Die verkannten Grundlagen der Ökonomie - Riane Eisler - E-Book

Die verkannten Grundlagen der Ökonomie E-Book

Riane Eisler

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Beschreibung

Riane Eislers Modell einer "Caring Economy" – einer "fürsorglichen Ökonomie" – ist ebenso kühn wie wegweisend und die Übersetzung ihres Ansatzes ins Deutsche längst überfällig. Eislers Buch, das erstmals 2007 unter dem Titel "The Real Wealth of Nations" in den USA veröffentlicht wurde und in zahlreiche Sprachen übersetzt ist, ist das Ergebnis einer jahrzehntelangen transdisziplinären Forschungsleistung. Es nimmt seinen Ausgang von der Frage, wie es sein kann, dass Menschen – trotz ihres kreativen Potenzials und ihrer Fähigkeit zur Empathie – in der Welt so viel Schaden anrichten. Schaden an sich selbst, anderen Menschen und der Umwelt. Eislers Antwort: An der Wurzel jeder Ökonomie, die Ungleichheit, Armut und Zerstörung produziert, ist eine Gesellschaft, die Frauen und die ihnen überantwortete Care-Arbeit abwertet. Jede progressive und nachhaltige Ökonomie, sei es eine Gemeinwohl- oder eine Postwachstumsökonomie, muss deswegen zuallererst diesen Bereich der Fürsorge für andere wieder in das ökonomische Denken hereinholen – sonst kann es keine Caring Economy geben. Eisler zeigt auf, wie ein solcher Wandel gesellschaftlich umsetzbar ist, auf politischer wie auf individueller Ebene.

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Seitenzahl: 378

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Riane Eisler

Die verkannten Grundlagen der Ökonomie

Wege zu einer Caring Economy

Mit einem Geleitwort von Ernst Ulrich von Weizsäcker

Aus dem Amerikanischen übertragen von Ulrike Brandhorst und illustriert von Christina S. Zhu

ISBN (Print) 978-3-96317-215-1

ISBN (ePDF) 978-3-96317-747-7

ISBN (ePUB) 978-3-96317-748-4

Copyright © 2020 Büchner-Verlag eG, Marburg Coverabbildungen und sämtliche Illustrationen: Christina S. Zhu. Der Essay ist die gekürzte und überarbeitete Fassung der amerikanischen Erstausgabe, die unter dem Titel The Real Wealth of Nations: Creating a Caring Economics 2007 in San Francisco bei Berrett-Koehler erschienen ist.

Das Werk, einschließlich all seiner Teile, ist urheberrechtlich durch den Verlag geschützt. Jede Verwertung ist ohne die Zustimmung des Verlags unzulässig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

www.buechner-verlag.de

Inhalt

Geleitwort

Vorwort: Der Weg zu einer realitätstauglichen Wirtschaft

– Ein Bewusstseinswandel verändert unsere Lebenswirklichkeit– Ein kurzer Ausblick auf die folgenden Kapitel1 Warum wir Wirtschaft neu denken müssen– 1.1 Womit sich die Ökonomie eigentlich beschäftigen sollte– 1.2 Die Wirtschaft neu vermessen– 1.3 Kultur, Wirtschaft und Werte– 1.4 Der Care-Wert– 1.5 Die Schaffung einer Caring Economy– 1.6 Die sechs Grundpfeiler einer Caring Economy2 Wirtschaft im Weitwinkel– 2.1 Die gesellschaftlichen Grundlagen der Wirtschaft– 2.2 Das Dominanz- und das Partnerschaftssystem– 2.3 Das unsichtbare Bewertungssystem3 Der Doppelstandard in der Wirtschaft– 3.1 Blind für das Offensichtliche– 3.2 Geschichten, mit denen wir leben und sterben– 3.3 Die Entfremdung der Care-Arbeit– 3.4 Wirtschaftskennzahlen, die Fürsorge und Care-Arbeit berücksichtigen4 Zusammenhänge verstehen– 4.1 Neue gesellschaftliche und wirtschaftliche Rahmenbedingungen– 4.2 Dominanzgeprägte Strukturen– 4.3 Dominanzgeprägte Wirtschaftssysteme– 4.4 Partnerschaftliche Strukturen– 4.5 Antriebskräfte in der Gesellschaft– 4.6 Partnerschaftliche Strukturen, Werte und Beziehungen– 4.7 Partnerismus in Nordeuropa– 4.8 Die Schaffung gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Institutionen5 Ökonomie der Unterwerfung– 5.1 Unser grausames wirtschaftliches Erbe– 5.2 Unmenschliche und ineffiziente Wirtschaft– 5.3 Die Verstetigung von Hunger und Armut– 5.4 Die Wirtschaft des Privathaushalts– 5.5 Künstliche Knappheit– 5.6 Die Eroberung der Natur6 Ökonomie der Partnerschaft– 6.1 Die kapitalistische Sichtweise– 6.2 Die sozialistische Sichtweise– 6.3 Revolution und Rückentwicklung– 6.4 Von Kapitalismus und Sozialismus zum Partnerismus– 6.5 Wirtschaft und Beziehungen– 6.6 Wie können wir Wirtschaft neu denken?– 6.7 Die Struktur wirtschaftlicher Institutionen7 Technologien, Arbeit und das postindustrielle Zeitalter– 7.1 Technologien und die Zukunft der Arbeit– 7.2 Gebrauch und Missbrauch von Technologien– 7.3 Von Distanz zu Fürsorge– 7.4 Technik neu betrachtet– 7.5 Technologische Fantasien und globale Realitäten8 Wer wir sind und wo wir stehen– 8.1 Was uns die Neurowissenschaft über die Wirtschaft lehrt– 8.2 Wirtschaft, Politik und Stress9 Die Care-Revolution– 9.1 Von der Bewusstmachung zur Aktion– 9.2 Die Dringlichkeit einer ökonomischen Neuordnung– 9.3 Was Regierungen und Unternehmen tun können– 9.4 Was die sozialen Bewegungen tun können– 9.5 Die Dynamik der Transformation– 9.6 Was wir selbst tun können– 9.7 Das Entwicklungspotenzial von Mensch und Wirtschaft

Literatur

Dank

Endnoten

– 1 Warum wir Wirtschaft neu denken müssen– 2 Wirtschaft im Weitwinkel– 3 Der Doppelstandard in der Wirtschaft– 4 Zusammenhänge verstehen– 5 Ökonomie der Unterwerfung– 6 Ökonomie der Partnerschaft– 7 Technologien, Arbeit und das postindustrielle Zeitalter– 8 Wer wir sind und wo wir stehen– 9 Die Care-Revolution

Geleitwort

Riane Eisler wurde 1987 weltberühmt durch ihren Bestseller Kelch und Schwert – weibliches und männliches Prinzip in der Geschichte. Der Anthropologe Ashley Montagu nannte Eislers Buch »das wichtigste Buch seit Darwins Ursprung der Arten«. Ihr Buch konfrontierte das mit einer Primitivversion von Darwins »Kampf ums Dasein« verwandte Dominanzsystem, das letztendlich von Angst oder Gewalt geprägt ist. Als Gegenpol formulierte Riane Eisler das Partnerschaftssystem. Dieses bringt die menschliche Gemeinschaft (Frauen und Männer jeden Alters) in eine neue Balance, in der auch Hierarchie und Führung von Partnerschaftlichkeit – also gegenseitigem Respekt und Fürsorge – geprägt sind, womit es allen besser geht.

Riane Eisler ist mit ihren Eltern als siebenjähriges Kind vor den Nationalsozialisten aus Wien geflohen, erst nach Kuba, dann in die USA, wo sie eine glanzvolle akademische Karriere gemacht hat. Kampf ums Dasein ist für sie auch die Schreckenserinnerung an das, was sie als Kind gesehen hat.

Die heutige Ökonomie hat eine starke darwinistische Schlagseite. Der Starke gewinnt und soll gewinnen. Das nennt man dann Fortschritt. Der »Wohlstand der Nationen« wird seit Adam Smith, 80 Jahre vor Darwin, von den Ökonomen nach dem geldwerten Gesamtwohlstand gemessen. Seit 1934 gibt es das Bruttoinlandsprodukt (BIP), das im Kern ein bloßer Indikator für Geldumsätze ist. So stärkt zum Beispiel jeder Verkehrsunfall den Umsatz, also das BIP, aber nicht den Wohlstand.

Kampf ums Dasein und schierer Umsatz charakterisieren das Dominanzsystem und sind doch nicht das, was wir wollen, sagt Riane Eisler im vorliegenden Buch. Die Messlatte des Erfolgs ist bei beiden Fällen das Prinzip der den Männern zugeschriebenen Arbeiten. Im Partnerschaftssystem haben die versorgenden, zugewandten und pflegenden Arbeiten – typischerweise Frauen zugeschrieben – ein viel größeres Gewicht, auch in der Welt der Ökonomie. Riane Eisler sieht die Gleichberechtigung nicht darin, dass Frauen möglichst viele derzeitige Positionen und Funktionen von Männern erobern. Ihr kommt es darauf an, dass die heute außerhalb des BIP blühenden gemeinschaftstragenden Fähigkeiten und Arbeiten gleichberechtigt werden, in der Anerkennung, im Status und auch monetär.

Der amerikanische Titel ihres Buches ist The Real Wealth of Nations. Eisler geht es eben nicht um den konventionell definierten Wohlstand, sondern um den wahren Wohlstand. Es geht um einen Wohlstand, bei welchem weder Frauen noch Männer diskriminiert werden, sondern die Fülle ihrer Talente nutzen können. Übrigens muss auch die Natur als Teil des Wohlstandes gesehen werden und nicht als zur Plünderung freigegebene Erzgrube.

Die Autorin kritisiert natürlich auch die heutige Art von Dominanzökonomie. Diese schafft künstlich Knappheiten, damit die Preise hochgehen. Oligopole schaffen das besonders gut. Sie zitiert auch Befunde, dass Kinder, die in Dominanz-Elternhäusern aufwachsen, feindselig und zugleich ängstlich gestimmt sind.

Das Kontrastprogramm dazu ist die Partnerschaftsökonomie. Sie ist der Inhalt des zentralen siebten Kapitels des Buches. In der Partnerschaftsökonomie achtet man darauf, dass möglichst viele am Wohlstand teilhaben. Man kümmert sich umeinander. Eltern kümmern sich um ihre Kinder und genießen das. Sie werden dafür nicht bezahlt, jedenfalls nicht von den Kindern. Es ist eine soziale Ökonomie, eine caring economy. Die verlangt natürlich auch einen deutlich höheren Rechtsschutz. Und der nationale Wohlstandsindikator soll die vielfach unbezahlten Leistungen der Partnerschaft und Fürsorge endlich angemessen berücksichtigen – und damit das BIP als einzigen Messwert überwinden.

Die Technologie erlebt ja ständige Wandel. Es fügt sich gut, dass der heutige Trend den Wert der Information erhöht. Hier gibt es keine Knappheiten. Informationsaustausch kann auch Informationspartnerschaft sein. Auch wenn Vorsicht geboten ist, denn die Digitalisierungswelt schafft extrem machtvolle Dominanzen!

Unsere junge Generation ist aufgerufen, sich um Riane Eislers Ideen zu kümmern, sich politisch dafür zu engagieren: für die Zukunft einer partnerschaftlichen Zivilisation. Das wäre sicher der größte Wunsch der Autorin.

Ernst Ulrich von Weizsäcker

Emmendingen, 1. September 2020

Vorwort: Der Weg zu einer realitätstauglichen Wirtschaft

Während ich diese Einleitung zu Die verkannten Grundlagen der Ökonomie schreibe, wütet weltweit die Covid-19-Pandemie, besonders hier in den USA, wo ich lebe. Hier haben wir nicht nur weltweit die höchste Zahl an Corona-Toten, sondern auch eine enorm hohe Arbeitslosenrate, die einhergeht mit einer explodierenden Zahl an Zwangsräumungen, Konkursen, Obdachlosigkeit, Armut und Hunger, während gleichzeitig die US-Aktienmärkte weiter nach oben schießen. Doch die Pandemie zwingt uns nicht nur in den reichen Nationen, unser »altes Normal« zu hinterfragen. Der Zusammenbruch der globalen Wirtschaft hat weltweit die Strukturfehler unseres derzeitigen Systems aufgedeckt, das weder nachhaltig, noch gerecht ist und in dem eine realitätsferne Politik sowie realitätsuntaugliche Regeln, Anreize und Praktiken herrschen.

Dieses Buch zeigt neue Perspektiven auf, die es uns erlauben, Wirtschaft über den konventionellen Tellerrand hinausgehend zu betrachten. Es benennt die verkannten Grundlagen der Ökonomie und macht deutlich, dass wir unsere Wirtschaft weder realitätstauglicher noch nachhaltiger gestalten können, solange wir diese Grundlagen nicht mitberücksichtigen. Dabei liefert dieses Buch auch die Bausteine, die wir für ein nachhaltiges und gerechtes Wirtschaftssystem benötigen, und zeigt uns Handlungsoptionen auf, mit denen wir ein solches System erreichen können.

Ich lade Sie dazu ein, die auf den folgenden Seiten aufgeführten neuen Perspektiven kennenzulernen und anzuwenden, und bitte Sie darum, dieses Buch unvoreingenommen und mit unverstelltem Blick zu lesen, denn wir werden hier Themengebiete behandeln, die weit über das hinausgehen, was herkömmlicherweise unter dem Begriff »Wirtschaft« verstanden wird. Darüber hinaus bitte ich Sie, beim Lesen immer im Hinterkopf zu behalten, was für Sie im Leben am Wichtigsten ist und was Sie sich im Leben am Sehnlichsten wünschen.

Ein Bewusstseinswandel verändert unsere Lebenswirklichkeit

Dieses Buch, Die verkannten Grundlagen der Ökonomie, hat sich aus der Grundannahme heraus entwickelt, dass wir – wie Einstein erklärte – Probleme nicht mit der gleichen Denkweise lösen können, mit der wir sie geschaffen haben. Diese Grundannahme war der Ausgangspunkt für die Arbeit, die ich in den letzten vier Jahrzehnten verfolgt habe.

Mein Buch Kelch und Schwert. Unsere Geschichte, unsere Zukunft hat in den USA mittlerweile die 57. Auflage erlebt und wurde in 27 Sprachen übersetzt – unter anderem auch ins Deutsche. Darin führe ich eine neue Sichtweise bei der Betrachtung sozialer Systeme ein, die uns hilft, diese besser zu verstehen und herauszufinden, wie wir die Grundlagen für eine gerechtere und nachhaltigere Welt schaffen können. Diese Sichtweise, die den Analyserahmen für all meine Bücher und Aufsätze bildet, unterscheidet soziale Systeme in die Kategorien »Partnerschaftssysteme« (Systeme, in denen gegenseitiger Respekt herrscht) und »Dominanzsysteme« (Systeme, die durch eine Top-Down-Kontrolle gekennzeichnet sind).

Diese gesellschaftswissenschaftlichen Kategorien (bzw. diese Partnerschaft-Dominanz-Skala) sind integrale Bestandteile einer Kulturtransformationstheorie, die ich in früheren Büchern eingeführt habe. Sie bilden die Grundlage dafür, dysfunktionale wirtschaftliche Strukturen, Regeln und Praktiken zu verstehen und zu verändern. Betrachtet man Systeme unter dem Gesichtspunkt dieser Kategorien, wird nämlich klar, dass dysfunktionale wirtschaftliche Strukturen, Regeln und Praktiken in dominanzgeprägten Traditionen wurzeln, was in kapitalistischen wie sozialistischen Wirtschaftstheorien gleichermaßen zu einer verzerrten Wahrnehmung geführt hat.

Kapitalismus und Sozialismus sind in der Frühzeit der Industrialisierung im 18. und 19. Jahrhundert entstanden. Das allein wäre schon Grund genug, sie als zu veraltet für die Herausforderungen der postindustriellen Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft des 21. Jahrhunderts zu betrachten. Doch das Problem wurzelt noch viel tiefer.

Weder Familien noch Politik, Bildung, Religion oder eben auch Wirtschaft entstehen in einem luftleeren Raum. Wirtschaft wird von Menschen geschaffen und wird von den Werten und Ansichten innerhalb der Gesellschaft bestimmt, zu der die jeweilige Wirtschaft gehört. Das Problem besteht darin, dass sowohl Adam Smith als auch Karl Marx ihre kapitalistische bzw. sozialistische Wirtschaftslehre in Zeiten entwarfen, in denen man sich in Europa und anderswo noch stark am Dominanzende der Partnerschafts-Dominanz-Skala orientierte.

Dabei waren sowohl Kapitalismus als auch Sozialismus eigentlich Versuche, eine dominanzgeprägte Wirtschaft hinter uns zu lassen, die uns den Großteil der überlieferten Geschichte begleitet hat – angefangen von der Top-Down-Wirtschaft der Stammesführer über die der chinesischen Kaiser und nahöstlichen Scheichs bis hin zu den europäischen Feudalherren. Smith stellte den Merkantilismus bzw. die durch Könige und Hofbeamte ausgeübte Top-Down-Kontrolle der Wirtschaft infrage. Marx wiederum übte Kritik am Kapitalismus und an der Ausbeutung der arbeitenden und bäuerlichen Bevölkerung durch die so genannten Adligen und die immer stärker wachsende Bourgeoisie. 

Allerdings schenken weder die kapitalistische noch die sozialistische Wirtschaftslehre der Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen oder der essentiellen Bedeutung des Umweltschutzes in irgendeiner Form Beachtung. In beiden Theorien wird die Natur lediglich als Objekt betrachtet, das es zu beherrschen und auszubeuten gilt. Smith träumte von unbegrenztem Wirtschaftswachstum, das sich unter der Leitung der unsichtbaren Hand des Marktes und der Verfolgung reiner Eigeninteressen entfalten sollte. Die Vision von Marx beinhaltete eine grenzenlose Expansion der Industrie kontrolliert von der Diktatur des Proletariats.

Die überlebensnotwendigen Haushalts- und Pflegearbeiten wie die Versorgung von Kindern und Kranken oder die Führung eines sauberen und gesunden Haushalts galten sowohl für Smith als auch für Marx eher als »reproduzierende« denn als »produzierende« Tätigkeiten. Keiner von beiden erkannte den Wert der Fürsorgearbeit, angefangen von der Säuglingspflege bis hin zur Pflege der Alten und Kranken. Auch der wirtschaftliche Wert eines sauberen und gesunden Wohnumfelds entging ihnen vollständig, was sich auch auf ihre Einstellung gegenüber dem Umweltschutz – also die Pflege des natürlichen Umfelds übertrug. Für sie war die Sichtbarmachung dieser »Frauenarbeit« kein Thema, denn diese sollte umsonst in von Männern kontrollierten Haushalten geleistet werden.

Noch Mitte des 19. Jahrhunderts, als Marx über den Sozialismus schrieb, galt sowohl die in Privathaushalten als auch die auf dem Markt geleistete Arbeit von Frauen rechtlich als das Eigentum ihrer Väter bzw. Ehemänner. Wenn eine Frau fahrlässig verletzt wurde, konnte sie keine Klage deswegen einreichen, während ihr Ehemann das Recht hatte, Schadensersatz für die ihm dadurch entgangenen Dienstleistungen einzufordern.

Heute gelten Frauen – zumindest in einigen Teilen der Welt – nicht mehr als Eigentum ihrer Väter oder Ehemänner. Aber die Abwertung von Care-Arbeit, also Fürsorge- und Pflegearbeit, ist in der Wirtschaft immer noch die Norm, weil Kapitalismus wie Sozialismus auf einem Wertesystem beruhen, das Menschen je nach Geschlecht mit unterschiedlichem Maß misst. In den meisten Teilen der Welt wird immer noch davon ausgegangen, dass die Arbeit, die Frauen in Haushalten leisten, unbezahlt erbracht wird – und auch die auf dem Markt übliche Bezahlung von Pflegekräften ist jämmerlich gering: So verdienen laut US-Arbeitsministerium Menschen, die als Hundesitter arbeiten, mehr als Menschen, die in der Kinderbetreuung tätig sind.

Die aktuellen Wirtschaftskennzahlen wie zum Beispiel das Bruttoinlandsprodukt (BIP) machen deutlich, dass auch der Schutz und die Pflege unserer natürlichen Lebensgrundlagen allgemein immer noch als irrelevant für die Wirtschaftsleistung betrachtet werden. Aus diesem Grund werden auch von Unternehmen verursachte Umweltschäden im Wirtschaftsjargon als »Externalitäten« bezeichnet, obwohl es ohne die natürlichen Lebensgrundlagen überhaupt keine Wirtschaft gäbe. Gleiches gilt für Schäden, die Menschen, darunter auch zukünftige Generationen, durch Aktivitäten entstehen, die im BIP als »produktive Aktivitäten« betrachtet werden.

Dadurch, dass unser Wirtschaftssystem auf derart irrationalen Prämissen fußt, fehlt ihm jeglicher Bezug zur Realität. Das bedeutet, dass wir Wirtschaft von Grund auf neu denken müssen und das bedeutet wiederum, dass wir dabei Bereiche berücksichtigen müssen, über die uns beigebracht wurde, dass sie rein gar nichts mit Wirtschaft zu tun hätten: nämlich diejenigen Bereiche, die – wie wir auf den folgenden Seiten sehen werden –, die eigentliche Grundlage der Wirtschaft darstellen.

Ein kurzer Ausblick auf die folgenden Kapitel

Dieses Buch beschreibt die Kernelemente einer Caring Economy des Partnerismus, einem neuen Wirtschaftssystem, das Partnerschaftselemente aus Kapitalismus und Sozialismus integriert, jedoch über diese hinausgeht, da es den wirtschaftlichen Wert von Umweltschutz sowie von Pflege und Fürsorge, beginnend in der frühesten Kindheit, (an)erkennt. In den folgenden Kapiteln wird beschrieben, was notwendig ist, um in unserer postindustriellen Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft ein gerechtes und nachhaltiges Wirtschaftssystem zu schaffen, wobei von der Prämisse ausgegangen wird, dass ein Wirtschaftssystem das Wohlergehen und das Glück der Menschen fördern sollte.

In Kapitel 1 gehen wir über den engen Bereich der Wirtschaftsbeziehungen hinaus, die in konventionellen sozialistischen und kapitalistischen Modellen berücksichtigt werden. Hier wird die erste der fünf Grundlagen einer Caring Economy vorgestellt: Ein umfassendes und realitätsgetreues Wirtschaftsmodell, in dem die überlebensnotwendigen Beiträge von Privathaushalten, Kommunen und Natur berücksichtigt werden. Dabei wird deutlich, dass wir den Blickwinkel weiten und über den herkömmlichen Wirtschaftsbegriff hinausdenken müssen, wenn wir ein realitätsnäheres, gerechteres und nachhaltigeres Wirtschaftssystem schaffen wollen.

Aus diesem erweiterten Blickwinkel heraus betrachten wir die Wirtschaft in Kapitel 2 in ihrem umfassenderen kulturellen Kontext, was uns zur zweiten Grundlage einer Caring Economy führt: den kulturspezifischen Überzeugungen und Institutionen, in denen Fürsorge und Fürsorgearbeit ein hoher Wert beigemessen wird. In diesem Kapitel werden die Kategorien des Partnerschafts- bzw. Dominanzsystems eingeführt, bislang ausgeblendete Zusammenhänge sichtbar gemacht und neue Standards und Regeln für die Messung dessen vorgestellt, was wir als wirtschaftlich für wertvoll erachten. Zudem wird in Kapitel 2 deutlich, inwiefern all diese Fragen einen direkten Einfluss auf unser Leben und auf die Zukunft unserer Kinder und unseres Planeten haben.

In den darauffolgenden Kapiteln 3 und 4 führe ich zwei weitere Grundlagen des Partnerismus ein, nämlich zum einen wirtschaftliche Regeln, Maßnahmen und Praktiken, die auf Fürsorge beruhen, und zum anderen Wirtschafts- und Gesellschaftsstrukturen, die eher partnerschaftliches als dominanzgeprägtes Verhalten fördern. Auch in diesen Kapiteln wird der Zusammenhang zwischen unserem Alltagsleben, unserer Wirtschaft und unseren kulturellen Werten und Normen hergestellt. Sie zeigen, wie Problemlösungen, Kreativität und Unternehmertum durch eine auf Fürsorge basierende Politik und Praxis unterstützt werden und welche enormen Vorteile für Menschen, Unternehmen und unsere natürliche Mitwelt daraus erwachsen.

Dabei greifen wir auf die Arbeit fortschrittlicher Wirtschaftsdenker und Wirtschaftsdenkerinnen zurück und betreten dabei in Hinblick auf Arbeit, Werte und Leben ein spannendes Neuland. Um dem Begriff der produktiven Arbeit in einer postindustriellen Wirtschaft gerecht zu werden, definieren wir ihn neu, denn in der postindustriellen Gesellschaft besteht das wichtigste Kapital in dem, was in der Wirtschaftswissenschaft als »hoch qualifiziertes Humankapital« bezeichnet wird. Darüber hinaus berücksichtigen wir auch den Schutz unserer heute im Wirtschaftsjargon als »Naturkapital« bezeichneten natürlichen Lebensgrundlagen.

Außerdem begeben wir uns auch auf eine Reise in die Vergangenheit und stellen überlieferte toxische Mythen und Werte auf den Prüfstand, denn darin offenbaren sich versteckte Gender-Doppelstandards, die wir aus früheren, wirtschaftlich ungerechteren und ineffizienteren Zeiten übernommen haben. Dabei erkennen wir, dass diese Gender-Doppelstandards auch zu einem Doppel-Standard in der Wirtschaft und damit zu einer nicht nachhaltigen Art des Lebens und Arbeitens geführt haben – und machen uns auf die Suche nach gesünderen Alternativen.

Die enormen Kosten für Mensch, Gesellschaft, Wirtschaft und Umwelt, die durch unsere herkömmlichen wirtschaftlichen und politischen Systeme verursacht werden, untersuchen wir in Kapitel 5 – ebenso wie die Unfähigkeit dieser Systeme, mit den Herausforderungen, die vor uns liegen, zurechtzukommen. Dabei wird deutlich, dass viele Probleme, zwischen denen (wie uns beigebracht wurde) kein Zusammenhang besteht, aus überlieferten Dominanztraditionen heraus entstanden sind, was uns erlaubt, grundlegende Themen ausfindig zu machen, die herkömmliche Denkweisen und Kategorisierungen ausgeblendet haben.

In Kapitel 6 suchen wir nach dem Weg zu einer Caring Economy des Partnerismus. Das Kapitel skizziert kurz die Entstehungsgeschichte der modernen Wirtschaftslehren, welche die Grundlage und die Grundprinzipien für die Entwicklung eines neuen konzeptuellen Rahmens liefern, der die besten Elemente von Kapitalismus und Sozialismus aufgreift, jedoch über diese beiden hinausgeht.

Das Thema von Kapitel 7 sind postmoderne, technologische Durchbrüche auf Gebieten wie der Robotik, der Biotechnologie und der Nanotechnologie sowie deren Auswirkungen auf unser Leben und Arbeiten. Hier wird eine neue Betrachtungsweise von Technologie und Technik eingeführt, bei der nicht jegliche technische Erfindung – vom Dosenöffner bis zur Atombombe – in die gleiche technologische Kategorie eingeordnet wird. Außerdem wird gezeigt, dass diese rasante technologische Entwicklung in dem epochalen Übergang in das postindustrielle Zeitalter den Wechsel zu einer Caring Economy sogar noch dringlicher macht.

In Kapitel 8 machen wir eine Bestandsaufnahme: Wo stehen wir und wohin können wir von hier aus gehen? Anhand faszinierender Erkenntnisse der Neurowissenschaft stellen wir fest, dass eine Caring Economy die Fähigkeiten in uns fördert, die wir im Laufe der Evolution ausgebildet haben und die uns als Menschen auszeichnen.

Wie jeder von uns diesen Wechsel zu einer menschlicheren, nachhaltigeren und wirtschaftlich effektiveren Zukunft in der Praxis beschleunigen kann, wird in Kapitel 9 behandelt. Zu diesen praktischen Schritten gehören neue Kennzahlen für die wirtschaftliche Gesundheit, die anders als das BIP (und die meisten BIP-Alternativen) auch die überlebensnotwendigen Beiträge sowohl aus den Privathaushalten als auch aus der Natur miteinbeziehen und zeigen, welch enormer wirtschaftlicher Wert aus Investitionen erwächst, die in diese nach unserer neuen Sichtweise als Grundlagen der Wirtschaft anerkannten Bereiche getätigt werden.

Mit diesem Buch will ich zum Diskurs und zum Handeln anregen. Die verkannten Grundlagen der Ökonomie wurde für alle Menschen geschrieben, die sich ein besseres Leben und eine bessere Welt wünschen. Es soll ihnen praktische Werkzeuge zur Erreichung dieser Ziele mit auf den Weg geben.

Ich bin überzeugt, dass wir gemeinsam das Wirtschaftssystem schaffen können, das wir uns wünschen und das wir brauchen: Ein Wirtschaftssystem, das Kreativität und Großzügigkeit anstelle von Gier und Zerstörungswut fördert. Alle Zeichen weisen darauf hin, dass dies die einzige Möglichkeit ist, die uns an diesem kritischen Punkt in der Entwicklung unserer Spezies und unseres Planeten bleibt. Wenn wir gemeinsam daran arbeiten, können wir unsere enorme menschliche Kreativität dazu verwenden, dieses Ziel zu erreichen, indem wir eine Caring Economy des Partnerismus und damit eine Grundlage für eine neue, gerechte und nachhaltige Normalität schaffen.

Riane Eisler

Carmel, 15. August 2020

Kapitel 1: Warum wir Wirtschaft neu denken müssen

Jim Cross schloss seinen Kurs in Angewandter Informatik als Jahrgangsbester ab und war begeistert, als er kurz darauf einen Job im aufstrebenden kalifornischen Silicon Valley fand. Doch obwohl sein Einkommen weit über dem eines durchschnittlichen US-amerikanischen Arbeitnehmers liegt, ist Jim auf unabsehbare Zeit hoch verschuldet, denn die Wohnkosten in dieser Gegend sind enorm und er muss ein beachtliches Studiendarlehen abbezahlen.

In Nigeria beerdigt Marian Mfunde gerade ihr zweites Kind. Ihre fünf Monate alte Tochter starb, ebenso wie Marians erstes Kind, an Hunger. Marian selbst ist an HIV erkrankt. Sie hat sich bei ihrem Ehemann angesteckt, bevor dieser zur Arbeitssuche in die Hauptstadt aufbrach. Seitdem hat sie nichts mehr von ihm gehört.

Die neun Jahre alte Rosario Menen haust in den Straßen von Rio de Janeiro. Sie lebt in ständiger Angst vor Ratten und Vergewaltigern, aber auch vor Polizeitruppen, die regelmäßig auftauchen und die Straßenkinder unter brutaler Gewaltanwendung vertreiben. Rosario ist eines von vielen Tausend Kindern in Brasilien, die kein Zuhause haben und niemanden, der sich um sie kümmert.

In Riad hat sich der achtzehn Jahre alte Ahmad Haman gerade einer fundamentalistischen Terrorgruppe angeschlossen. In seinem Heimatland Saudi-Arabien gibt es für ihn wirtschaftlich kaum eine Perspektive.1 Die Bevölkerung im Nahen Osten hat sich im Zeitraum von 1950 bis 2000 von 100 Millionen auf 380 Millionen mehr als verdreifacht — und fast zwei Drittel der 380 Millionen Menschen im Nahen Osten sind jünger als 25 Jahre. Die Arbeitsmarktsituation ist prekär: Laut einem Bericht des Brooking-Instituts aus dem Jahr 2019 liegt die Arbeitslosenquote in Saudi-Arabien bei 42 Prozent (und das im Vergleich zur weltweiten Quote von 13 Prozent).2 Vor diesem Hintergrund erscheint es Ahmad vielversprechender, auf die Verheißung eines Lebens nach dem Tod im Paradies mit 72 Jungfrauen zu hoffen und sich bei einem Selbstmordattentat in die Luft zu sprengen, als auf eine irdische Zukunft in seinem Heimatland zu bauen, obwohl dieses doch so reich an Erdöl ist.3

Inmitten solch unfassbarer Missstände, unsagbarem Elend und einem überbordenden Wahnsinn führt man in den Wirtschaftswissenschaften endlose Diskussionen über das Für und Wider von freien Märkten gegenüber staatlichen Regulierungen oder von Privatisierungen gegenüber staatlich gelenkten Unternehmen. Man spricht über Unternehmensgewinne, internationale Handelsabkommen, Outsourcing von Arbeitsplätzen, Beschäftigungszahlen, Zinssätze, Inflation und das Bruttoinlandsprodukt (bis 1999 als Bruttosozialprodukt bezeichnet). Diese Themen, die in Nachrichten, Wirtschaftsakademien und Tausenden von Wirtschaftsverträgen gewöhnlich in einer für Laien unverständlichen Sprache behandelt werden, erscheinen den meisten Menschen als frustrierend weit entfernt von ihren tatsächlichen Problemen und Bedürfnissen.

Natürlich ignorieren nicht alle Wirtschaftswissenschaftler die lebensnotwendigen Bedürfnisse von Menschen. Manche, wie zum Beispiel die Nobelpreisträger Amartya Sen und Joseph Stiglitz, verurteilen Praktiken, die Hunger, Gesundheitsschäden und Umweltzerstörung bzw. -verschmutzung verursachen, aufs Heftigste.4 Einige wenige, wie zum Beispiel die MacArthur-Fellows Nancy Folbre und Heidi Hartmann, weisen auch darauf hin, dass erwerbstätige Eltern selbst in einem reichen Land wie den USA unter Druck stehen, weil ihnen nicht ausreichend Zeit zur Verfügung steht, um sich um ihre Kinder zu kümmern, und selbst Besserverdienende Schwierigkeiten damit haben, Erwerbs- und Familienarbeit zu vereinbaren.5 Bis zum heutigen Tag schenken die meisten etablierten Ökonomen den Auswirkungen von Wirtschaftsmodellen auf unser Alltagsleben jedoch nur wenig Beachtung.6

Die Wirtschaftswissenschaften betrachten Menschen meist nur in ihrer Eigenschaft als Arbeitgeber, Arbeitnehmer oder Konsumenten. Und selbst wenn sich Ökonomen mit Umwelt- oder Gesellschaftsproblemen befassen, bleiben sie für gewöhnlich immer noch in ihren Debatten über freie Märkte und Privatisierung vs. Zentralverwaltungswirtschaft und staatliche Regulierungen gefangen – Debatten, die das Grundgerüst für den Konflikt zwischen Kapitalismus und Kommunismus bilden.

Dabei wird die Tatsache ausgeblendet, dass es keinem der kapitalistischen oder kommunistischen Systeme gelungen ist, die chronischen Probleme von Umweltzerstörung, Armut oder kriegerischer und terroristischer Gewalt zu lösen, obwohl dadurch ökonomische Verluste entstehen und so viele Leben zerstört werden. Tatsächlich ist es sogar so, dass sowohl kapitalistische als auch kommunistische Wirtschaftspolitik Ursachen dieser Probleme sind.

Wenn wir unsere Probleme in Zeiten des raschen technologischen und gesellschaftlichen Wandels effektiv angehen wollen, müssen wir sehr viel tiefer gehen und uns mit Themen beschäftigen, die in konventionellen Wirtschaftsanalysen und -theorien bislang ausgeblendet wurden.

Die zunehmenden Probleme von Individuen, Gesellschaft und der natürlichen Umwelt, also unserer Mitwelt, haben eine gemeinsame Ursache: Einen Mangel an Fürsorge bzw. Care.7 Wir brauchen ein Wirtschaftssystem, das uns über Kommunismus, Kapitalismus und andere herkömmliche Ismen hinausträgt. Wir brauchen wirtschaftliche Modelle und Regeln sowie eine Wirtschaftspolitik, die Fürsorge gegenüber uns selbst, gegenüber anderen und gegenüber unserer Mitwelt unterstützen.8

Manchen mag eine auf Fürsorge basierende Wirtschaft unrealistisch erscheinen, tatsächlich ist sie jedoch sehr viel näher an der Realität als die herkömmlichen Wirtschaftsmodelle. Letztere blenden auf befremdliche Art und Weise einige der grundlegenden Voraussetzungen der menschlichen Existenz aus – allen voran die essenzielle Bedeutung von Fürsorge und Care-Arbeit für jegliche ökonomische Aktivität.

Ohne Fürsorge und Care-Arbeit gäbe es keinen von uns. Es gäbe keine Privathaushalte, keine Arbeitskräfte, keine Wirtschaft – nichts davon. Und dennoch wird Fürsorge und Care-Arbeit in kaum einer der aktuellen Wirtschaftsdebatten auch nur erwähnt. Das ist auch deswegen befremdlich, weil der Begriff Ökonomie sich vom griechischen oikonomia herleitet, was »Haushaltsführung« bedeutet, und Fürsorge und Care-Arbeit ein Kernelement der Haushaltsführung sind.9

Dieses Buch zeigt, dass es nicht nur für unser Überleben, sondern auch für ein gutes Leben notwendig ist, Wirtschaft radikal neu zu denken. Dabei wird deutlich, dass das Ausblenden von Fürsorge und Care-Arbeit in der etablierten Wirtschaftstheorie und -praxis verheerende Auswirkungen auf die Lebensqualität von Menschen, auf unsere natürlichen Lebensgrundlagen sowie auf die wirtschaftliche Produktivität, Innovationsfreude und die Anpassungsfähigkeit an neue Bedingungen hatte und hat. Wenn es uns nicht gelingt, Fürsorge und Care-Arbeit in unsere Wirtschaftsmodelle zu integrieren, sind wir in keiner Weise auf die postindustrielle Wirtschaft vorbereitet, in der das wichtigste Kapital aus dem besteht, was Wirtschaftswissenschaftler gerne als »Humankapital« bezeichnen, nämlich aus Menschen. Darüber hinaus ist es unrealistisch, irgendwelche Änderungen einer rücksichtslosen Wirtschaftspolitik oder -praxis zu erwarten, solange Fürsorge und Care-Arbeit nicht mehr Wertschätzung erfahren.

Wie Einstein sagte, können wir Probleme niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind. Wir befinden uns an einem kritischen Punkt, der eine neue Denkweise hinsichtlich unseres Wirtschaftens verlangt.

Unsere Probleme werden sich nicht alle lösen, sobald wir Fürsorge und Care-Arbeit mehr Bedeutung beimessen – aber solange wir dies nicht tun, wird es uns nicht gelingen, Lösungen für die aktuelle globale Krise zu finden, geschweige denn, uns persönlich, wirtschaftlich oder global weiterzuentwickeln. Um etwas an den dysfunktionalen staatlichen Bestimmungen und Wirtschaftspraktiken zu ändern, ist ein neues Herangehen an die Wirtschaft notwendig, bei dem die Forderung nach Fürsorge bzw. allein schon deren Erwähnung kein Tabu mehr darstellt.

1.1 Womit sich die Ökonomie eigentlich beschäftigen sollte

Im Herbst 2004 wurde ich von der Dag Hammarskjöld-Stiftung zu einem Forschungsworkshop zur Zukunft der Wirtschaft eingeladen. Die Veranstaltung fand im Haus meiner langjährigen Freundin und Kollegin Hazel Henderson statt, die zu den Vorreiterinnen auf dem Weg zu einer neuen Art des Wirtschaftens gehört. Die 25 Teilnehmenden, darunter gegenwärtige wie ehemalige Vertreterinnen und Vertreter aus Wissenschaft, sozialen Bewegungen und Regierungspolitik, kamen aus Lateinamerika, Europa, Asien, Afrika, Australien und den USA.

Ausgangspunkt unserer Diskussion war eine Kritik an der sogenannten Neoklassik, also der heute vorherrschenden und oft einzigen Wirtschaftstheorie, die an westlichen Universitäten gelehrt wird. Diese Theorie hat sich aus den früheren klassischen Wirtschaftstheorien von Adam Smith, David Ricardo und anderen »Vätern« der modernen Kapitalismuslehre heraus entwickelt. Sie beschäftigt sich vornehmlich mit der Analyse und Vorhersage dessen, wie der Markt funktioniert. Dabei bedient sie sich hauptsächlich mathematischer Modelle, die eine Art geschlossenen Kreislauf bilden und auf grundlegenden, ja als unantastbar geltenden Annahmen beruhen.

Zu diesen Annahmen gehört unter anderem die Vorstellung eines Homo oeconomicus, der auf Basis rationaler Eigeninteressen fundierte Entscheidungen trifft. Hinzu kommt die Vorstellung, dass der Wettbewerb diese auf Eigeninteressen basierenden Entscheidungen in einer sich selbst organisierenden Dynamik reguliert, was letztendlich dem Allgemeinwohl zugutekäme. Außerdem wird davon ausgegangen, dass die Regierung sich nicht in das Marktgeschehen einmischen solle – eine Ansicht, die als das eigentliche Kernstück der aktuellsten neoklassischen Theorie, dem sogenannten Neoliberalismus, betrachtet werden kann. Diese Theorie wird weltweit von den Vertretern des Neokonservativismus propagiert, die Privatisierungen, Deregulierungen der Märkte und einen von Nationalgrenzen und Nationalinteressen ungehinderten Handel als Wundermittel gegen alle unsere Probleme ansehen.

Zunächst lag der Schwerpunkt des Forschungstreffens der Hammarskjöld-Stiftung darauf, die Defizite der neoklassischen und neoliberalen Wirtschaftstheorien und -modelle zu benennen. Einige Teilnehmende erklärten, dass diese Modelle nicht mit den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen in Einklang zu bringen seien und verwiesen dabei auf Forschungsarbeiten aus der Physik, die Fehler in den computergestützten Analysemethoden und den orthodoxen Wirtschaftsmodellrechnungen offengelegt haben. Diese reduktionistischen Methoden, so ihre Schlussfolgerung, führten zu einem verzerrten Bild der Wirklichkeit. Andere Teilnehmer zeigten auf, wie Märkte heute massiv durch ausgeklügelte Marketingstrategien manipuliert werden, die künstliche Vorlieben und sogar künstliche Bedürfnisse schaffen. Auch die Prämisse, dass Wettbewerb den Markt reguliert, wurde infrage gestellt. Dabei wurde darauf hingewiesen, dass überall auf der Welt Großkonzerne kleinere Firmen durch Übernahme bzw. Aufkauf schlucken oder sie durch Preisdruck in den Ruin treiben.

Die Diskussion ging dann von der Wirtschaftstheorie zur aktuellen Weltlage über. Viele Teilnehmende kritisierten zum einen den Trend zur Privatisierung von Trinkwasser und anderen lebensnotwendigen Gütern, zum anderen die Anhäufung von immer mehr Vermögen und Macht in multinationalen Konzernen und bei wenigen Superreichen. Andere beanstandeten die fehlende Rechenschaftspflicht für Akteure der Globalisierung (wie zum Beispiel Unternehmen) und internationale Handelsverträge oder das fatale Ausblenden der Umweltzerstörung. Außerdem wurden Neuerungen gefordert, wie zum Beispiel messbare Indikatoren für Lebensqualität (wie der Glücksindex im Königreich Bhutan), aber auch internationale Gerichtshöfe für Produkthaftung sowie neue Lehrbücher und Kurse, in denen alternative ökonomische Sichtweisen dargestellt werden.

Im Laufe der Diskussion wurde allerdings noch etwas anderes immer deutlicher: Trotz zahlreicher gemeinsamer Bedenken und Kritiken gab es in einem Punkt große Unstimmigkeit – und zwar bei der Frage, welchen Bereich die Wirtschaft umfasst bzw. umfassen sollte.

Einige Teilnehmende interessierten sich – ebenso wie die etablierten Wirtschaftswissenschaftler, an denen sie Kritik übten – nur für den schmalen Bereich der ökonomischen Beziehungen innerhalb der Marktwirtschaft. Sie lehnten ökonomische Modelle strikt ab, wenn in diesen auch unbezahlte Care-Arbeit berücksichtigt wurde, die vornehmlich in Privathaushalten und anderen nicht monetären Wirtschaftsbereichen geleistet wird.10 Dies rechtfertigten sie zunächst damit, dass diese Arbeit nicht quantitativ erfassbar sei. Als darauf hingewiesen wurde, dass dies durchaus möglich sei und bereits getan würde, blieben sie dennoch einmütig dabei, dass diese Arbeit nicht miteinbezogen werden solle.11 Während sie sich einerseits also durchaus im Klaren darüber waren, dass fehlerhafte Wirtschaftsmodelle zu fehlerhafter Wirtschaftspolitik führen, machten sie andererseits deutlich, dass sie kein Interesse daran hatten, den Wirtschaftsbegriff auszuweiten oder gar neu zu definieren.

Doch diese Ausweitung und Neudefinition ökonomischer Modelle findet bereits statt. Seit geraumer Zeit haben weltweit Tausende von Männern und Frauen auf die Absurdität hingewiesen, dass die elementarste menschliche Tätigkeit in der Wirtschaftspolitik und der Wirtschaftsgesetzgebung völlig ausgeblendet wird. Bereits 1988 veröffentlichte Marilyn Waring ein bahnbrechendes Buch zu diesem Thema.12 Seitdem haben auch Barbara Brandt, Ann Crittenden, Marianne Ferber, Nancy Folbre, Janet Gornick, Heidi Hartmann, Hazel Henderson, Marcia Meyers, Julie Nelson, Hilkka Pietilä, Genevieve Vaughan und weitere Wirtschaftswissenschaftlerinnen vehement darauf hingewiesen, dass Care-Arbeit in der Wirtschaftstheorie und -praxis berücksichtigt werden muss.13 Weitere Vordenker, wie zum Beispiel Edgar Cahn, Nirmala Banerjee, Herman Daly, Devaki Jain, David Korten, Paul Krugman, Amartya Sen und Thomas Piketty, weisen nachdrücklich darauf hin, dass wir ökonomische Beziehungen aus einem weiteren Blickwinkel heraus betrachten müssen.14 Ihre Arbeiten, besonders die von Pietilä und Henderson, bilden die Grundlage für das erweiterte ökonomische Modell, das für eine Caring Economy notwendig ist.

1.2 Die Wirtschaft neu vermessen

Wenn wir ein neues Wirtschaftsmodell entwickeln wollen, müssen wir ihm eine ganzheitliche Betrachtung der Wirtschaftsbeziehungen zugrunde legen – und zwar angefangen bei der Beziehung der Menschen zu ihrer Mitwelt bis hin zu den ökonomischen Beziehungen in Familien und anderen Lebensgemeinschaften. Hierfür ist eine umfassende und realitätsgetreue Darstellung nötig, die alle Bereiche der Wirtschaft berücksichtigt.

Im Zentrum dieses neuen Wirtschaftsmodells steht der Privathaushalt. Er ist das eigentliche Herzstück der Wirtschaftsproduktivität, denn er ist Grundlage und Voraussetzung für sämtliche anderen Bereiche. Haushalte sind – anders als in den meisten Texten der Ökonomie beschrieben – nicht nur konsumierende Einheiten, sondern vielmehr Produktionsstätten, wobei ihr wichtigstes »Produkt« seit jeher Menschen sind – und dieses »Produkt« ist in der postindustriellen Wirtschaft, in der Unternehmen mantrahaft nach »hoch qualifiziertem Humankapital« verlangen, von größter Bedeutung.

Das neue Wirtschaftsmodell

Unsere Herausforderung besteht darin, eine Caring Economy zu schaffen, die unseren Bedürfnissen und Fähigkeiten gerecht wird, unsere Mitwelt bewahrt und unser großartiges Potenzial an Fürsorge und Kreativität zur Entfaltung bringt.

Wenn in herkömmlichen Wirtschaftsanalysen die Voraussetzungen für hoch qualifiziertes Humankapital untersucht werden, finden Fürsorge und Care-Arbeit in der Regel keine Beachtung. In herkömmlichen Wirtschaftsmodellen werden die grundlegenden Wirtschaftssektoren – Privathaushalte, Non-Profit-Bereich und Ressourcenwirtschaft – ausgeblendet, was zu verzerrter Wahrnehmung und einer verfehlten Politik führt.

Das neue Wirtschaftsmodell beinhaltet alle sechs Wirtschaftssektoren:

• Erster und grundlegender Sektor: Privathaushalte• Zweiter Sektor: Non-Profit-Bereich• Dritter Sektor: Marktwirtschaft• Vierter Sektor: Illegale Schattenwirtschaft• Fünfter Sektor: Staatswirtschaft• Sechster Sektor: Ressourcenwirtschaft

Den zweiten Sektor bildet der Non-Profit-Bereich, also die Gemeinwirtschaft, in der anstelle von Gewinn vorrangig nicht-monetäre Ziele verfolgt werden. Dazu zählen das ehrenamtliche Engagement für zivilgesellschaftliche Anliegen wie karitative Zwecke oder Fragen sozialer Gerechtigkeit ebenso wie manche Aspekte der alternativen Tauschwirtschaft, zum Beispiel lokale Tauschringe oder Regionalwährungen, die sich immer stärker verbreiten. Auch in diesem Sektor spielen Fürsorge und Care-Arbeit eine wichtige Rolle.

Die Marktwirtschaft bildet den dritten Sektor. Dieser Sektor steht im Zentrum der konventionellen Wirtschaftsanalysen und -beschreibungen – und obwohl der Markt von den beiden ersten Sektoren angetrieben wird, werden diese bei marktwirtschaftlichen Bewertungen und Regelungen nicht berücksichtigt. Zurzeit ist die Marktwirtschaft oft so aufgebaut, dass sie Fürsorge und Care-Arbeit eher verhindert als fördert – obwohl Studien gezeigt haben, dass Beschäftigte kreativer und produktiver sind, wenn sie das Gefühl haben, dass ihre Bedürfnisse berücksichtigt werden.

Zum vierten Sektor, der illegalen Schattenwirtschaft, gehören Drogen-, Sex- und Waffenhandel ebenso wie wirtschaftliche Aktivitäten, die von kriminellen Syndikaten oder Banden kontrolliert werden. In diesem Sektor mangelt es typischerweise an Fürsorge (ganz zu schweigen von den Morden und anderen Gräueltaten, die für ihn charakteristisch sind).

Die Staatswirtschaft bildet den fünften Sektor. Der Staat regelt die Marktwirtschaft durch politische Entscheidungen, Maßnahmen und Gesetze. Außerdem bietet er – entweder direkt oder indirekt über private Unternehmen – Dienstleistungen an, die Care-Tätigkeiten beinhalten, wie zum Beispiel das öffentliche Gesundheitswesen. Doch für unbezahlte Care-Arbeit in Privathaushalten und im Non-Profit-Bereich gibt es in den meisten Staaten nur wenig Unterstützung, obwohl alle anderen Wirtschaftssektoren doch von dieser Arbeit abhängig sind. Außerdem geht Regierungspolitik oft rücksichtslos an den Belangen der Mehrheit vorbei, um die Interessen der Wohlhabenden zu befriedigen, und den meisten Staaten gelingt es nicht, mit ihrer Politik die rücksichtslose Ausbeutung und Verschmutzung unserer Ressourcen zu verhindern.

Dabei ist die Ressourcenwirtschaft, die den sechsten Sektor darstellt, ebenso wie die Haushaltswirtschaft der Privathaushalte von grundlegender Bedeutung, denn unser natürliches Umfeld generiert Rohstoffe, von denen die Marktwirtschaft abhängig ist. Trotzdem findet auch die Natur in herkömmlichen Wirtschaftsmodellen nur wenig Berücksichtigung und dies hat eine Ausbeutung natürlicher Ressourcen zur Folge, deren Auswirkungen durch die Entwicklung immer wirkmächtigerer Technologien zunehmend katastrophaler werden. Lange Zeit wurde Umweltschutz in Wirtschaftstheorien gar nicht berücksichtigt, mittlerweile steht er in Kosten-Nutzen-Analysen üblicherweise auf der Kostenseite.

Die hier beschriebenen sechs Wirtschaftssektoren interagieren beständig miteinander. Wenn wir die Veränderungen herbeiführen möchten, die in unserer Welt heute nötig sind, müssen wir alle diese Sektoren in die Betrachtung miteinbeziehen. Die Herausforderung besteht darin, Wirtschaftsmodelle sowie Maßnahmen und Regeln zu entwickeln, die den ersten, zweiten und sechsten Sektor berücksichtigen und ihnen den gebührenden Wert beimessen – denn das ist die Grundlage für eine Caring Economy, eine Ökonomie, die auf Fürsorge basiert. Wir brauchen ein System, das unseren Bedürfnissen und Fähigkeiten gerecht wird, statt sie auszunutzen, das unsere Mitwelt bewahrt, statt sie zu zerstören, und das unser großartiges Potenzial an Fürsorge und Kreativität zur Entfaltung bringt, statt es einzuschränken.

1.3 Kultur, Wirtschaft und Werte

Wirtschaftssysteme werden von Menschen geschaffen. Sie ändern sich und können geändert werden. Im Lauf der vergangenen 500 Jahre und der technologischen Entwicklung entstanden im Westen unterschiedliche Wirtschaftssysteme. Während des Wandels von einer fast reinen Agrarwirtschaft zur Industriewirtschaft wurde der Feudalismus Schritt für Schritt durch den Kapitalismus und in manchen Ländern durch den Sozialismus ersetzt. Heute befinden wir uns mitten in einer weiteren großen Umwälzungsphase, doch der Übergang von der industriellen in eine postindustrielle Gesellschaft unterscheidet sich von früheren Transformationen.

Dieser Übergang in eine von technologischen Entwicklungen in den Bereichen Elektronik, Biochemie und Nuklearforschung geprägte postindustrielle Gesellschaft vollzieht sich nicht wie frühere Übergänge im Lauf mehrerer Jahrhunderte, sondern innerhalb weniger Jahrzehnte. Und anders als frühere Übergänge wird er bereits intensiv erforscht, noch während er sich vollzieht. Außerdem handelt es sich dabei um eine globale Entwicklung, in deren Rahmen uns immer bewusster wird, dass es so nicht weitergehen kann, weil unsere Zukunft auf dem Spiel steht, wenn wir keine grundlegenden Veränderungen in die Wege leiten.

Historisch gesehen hat die Einführung neuer Technologien auch immer einen gewissen Wertewandel zur Folge gehabt. Zum Beispiel galt in einer Agrargesellschaft Landbesitz als höchstes Gut, was sich mit dem Übergang zur Industriegesellschaft änderte, bei dem Maschinen und andere Anlagegegenstände zunehmend an Wert gewannen.

Doch Werte, die – wie im Beispiel oben – von technischen Faktoren bestimmt werden, sind nur eine (vergleichsweise unbedeutende) Variable in der Gesamtwirtschaftsrechnung. Viel bedeutender und änderungsresistenter sind die zugrunde liegenden kulturellen Werte und die sozialen Strukturen, zu denen die jeweiligen Wirtschaftssysteme gehören. Unsere Vorstellungen davon, was wertvoll ist und was nicht, sind meist unbewusst. Wie wir sehen werden, hängen sie stark von Annahmen ab, die wir aus früheren Zeiten übernommen haben. Damals galt alles, was mit der weiblichen Hälfte der Menschheit assoziiert wurde – wie zum Beispiel Fürsorge und Care-Arbeit – als weniger wertvoll. Heute ist die Gleichwertigkeit von Mann und Frau zu einem westlichen Ideal geworden, und immer mehr Männer lassen sich auf »weibliche« Tätigkeiten ein: So kümmern sich heute zum Beispiel viele Väter in einer Weise um ihre Säuglinge und Kleinkinder, die früher als »unmännlich« gegolten hätte. Dennoch lassen die meisten aktuellen Wirtschaftssysteme immer noch Fürsorge und Care-Arbeit in Familie und Gesellschaft unberücksichtigt, was zu massiver Ungleichheit und zu dysfunktionalen wirtschaftlichen Verhältnissen führt.

Tatsächlich beruht die Absurdität, die unsere Wirtschaft prägt, auf dieser systematischen Entwertung der Tätigkeiten, die am meisten zum menschlichen Wohlergehen und der menschlichen Entwicklung beitragen. So wird der Großteil der Care-Arbeit bei der Messung der Wirtschaftsproduktivität, zum Beispiel bei der Berechnung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) oder des Bruttonationaleinkommens (BNE), überhaupt nicht berücksichtigt.15

Und das ist noch nicht alles: Die Wirtschaftspolitik versagt nicht nur darin, Care-Arbeit zu unterstützen, die unbezahlt in Privathaushalten geleistet wird – auch in der Marktwirtschaft erhalten Erwerbstätige in Care-Berufen unterdurchschnittliche Löhne. In den USA sind die Menschen mit Selbstverständlichkeit bereit, einem Installateur, der sich um ihre Abwasserrohre kümmert, 50 bis 100 Dollar pro Stunde zu zahlen, während die Erzieher, die sich um ihre Kinder kümmern, nach Angaben des US-Arbeitsministeriums im Schnitt nur einen Stundenlohn von unter 12 Dollar erhalten.16 Auch setzt man in den USA bei Installateuren eine Ausbildung voraus, während es akzeptiert wird, dass auch Menschen ohne entsprechende Ausbildung in der Kinderbetreuung arbeiten. Das ist nicht logisch, sondern pathologisch, und wenn wir etwas daran ändern wollen, müssen wir über die üblicherweise in Wirtschaftsanalysen betrachteten Bereiche hinausschauen.

1.4 Der Care-Wert

Derzeit wird in der Wirtschaftstheorie davon ausgegangen, dass sich der Wert eines Produkts oder einer Dienstleistung aus Angebot und Nachfrage ergibt, also knappe Güter oder Dienstleistungen wertvoller sind als solche, die reichlich zur Verfügung stehen. Dabei werden jedoch zwei wichtige Punkte übersehen: Zum einen schaffen die aktuelle Wirtschaftspolitik und -praxis, wie in den folgenden Kapiteln gezeigt wird, häufig künstliche Knappheit. Zum anderen – und auch hierauf wird noch ausführlicher eingegangen – wird die Nachfrage zum großen Teil davon bestimmt, was nach den kulturellen Überzeugungen wertvoll bzw. nicht wertvoll ist.

Sehr viel vernünftiger und realistischer wäre es, Standards für den wirtschaftlichen Wert von Produkten oder Dienstleistungen danach zu bestimmen, ob diese dem Überleben und der Weiterentwicklung der Menschen dienen oder nicht. Nach einem solchen Standard würde einer Care-Kultur – also einer Kultur, die unser Wohlergehen und unsere Entwicklung sowie das Wohlergehen und die Entwicklung unserer Mitmenschen und unserer Mitwelt berücksichtigt – ein hoher Wert beigemessen. Und das gälte auch für Care-Arbeit und die Schaffung menschen- und mitweltfreundlicher Umfelder 17 in Haushalten, Unternehmen, Kommunen und Staaten.

Das bedeutet keineswegs, dass jegliche Fürsorge oder Care-Arbeit finanziell entlohnt werden müsste. Es gibt sehr viele andere Möglichkeiten, wie diese Arbeit anerkannt und belohnt werden kann (und muss) — angefangen von informellen Tauschbörsen, in denen Fürsorgeleistungen ausgetauscht werden können, bis hin zu einer Unternehmens- und Regierungspolitik, die Fürsorge und Care-Arbeit unterstützt und fördert.

In den folgenden Kapiteln wird näher auf eine Caring Economy eingegangen. In diesem Zusammenhang soll noch einmal klargestellt werden, dass Care-Arbeit oder Fürsorgearbeit hier Tätigkeiten bezeichnet, die von Empathie, Verantwortungsbewusstsein und der Sorge um das Wohlergehen der Menschen und ihre optimale Entwicklung getragen werden. Außerdem wird in einer Care-Kultur Fürsorge und Care-Arbeit in allen Lebensbereichen sichtbar gemacht und wertgeschätzt – von den Privathaushalten und Kommunen bis hin zu den Unternehmen und der Politik.

1.5 Die Schaffung einer Caring Economy

Wir befinden uns an einem Kipppunkt, einem Wendepunkt der Weltgeschichte, der nicht weniger verlangt als einen grundlegenden Wandel. Wenn wir die wirtschaftlichen Kenngrößen betrachten, die auf den folgenden Seiten aufgeführt werden, erkennen wir, dass wir in der Weltwirtschaft gigantische Verluste zu verzeichnen haben. Es wird mehr als deutlich, dass wir unser natürliches Umfeld nicht weiterhin so ausbeuten und verschmutzen können wie bisher. Und es wird klar, dass wir – wenn wir ein erfüllteres und sorgenfreieres Leben führen wollen – Fürsorge und Care-Arbeit angemessen wertschätzen müssen, und zwar nicht nur die im Rahmen der Marktwirtschaft geleistete Care-Arbeit, sondern auch die Care-Arbeit in allen anderen Wirtschaftssektoren – angefangen bei den Privathaushalten bis hin zur Ressourcenwirtschaft.

Wir erliegen einer Selbsttäuschung, wenn wir glauben, wir könnten unsere Umweltprobleme allein durch weniger umweltschädliche Technologien oder eine Änderung unseres Konsumverhaltens lösen. Selbst wenn wir in dieser Hinsicht Erfolg hätten – was eher zweifelhaft ist, wenn wir uns nicht tiefergehend mit den Ursachen auseinandersetzen – würden immer wieder neue Krisen entstehen, solange wir keine fundamentalen Veränderungen vornehmen.

Voraussetzung für solche Veränderungen ist, dass wir uns bewusst werden, dass sich die ökonomischen Strukturen und Regeln sowie das Wertesystem einer Gesellschaft und ihrer Institutionen wie in einer Endlosschleife ständig wechselseitig beeinflussen. In Zeiten sozialen Gleichgewichts ist diese Schleife recht stabil und das dahinterstehende Wertesystem wird für so selbstverständlich erachtet, dass es gar nicht mehr bewusst wahrgenommen wird. In Zeiten starker Unbeständigkeit oder Ungleichheit wie den unseren treten die dem System zugrunde liegenden Strukturen und Werte jedoch deutlicher hervor. Deshalb sind heute grundlegende Veränderungen möglich – also Veränderungen, die das System transformieren, anstatt es einfach nur in gewissem Grade zu modifizieren.

Um eine Caring Economy zu entwickeln, müssen wir uns nicht nur auf die Wirtschaftstheorie und -praxis konzentrieren, sondern auch auf kulturelle Werte und gesellschaftliche Institutionen. Als Ausgangspunkt hierfür dienen drei Fragen:

1. Welchen Eigenschaften, Tätigkeiten, Dienstleistungen und Produkten wollen wir einen hohen bzw. einen niedrigen wirtschaftlichen Wert zuerkennen?2. Können wir tatsächlich eine soziale und umweltfreundliche Wirtschaftspolitik und -praxis erwarten, solange Fürsorge nicht gesellschaftlich wertgeschätzt und finanziell anerkannt wird? 3. Welche wirtschaftlichen Konstrukte sind nötig, um ein Wirtschaftssystem zu schaffen, das stärker auf Fürsorge basiert und effektiver, innovativer und nachhaltiger ist als unser aktuelles?

Sämtliche wirtschaftlichen Institutionen sind Konstrukte – angefangen von Banken über Aktienbörsen, Sozialversicherungssysteme und Gesundheitsfürsorge bis hin zu Kolonialismus, Sweatshops und Kinderarbeit. Arbeitslosenversicherung und Elternzeit sind wirtschaftliche Konstrukte, die eine stärkere Fürsorge für alle Mitglieder einer Gruppe garantieren sollen. Aber auch Sklaverei und Zwangsarbeitslager sind wirtschaftliche Konstrukte – diese sind jedoch wie Sweatshops, Kolonialismus und Kinderarbeit darauf ausgerichtet, bestimmte Mitglieder einer Gruppe effektiver auszubeuten oder sie sogar, falls »nötig«, umzubringen.

Anders ausgedrückt ist ein wirtschaftliches Konstrukt eine Möglichkeit, natürliche, menschliche und menschengemachte Ressourcen zu nutzen und zu verteilen. Aber welcher Art diese Konstrukte sind – und welche Konsequenzen sie nach sich ziehen – hängt vom herrschenden Wertesystem und den auf diesem Wertesystem basierenden gesellschaftlichen Institutionen ab. In unserer Zeit, in der wir – von Werten wie Eroberung, Ausbeutung und Dominanz geleitet – unser Überleben durch Fortschrittstechnologien gefährden, brauchen wir einen Wandel zu einem Fürsorge-Ethos sowie wirtschaftliche Konstrukte, die von einem solchen Ethos getragen werden. Wir brauchen eine Care-Revolution.

Wir müssen entscheiden, welche bestehenden wirtschaftlichen Konstrukte wir beibehalten und welche wir verwerfen wollen. Außerdem müssen wir neue wirtschaftliche Kennzahlen und Regeln sowie politische Strategien und Praktiken entwickeln, die sich an Werten orientieren, die der gerechteren und nachhaltigeren Zukunft entsprechen, die wir uns wünschen und die wir brauchen. Vor allem aber müssen wir das kulturelle Fundament, auf dem sowohl das kapitalistische als auch das kommunistische Wirtschaftssystem basieren, neu errichten und darauf aufbauend ein neues Wirtschaftssystem entwickeln, in dem die grundlegendste menschliche Tätigkeit – die Care-Arbeit – echte Wertschätzung erfährt.

Eine Caring Economy fördert Fürsorge und Care-Arbeit im privaten Bereich ebenso wie in Organisationen, in der Gesellschaft und in Hinblick auf unsere Mitwelt. Sie berücksichtigt das vollständige Spektrum der menschlichen Bedürfnisse, also nicht nur unsere materiellen Bedürfnisse wie Nahrung und Unterkunft, sondern auch unser Bedürfnis nach sinnvoller Betätigung und Lebenssinn. Dieses Wirtschaftssystem ist in ein Gesellschaftssystem integrierbar, das auf Partnerschaft, also gegenseitigem Respekt und Verantwortlichkeit beruht (Partnerschaftssystem), und passt nicht zu einem hierarchischen Gesellschaftssystem der Dominanz (Dominanzsystem).