ihrer Stiefmutter Gemma, die gekommen war, um nachzusehen, was aus ihnen allen geworden war.

So kam es, dass Juliana St. John eine Stunde später Elliot McBride heiratete, in der Kirche, in der sie am selben Tag eigentlich Mr Barclay hatte ehelichen sollen.

Die Gäste beobachteten entweder schockiert oder erfreut, wie Elliot, in einem formellen schwarzen Jackett und dem Kilt in den Farben der McBrides, neben Juliana stand und sein Ehegelöbnis ablegte. Als Julianas Vater ihre Hand in Elliots legte, schloss Elliot seine Hand mit hartem Griff darum, den er nicht zu lockern bereit war.

Der Gottesdienst war kurz und schlicht. Ainsley hatte erneut Rosen in Julianas Haar gewunden, und dank Ainsley und Gemma war ihr Brautstrauß noch frisch und wies einen Zweig Heide auf, der Glück bringen sollte.

Elliot hielt Julianas Hand, ohne sie auch nur einmal loszulassen, während der Geistliche die Zeremonie abhielt, und gab sie auch nicht frei, nachdem er ihr den Ehering auf den Finger gesteckt hatte. Sie hatten sich die Ringe von Elliots Bruder Patrick und dessen Frau Rona ausborgen müssen. Ronas Ring war Juliana ein wenig zu weit, und sie krümmte die Finger, damit sie ihn nicht verlor.

Endlich erklärte der Geistliche sie zu Mann und Frau. Elliot drehte Juliana zu sich, hob ihr Kinn und küsste sie.

Es war ein besitzergreifender Kuss. Ein schottischer Laird mochte in alten Zeiten seine eroberte Braut auf diese Weise geküsst haben, und Elliot war gar nicht so viele Generationen von jenen Lairds aus vergangenen Tagen entfernt.

Nach dem Kuss hob er den Kopf und schaute auf sie herunter, seine Hände lagen fest auf ihren Armen, in den grauen Augen leuchtete Triumph. Und Juliana war verheiratet.

Einige Stunden später, während der Hochzeitsfeier im Stadthaus der St. Johns – Gemma hatte keinen Grund gesehen, alle Vorbereitungen für die Katz gewesen sein zu lassen –, floh Juliana mit der Entschuldigung, die Toilette aufsuchen zu müssen, aus den von Lachen erfüllten Räumen und vor den kritischen Fragen ihrer Freundinnen.

Als sie auf einen leeren Korridor trat, atmete sie erleichtert auf. Sie war froh, dass die Gäste das Bankett genossen, das sie und Gemma bis ins kleinste Detail vorbereitet hatten, aber all die Glückwünsche und Fragen belasteten sie zusehends. Was sie getan hatte, würde noch für endlos viele Tage das Gesprächsthema sein, und bereits der erste davon war anstrengend.

Eine kräftige Hand legte sich ihr auf die Schulter, und Juliana unterdrückte einen erschrockenen Aufschrei. Elliot legte seinen Finger auf ihre Lippen, beugte sich herunter und küsste sie auf die Wange. »Zeit zu gehen«, sagte er.

Auch Juliana wollte gehen – die Unruhe griff nach ihr wie ein Fieber –, doch ihr Mund formte die korrekten Worte: »Das wäre ein wenig rücksichtslos, nicht wahr? Meine Stiefmutter mit all dem Trubel allein zu lassen.«

Elliot strich über ihren Arm und verschränkte seine Finger mit ihren. »Willst du nach Hause, Juliana?«

Sie schloss die Augen, atmete in seine Wärme. »Ja.«

»Dann gehen wir.«

Ohne weiteren Protest abzuwarten, führte Elliot sie die Dienstbotentreppe hinunter und durch die Küche zur Hintertür, wo ein Inder mit Turban und in weißer Kleidung mit Julianas Sommermantel und zwei Koffern auf sie wartete. Wortlos half der Inder Juliana in ihren Mantel, öffnete ebenso schweigsam die Tür und führte sie aus dem Haus.

Die Reise zu Julianas neuem Zuhause dauerte lange. Sie bestiegen einen Zug, der sie langsam in den Nordwesten brachte, mitten ins Herz der Highlands. In einem Privatabteil war die Frau des indischen Dieners Juliana dabei behilflich, das Hochzeitskleid abzulegen und gegen ein Reisekostüm zu tauschen. Es stellte sich heraus, dass genau die richtige Reisekleidung in ihren Koffer gepackt worden war – Ainsley und Gemma hatten sich wahrlich bis zuletzt um sie gekümmert.

Während der Fahrt zerriss ein starker Wind die Wolkendecke, und die Sonne tauchte auf, um die Welt in Wärme und glitzernden Regentropfen zu baden. Der Hochsommer stand bevor, was so weit im Norden bedeutete, dass es bis in die Nacht hinein hell bleiben würde.

In Stirling stiegen sie in einen Zug Richtung Küste, der nördlich an Dundee vorbei nach Aberdeen fuhr, wo sie erneut umstiegen, diesmal in einen Zug einer kleineren Bahnlinie. Schließlich erreichten sie ihr Ziel: den winzigen Bahnhof des Dorfes Highforth, das dreißig Meilen nördlich von Aberdeen lag, eingebettet zwischen Meer und Bergen. Das Licht der späten Nachmittagssonne spiegelte sich im Osten und Norden auf der See und hob im Westen die Silhouette der Berge hervor.

Der Bahnhof bestand lediglich aus einem kleinen Gebäude neben den Gleisen, und der Bahnsteig war so kurz, dass immer nur die Fahrgäste eines einzigen Waggons aussteigen konnten. Doch heute waren Elliot und seine Begleiter die einzigen Reisenden.

Elliot machte sich auf die Suche nach dem Bahnhofsvorsteher und ließ seinen Diener und dessen Familie allein, die sich wie bunte Schmetterlinge um Juliana scharten. Ein Hochlandwind blies über den leeren Bahnsteig, wirbelte die farbenfrohe indische Seide auf, die beigefarbenen Röcke von Julianas Reisekostüm und Elliots Plaid in dem kräftigen Grün und Blau der McBrides.

Der Diener, so hatte Juliana während der Reise erfahren, hieß Mahindar, und er hatte seine Frau Channan, seine Mutter, seine Schwägerin und ein kleines Kind, das zu der Schwägerin zu gehören schien, aus Indien mitgebracht.

Mahindars Mutter steckte sich gelassen das seidene Kopftuch fest und sah weder nach links noch nach rechts, während sie auf Elliots Rückkehr warteten. Mahindars Frau Channan, deren rundliche Gestalt von dem engen Rock und dem Seidenstoff, der ihren Körper umhüllte, noch betont wurde, sah sich mit größerem Interesse um. Channans jüngere Schwester – ihre Halbschwester, wenn Juliana das richtig verstanden hatte – hielt das kleine Mädchen an der Hand und stand dicht bei Channan.

Nur Mahindar sprach Englisch, doch Channan, so hatte er Juliana stolz mitgeteilt, war dabei, es zu lernen. Channans verwitwete Schwester sprach nur wenige Worte Englisch, seine Mutter war dieser Sprache gar nicht mächtig.

Elliot, in seinem Kilt, den Stiefeln und der sich blähenden Jacke, war der Einzige von ihnen allen, der aussah, als gehörte er an diesen wilden Ort. Während er in Indien gelebt hatte, waren Juliana Geschichten über ihn zu Ohren gekommen: Er habe sich zu sehr der einheimischen Bevölkerung angenähert, sagten die Leute und rügten diese übermäßige Anpassung aufs Schärfste. Elliot hatte indisches Essen gegessen, indische Kleidung getragen und sich sogar mit indischen Frauen eingelassen, wie hinter vorgehaltener Hand erzählt wurde. Er hatte so viel Zeit in der Sonne verbracht, dass seine Haut braungebrannt war und er kaum noch schottisch aussah.

Als Elliot zu den Wartenden zurückkehrte, spielte der Wind mit seinem Kilt. Auch wenn sich Elliot in Indien den Einheimischen angepasst haben mochte, war er jedenfalls in seiner Heimat ganz zu schottischen Gewohnheiten zurückgekehrt.

»Sie haben keinen Wagen«, verkündete er, klang aber nicht sonderlich besorgt. »Vom Haus kommt uns eine Kutsche abholen, aber sie wird nicht genügend Platz für alle haben. Mahindar, Sie und Ihre Familie werden hier warten müssen, bis der Wagen zurückkommt.«

Mahindar nickte zustimmend. Auch seine Mutter sah nicht bekümmert aus, nachdem Mahindar Elliots Worte übersetzt hatte, und sie wandte sich um und betrachtete die Berge, den Himmel und die Ansammlung von Gebäuden, die das Dorf bildeten.

Channans Schwester jedoch – Nandita – sagte etwas mit schreckerfüllter Stimme, als sie verstanden hatte, dass sie für eine Weile hier zurückgelassen werden würden. Sie klammerte sich zitternd an Channan, die dunklen Augen weit aufgerissen.

»Sie hat Angst, dass Soldaten kommen und uns mitnehmen werden, wenn wir hierbleiben«, erklärte Mahindar. »Ihrem Mann ist es so ergangen.«

»Oh, das arme Ding«, rief Juliana. »Mahindar, bitte versichern Sie ihr, dass solche Dinge in Schottland nicht geschehen.«

»Ich habe es versucht«, entgegnete Mahindar in einem Tonfall lang geübter Geduld. »Sie begreift es nicht. Aber wir sind Fremde hier, und sie kann das nicht wissen.«

Juliana streckte Nandita die Hand hin. »Sie kann mit uns kommen. Wir werden zusammenrücken. Wir werden auch das kleine Mädchen mitnehmen. Komm, Kleine. Ich werde auf dich aufpassen.«

Mahindar übersetzte rasch. Nandita behagte es jedoch nicht, ihre Familie zurückzulassen, und sie begann zu weinen.

Mahindars Mutter fauchte ihr zwei Worte zu. Nandita ließ Channans Hand los und ging zu Juliana, wobei sie das Kind mit sich zog. Noch immer liefen ihr stumme Tränen über das Gesicht.

Das Kind, ein kleines Mädchen von vielleicht drei Jahren, schien unbeeindruckt davon zu sein. Sie lächelte Juliana bewundernd an, wobei sie eine Zahnlücke enthüllte, und sah interessiert zu, wie eine einspännige Kutsche herangefahren kam.

Der Dogcart wurde von einem jungen Burschen mit leuchtend rotem Haar und sommersprossenübersätem Gesicht gelenkt. Er starrte mit unverhohlener Neugier auf Juliana und Mahindars Familie, während die Kutsche einen halben Meter von Elliot entfernt zum Stehen kam.

Elliot half Juliana und Nandita auf die schmalen Sitze des Einspänners, dann nahm er auf der hinteren Bank Platz, wo während der Fahrt der meiste Straßenschmutz landete. Nandita musste die Hand des kleinen Mädchens loslassen, um mit zitternden Fingern ihre vom Wind durcheinandergewirbelten Schleier zu richten, und Juliana übernahm das Kind.

Es setzte sich glücklich auf ihren Schoß, und Juliana schloss die Arme um die Kleine. Das Mädchen hatte dunkles Haar und braune Augen, und ihr Körper war warm in Julianas Armen.

»Wie ist ihr Name?«, fragte Juliana Elliot.

Elliot schloss die hintere Tür des Gefährts. »Priti.«

»Priti.« Juliana sprach den Namen nach, und Priti sah sie entzückt an. »Er passt zu ihr, sie ist sehr hübsch.«

»Ja, das ist sie«, bestätigte Elliot ernst.

Der Dogcart ruckte an. Mahindar hob grüßend die Hand, während seine Frau und seine Mutter weiterhin ihre neue Umgebung betrachteten.

Wie musste dieser Ort auf sie wirken? Juliana hatte Fotografien und Gemälde von Indien gesehen, und dieser abgelegene Winkel Schottlands musste sehr fremd für sie sein – dunkle Wälder, die sich hohe Berghänge hinaufzogen, Äcker zwischen den Bergen und dem Meer. Kein Dschungel, keine träge dahinfließenden Flüsse, Elefanten und Tiger.

Priti sah sich mit sehr viel mehr Interesse um als Nandita. Die Haut des Kindes war nicht so dunkel wie Nanditas, und Strähnen von hellerem Braun durchzogen ihr schwarzes Haar. Juliana fragte sich, ob der Vater des Mädchens Europäer gewesen war und ob das der Grund war, warum Nandita zugestimmt hatte, Indien mit ihrer Schwester und Mahindar zu verlassen. Wenn der europäische Ehemann tot war, dann hatte Nandita vielleicht niemanden außer Channan, an den sie sich hatte wenden können.

Aber Mahindar hatte gesagt, dass Nanditas Ehemann von britischen Soldaten verhaftet worden war. Wie verwirrend. Juliana würde die ganze Geschichte später herausfinden müssen.

Die Kutsche holperte eine steile Schotterstraße hinauf. Als sie die Ausläufer der Berge erreichten, bestand die Straße nur noch aus festgefahrenem Erdboden und wurde zu beiden Seiten von Felsbrocken, Heidekraut und Gras gesäumt. Im Osten erstreckte sich die See, vom Sonnenlicht geküsst und atemberaubend.

Der rothaarige Bursche, der sich als Hamish McIver vorgestellt hatte, unterhielt sich während der Fahrt über die Schulter mit ihnen.

»Das Dorf liegt dort unten, Mylady.« Hamish wandte sich auf dem Kutschbock leicht herum und wies mit der langen Peitsche die Richtung. »Es bietet nicht viel, aber für uns genügt es. Es gibt natürlich einen Pub und eine Brauerei, die früher dem alten McGregor gehörte. Er hat sie vor ein paar Jahren an irgendwelche Engländer verkauft, und Mr McBride hat das Haus gekauft. Die McGregors leben hier schon seit sechshundert Jahren, aber jetzt sind sie pleite, und jeder weiß das.«

Die Kutsche rutschte in den Matsch neben der Fahrspur, und Nandita schrie erschrocken auf.

»Achten Sie auf die Straße, Junge«, mahnte Elliot ruhig.

Unbeeindruckt fasste Hamish die Zügel fester. »Meine Großtante, die alte Mrs Rossmoran, wohnt dort unten.« Er deutete mit einem Kopfnicken auf ein Tor zwischen den Bäumen, das leicht durchhing und halb offen stand. »Sie ist nicht mehr ganz richtig im Kopf und hat nur noch meine Cousine, ihre Enkelin, die sich um sie kümmert. Sie wird erwarten, dass Sie sie besuchen, Mylady, jetzt, da sie weiß, dass der neue Laird sich eine Frau genommen hat.«

Juliana starrte auf das Tor, das hinter ihnen verschwand. »Du meine Güte, woher weiß sie das? Wir haben erst heute Morgen geheiratet.«

Hamish grinste sie über die Schulter an. »Es kam über den Telegrafen des Bahnhofsvorstehers. Und dessen Sohn hat es mir erzählt, als wir uns im Pub getroffen haben. Wir mussten doch auf Ihre Gesundheit trinken, bitte um Verzeihung, Mylady. Irgendjemand ist wohl losgegangen und hat es meiner Cousine berichtet, die gerade beim Einkaufen war, und sie wird es meiner Großtante gesagt haben.«

Der Einspänner machte einen großen Hüpfer, als er über eine Erhebung fuhr, und Hamish schaute hastig wieder nach vorn. Nandita kreischte, und Juliana schrie mit ihr zusammen auf, aber Priti lachte nur in kindlicher Freude.

Sie fuhren durch ein offen stehendes Tor und folgten einem schmalen Weg, der von der maroden Straße zu einer Holzbrücke führte. Hamish lenkte die Kutsche hinüber, während unter ihnen ein Fluss mit starker Strömung dahinrauschte.

Nandita hielt sich an der Seitenwand des Gefährts fest. Ihre Augen waren groß und rund, und ihre Schleier flatterten ihr um das Gesicht. Die Kakofonie der Räder auf den Planken und das Rauschen des Flusses waren laut, aber Nanditas angsterfüllte Stimme übertönte sie. Die junge Frau sah nicht älter aus als Hamish. Sie mochte ungefähr neunzehn sein, also viel jünger als ihre Schwester Channan. Und sie hatte bereits einen Ehemann verloren. Kein Wunder, dass sie sich fürchtete.

»Es ist alles in Ordnung, Mädchen«, sagte Hamish, als die Kutsche die Brücke verließ. »Kein Grund, vor dem Fluss Angst zu haben. Man kann gut darin fischen.«

Nanditas Schreie verstummten, als sie wieder auf festem Boden waren, aber ihre Augen waren noch immer weit aufgerissen.

»Elliot, kannst du es ihr sagen?«, bat Juliana. »Sag ihr, dass sie in Sicherheit ist.«

In diesem Augenblick durchfuhr der Dogcart ein tiefes Schlagloch, und sie alle wurden kräftig durchgeschüttelt. Der Riegel an der Tür neben Elliots Sitz löste sich, die Tür sprang auf und schwang weit auf.

»Elliot!«, schrie Juliana. Sie konnte nicht nach ihm greifen, weil sie Priti festhielt, und Nandita begann wieder zu kreischen.

Ein weniger kräftiger Mann als Elliot wäre hinausgeschleudert worden. Elliot hielt sich an der Kutsche fest, die Sehnen seiner Hand zeichneten sich durch die engen Lederhandschuhe ab. Er wahrte das Gleichgewicht, griff nach der wild hin und her schlagenden Tür und legte den Riegel wieder vor.

Dann wandte er sich an Nandita, als wäre nichts Besonderes geschehen, und begann mit ihr zu reden, ohne Hast und in einer Sprache, von der Juliana kein Wort verstand. Nandita hörte zu und schien zumindest ein wenig getröstet von dem, was er sagte, denn sie weinte jetzt leiser. Sie ließen den Fluss hinter sich, und der Weg wurde ebener, je weiter sie sich von ihm entfernten.

Sie verließen den Wald und folgten der Straße, die abwärts entlang eines steil ansteigenden Hügels verlief. Am Fuße des Hügels erstreckte sich eine weite grüne Ebene, die in der Ferne von den Bergen begrenzt wurde, weit im Osten von einem Stück Meeresküste.

Am Ende der Straße stand das Haus.

Es war riesig. Und es fiel in sich zusammen. Ein marodes, desolates Haus, das sich im Stadium des heillosen, vollkommenen Verfalls befand.

Juliana legte die Hand an ihre Kehle, als sie sich in ihrem Sitz aufrichtete. »Oh, Elliot«, sagte sie.

3

Vier Stockwerke ragten aus dem rechteckig angelegten Fundament empor. Die Mauern wurden von einer fantastischen Ansammlung von Zinnen, Fenstern, Schießscharten und kleinen runden Türmen geschmückt, die sich an den unerwartetsten Stellen erhoben. Ein Mansardendach, durchsetzt von kleinen Fenstern, schwang sich hoch in den Himmel.

Dieses Bauwerk war keine mittelalterliche Burg im üblichen Sinne. Es war die steingewordene Fantasie eines reichen Mannes, erbaut, um seine Nachbarn zu beeindrucken – ein Märchenschloss. Nur dass dieses Märchenschloss jetzt mehr als hundert Jahre alt war. Es war baufällig und starrte vor Dreck, die Mauern waren moosbedeckt, die Fensterscheiben zerbrochen, Ziegel hatten sich vom Dach gelöst und lagen verstreut im Hof herum wie grauer Schnee. Die Grasfläche vor dem Haus, die schon von Weitem riesig gewirkt hatte, musste einst sogar doppelt so groß gewesen sein, aber im Laufe der Zeit hatte der Wald den einstigen Park und die Gärten zurückerobert.

Das Pferd suchte sich vorsichtig seinen Weg durch die Scherben der Dachziegel, nah beim Haus hielt Hamish. Elliot öffnete den hinteren Kutschenschlag und stieg aus. Die Hände in die Hüften gestemmt, warf er einen Blick auf das Ungetüm von Haus, und ein Juliana unvertrautes Leuchten glänzte in seinen Augen. Er sah … zufrieden aus.

Hamish sprang von seinem hohen Kutschbock herunter, und die Stute senkte den Kopf und rupfte Gras ab. Elliot half Juliana beim Aussteigen. Seine Hand fühlte sich in der kühler werdenden Abendluft warm an.

Nandita brauchte länger zum Aussteigen. Obgleich Elliot sie stützte, setzte sie nur furchtsam den Fuß auf die kleine Trittstufe. Schließlich griff Hamish an Elliot vorbei, schlang den Arm um Nandita und hob sie herunter.

Zutiefst erschrocken starrte Nandita ihn an und zog ihre Schleier vors Gesicht.

»Hamish, Junge«, sagte Elliot ruhig. »Eine indische Frau wird von niemandem berührt, der nicht zur Familie gehört.« Sein Ton war ernst, doch der Blick, mit dem er Hamish ansah, wirkte amüsiert. »Das könnte deinen Tod bedeuten.«

Hamish machte große Augen. »Oh? Tut mir leid.« Er sah Nandita an und sagte langsam und laut: »Verzeihung, Miss.«

»Sie ist Witwe«, sagte Elliot, während er Priti aus der Kutsche hob. »Keine Miss.«

Hamishs Stimme wurde lauter. »Bitte um Entschuldigung, Ma’am.« Er wandte sich ab und stieg hastig zurück auf den Kutschbock. »Ich will nicht, dass jemand zu Tode kommt. Schon gar nicht ich.«

Er wendete die Kutsche, trieb das Pferd mit einem Schnalzen an und raste davon. Als Hamish den Hügel hinauffuhr, schlingerte und rutschte die Kutsche auf der schmalen Spur hin und her, und die Räder gerieten gefährlich nah an den Rand.

Die Eingangstür war nicht verschlossen, und Elliot stieß sie auf. Das Vestibül war leer, die einst prachtvolle Decke von Spinnweben überzogen. Abdrücke schmutziger Stiefel, vermutlich die von Hamish, zogen sich über den gefliesten Boden.

Elliot trat ein und öffnete die zweite Tür des Vestibüls, die in die Halle führte. Die obere Hälfte der Tür bestand aus bleigefasstem Glas, so trüb, dass jedes Paneel schwarz aussah.

Das Innere des Hauses war noch schlimmer als das Äußere. Zusätzlich zum dick in der Luft hängenden Staub waren die Wände von Spinnweben bedeckt, und der großen Treppe, die sich von der Halle in das nächste Stockwerk hinaufwand, fehlten sowohl Teile des Geländers als auch einige Stufen. Der Kronleuchter, ein wahres Monstrum, das sämtliche Kerzen eingebüßt hatte, hing an einer dicken Kette von der Decke herunter, genau in der Mitte des Schachts, den der offene Treppenaufgang bildete.

Von der Halle führten mehrere Türen zu Zimmern unterschiedlichster Größe. Juliana warf einen Blick in einige, sah, dass in manchen Möbel standen, die von schützenden Laken bedeckt waren, andere wiederum standen leer. Die fleckigen Fenster und das schwindende Licht machten das Haus dunkel, und Juliana stolperte.

Elliot stützte sie sofort. Sie hielt sich an seinem Arm fest, der sich unter dem Mantel hart wie Stahl anfühlte. »Du lieber Himmel, Elliot, was um alles in der Welt hat dich veranlasst, dieses Haus zu kaufen?«

»Onkel McGregor brauchte das Geld«, erwiderte Elliot. »Ich wollte ihm helfen. Ich bin als Junge hin und wieder hier gewesen und habe schon immer eine Schwäche für dieses Anwesen gehabt.« Er schaute die Treppe hinauf. »Ich habe Hamish angewiesen, ein Schlafzimmer für uns vorzubereiten. Sollen wir hinaufgehen und schauen, wo es ist?«

Priti lief um sie herum und zur Treppe, Nandita rief sie erschrocken zurück. Elliot stellte sich dem kleinen Mädchen in den Weg, setzte es sich auf die Schultern und sagte: »Hiiiinauf geht es.«

Das Englisch des Kindes schien besser zu sein als das Nanditas. Es klatschte in die Hände. »Ja. Ja. Hinauf.«

Elliot erklomm die Treppe zum nächsten Stockwerk, wobei ihn seine Last nicht im Mindesten aus dem Gleichgewicht brachte. Juliana folgte ihm ein wenig besorgt, doch die Stufen erwiesen sich als stabil. Überraschenderweise schien sich das ganze Haus unter all dem Staub und Schmutz als ebendas zu erweisen … stabil. Nandita folgte Juliana dicht auf den Fersen, und so stiegen sie hinauf.

Im ersten Stock ging Elliot die Galerie entlang und bog dann in einen breiten Korridor ein. Einst musste das Haus mit seinen hohen Schmuckdecken und den kunstvollen Schnitzereien an Sockeln und Friesen sehr prächtig gewesen sein. Elliot öffnete eine Tür nach der anderen. Ihnen bot sich der Blick auf weitere Möbel, die unter Staubhüllen versteckt waren und wie graue Buckel in den Zimmern hockten. Der Raum hinter der vierten Tür, die Elliot öffnete, hieß sie endlich mit Licht und Wärme willkommen.

In einem altmodischen gemauerten Kamin brannte ein helles Feuer – es war das Freundlichste, was Juliana seit Betreten des Hauses sah. In der Mitte des Raumes, nicht an der Wand, stand ein großes Bett, dessen Matratze ein wenig durchhing. Aber zumindest war es ganz und in einem Stück, und ein sauberer Quilt lag darübergebreitet. Es gab keinen Teppich, das Bett hatte keinen Behang und die Fenster waren ohne Vorhänge, aber im Vergleich zum Rest des Hauses kam dieses Zimmer einem Palast gleich.

Ehe Juliana einen Schritt hineintun konnte, hörte man, dass ein Stück den Korridor hinunter eine Tür aufgerissen wurde. Nandita schrie auf, und sogar Priti stieß einen erschreckten Laut aus.

Eine tiefe Stimme dröhnte über den Gang zu ihnen. »Was zum Teufel treibt ihr in meinem Haus? Hinaus, alle. Ich habe ein Gewehr, und es ist geladen.«

Der kleine, drahtige, ältere Mann, der auf den Gang hinaustrat, hielt in der Tat ein Gewehr in den Händen, und er starrte die vermeintlichen Eindringlinge über dessen Lauf hinweg an. Er hatte einen weißen Bart und üppige Koteletten, und in dem behaarten Gesicht blitzten wütend dunkle, höchst lebendige Augen. »Ich werde euch erschießen, auf mein Wort. Ein Mann darf sein Haus verteidigen.«

»Onkel McGregor«, sagte Elliot laut. »Ich bin es – Elliot. Ich habe meine Frau mitgebracht.«

Der Mann senkte das Gewehr, legte es aber nicht aus der Hand. »Oh, du bist das, Junge. Ich dachte, es sind Diebe im Haus. Das ist sie also? Die kleine Juliana St. John?« Mr McGregor kam den Gang entlang auf sie zu. Der Kilt hing ihm um die schmalen, knochigen Hüften, dazu trug er ein locker sitzendes Hemd und eine Tweedjacke, die Kleidungsstücke hatten allesamt schon bessere Tage gesehen. »Ich kannte deinen Großvater, Mädchen. Das letzte Mal habe ich dich bei deiner Taufe gesehen. Du hast die ganze Kirche zusammengebrüllt. Viel zu laut für ein Mädchen, aber schließlich war ja deine Mutter auch verrückt.«

Juliana schluckte eine heftige Erwiderung herunter. Er ist alt, sagte sie sich, er spricht mit der Unverblümtheit des Alters. Und er hielt noch immer das Gewehr in der Hand. »Wie geht es Ihnen, Mr McGregor?«, brachte sie heraus.

»Ich bin neunundsechzig Jahre alt, junge Frau. Was glaubst du denn, wie es mir geht?« McGregor schaute an ihr vorbei auf die erschrockene Nandita, die sich hinter Juliana versteckte. »Du hast also diesmal auch deine Eingeborenen mitgebracht?«

»Du wirst sie mögen«, sagte Elliot. »Mein Diener ist ein ausgezeichneter Koch.«

»Koch, eh?« McGregor starrte weiterhin Nandita an, die versuchte, sich hinter Juliana so klein wie möglich zu machen. »Das erinnert mich an was. Ich habe Hunger. Wo bleibt dieser verdammte Bursche mit meinem Abendessen?«

»Hamish ist zum Bahnhof zurückgefahren, um meinen Diener und den Rest seiner Familie abzuholen. Und unser Gepäck, wenn alles gut geht.«

»Hätte er mir nicht vorher was zu essen bringen können? Meine Familie bewirtschaftet dieses Land seit sechshundert Jahren, und jetzt wird der Laird mit einem Kanten Brot abgespeist?«

»Ich werde etwas für dich holen.« Elliot legte die Hand auf Julianas Rücken und führte sie ins Schlafzimmer.

McGregors wütender Gesichtsausdruck wich plötzlich einem Lachen. »Kannst es wohl kaum erwarten, drinnen zu liegen, Junge, was? Eine so hübsche Braut – ich kann’s dir nicht verdenken, mein Junge.« Kichernd sicherte er das Gewehr und zog sich in das Zimmer zurück, aus dem er herausgestürmt gekommen war. Er schlug die Tür so fest zu, dass Putz von der Decke rieselte.

Elliot blieb auf dem Gang stehen, Priti thronte noch immer auf seinen Schultern. »Du ruhst dich aus«, sagte er zu Juliana. »Ich werde in die Küche hinuntergehen und Onkel McGregor etwas zu essen machen.«

»Ich dachte, du hast ihm das Anwesen abgekauft«, sagte Juliana verwirrt.

»Aye, aber der Rest von McGregors Familie ist tot, und er kann nirgendwo hin. Er würde niemals allein in einem der Pachthäuser zurechtkommen. Ich habe ihm zugesagt, dass er hier ein Zuhause hat, bis er es sich anders überlegt.«

Juliana stieß den Atem aus. »Ich verstehe, obwohl ich wünschte, du hättest mich vorgewarnt. Ich dachte, das Herz bleibt mir stehen. Ich nehme an, sein Personal wird auch uns zur Verfügung stehen?«

Elliot stellte Priti auf den Boden. »Onkel McGregor hat kein Personal. Es gibt nur Hamish.«

»Oh.«

Juliana war in einem Haus aufgewachsen, in dem sich nicht weniger als zwanzig Menschen um dessen zwei Bewohner gekümmert hatten. Dieses Haus hier war nicht nur riesengroß, es war zudem marode, und von Mahindar und seiner Familie konnte nicht erwartet werden, dass sie allein alles in Ordnung brachten. Juliana sah eine Menge an Planung und Arbeit auf sich zukommen.

Elliot wandte sich zum Gehen. Priti entwischte Nandita, die sie dazu bringen wollte, im Schlafzimmer zu bleiben, und lief zu Elliot. »Küche!«, rief sie.

Elliot hob sie wieder hoch. »Ganz recht, Priti. Lass uns die Küche in Augenschein nehmen.«

Es schien ihn nicht zu stören, dass das Mädchen ihm um den Hals hing, während er es zur Treppe trug.

Juliana schloss die Tür und schaute auf das Bett, das mitten im Zimmer stand. Es war ein wahres Ungetüm.

»Warum steht es dort?«, fragte sie laut.

Nandita starrte sie an, verstand sie nicht. Etwas in der Zimmerecke erregte Nanditas Aufmerksamkeit, und sie schrie laut los, deutete darauf.

Julianas Blick folgte dem ausgestreckten Finger der jungen Frau, dann hörte sie das Scharren und Rascheln. »Ah«, sagte sie, »darum also.«

Eine Mäuseschar lief von der einen Zimmerecke in die andere, wo sie hinter der Fußleiste verschwand. Als Juliana sich wieder Nandita zuwandte, hatte sich die junge Frau in die Mitte des Bettes geflüchtet, wo sie hockte, die Arme um die Knie geschlungen, ihre bunten Tücher hüllten sie ganz ein.