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LOYALITÄT Die PHOENIX ist in die ISA zurückgekehrt. Durch Verrat gelangt diese Information auch zu den Zarshash-Piraten. Deren Anführerin Mrreyna hat noch eine Rechnung mit Captain Melori offen und versucht nun alles, um sie endgültig zu töten. Währenddessen steht Melori vor einem Tribunal des IsteND und muss sich für ihren Ausflug in die Gronthagu Liga verantworten, denn der Verdacht auf Hochverrat durch nicht nur Melori steht im Raum. Den nehmen die Verantwortlichen beim Geheimdienst zum Anlass, die PHOENIX und ihre Mannschaft genauestens unter die Lupe zu nehmen. Diese Untersuchung droht, die Geheimnisse des Schiffes zu offenbaren. Doch das hätte fatale Folgen für die gesamte Crew und für die Sicherheit der ISA. DIE SPUR DES VERRATS Während die PHOENIX in einer geheimen Werft aufgerüstet wird, gelingt es Captain Melori, eine Nachricht Admiral Grahams zu entschlüsseln, die sie auf eine erste konkrete Spur zu den Verrätern führt. Außerdem versucht sie, das Volk der Weltraumnomaden, die Ruaneh, für ein aktives Vorgehen gegen die Piratengilde zu gewinnen. Mit Erfolg?Zur selben Zeit ist die Sureyini Lal in geheimer Mission unterwegs, um den Telepathen zu finden, der mit den Verrätern gemeinsame Sache macht. Doch das bringt nicht nur Lal in Lebensgefahr. Und auch die Gronthagu Matriarchin Ashshannak sieht sich mit Schwierigkeiten konfrontiert, die ihre Pläne zu zerstören drohen.
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Seitenzahl: 284
MISSION PHOENIX
Mara Laue
Band 5:
Die Verschwörung
Impressum
Copyright: vss-verlag
Jahr: 2021
Lektorat/ Korrektorat: Hermann Schladt
Covergestaltung: Sabrina Gleichmann
Verlagsportal: www.vss-verlag.de
Gedruckt in Deutschland
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Loyalität
Sretalles, 4. Planet der Sonne Shelas
28.03.351 ISA-Zeit – 20.08.2546 Terrazeit
Melori schlenderte durch die Haupthalle einer großen Galerie in der Hauptstadt Serriskee. Hier wurden auf zwanzig Etagen die unterschiedlichsten Kunstrichtungen ausgestellt. In der Haupthalle wurde die neueste Ausstellung präsentiert, die nach einem Monat in die erste Etage umzog und mit jedem weiteren Monat eine Etage höher wanderte. Wenn sie die zwanzigste erreicht hatte, wurden alle Kunstwerke, die bis dahin nicht verkauft worden waren, von den Kunstschaffenden abgeholt.
Die aktuelle Ausstellung zeigte abstrakte Gemälde in leuchtenden Farben, deren Farbflächen in Holografietechnik erstellt worden waren. Dadurch wirkten sie nicht nur dreidimensional, sondern erweckten auch den Anschein, sich zu bewegen, sich ineinander zu verschieben und ständig neue Muster zu bilden. Auffallend war, zumindest für viele Nicht-Sretalleseh, dass auf allen Bildern die Farbe Rot fehlte. Doch Melori wusste, dass Sretalleseh Rot nur für religiöse Rituale verwendeten. Auf den ausgestellten Bildern herrschten die Farben Violett, Blau, Grün und Gelb vor.
Während sie von einem Bild zum nächsten ging, hielt sie unauffällig Ausschau nach dem Künstler. In der Ankündigung der Galerie für den heutigen Tag hieß es, dass Brinok Bowasha anwesend sein und interessierten Wesen seine Maltechnik und die Bilder erklären würde. Doch sie sah ihn nirgends. Erst als sie einen abgelegenen Gang betrat, der mehr einer langgestreckten Nische glich, entdeckte sie ihn. Er saß in einem Sessel und starrte auf ein Bild. Die Ohren hatte er dicht an den Kopf gelegt und sein katzenhaftes Gesicht zeigte einen Ausdruck tiefer Trauer. Auf seiner Schulter saß ein dunkelblauer Ghrimbal. Ein etwas hellerer hockte auf der Rückenlehne des Sessels und ließ seinen langen Schwanz über Bowashas Schulter in seinen Schoß fallen. Und ein dritter mit weißblauem Fell hockte neben dem Sessel und hatte seine Hand auf Bowashas Arm gelegt.
Brinok Bowasha war das einzige Wesen, dem Melori je begegnet war, das von drei Ghrimbals begleitet wurde statt nur von einem. Die Ghrimbals hatten sie längst bemerkt und behielten sie wachsam im Blick ihrer goldschillernden Augen. Bowasha selbst schien sie nicht wahrzunehmen.
„Shanashiin, Brinok Bowasha“, sagte sie leise den sretallesischen Gruß. „Ashnarra segne Sie.“
Er zuckte zusammen, sprang hastig auf und fletschte die formidablen Raubtierzähne, wobei er warnend knurrte. Seine Ghrimbals gaben leise flötende Laute von sich, was den Effekt hatte, dass er sich augenblicklich beruhigte.
„Verzeihen Sie mir“, bat Melori. „Ich wollte Sie nicht erschrecken. Ich bin Melori, ehemaliges IsteP-Mitglied. Vielleicht erinnern Sie sich an mich? Wir sind uns damals auf der SALAK 221 begegnet, als wir Sie nach Hause gebracht haben.“
Brinok Bowasha entspannte sich. „Ich erinnere mich gut an Sie. Nicht nur, weil Sie Sretallesisch mit mir gesprochen haben, was ...“ Er gab einen schnurrenden Laut von sich und ließ den Satz unvollendet. „Sie haben mir auch Zuflucht in Ihrem Quartier gewährt, wenn die Inquisition hinter mir her war. Wofür ich Ihnen immer noch zutiefst dankbar bin.“
Melori lachte leise. „Captain Romanow und Admiral Trevayaa haben mir das nie verziehen.“
Zumindest zu Anfang hatten sie das nicht getan. Besonders der Sicherheitschef hatte ihr verübelt, dass sie Bowasha unter der Vortäuschung, eine intime Beziehung mit ihm zu pflegen, Romanows Dauerüberwachung entzogen und auch verhindert hatte, dass er zu seiner Zeit bei den Grontheh befragt werden konnte. Später hatten sowohl Romanow wie auch Admiral Trevayaa eingesehen, dass der Sretalleser genau diese Abgeschiedenheit vordringlich gebraucht hatte und ihn weitgehend in Ruhe gelassen. Bowasha hatte unter einem immensen Schock gestanden und war bis heute nicht bereit gewesen, über seine Zeit der Gefangenschaft bei den Grontheh zu sprechen. Kein einziges Wort, obwohl IsteND-Mitglieder ihn mehr oder weniger regelmäßig kontaktierten, um zu erfahren, was er wusste.
Sein Schweigen hatte zunächst zu Spekulationen Anlass gegeben, ob die Grontheh ihn womöglich umgedreht und als Spion zurückgeschickt hatten, weshalb er immer noch unter der subtilen Beobachtung des Geheimdienstes stand. Doch Brinok Bowasha schwieg, weil er das erlebte Grauen nicht in Worte fassen konnte und auch nicht wollte.
Man hatte vor Jahren seine gesamte Familie entführt und in die Gronthagu Liga verschleppt, um seine auf der SALAK stationierte Cousine Zena zu zwingen, den nagdanischen Botschafter zu töten, bevor die SALAK ihn zu einem Treffen mit dem Interstellaren Rat bringen konnte. Zena Bowasha hatte gehorcht, um ihre Familie zu retten, nicht ahnend, dass die Grontheh und ihre nagdanischen Helfer ihre gesamte Familie längst getötet hatten. Brinok war als Einziger dem Massaker entkommen – und hatte bei seiner Rückkehr vom Verrat seiner Cousine erfahren müssen, die zu dem Zeitpunkt ebenfalls schon tot war. Für einen traditionsbewussten Sretalleser, der zu einem uralten und sehr angesehenen „Haus“ gehörte, war das die größtmögliche Schande.
Nichtsdestotrotz war Bowasha das einzige Wesen innerhalb der ISA, das möglicherweise mehr über die Grontheh wusste, als Melori inzwischen erfahren hatte. Da niemand ohne hinreichende Indizien auf Hochverrat oder ein anderes schwerwiegendes Verbrechen einer telepathischen Bewusstseinssondierung unterzogen werden durfte, schied diese Methode der Informationsgewinnung aus. Solange Bowasha nicht freiwillig redete, blieb seine Zeit bei den Grontheh sein Geheimnis. Melori hoffte, dass er es mit ihr teilen würde, denn er hatte mit Sicherheit die Nachrichten verfolgt und erfahren, dass eine Entspannung des Verhältnisses zwischen Gronthagu Liga und ISA in Aussicht stand.
„Was führt Sie nach Sretalles?“, fragte er. „Aus Ihrer Zivilkleidung schließe ich, dass Sie privat gekommen sind.“
Melori nickte. „Ich habe die IsteP vor einigen Jahren verlassen und bin jetzt in der Forschungsabteilung der Terranischen Raumflotte tätig. Meine Crew und ich sind auf dem Rückweg von der Erforschung der Kultur der Ikamareh. Ich las im Veranstaltungskalender von ISA Cultura, dass Sie hier eine Ausstellung haben und wollte mir die unbedingt ansehen. Haben Sie das Bild, das Sie damals auf der SALAK gemalt haben – Sie wissen: das in den wundervollen Grüntönen mit dem Goldstreifen – auch hier ausgestellt? Oder ist es schon verkauft?“
„Nein.“ Bowasha hatte seine Nervosität verloren und wirkte relativ entspannt. „Weil es das erste Bild war, das ich nach – meiner Rückkehr gemalt habe, wollte ich es nicht zu den anderen hängen. Warum fragen Sie danach?“
Melori lächelte. „Ich fand es so faszinierend und wunderschön, dass ich es immer wieder vor Augen habe. Aber ich verstehe, dass Sie es nicht verkaufen wollen.“
„Ich gebe es Ihnen gern, wenn Sie es haben möchten. Ich dachte nur nicht, dass es irgendjemand würde haben wollen. Es ist so ...“ Wieder sprach er den Satz nicht zu Ende.
„Voller Schmerz und Trauer?“, vermutete Melori, denn Grün war für die Sretalleseh die Farbe der Trauer. „Aber mit dem goldenen Akzent haben Sie einen Lebensfaden und die Hoffnung in das Bild eingewoben. Deshalb fand ich es schon damals wundervoll.“
An der Art, wie Bowasha sie ansah, merkte sie, dass er sich von ihr verstanden fühlte. Das hatte sie gehofft. Ebenso, dass er dadurch zugänglicher wäre.
„Wenn Sie Zeit haben, können Sie es gleich mitnehmen!“, bot er an. „Es ist bei mir zu Hause.“
„Gern.“ Auch auf dieses Angebot hatte sie gehofft, denn sie wollte mit ihm allein sein. Doch damit er sich nicht überfallen fühlte, hatte sie ihn nicht schon vor ein paar Tagen zu Hause aufgesucht, obwohl die PHOENIX in ihrer Tarnung als lingulanisches Forschungsschiff seit drei Tagen auf dem Hauptraumhafen des Planeten stand. Offiziell für einen ausgedehnten Landurlaub für die Crew. In Wahrheit war Brinok Bowasha der einzige Zweck ihres Kommens.
Minuten später hatte der Personentransmitter der Galerie Melori, Bowasha und die drei Ghrimbals zu der öffentlichen Empfangsstation transportiert, die nur ein Stück von Bowashas Haus entfernt war. Kurz darauf ließ er Melori in sein Allerheiligstes ein.
Das Haus glich einer Festung. Bowasha hatte es mit jedem nur erdenklichen Sicherheitsequipment ausgestattet, das ein Haus auf Sretalles legal haben durfte: Alarmanlagen, Sicherheitstüren und sogar einen Schutzschildgenerator, der das Haus gegen die häufig auftretenden Sternenstaubschauer schützen sollte, die mehrmals im Jahr in die Atmosphäre eindrangen, wenn der Planet auf seiner Umlaufbahn „Ashnarras Gürtel“ passierte, wie dieser Bereich des Sonnensystems genannt wurde. Doch selbstverständlich verhinderte der Schild auch ein unbefugtes Eindringen.
Im Haus angekommen zögerte Bowasha. Die Höflichkeit gebot, dass er Melori zu einem zeremoniell zubereiteten Omaskena-Trunk einlud, der aus frischen Omaskena-Beeren gepresst wurde. Doch Melori in seinem Haus zu haben bedeutete für ihn schon Stress, wie sie spürte. Er hatte das Trauma seiner gronthischen Gefangenschaft immer noch nicht überwunden.
„Ich will Sie nicht aufhalten, Brinok Bowasha. Und wenn ich Ihnen ungelegen bin ...“
„Nein! Nein, das sind Sie nicht. Teilen Sie einen Omaskena-Trunk mit mir.“
Melori hob die Hand als Geste der Zustimmung. Sie fühlte sich unwohl, weil sie ihre Kenntnisse der sretallesischen Sitten und Psyche ausnutze, um Bowasha zu manipulieren. Denn eine Sitte beim Trinken des Omaskena-Bechers gebot eine begleitende Unterhaltung zu der gehörte, dass der Gast den Gastgeber alles fragen durfte und der ihm wahrheitsgemäß antworten musste. Was natürlich kein Sretalleseh gegenüber den Gastgebenden ausnutze. Aber Melori war keine Sretallesi. Und sie musste Bowasha nach diesem Tag nicht wiedersehen. Allerdings wollte sie ihn nicht enttäuschen und mit dem Bewusstsein zurücklassen, dass sie ihn benutzt hatte.
Nachdem er sie in den Zeremonienraum geführt hatte und die Gerätschaften für das Auspressen der Beeren bereitstellte, entdeckte sie etwas, das ihm entweder die Zunge lösen oder ihn in Panik versetzen würde, wenn sie ihn darauf ansprach: Er trug ein gronthisches Enashka-Armband am Handgelenk. Das war ihr damals auf der SALAK nicht aufgefallen. Sie hatte es zwar gesehen, ihm aber keine Bedeutung beigemessen, weil zu dem Zeitpunkt noch niemand aus der ISA mit Grontheh einen solchen Bund eingegangen war. In diesem Moment begriff sie, warum er sich standhaft weigerte, über seine Zeit bei den Grontheh zu sprechen. Er hatte wohl befürchtete, dass man ihm diese Verbindung zu einem Grontheh als Hochverrat auslegen würde.
Bowasha sang den Segen für die Beeren, während er sie in einem Entsafter presste und den violetten Saft in einem Becher auffing. Als der bis zum Rand gefüllt war, hielt er ihn Melori mit beiden Händen hin. „Ashnarra segne diesen Trunk und alle, die ihn teilen.“
Melori legte ihre Hände ebenfalls an den Becher unter seine. „Ashnarra segne dieses Haus und alle in ihm Wohnenden und lasse ihr Licht ewig über euch leuchten“, sprach Melori den zweiten Teil des Segens und nahm als Gast den ersten Schluck, ehe sie Bowasha den Becher zurückreichte, der ebenfalls trank. Abwechselnd würden sie je einen Schluck trinken, bis der Becher leer war.
„Ich freue mich aufrichtig über unser Wiedersehen, Melori.“ Er reichte ihr den Becher.
Melori hatte den Eindruck, dass er das ernst meinte. Sie trank einen weiteren Schluck und gab den Becher zurück. „Ich mich auch. Denn wie ich sehe, teilen wir inzwischen ein Geheimnis.“ Sie hob die linke Hand und schob den Ärmel ihrer Jacke zurück, sodass er das Enashka-Band sehen konnte.
Er stieß einen schrillen Laut aus und ließ beinahe den Becher fallen. Die Haare seines goldbraunen Fells stellten sich heftig auf. Die drei Ghrimbals waren sofort bei ihm, schmiegten sich an ihn und zwitscherten beruhigend. Bowasha zitterte am ganzen Körper und starrte auf das Band.
„Verzeihen Sie mir, Brinok. Ich wollte Sie nicht erschrecken.“
„Man wird Sie hinrichten, wenn man erfährt ...“
Melori nickte. „Wahrscheinlich. Deshalb habe ich nicht vor, irgendjemanden wissen zu lassen, dass ich die Enashka-Geschworene einer Gronthi bin.“
Bowasha beruhigte sich und trank einen Schluck Saft. „Sie lassen es mich wissen.“ Er reichte ihr den Becher.
„Weil Sie das einzige Wesen sind, das ich kenne, mit dem ich dieses Geheimnis teilen kann. Noch. Denn Sie haben bestimmt die Nachrichten verfolgt. Sobald die neue Matriarchin der Grontheh die Lage in der Liga stabilisiert hat, könnte ein dauerhafter Frieden etabliert werden. Vielleicht haben Sie dann die Gelegenheit, Ihren Enashka-Partner oder Partnerin wiederzusehen, falls Sie das wünschen.“ Sie nahm einen Schluck und reichte ihm den Becher zurück.
„Partnerin“, bestätigte er. „Ich hatte damals auf der SALAK ... Meine größte Befürchtung war, dass man mich einer Bewusstseinssondierung unterziehen würde. Wenn man dann festgestellt hätte ...“ Er sah Melori in die Augen. „Sie sind nicht böse!“, platzte er heraus. „Die Grontheh. Ganz und gar nicht.“
„Stimmt. Obwohl es natürlich auch bei ihnen Ausnahmen gibt. Aber die gibt es überall. Sie sind einfach nur anders als die ISA-Völker. Ich habe sie als sehr religiös und sehr ehrenhaft kennengelernt.“
Das Stichwort. Die Worte sprudelten aus Brinok Bowasha heraus. Er redete immer weiter, noch lange, nachdem der Omaskena-Becher leer war. Melori hörte ihm zu, steuerte hier und da eine Bestätigung oder einen Hinweis auf ihre eigenen Erfahrungen ein und erfuhr mehr, als sie sich erhofft hatte. Sie verstand vollkommen, dass Bowasha dieses Wissen für sich behalten hatte. Denn man hätte ihm ohne jeden Zweifel Hochverrat vorgeworfen, wäre bekannt geworden, dass er im Haus einer Gronthi und mit ihr gelebt hatte.
Die sretallesische Nacht war schon vor Stunden hereingebrochen, als Brinok Bowasha endlich schwieg. Er wirkte erschöpft, aber auch sehr erleichtert. Seine Ghrimbals hatten sich an ihn geschmiegt und gaben leise singende Laute von sich. Er streichelte sie geistesabwesend.
Nach einer Weile sah er Melori an. „Werden Sie jemandem von dem berichten, was ich Ihnen erzählt habe?“
Sie machte eine verneinende Geste. „Ich bin nicht mehr bei der IsteP und nicht verpflichtet, irgendwelchen Autoritäten irgendetwas mitzuteilen. Und ich würde es auch nicht tun, wenn ich dazu noch verpflichtet wäre. Wie ich schon sagte: Wir beide teilen dieses Geheimnis. Soweit es mich betrifft, wird es geheim bleiben.“ Sie bedauerte die Lüge, denn sie würde alle relevanten Details von Bowashas Bericht dem IsteND mitteilen. Dass er mit den Grontheh gelebt hatte sowie ein paar andere Dinge, musste wirklich niemand wissen. Genau genommen konnte sie die Informationen von ihm als ihre eigenen ausgeben, ohne dass es jemandem auffallen würde.
Brinok Bowasha holte ihr das Bild, für das sie angeblich gekommen war. „Bitte, nehmen Sie es als Geschenk, Melori. Und ich würde mich freuen, wenn wir in Verbindung bleiben.“
„Gern.“ Sie gab ihm den privaten Kontaktcode, durch den er sie auf der PHOENIX erreichen konnte und verabschiedete sich, nachdem er ihr seinen gegeben hatte.
Mit der öffentlichen Transmitterstation gelangte sie zum Raumhafen und war wenige Minuten später wieder an Bord der PHOENIX. Sie brachte das Bild in ihr Quartier, zog ihre Uniform an und ging in die Zentrale.
„Ich fing schon an mir Sorgen zu machen, Captain“, begrüßte Erster Offizier Halan Ashkonn sie. „War Ihre Mission erfolgreich?“
„Sehr“, bestätigte sie. „Sobald alle Leute von ihren Landausflügen zurück sind, starten wir. Kurs: Irgendwo hin, wo wir abseits der Verkehrsrouten und somit außerhalb jeder Ortungsüberwachung sind. Dort verwandeln wir uns wieder in die PHOENIX und melden uns bei unseren Vorgesetzten unter den Lebenden zurück, sowohl bei Admiral Makuma wie auch beim IsteND. Und dann bereiten wir uns auf die schlimmste Inquisition vor, der wir je unterzogen wurden.“ Sie grinste. „Bis dahin schreibe ich meinen Bericht über meine erfolgreiche Mission auf Sretalles.“
Terra, 30.08.2546 – 39.03.351 ISA-Zeit
Die Frau, deren hellbraune, von silberfarbenen Strähnen durchzogene kurze Haare wie eine Kappe um ihren Kopf lagen, hatte sich Zivilkleidung angezogen, bevor sie ihren Arbeitsplatz verließ, um für heute Feierabend zu machen. Mit ihrem persönlichen Mini-shuttle flog sie zu einer Insel vor der afrikanischen Küste, die ein beliebtes Erholungsgebiet darstellte. Bevor die ihr Shuttle dort verließ, zog sie sich die Kapuze ihrer Wanderjacke über den Kopf und aktivierte eine Gesichtsmaske, die ihr ein anderes Aussehen gab.
Anschließend stieg sie in ein öffentliches Shuttle um, das sie mit der Geldkarte ihrer falschen Identität bezahlte, und ließ sich aufs europäische Festland bringen. An der Endstation stieg sie aus, nachdem sie im Waschraum des Shuttles ihre Jacke von innen nach außen gewendet hatte und nun eine grüne Jacke trug statt einer blauen, und machte sich zu Fuß auf den Weg zu einer der wenigen öffentlichen Kommunikationsstationen, die außerhalb von Gebäuden existierten.
Normalerweise brauchte niemand mehr eine solche Station, schon gar nicht in dieser abgeschiedenen Gegend, die lediglich als Wandergebiet der Erholung diente. Jeder Mensch hatte nicht nur in seiner Wohnung eine eigene Kom-Station, die interstellar senden konnte, sondern auch ein individuelles Kom-Gerät ständig bei sich. Doch die Frau musste einen Anruf tätigen, den sie auf keinen Fall von einem ihrer eigenen Geräte aus senden konnte. Zum Glück gab es an öffentlichen Kom-Stationen zwar Kameras, die jede benutzende Person aufzeichneten, aber keine Bio-Scanner. Das hätte zu tief in das Persönlichkeitsrecht der Individuen eingegriffen.
Deshalb fühlte die Frau sich sicher. Sollte sie jemals in Verdacht geraten und man ihre Wege zurückverfolgen, würde ihre Spur für die Zeit dieses Anrufes auf dem Parkplatz ihres Shuttles auf der afrikanischen Insel enden. Natürlich konnte man anhand der blauen Jacke sehen, dass sie in ein Transkontinent-Shuttle gestiegen war. Weil sie aber dafür gesorgt hatte, dass ihr getarntes Gesicht von keiner Kamera erfasst wurde, konnte man nicht herausfinden, unter welchem Namen sie die Passage gebucht hatte. Sollte man später die Aufzeichnungen durchgehen, wer das Shuttle in Europa verlassen hatte, würde man weder sie noch ihre blaue Jacke entdecken.
Natürlich blieb ein Restrisiko. Wer die Kameraaufzeichnungen der Stationen und innerhalb der öffentlichen Shuttles prüfte und genau hinschaute, würde bemerken, dass eine Frau in blauer Jacke den Waschraum betreten hatte, aber nicht wieder herausgekommen war. Und entsprechend geschulte Leute würden anhand der Statur durchaus erkennen, dass die Frau, die mit einer grünen Jacke den Waschraum verlassen hatte, dieselbe war, die vorher mit einer blauen hineingegangen war.
Doch bevor das akut wurde, musste erst einmal jemand sie verdächtigen. Und sie hatte einen Posten inne, auf dem sie über nahezu jeden Verdacht erhaben war. Die Kom-Stationen zeichneten außerdem keine Anrufe auf; zumindest nicht den Inhalt. Das taten sie nur, wenn die automatische Überprüfung ein verdächtiges Wort registrierte, das auf dem entsprechenden Index stand. Und sie hatte nicht vor, ein solches zu benutzen. Außerdem verwendete sie zum Einloggen in die Station ebenfalls einen Identitätschip mit einer falschen Identität, aber einen anderen als den, mit dem sie die Passage bezahlt hatte. Man würde ihr also nie etwas beweisen können.
„Sind Sie wahnsinnig, mich auf diese Weise zu kontaktieren?“, fauchte ihr Gesprächspartner sie an, kaum dass die Verbindung zustande gekommen war. „Sie gefährden dadurch alles!“
„Unsinn. Ich habe eine Botschaft, die zu wichtig ist, als dass ich sie auf dem üblichen Weg hätte übermitteln können. Captain Melori lebt und ihr Schiff, die PHOENIX existiert noch.“
Sekundenlang schwieg ihr Gesprächspartner. „Das ist unmöglich!“, war er überzeugt.
„Nein. Die PHOENIX befindet sich auf dem Weg zum Lomokk-System und wird dort in zwei Tagen eintreffen.“
Ihr Gesprächspartner schwieg erneut eine Weile. „Und Sie sind sich absolut sicher, dass Melori noch lebt?“
„Daran gibt es nicht den geringsten Zweifel.“
Sie beendete die Kommunikation und machte sich auf den Rückweg. Wohl fühlte sie sich in ihrer Haut nicht. Mit dem Anruf hatte sie nicht nur Captain Melori und ihr Schiff verraten, sondern auch den Standort des geheimen Hauptforschungszentrums des IsteND, denn Lomokk war ansonsten unbewohnt. Aber was hätte sie tun sollen? Ihr Gesprächspartner hatte sie in der Hand. Vollkommen. Weil sie in der Vergangenheit einen schweren Fehler begangen hatte, einen einzigen nur, der sich nun rächte. Die einzige Alternative wäre, sich den Behörden zu stellen, alles zu gestehen und als Hochverräterin hingerichtet zu werden. Doch um das zu tun, lebte sie zu gerne.
Karstur Shorru starrte auf den erloschenen Bildschirm seines Kom-Gerätes und versuchte, der Panik Herr zu werden, die ihn gepackt hatte. Dass Captain Melori noch lebte, war eine Katastrophe. Shorru stufte die Frau zwar als ungefährlich ein, besonders nachdem man sie zur Forschungsflotte abgeschoben hatte und mit langweiligen Untersuchungen von irrelevanten Dingen beschäftigte, die außer irgendwelchen Wissenschaftsabteilungen niemanden interessierten. Aber wenn Mrreyna erfuhr, dass die Frau noch lebte, der sie die empfindliche Schlappe bei Kantaka zu verdanken hatte ... Shorru wagte nicht sich auszumalen, wie sie darauf reagieren würde. Gewalttätig, ohne jeden Zweifel. Sehr gewalttätig. Wenn er das Überbringen dieser Botschaft überleben wollte, musste er sich etwas einfallen lassen. Doch das war ein echtes Problem.
*
Lomokk 7
01.04.351 ISA-Zeit – 01.09.2546 Terrazeit
Halan Ashkonn warf Melori, die neben ihm im Kommandosessel saß, einen kurzen Seitenblick zu. Die Frelsini blickte auf den Hauptbildschirm, auf dem Lomokk 7 als steinige Wüste im Schein seiner blauen Sonne so tot wirkte, wie der Planet es laut den Messergebnissen war. Auf ihm lebte nicht einmal eine Mikrobe. Zumindest nicht in den natürlich entstanden Teilen. Und die unterirdischen Einrichtungen wurden weitestgehend steril gehalten.
„Ihnen ist bewusst, warum man uns in ein Forschungszentrum des IsteND bestellt hat, Captain?“ Was mehr eine Feststellung als eine Frage war.
Melori nickte. „Man will das Schiff auseinandernehmen. – Commander Selakem“, wandte sie sich an den Cheftechniker, der an der Technischen Station saß, „können wir uns darauf verlassen, dass Sie und Ihr Team alle unsere Geheimnisse schnüffelsicher verpackt haben?“
Robar Selakem hätte normalerweise über diese Formulierung gelacht, aber danach war in Anbetracht dessen, was ihnen allen bevorstand, niemandem zumute. „Weitestgehend, Captain.“
Melori zog die Augenbrauen hoch. „Weitestgehend? Was ist nicht zu hundert Prozent sicher?“
„Wenn man mit Tono-Scannern durchs Schiff geht, wird man feststellen, dass sich DNA-Ablagerungen von immer denselben Leuten an den Stellen befinden, wo unsere Geheimtüren in verborgene Räume führen. Ich habe die Betreffenden bereits instruiert, falls man sie darauf anspricht, als Begründung zu sagen, dass einige von uns sich dort immer treffen, um ein kleines Schwätzchen zu halten, von dem unser Captain nichts wissen muss, weil die Unterhaltungen während unseres Dienstes stattfinden und wir dort unerlaubte Pausen machen.“
Melori grinste.
„Naishashas DNA-Rückstände habe ich aus dem gesamten Schiff getilgt. Vollständig. Sollte schließlich niemand wissen, dass wir mal eine Gronthi an Bord hatten. Aber das konnte ich natürlich nicht mit unserer eigenen an den verdächtigen Stellen tun, weil das aufgefallen wäre. Wir haben es hier schließlich mit IsteND-Mitgliedern zu tun, nicht mit irgendwelchen einfachen Technikleuten, die das Schiff durchsuchen. Und die Aufzeichnungen der Kameras in den Gängen habe ich alle gelöscht und die Daten so manipuliert, dass es aussieht, als hätten wir nie Aufzeichnungen in den Gängen gemacht. Und ja, die Löschungen sind absolut ‚schnüffelsicher’ verschwunden.“
„Hervorragend.“
„Captain, wie sieht es mit der Gedankenkontrolle aus, die Lal uns gelehrt hat?“, wollte Selakem wissen. „Wird die auch weiterhin standhalten?“
Das interessierte auch Ashkonn brennend.
Melori kam nicht dazu zu antworten, denn in diesem Moment traf eine Nachricht vom Planeten ein, die die Kennung von Farankish trug, dem Leiter des IsteND. „PHOENIX, willkommen auf Lomokk Sieben. Landen Sie in Hangar fünf. Anschließend verlassen Sie alle ohne Ausnahme das Schiff, geben die Zugangscodes der Wartungscrew, die Sie erwartet, und begeben sich zu den Räumen, zu denen Ihre Sie ebenfalls erwartenden Kontaktpersonen Sie geleiten. Und lassen Sie mich an dieser Stelle schon sagen, dass wir froh sind, dass Sie noch existieren.“
„Verstanden, Erster Agent. Und danke für das Willkommen.“
Farankish unterbrach die Verbindung.
Nicht nur Melori war klar, dass seine Worte nichts anderes bedeuteten, als dass jedes Crewmitglied einzeln verhört werden würde. Das war kein Problem, denn die meisten waren nicht an Interaktionen mit Grontheh oder anderen beteiligt gewesen und konnten dazu nichts aussagen.
Melori schaltete die schiffsweite Durchsage ein. „Captain an alle! Meine Damen und Herren, in wenigen Minuten landen wir auf Lomokk Sieben. Sie alle werden das Schiff verlassen und Ihre persönlichen Zugangscodes preisgeben, wenn man Sie danach fragt. Bis auf die, die wir auch intern geheimhalten wollen, versteht sich. Man wird uns einzeln befragen. Sagen Sie unter allen Umständen die Wahrheit, dass Sie nur meine Befehle befolgt haben. Nicht mehr, nicht weniger. Die vorübergehende Anwesenheit unseres gronthischen Gastes Naishasha verschweigen Sie selbstverständlich. Und keine Sorge: Sollte man Sie einer telepathischen Bewusstseinssondierung unterziehen, so können Sie nach wie vor dank der Gedankenkontrolltechnik, die Ihnen Lal beigebracht hat, nur das preisgeben, was Sie bewusst jemandem mitteilen wollen. Unsere Geheimnisse sind in unseren Gehirnen sicher. Also betrachten Sie unseren Aufenthalt auf Lomokk als Landurlaub und machen Sie sich eine schöne Zeit, sobald man Sie nicht mehr mit Fragen belästigt.“
Ashkonn seufzte leise. Nur Melori war kaltblütig genug, die kommende „Inquisition“ als Landurlaub zu betrachten.
„Noch ein wichtiger Punkt“, fuhr sie fort. „Mit Sicherheit wird jedes unserer Quartiere überwacht werden. Außerdem befinden sich in jedem Gang und jedem Raum Mikrofone, die jedes Wort aufzeichnen. Ich empfehle deshalb, dass wir uns untereinander über völlig unverfängliche Dinge unterhalten.“
„Darf ich noch etwas ergänzen, Captain?“, bat Ashkonn.
Melori nickte.
„Hier spricht Erster Offizier Halan Ashkonn. Meine Damen und Herren, in Anbetracht dessen, was für uns alle – und damit meine ich nicht nur uns persönlich, sondern die gesamte ISA – auf dem Spiel steht, eine Warnung: Man wird uns auch außerhalb offizieller Befragungen auszuhorchen versuchen. Wesen, die zur Wartungscrew, zur Verwaltung und anderen Abteilungen gehören, werden uns in den Begegnungszentren oder Sporteinrichtungen scheinbar zufällig kontaktieren und scheinbar belanglos mit uns plaudern, in der Hoffnung, dass wir uns in diesen scheinbar privaten Unterhaltungen verplappern. Sie alle wurden zwar ausgebildet, um solche Manöver zu erkennen und nicht darauf reinzufallen, aber die Leute auf Lomokk üben die Geheimdiensttätigkeit schon erheblich länger aus als wir. Seien Sie deshalb sehr vorsichtig mit allem, was Sie sagen.“
Er verkniff sich hinzuzufügen, dass die Leute am besten gar nichts sagen sollten. Sie waren hervorragend ausgebildet, auch wenn sie noch eine Menge Erfahrung brauchten. Sie wussten, was sie zu tun hatten.
„Ende der Durchsage“, gab Melori bekannt, nachdem er ihr signalisiert hatte, dass er nichts mehr zu sagen hatte. „Ensign Tagori“, wandte sie sich an den Piloten, „legen Sie die eleganteste Landung hin, die Sie je absolviert haben.“
„Aye, Ma’am.“
Auf dem Bildschirm war zu sehen, wie ein Tor in einem Berg aufglitt, wo die Ortungsgeräte nichts als massiven Felsen anzeigten. Tagori beschleunigte die PHOENIX und jagte sie auf das Tor zu. Da Lomokk keine Atmosphäre besaß, erreichte das Schiff das Tor, bevor es sich vollständig geöffnet hatte. Was Tagori jedoch nicht dazu veranlasste, die Geschwindigkeit zu drosseln, obwohl die PHOENIX in ihrer Breite nicht hindurchpasste. Unmittelbar vor der Kollision drehte er das Schiff um neunzig Grad seitwärts, und die PHOENIX raste in die riesige Halle dahinter, in der bereits einige andere, kleinere Schiffe parkten. Der für die PHOENIX vorgesehene Landeplatz wurde von weißen Strahlern erleuchtet.
Tagori drehte das Schiff in die normale Flugposition zurück, drosselte jäh die Geschwindigkeit, sodass es fast abrupt zum Stillstand kam – ein Manöver, zu dem die PHOENIX gegenwärtig als einziges Schiff in der ISA fähig war. Anschließend drehte er es so, dass die hypothetische „Nase“ in Richtung Tor zeigte, und ließ die PHOENIX in derselben Geschwindigkeit sinken, wie die Landestützen ausgefahren wurden, sodass das Schiff wahrhaft sanft aufsetzte.
Melori lächelte. „Danke, Ensign. Genau so habe ich mir unsere elegante Landung vorgestellt.“
Der junge Offizier straffte sich vor Stolz und schaltete die Triebwerke aus. Auf dem Bildschirm wurde eingeblendet, dass sich eine Tür im hinteren Bereich des Hangars öffnete und eine Horde von Wesen auf die PHOENIX zugingen. Die meisten von ihnen trugen Handscanner und andere Geräte.
„Das Empfangskomitee“, murmelte Ashkonn.
Melori stand auf. „Dann begeben wir uns mal in die Schlacht. – Alle Systeme auf Standby“, ordnete sie an. „Holen Sie Ihr persönliches Gepäck, meine Damen und Herren, und dann finden Sie sich in der Hauptschleuse ein. Wir verlassen geschlossen das Schiff.“
Eine Viertelstunde später hatte die gesamte Besatzung das Schiff verlassen. Melori übergab die Kommandokontrolle offiziell an die Leiterin des Wartungsteams. Natürlich war ihr und allen anderen klar, dass die Leute die PHOENIX zwar durchaus warten würden, aber dass der Hauptzweck des Durchchecken war, die Geheimnisse des Schiffes zu ergründen.
Admiral Indira Graham, die Leiterin des terranischen IsteND-Zweiges, hatte die PHOENIX zwar nach ihrer Fertigstellung besichtigt und sich die Konstruktionspläne genau angesehen. Aber sie hatte dabei nicht zum Beispiel die zwanzig Raumjäger entdeckt, die Melori unter der Hand von der IsteP erhalten hatte. Sie hatte einen Teil von denen beim Kampf um Ishkorai einsetzen müssen, was aufgezeichnet und über alle Kom-Kanäle der Gronthagu Liga verbreitet worden war. Dadurch waren die Bilder selbstverständlich auch beim IsteND gelandet, der nun wusste, dass Meloris Schiff mindestens ein Geheimnis verbarg.
Und nicht nur die Raumjäger widersprachen der offiziellen Genehmigung für die Dinge, mit denen die PHOENIX bestückt sein durfte. Etliche Waffen und Schutzschildvarianten entsprachen auch nicht den Vorschriften, weil sie gemäß den ISA-Gesetzen ausschließlich der Interstellaren Polizei vorbehalten waren. Dass deren Oberkommandant Rhan Kharmin ebenfalls ein allerdings geheimes Mitglied des IsteND und somit befugt war, Melori diese Dinge zu überlassen, wussten nur sehr wenige Wesen. Und das sollte so bleiben.
Eine Lantheani trat auf Melori zu, begleitet von vier weiteren Wesen, die an ihrer Kleidung das Emblem der Sicherheitscrew trugen. „GanShara“, stellte sie sich vor. „Captain Melori, bitte folgen Sie mir. Erster Agent Farankish erwartet Sie, sobald Sie Ihr Gepäck abgelegt und sich frisch gemacht haben.“
Dass man gleich fünf Sicherheitsleute geschickt hatte, um Melori zu eskortieren, zeigte ihr, dass sie unter Arrest stand, auch wenn GanShara das nicht ausdrücklich verkündet hatte. Melori folgte ihr.
An Bord der OSMERRU, Kampfschiff des Zarshash-Clans
01.04.351 ISA-Zeit
Karstur Shorru hatte sich einen Plan zurechtgelegt, wie er Mrreyna die Botschaft von der Existenz der tot geglaubten PHOENIX und ihrer Kommandantin mitteilen konnte, ohne augenblicklich im Mittelpunkt ihrer Wut zu stehen. Schließlich wäre er nicht der erste Überbringer einer schlechten Nachricht, der das nicht überlebt hatte. Mrreyna wurde immer unberechenbarer und gewalttätiger, nicht nur im Kampf gegen Handelsschiffe und deren Eskorte, sondern auch gegenüber ihren Leuten. Der geringste Anlass genügte nicht nur für einen Wutausbruch, sondern auch für exzessive Gewalt. Die Tendenz dazu hatte sie von Anfang an gezeigt, seit sie der Piratengilde beigetreten war. Doch es wurde immer schlimmer. Nicht erst seit Kantaka, wo sie unter anderem durch Captain Melori, die damals noch Kommandantin einer Raumjägerstaffel gewesen war, eine beinahe vernichtende Niederlage erlitten hatten.
Mrreyna verhielt sich für eine Vigani völlig untypisch. Shorru hatte sich vor einiger Zeit über Viganeh schlau gemacht, um Mrreyna und ihr Verhalten besser einschätzen zu können. Dabei war er auf eine Krankheit, vielmehr einen Gemütszustand gestoßen, der als shnashnarr bezeichnet wurde. Eine Übersetzung ins ISArru gab es dafür nicht, aber die Symptome wurden beschrieben als eine Art Wahnsinn, der unbehandelt zu völligem emotionalen Kontrollverlust führte. Das passte zu Mrreynas Verhalten. Was jedoch die Behandlungsmethoden betraf: shnashnarr galt als unheilbar. Man konnte nur die Symptome mit Medikamenten unterdrücken. Als ob Mrreyna Medikamente einnehmen und dadurch eine Schwäche zugeben würde! Dazu hätte sie sowieso erst einmal begreifen müssen, dass sie krank war. Doch shnashnarr ließ gerade dieses Begreifen nicht zu.
Also blieb die einzige Möglichkeit, um mit ihr auszukommen, möglichst nicht ihr Missfallen zu erregen. Und sie zu töten, wenn sie sich eines vielleicht nicht allzu fernen Tages überhaupt nicht mehr unter Kontrolle hatte. Was Shorru bedauerte, denn er hatte Mrreyna geliebt. Ein Teil von ihm liebte sie noch; zumindest die Mrreyna, die sie in den Momenten war, in denen sie nicht von shnashnarr regiert wurde.
Shorru plante, ihr das Überleben Captain Meloris in einer Situation unterzujubeln, in der etwas anderes erheblich wichtiger war als Melori und ihr Schiff. Diese Situation war gekommen. Ein Informant aus dem ISA-Handelsverband hatte ihnen mitgeteilt, dass ein Konvoi von nur fünf tinuskischen Handelsschiffen vollbeladen mit Yoridium unterwegs vom Abbauplaneten zurück nach Tinussakk, ihrer Heimatwelt, war.
Die Sauroiden nahmen eine abgelegene Route, auf der sie sich vor Überfällen sicher glaubten. Außerdem hatten sie auf einen Geleitschutz verzichtet, denn sie gingen davon aus, dass ein großer, von Kampfschiffen begleiteter Konvoi auffiel und erst recht Begehrlichkeiten weckte. Darüber hinaus vertrauten sie auf die Kampfkraft ihrer Schiffe, denn auch ihre Zivilschiffe erhielten eine äußerst wehrhafte Grundausstattung.
Wenn die Angaben über den Umfang der Ladung stimmte, woran Shorru nicht zweifelte, dann brachte ihnen dieser Beutezug auf einen Schlag knapp eine Milliarde ISAti Gewinn. Das sollte genügen, um Mrreynas Wut zu dämpfen, wenn sie von Meloris Überleben erfuhr.
Mrreynas hatte die legal registrierten Handelsschiffe des Clans auf eine Route geschickt, die mit der des tinuskischen Konvois zusammentraf, sodass es schien, als seien die Clanschiffe mit Waren ebenfalls auf dem Weg nach Tinussak. Unter dem Vorwand, dass beide Konvois sicherer wären, wenn sie den Flug gemeinsam fortsetzten, würden diese Schiffe sich den Tinuskeh anschießen. Derweilen flogen die fünf nicht registrierten Piratenschiffe mit aktivierter Tarnung nebenher. Sobald die Handelsschiffe strategisch günstige Positionen innerhalb des tinuskischen Konvois erreicht hatten, würden diese das Feuer eröffnen und die Waffenphalanx der Tinuskeh außer Gefecht setzen. Im selben Moment würden auch die getarnten Schiffe sich enttarnen, den Rest erledigen und die Tinuskeh zum Aufgeben zwingen.
Zwar waren die Tinuskeh Wesen, die weder Tod, noch Dämonen oder Götter fürchteten und bis zum letzten Atemzug kämpften. Aber sie waren auch hervorragende Strategen und verzichteten auf sinnlose Opfer. Sobald sie erkannten, dass sie keine Chance mehr hatten, würden sie aufgeben. Besonders weil Mrreyna ihren Opfern vorzulügen pflegte, dass sie nur an der Fracht interessiert sei und die Schiffe und ihre Crews unbehelligt ziehen ließe, wenn man die Fracht widerstandslos aushändigte. Da sie nie Überlebende zurückließ, die das Gegenteil hätten behaupten können, funktionierte die List fast immer hervorragend.
Shorru befand sich in seiner Kabine und wartete auf des Zeichen, dass der Kampf unmittelbar bevorstand. Es konnte nicht mehr lange dauern.
Wie aufs Stichwort erklang ein im gesamten Schiff hörbarer Rundruf von der Zentrale, der vom Signalton des Gefechtsalarms begleitet wurde: „Alles auf Gefechtsstation!“
Demnach befand sich Mrreynas Plan in der Phase, dass die Handelsschiffe ihre Positionen innerhalb des tinuskischen Konvois einnahmen. Gut. Wenn alles verlief, wie es sollte, würde das Gefecht in etwa zehn Minuten beginnen. Shorru wartete.
Minuten später kam ein Anruf direkt aus der Zentrale. „Karstur, wo bleibst du?“, verlangte Mrreynas wütende Stimme zu wissen.
„Komme sofort!“, antwortete er, hatte aber noch nicht vor, der Behauptung die Tat folgen zu lassen. Dass er sich Mrreynas Zorn allein schon dadurch zugezogen hatte, indem er nicht sofort nach dem Alarm in der Zentrale aufgetaucht war, nahm er notgedrungen in Kauf. Er wartete, bis ein weiterer Signalton zeigte, dass das Gefecht begonnen hatte, ehe er sich auf den Weg in die Zentrale machte.
Als er sie betrat, wurde die OSMERRU von einem Treffer erschüttert, den die Schutzschilde zum Glück neutralisierten.
„Schilde auf zweiundachtzig Prozent gefallen“, meldete Robert Shasta vom Waffenpult.
„Feuern!“, brüllte Mrreyna.