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Der Autor dieses Buchs vertritt einen modernen Ansatz, der sich im deutschsprachigen Raum allmählich zu etablieren beginnt: Autismus ist keine seltene schwere Behinderung, sondern vielmehr ein relativ häufiges Phänomen mit einem breiten Spektrum von geistig behindert bis hochbegabt, mit milden bis hin zu ausgeprägten Formen. Dies wird mithilfe eines leicht verständlichen Farbschemas veranschaulicht. Das Buch gibt Antworten auf viele Fragen von Seiten der Betroffenen, ihren Eltern und Lehrern wie auch der Fachleute: Wie entsteht eine Störung des autistischen Spektrums? Wie wird Autismus diagnostiziert? Welche bewährten Strategien unterstützen im Erziehungs- und Schulalltag? Zur Illustration der Vielfalt von Autismus dienen eine Reihe von Fallgeschichten. Zudem sind praktische Anleitungen für Kinder und Jugendliche des Autismus-Spektrums sowie für deren Eltern und Therapeuten als ausführliches Arbeitsmaterial zum Download enthalten.
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Seitenzahl: 321
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Cover
Titelei
Übersicht über das elektronische Zusatzmaterial
Vorwort
Prolog: Winnetous Stoppuhr
Einleitung
1 Wie entsteht Autismus?
Genetik
Schädigungen des Gehirns
Besonderheiten der autistischen Wahrnehmung
Besonderheiten des autistischen Denkens
Besonderheiten des autistischen Fühlens
Die Bedeutung des Stress-Niveaus
Umgebungseinflüsse
Gesellschaftliche Veränderungen
2 Autismus-Spektrum und Entwicklungsstörungen
Ein Farbschema als Orientierungshilfe
Das Konzept der Entwicklungsstörungen
Vom Autismus zum Autismus-Spektrum
Autism Pure vs. Autism Plus
3 Abklärung und Diagnose
Die verschiedenen Ebenen der Diagnostik
Schwierigkeiten bei der Diagnostik
Die Plastizität (Veränderbarkeit) des Autismus
Die Diagnosen des Autismus-Spektrums im Einzelnen
Eine möglichst ganzheitliche Diagnostik
4 Verlauf in Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter
Fallbeispiel Yves (15 J.), Asperger-Syndrom
Fallbeispiel Daniela (10 J.), Atypischer Autismus
Fallbeispiel Ruben (15 J.), Asperger-Syndrom
Fallbeispiel Juraj (42 J.), Asperger-Syndrom
Alters- und geschlechtsspezifische Probleme
Die verschiedenen Schattierungen des Asperger-Syndroms
Autismus und Computerwelt
5 Therapie und Beratung
Der Systemische Ansatz
Arbeit an sozialen und emotionalen Kompetenzen
Arbeit an Selbstkompetenzen
Umgang mit Fixiertsein (Sturheit) und Verweigerung
Mit Autismus den Alltag meistern
Medikamente
6 Komorbiditäten
Depressionen
Ängste
Zwänge
Essprobleme und Essstörungen
Schlafstörungen
Verhaltensstörungen
ADHS
Autismus und Familiendynamik
Körperliche Krankheiten und Beschwerden
7 Schulische Integration
Autistisches Denken und Schule
Wo liegen die typischen Schwierigkeiten in der Schule?
Mögliche Lösungen für eine erfolgreiche Schulkarriere
Schulbezogene Abklärungen
Nachteilsausgleich
Anhang
Kleines ABC des Autismus – von »ADHS« bis »Zentrale Kohärenz«
Zusatzmaterial zum Download
Literatur
Nützliche Adressen im Internet
Der Autor
Dr. med. Thomas Girsberger ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Er arbeitet seit über 30 Jahren in eigener Praxis in der Nähe von Basel. Der Schwerpunkt seiner fachlichen Tätigkeit liegt bei der Abklärung, Beratung und Therapie von Autismus-Spektrum-Störungen, insbesondere dem Asperger-Syndrom.
7., aktualisierte Auflage
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7., aktualisierte Auflage 2024
Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:ISBN 978-3-17-045373-9
E-Book-Formate:pdf: ISBN 978-3-17-045374-6epub: ISBN 978-3-17-045375-3
Diese »Gebrauchsanweisungen für den Alltag« sind als Werkzeuge für verschiedene Situationen und Themen gedacht und sollten dem Alter bzw. dem Entwicklungsstand des Kindes angepasst werden. Deshalb gibt es die Versionen »klein«, »mittel« und »groß«.
Den Weblink, unter dem die Gebrauchsanweisungen zum Download verfügbar sind, finden Sie unter ▸ Kap. Zusatzmaterial zum Download im ▸ Anhang dieses Buches.
1.
Aufstehen am Morgen
-
Aufstehen und Anziehen (klein)
-
Aufstehen (mittel)
2.
Benutzung des WC
-
WC-Benutzung (klein)
-
WC-Benutzung (mittel)
3.
Anziehen
-
Anziehen Sommer (klein)
-
Anziehen Winter (klein)
-
Anziehen (mittel)
-
Anziehen Ausmalbild
4.
Hausaufgaben erledigen (mittel)
5.
Umgang mit Wut
-
Wie gehe ich mit Wut um? (mittel)
-
Wie gehe ich mit Wut um? (groß)
-
Wut-Thermometer (mittel)
-
Geschichte vom Wilden Kerl
-
Wut-Thermometer für Erwachsene
-
Ruhig bleiben (für Eltern)
6.
Ein Gespräch führen (klein, mittel)
7.
Gedanken mitteilen
-
Gedanken mitteilen (mittel)
-
Gedanken mitteilen (groß)
8.
Umgang mit Langeweile
-
Langeweile (mittel)
-
Langeweile (groß)
-
Langeweile Ideenbox
9.Umschalten (mittel)
10.Ich bin traurig
11.Zwei Wege – zwei Erziehungsstile
Das Anliegen dieses Buches ist es, Kindern und Jugendlichen des Autismus-Spektrums und ihren Eltern und Familien Hilfen anzubieten. Dieses Anliegen umfasst verschiedene Aspekte.
Vermutlich die wichtigste Hilfe ist Verständnis! Verständnis kommt von Verstehen. Kinder des Autismus-Spektrums verhalten sich anders, denken anders, und stoßen deshalb zunächst auf Unverständnis. Mit der Zeit kann sich dies sogar bis zur gegenseitigen Ablehnung steigern. Deshalb ist es so wichtig, dass in erster Linie die Eltern, aber auch andere Bezugspersonen diese Kinder besser verstehen. Diesem Anliegen ist ein beträchtlicher Teil des vorliegenden Buches gewidmet, einerseits durch theoretische Ausführungen, aber auch durch viele konkrete Fallbeispiele und lebendige Portraits, eines davon sogar in autobiographisch-erzählerischer Form (Prolog).
Wichtig sind aber auch geeignete Erziehungsratschläge. In diesem Buch wird dazu ein selbst erarbeitetes Konzept vorgestellt: »So-macht-me-das – Gebrauchsanweisungen für den Alltag«. Und schließlich können auch die betroffenen Kinder von gezielten Therapieangeboten profitieren, vorzugsweise in Form einer Gruppentherapie. Auch dazu habe ich ein Konzept entwickelt und eine Zeitlang damit in Gruppen gearbeitet, es heißt »S-P-A-S-S – Strukturiertes Programm für Kinder mit ausgeprägten Stärken und Schwächen«.
Ich arbeite seit über 30 Jahren als Kinder- und Jugendpsychiater mit eigener Praxis in Liestal, einer Kleinstadt in der Nähe von Basel, mit einem ländlich geprägten Einzugsgebiet. Ich bin, da ich eine Einzelpraxis führe, mit allen Aspekten der kinder- und jugendpsychiatrischen Arbeit vertraut: Abklärung, Diagnosestellung, Beratung, und Therapie: im Einzel-, Familien- und Gruppensetting. Meine Patienten können mittlerweile ausschließlich dem Autismus-Spektrum zugeordnet werden und die entsprechenden Anfragen kommen aus einem immer größer werdenden Einzugsgebiet.
Vom Engagement her gesehen liegt mein Arbeitsschwerpunkt innerhalb des Autismus-Spektrums nun eindeutig beim Asperger-Syndrom. Dies hat wesentlich auch mit meiner direkten persönlichen Betroffenheit zu tun. Schon beim damaligen Entscheid, mich innerhalb des großen Fachgebietes der Humanmedizin auf die Psychiatrie zu spezialisieren (1982), hat meine persönliche familiäre Geschichte wohl eine Rolle gespielt. Mir war schon immer klar, dass meine Herkunftsfamilie väterlicherseits einige Besonderheiten aufweist – um es vorsichtig auszudrücken.
Mein Vater war ein Mensch mit einem außergewöhnlichen Profil: von Beruf gelernter Elektro-Ingenieur und sehr kompetent in den Bereichen Physik und Mathematik und damit verbundenen angewandten Disziplinen (Elektrotechnik, Weltraumtechnologie, Medizinaltechnologie). Seine Sozialkompetenz hingegen fiel im Vergleich dazu sehr gering aus, er hatte zeitlebens keine Freunde und seine erste Ehe endete 1969 mit einer Scheidung, was in der damaligen Zeit außergewöhnlich war. Im Weiteren hatte mein Vater zwei ältere Schwestern. Die eine verbrachte ihr ganzes Erwachsenenleben (fast 60 Jahre) in einer psychiatrischen Klinik (Diagnose: Schizophrenie). Die andere verließ ihr Elternhaus zeitlebens nie, lernte nie einen Beruf und war in meiner damaligen kindlichen Wahrnehmung sehr »komisch«.
Durch meine therapeutische Tätigkeit kam ich über die Jahre hinweg immer wieder intensiv mit Kindern in Kontakt, welche aus heutiger retrospektiver Sicht dem Autismus-Spektrum zuzuordnen sind. Das war mir zunächst nur bei einigen wenigen Kindern klar, bei denen ich selbst oder eine andere kinderpsychiatrische Instanz die Diagnose »Asperger-Syndrom« gestellt hatte. Die Therapie mit diesen Kindern faszinierte mich immer wieder besonders, einerseits, weil sie mir einfach sympathisch waren, und anderseits, weil sie als besonders schwierig galten und andere Fachleute schließlich aufgegeben hatten.
Irgendwann, rückblickend war das im Laufe des Jahres 2007, hat meine klinische Erfahrung mit Kindern aus dem Autismus-Spektrum einerseits sowie das damit verbundene Studium von Fachliteratur anderseits offenbar eine »kritische Masse« erreicht, wo sich mein Verständnis von Autismus fundamental änderte und es zu einigen Aha-Erlebnissen kam: 1. Autismus ist nicht so selten, wie ich (und viele andere) bisher meinten. Etliche meiner Patienten gehörten in diese Kategorie, ohne dass mir das bisher bewusst war. 2. Mein Vater sowie die eine seiner Schwestern waren in der Tat »komisch«, sie waren Menschen mit einem »Asperger-Profil«. Und die andere Schwester meines Vaters war nicht schizophren, sondern schwerhörig und: autistisch.
Mittlerweile hat sich der Schwerpunkt meiner Praxistätigkeit deutlich verändert. Ich habe aus eigener Erfahrung gelernt, dass es sich bei der Diagnostik nicht um eine akademische Angelegenheit handelt, sondern dass eine korrekte Autismus-Diagnose äußerst wichtig ist, weil erst dann die richtigen therapeutischen und pädagogischen Maßnahmen getroffen werden. Ich habe bereits viele Male konkret mitverfolgen können, wie jahrelange Leidenswege plötzlich eine neue, positive Wendung nahmen. Dies gilt insbesondere auch für mildere Formen von Autismus, und es wäre ein großer Irrtum zu meinen, eine solche mildere Form könne lediglich »milde« Probleme mit sich bringen!
Durch die Arbeit in Selbsthilfeorganisationen wie »Autismus Deutsche Schweiz«, »Asperger-Hilfe Nordwestschweiz« und »Autismusforum Schweiz« habe ich die Erfahrung gemacht, dass viele, die sich für Kinder aus dem Autismus-Spektrum engagieren, aus einer persönlichen Betroffenheit heraus handeln. Oft tun sie dies in ihrer Rolle als betroffene Eltern. Bei mir betrifft es zwar die Herkunftsfamilie, also die Generation vor mir, aber eine gewisse emotionale Betroffenheit ist auch vorhanden. Was wäre wohl aus meiner autistischen Tante geworden, wenn sie als Kind richtig beurteilt und behandelt worden wäre? Mit Sicherheit hätte sie nicht ihr ganzes Leben in einer psychiatrischen Klinik verbracht.
Durch meine konkrete Praxistätigkeit habe ich aber vor allem auch die Erfahrung gemacht, wie vielfältig die Erscheinungsformen und die Probleme von Kindern aus dem Autismus-Spektrum sind, wie viele Überschneidungen es gerade mit den Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störungen (ADHS) gibt und wie oft deshalb immer noch Autismus-Diagnosen verpasst werden. Deshalb ist es v. a. auch ein Anliegen dieses Buchs, für die Vielfalt, für die verschiedenen Farben des Autismus zu sensibilisieren.
Liestal, im Frühjahr 2024Thomas Girsberger
Die Geschichte, von der wir hier lesen, hat sich einst tatsächlich zugetragen. Dabei ist es keine große Geschichte. Aber sie ist es den Versuch wert, erzählt zu werden. Vielleicht schon deshalb, weil sie nicht alltäglich ist. Oder wer kennt schon einen Jungen, dessen Zeitvertreib Kopfrechnen ist? Einen Jungen, der von der Zeit so fasziniert ist, dass er immer Stoppuhren am Handgelenk trägt. Sich durch die Stoppuhr den Tag genau einteilt – sich dadurch die Einzelheiten eines Tages greifbar macht: Sei es das Morgenessen, das Gitarrespielen, das Schlafen. Alles hat seine Zeit. Alles mit der Stoppuhr vergegenwärtigt. Aber ausgerechnet dieser Junge kommt immer und überall zu spät, was für andere unverständlich ist, sie oft ärgert. Er aber ist glücklich mit seinem Leben aus Zahlen, Zeiten und Wiederholungen. Auch in den Ferien. Auch im Kino. Egal, ob die Sonne scheint. Egal, welcher Film gerade läuft.
Der Autor dieses Textes ist heute ca. 50 Jahre alt und kam für eine Abklärung in meine Praxis. Er arbeitet als Informatiker in einer Großbank. Er wollte wissen, ob die Diagnose Asperger-Syndrom auf ihn zutreffen könnte. Im Laufe meines klinischen Interviews kamen so viele spannende Elemente aus der Kindheit des Betroffenen zur Sprache, dass ich ihm vorschlug, eine Autobiographie zu schreiben. Dies auch deshalb, weil der Junge aus der Geschichte als Erwachsener gerne Tagebuch führte und dabei immer wieder Bezug auf seine Kindheit nahm. Eine ganze Autobiographie zu schreiben schien ihm aber doch zu aufwendig und deshalb zu unrealistisch. Und so entstand die Idee, dass er seine Kindheit in Form eines literarischen Textes aufarbeitet, der in meinem Buch als Illustration und Bereicherung aufgenommen wird. Für dieses Geschenk bin ich ihm sehr dankbar.
Was wir hier lesen, wird nie Weltliteratur werden. Aber der eine oder andere Leser wird sich darin wiedererkennen. Zum Beispiel dann, wenn er selbst ein Mensch des kleinen Lebens ist. Statt mit einem Vermögen wurde der Junge nämlich von der Natur reichlich ausgestattet: mit einer guten Portion Gewitztheit, Kreativität und einer Zähheit, die den meisten aus sogenanntem gutem Hause spätestens nach der dritten Generation abhandenkommen muss. Und noch etwas hat der Junge von der Natur mitbekommen: eine sehr spezielle Art, die Dinge zu betrachten. Ein spezieller Blick für Details sozusagen. Gepaart mit einem ausgezeichneten Zahlengedächtnis. Und mit einem Antrieb, der ihn unermüdlich an den Dingen arbeiten lässt. Den Dingen auf den Grund gehen lässt.
»Dort ist das Haus der Großmutter!« Die Mutter drückte den Zeigefinger an die beschlagenen Fenster des kleinen Zuges, der sich durch den Schneesturm pflügte. Ihr Junge war vier Jahre alt und saß der Mutter gegenüber – mit dem Rücken zur Fahrtrichtung. Aufgeregt blickte er durchs Fenster. Konnte aber nichts sehen. Draußen war's bloß weiß. Einfach weiß vor Schneewechten und Schneeflocken. weiß und windig – das war sein erster Eindruck vom Winter im Hochgebirge, als er aus dem Zug kletterte und durch den hüfthohen Schnee seiner Mutter auf dem schmalen Fußweg nachstapfte. Wie er von der kleinen Bahnstation zum Bauernhaus der Großmutter gelangte, weiß er nicht mehr. Umso mehr hat sich die Erinnerung an den ersten Eindruck vom alten Bauernhaus der Großmutter eingeprägt. Die kleine, uralte Holztür, die sich oben und unten geteilt öffnen ließ, den stockdunklen Flur dahinter und die kleinen Stubenfenster – Gucklöcher mit vereisten Scheiben.
Da stand der Junge verwundert und interessiert. Sah zum ersten Mal seine Großmutter – und zum letzten Mal seine Mutter. Letzteres wusste er damals noch nicht. Mutter sagte, sie würde ihn im Frühling wieder holen. Diesmal ganz zu sich. Nun war er vorerst einmal bei der Großmutter. Nach dem Kinderheim hatte er nun ein richtiges Zuhause: ein altes Bauernhaus, Wiesen, Wälder und Berge. Sechs Monate Schnee zum Skifahren. Und sechs Monate Zeit, um durch die Wälder streifen. Und manchmal sah er Menschen. Wortkarge Bergbauern. Und Jenische (damals nannte man sie Zigeuner), die immer – und über alles – verrückte Geschichten erzählten. Und sich über ihr Leben beklagten. Nun war er alleine mit seiner Großmutter. Er hörte ihr Keuchen. Wie ein Gesang. Die Melodie von einem halben Jahrhundert Asthma. Unbewusst gesungen. Immer die gleiche Melodie. Immer abgehackt.
Die Großmutter wusste, dass sie mit dem Kleinen eine große Verantwortung übernommen hatte. Ihr war klar, dass der Frühling, den ihre Tochter meinte, noch lange auf sich warten lassen würde. Zum Glück war die Großmutter nicht alleine mit dem Kleinen im alten Bauernhaus. Ihr Mann war auch noch da, arbeitete schon über 30 Jahre auf dem Bau. Er war klein und kräftig. Ein schöner Mann – fast schon elegant seine Gestalt. Nicht gebückt vom Holzplanken Tragen und Hämmern, sondern aufrecht, stolz und flink. Vor allem, wenn er am Sonntag mit Keilhose, Krawatte und Hut vor dem Haus Ski fuhr. Oder sich mit seinen selbstgezimmerten und geschnitzten Arvenmöbeln fotografieren ließ. Am liebsten vor dem Haus. Im kurzen Frühling auf der Krokuswiese.
Großmutter und Großvater hatten schon vier eigene Kinder großgezogen. Und nun kam der kleine Junge: Er brachte wieder Leben in ihr Jahrhunderte altes Haus – und in ihr morsches Zusammensein. Wie man Kinder erzieht, das wussten die beiden. Doch so ein Kind, wie der kleine Junge, war auch für sie neu. Natürlich waren schon ihre eigenen vier Kinder alle auf ihre Art anders. Doch dieses Kind war nochmals anders. Ganz anders. Der Kleine war irgendwie anspruchslos. Er schien irgendwie mit wenig Zuwendung zurecht zu kommen. Oder gab er sich einfach mit dem zufrieden, was für ihn übrig blieb? Hatte er das im Kinderheim gelernt? Damals, als die Mutter und dessen neuer Mann des kleinen Buben überdrüssig geworden waren. Ihn loshaben wollten. Und ihn in ein Kinderheim verfrachteten. Dort würde er es gut haben. Genug zu essen. Ein warmes Bettchen. Was wollte ein so kleines Kerlchen mehr vom Leben?
Nachdem der Junge zwei Jahre mit der Großmutter unter einem Dach gewohnt hatte, sagte sie eines Abends zu ihrem Mann: »Fällt Dir auch auf, dass unser Kleiner immer sehr genau zu wissen scheint, was er will?« »Hmm ...«, erwiderte der Großvater. »Ja – und ihm scheint nie langweilig zu werden! Das macht es einfach für uns alte Leute.« Darauf die Großmutter: »Aber warum zeichnet er hundertmal den gleichen Berg? Oder entwirft eine ganze Sammlung der gleichen Landkarten? Und überhaupt: Welches Kind zeichnet am allerliebsten Landkarten? Häuser, Hennen, Kühe – Menschen – das zeichnen alle Kinder gerne! Dieser Kleine jedoch zeichnet keine Menschen, keine Vögel, keine Kühe. Er zeichnet Dinge. Berge, Häuser, Hügel! Und vor allem zeichnet der Junge die Wege, die alles miteinander zu verbinden haben.« So viel hatte die Großmutter die ganze Woche noch nicht geredet wie gerade eben. Und der Großvater nickte. Wie immer. Und lachte laut. Wie so oft.
Frei, so fühlte sich der Junge von Anfang an. Diese Freiheit war ein Gefühl vom Leben ohne Schranken. Vom alles Können. Wenn man es nur systematisch genug anpackte, dann würde alles möglich sein. Oder genauer gesagt: Zuerst verliebte sich der Junge in eine Idee und dann begann er sie systematisch umzusetzen. Und zwar unverzüglich. Schritt um Schritt. Wie lange es dauern würde, spielte keine Rolle. Und was andere darüber dachten noch viel weniger. Eine solche Idee vermochte ihn durch den Tag zu tragen. Eine solche Idee trieb ihn in aller Herrgottsfrühe aus dem Bett. Und ließ ihn in Sturm und Wind hundertmal vor Großmutters Haus im Schnee den Hang hochsteigen und durch den selbst ausgesteckten Slalom runterrasen. Seine Welt steckte voller Slalomstangen – und unzähligen anderen Ideen.
Diese grenzenlosen Ideen wurden zum Lebensinhalt des kleinen Jungen. Genau gesagt zu dem Lebensinhalt, den Schulkameraden, Nachbarn und Lehrer zu Gesicht bekamen. Dass dieser Junge nach strikten Regeln lebte, die er sich selbst auferlegte und die ihn zu endlosen Repetitionen drängten, davon wussten die Allermeisten nichts. Wahrscheinlich auch seine Großeltern nicht. Diese Regeln waren Gebote und Verbote, Ziele und die Wege zu den Zielen. Immer verglichen und vermessen. Die innere Welt war eine Welt der Wiederholungen. Der Muster. Letztlich der Zahlen. Eine Welt, die ihn immer begeistern würde. Ein Leben lang.
Diese Zahlen, diese Wiederholungen, diese Muster erfand er nicht, er entdeckte sie, traf sie überall an. Im Sport, beim Musizieren, beim Landkartenlesen und beim Landkartenzeichnen, beim Sammeln der alten Zeitungen auf dem Abfallberg und beim Verkauf an den Altpapierhändler. Und wenn der Sechsjährige nach stundenlangem Slalomtraining alleine vor Großmutters Haus in die Schneeflocken starrte, glaubte er, auch darin Regelmäßigkeiten zu entdecken. Regelmäßigkeiten im Unregelmäßigen. Als er später in einem Buch las, dass Schneeflocken letztlich immer aus den gleichen sechseckigen Schneekristallen entstehen, war er nicht überrascht.
Der Junge lebte auf einem uralten Bauernhof, den die Feriengäste wohl kaum bemerkt haben werden, außer sie waren tatsächlich einmal mehr als fünf Kilometer zu Fuß weg vom Zentrum des Kurortes im Berner Oberland gelangt. Besonders eindrücklich war der Blick auf die ewigen Schneefelder von Eiger, Mönch und Jungfrau. Und genau dorthin blickte der Junge jeden Tag, wenn er seinen Kopf zum kleinen Fenster rausstreckte, um frische Luft zu atmen. Dann, wenn er auf dem Plumpsklosett saß, und die Güllengase ihm den Atem verschlugen.
Und noch etwas erblickte der Junge unweigerlich beim Atemholen durch das kleine Fenster: Die große Schutthalde, einen Berg aus lauter Abfall. Hunderte stinkender Kehrichtsäcke, unzählige Bleirohre oder Messingbeschläge von alten Badewannen und zertrümmerten Lavabos. Dies war der große Spielplatz des Jungen. Und schon bald sein Arbeitsplatz – er und die ganze Familie begannen, Altmetall und Altpapier zu sammeln, um es im richtigen Moment dem Schrott- und Papierhändler zu verkaufen.
Die Schutthalde – dieser Berg aus Kehricht – wurde zum Sündenfall für die ganze Familie. Denn wenn es anfangs auch bloß um das Sammeln von Kupferkabeln, Bleirohren oder um das Sammeln von Zeitungen und Zeitschriften gegangen war, so wurde der Abfallberg mit der Zeit zum »Kleidergeschäft« für die ganze Familie: Die Großmutter riss, vom starken Asthma geplagt, keuchend über die Jahre Tausende von Kehrichtsäcken auf, um ihren Jungen mit Pullovern, Jeans und Schuhen auszustatten. Ja, sogar seine Skischuhe, mit denen er als 12-Jähriger Rennen fuhr, stammten aus einem Kehrichtsack. Dabei war das Aufspüren von etwas Brauchbarem in den unzähligen Kehrichtsäcken nicht einfach. Man brauchte sozusagen ein Auge dafür, wo genau ein kleiner Schatz vergraben sein könnte. Ähnlich einem Pilzesammler im steilen Wald kletterte der Junge Tag für Tag durch den Berg mit Abfallsäcken und Bauschutt hoch und runter. Schlitzte mit Messern die Säcke blitzschnell auf und sortierte deren Inhalt in wenigen Handgriffen gleich vor Ort. Das stank oft fürchterlich aus den aufgeschlitzten Säcken. Wenn die Zeitungen für den Altpapierhandel zuerst von verfaulten Spaghetti Napoli befreit werden mussten. Oder ein schöner roter Skipullover unter abgenagten Pouletknochen zum Vorschein kam. Damals gab's noch keine Abfalltrennung. Glasscherben, Babywindeln und die begehrten Kupferkabel – alles war im gleichen Sack. Und dann die Fliegen! Es hatte Schwärme von Fliegen im Sommer, die auf dem Abfallberg aus den aufgeschlitzten Kehrichtsäcken lebten. Und waren sie nicht auf dem Abfallberg, dann waren sie ganz sicher in Großmutters Küche. Dort endeten die Fliegen letztlich an Großmutters unzähligen Fliegenfänger-Klebestreifen, die von der Küchendecke herunterhingen. Rücklings, vornüber, sogar stehend waren die Fliegen der Großmutter sprichwörtlich auf den Leim gegangen und summten noch ein paar Stunden wie verrückt weiter. Während gleich darunter am Küchentisch der Junge sein Müsli aß – Champion-Birchermüsli mit Wasser angerührt.
Der Abfallberg war zugleich Segen und Fluch für die Familie. Mehr noch Fluch: Denn es war bloß eine Frage der Zeit, bis die Familie durch ihre Arbeit auf der Schutthalde zum Gespräch wurde. Ohne dass sie es wollten, wurden sie, die am Rande des Ortes wohnten, jetzt zusätzlich zu Außenseitern. Wurde darum der Junge, als er 12 Jahre alt war, unter Vormundschaft gestellt? Das war sicher bitter für die Großmutter und den Großvater – denn nun war es klar, dass andere dachten, sie wären nicht imstande, dem Jungen eine normale Erziehung angedeihen zu lassen. Und der Junge? Er wusste nicht, warum er nun einen Vormund hatte. Er wusste aber eines dafür umso besser: wie es ist, ausgelacht oder bemitleidet zu werden. Beides ist nicht angenehm. Es war nicht angenehm, beim Bauern in der Nachbarschaft am Samstagabend jeweils mit einem Plastikkübel frischen Wurstsalat zu holen, den der Bauer als Schweinefutter von der Migros-Filiale erhalten hatte. Am Sonntag aßen alle Migros-Wurstsalat. Die Schweine des Bauern und der Junge alleine in der dunklen Küche. Für einmal kein Champion-Birchermüsli. Er liebte diesen Wurstsalat und er schämte sich dafür. Er sprach mit niemandem darüber.
Zu seiner Erstkommunion wünschte er sich eine Armbanduhr. Aber es musste eine Armbanduhr mit einer zusätzlichen Stoppuhr sein. Und so stoppte er mit Begeisterung, wie lange er brauchte, um alle drei Bände von Winnetou zu lesen, und rechnete sich sogleich aus, wie lange er für die ganze Karl-May-Buchsammlung des Nachbarn brauchen würde. Genau gesagt rechnete er sich aus, wie lange das grenzenlose Glück anhalten würde, das er beim Lesen von Karl Mays Abenteuerbüchern empfand. Dabei schien es ihm, dass er bei den drei Winnetou-Büchern auf ein unheimliches Geheimnis gestoßen sein müsse. In jedem Fall war es ein auffälliges Muster: Es fiel ihm nämlich auf, dass Winnetou nicht ein einziges Mal auf die Toilette gegangen war. Drei Bücher lang nicht ein einziges Mal gepinkelt. Wie war das möglich? Wollte Winnetou vielleicht Zeit sparen? Hatte er etwa auch eine Stoppuhr? Unter dem Lederwams versteckt – und sagte es niemandem?
Die Zeit zog den Jungen von klein auf in den Bann. Zeit traf er überall an. Sprichwörtlich auf Schritt und Tritt: Wie lange dauerte der Schulweg? Wie viele Sekunden verlor er am Schülerrennen auf den Drittplatzierten? In seinem Leben gab's von klein auf überall Uhren. Und gleichzeitig war er selbst immer unpünktlich. Es schien, als könne er den praktischen Umgang mit der Zeit nicht recht verstehen. Warum musste er als Erstklässler Punkt neun in der Schule sein? Schließlich hatte er mit Abstand den längsten Fußweg zu bewältigen jeden Morgen. Warum musste man an Weihnachten pünktlich bereit sein fürs Weihnachtsfest? Kam das Christkind mit dem 8-Uhr-Abend-Zug?
Mit der Frage der Zeit befasste sich der Junge intensiv, als er seinen ersten eigenen Kuchen buk. Dies war ein Feldversuch über die Wirkung der Zeit sozusagen. Genau gesagt »die Wirkung der Zeit im Verhältnis zur Temperatur im Backofen«. Die alles entscheidende Frage war: Warum schmeckte sein Kuchen nicht, den er 5 Stunden und 10 Minuten lang im Backofen ließ?
Dabei war der Kuchen keineswegs verbrannt, denn er hatte die im Rezeptbuch angegebene Backzeit von 30 Minuten auf 5 Stunden verlängert – sozusagen ums 10fache gedehnt, aber gleichzeitig die Backtemperatur von 220 Grad um ebenfalls das 10fache reduziert. Auf 22 Grad. Schmeckte der Kuchen nun so seltsam, weil der Backofen sich nicht exakt auf 22 Grad einstellen ließ? Oder war es, weil unser kleiner Held nicht genau nach 5 Stunden wieder zu Hause war? Er kam leider etwas später von der Schule nach Hause als geplant. Zwar nur 10 Minuten später. Aber diese 10 Minuten Verspätung verlängerte die Backzeit halt doch um 3,333 Prozent im Vergleich zu der im Rezeptbuch angegebenen Zeit (von ihm um das 10fache gedehnt). Indes: Die Enttäuschung über seinen ersten – und gleichzeitig missratenen – Kuchen hielt sich in Grenzen. Denn bereits auf dem Nachhauseweg beschlich ihn ein ungutes Gefühl, was seinen ersten selbst gebackenen Kuchen betraf. Nicht etwa, weil sein Kuchen den ganzen Nachmittag über still und heimlich im Backofen vor sich hin schlummerte, während unser Held in der Schule saß. Nicht etwa, weil die Großmutter von all dem nichts wusste. Nein, weil unser kleiner Held plötzlich einen rechnerischen Gedankenblitz hatte, der ihn ziemlich durcheinander brachte. Was, wenn man die Backzeit so ausdehnen würde, bis umgekehrt die Backtemperatur nur noch 1 Grad betrüge? Das würde konkret bedeuten, dass ein Kuchen, der 30 Minuten im 220 Grad heißen Ofen zu sein hatte, bei 1 Grad Backtemperatur einfach 220 Mal länger im Ofen zu sein hätte. Also für 110 Stunden. Warum hatten die Leute dann überhaupt noch Backöfen? Konnten sie nicht rechnen? Oder war es, weil ein Kuchen sich Dank des Backofens nach bereits einer ½ Stunde essen ließ? Hatte niemand die Geduld zu warten? Wobei: 110 Stunden auf einen Kuchen zu warten, war schon etwas lange. Schließlich waren dies ganze 4,5 Tage (inkl. der Nächte, wo man schlief, und vielleicht die Katze über den Kuchen herfiel, der Tag und Nacht auf dem Küchentisch sich quasi selbst buk).
Viele Jahre später, als er als 16-Jähriger die Lehre als Zuckerbäcker begann, bekam er eines Tages die alles klärende Antwort auf seine sehr interessante Frage, wie es ihn dünkte, nämlich auf das Backtemperatur-und-Backzeit-Verhältnis-Problem. Es gab da tatsächlich eine allumfassende Antwort, was das Verhältnis von Backtemperatur und Backzeit betraf. Die Antwort gliederte sich in 5 Teilantworten, die ihn ein Leben lang faszinierten – und von dem all die »Betty-Bossy-Bäcker« keine Ahnung hatten. Betty-Bossy-Bäcker, die stur nach Rezept vorgingen, aber nicht wirklich zu verstehen schienen, was Backen im Grunde – vom System her gesehen – bedeutete. Denn das Backen aller Arten von Kuchen unterlag immer 5 Grundgesetzen, was ein eigentliches Rezept hinfällig machte:
1.
Eine lange Backzeit bedingt im Verhältnis eine tiefere Backtemperatur.
2.
Eine kurze Backzeit bedingt im Verhältnis eine höhere Backtemperatur.
3.
Eine lange Backzeit trocknet ein Gebäck stärker aus als kurze Backzeit.
4.
Eine hohe Backtemperatur bildet bei einem Gebäck im Verhältnis schneller eine starke Kruste als eine tiefe Backtemperatur.
5.
Fazit: Ein gelungenes Gebäck ist immer der gelungene Kompromiss zwischen Backtemperatur und Backzeit. Soll ein Gebäck innen »feucht« sein und außen trocken/hart (Kruste), so muss die Backzeit kurz und die Backtemperatur hoch sein. Soll das Gebäck durchgehend »trocken« sein, dann ist das Verhältnis der Backtemperatur zur Backzeit umgekehrt.
Neben der Uhrzeit als abstrakter Größe zogen ihn Zahlen magisch an. So auch die Jahreszahl im dunklen Keller der Großmutter. Um dorthin zu gelangen, schlich er regelmäßig über die knarrende Holztreppe ins dunkle Nichts hinunter, wo es erdig roch und immer gleich kühl war. Kühl und feucht. Einmal die einzige Glühbirne angeschaltet, konnte er den mächtigen Holzpfeiler genauer betrachten, der sich seit Hunderten von Jahren gegen den Stubenboden von unten entgegenstemmt. Gegen den Stubenboden, auf dem unzählige Generationen geboren und gestorben waren. Der Junge stellte sich vor, wie der mächtige Holzpfeiler das ganze Holzhaus tragen musste. Seit damals, als der Holzpfeiler die vier Zahlen eingeschnitzt bekam: Seit 1616. Vier Zahlen, aber nur zwei verschiedene Zahlenarten. Wann das 1616 wohl gewesen sein mag, fragte er sich immer wieder. Und gleichzeitig spürte er den Rhythmus, den dieses Zahlenpaar in sich trug. Von der 16 ließ sich ganz einfach die Wurzel berechnen – nämlich 4. Aber auch die Wurzel von 1616 war sehr ähnlich. Nämlich 40,2 grob gesagt. Diese Regelmäßigkeit verblüffte ihn. Gleichzeitig faszinierte ihn die Unregelmäßigkeit, die durch die schier endlose Zahlenreihe nach dem Komma zum Vorschein kam, wenn man die Wurzel aus 1616 exakt berechnete. Gleichzeitig spürte er das optische Gleichgewicht, das von dieser schwungvoll geschnitzten Zahlenkombination ausging.
Und so interessierte er sich plötzlich für alle Jahreszahlen, die er an Hauswänden, Ställen und Brücken entdeckte. All diese Häuser, Ställe und Brücken fing er anschließend an zu kategorisieren. Und schon bald sah er, dass die ältesten Häuser in der Umgebung bunt gemischt waren mit neuen Häusern. Es gab kein eigentliches Muster. Außer, dass das Muster regelmäßig-unregelmäßig war. Das war irgendwie enttäuschend. Denn insgeheim erhoffte sich der Junge, hinter den vielen Jahreszahlen eine geheime Botschaft zu entdecken. Eine Botschaft, die zu entdecken nur er imstande war, denn die anderen schienen sich nicht besonders für solche Zahlen zu interessieren. Sah denn nur er überall Zahlen und Wiederholungen? Suchte nur er nach verborgenen Mustern?
Bevor er selbst Wurzeln berechnen konnte, übte er sich im Kopfrechnen. In der fünften Klasse veranstaltete der Lehrer eigentliche Kopfrechnen-Wettkämpfe. Das war genau nach dem Geschmack des Jungen. Meistens war er der Schnellste der ganzen Klasse. Einmal als sie 12 × 26 im Kopf ausrechnen mussten, verblüffte er den Lehrer. Dieser fragte ihn nämlich, warum er das Resultat so schnell wusste. Die Antwort des Jungen war ungewöhnlich. Zumindest für die anderen Schüler dieser Klasse.
Während die gesamte Klasse nämlich mühsam zuerst 10 × 26 berechneten und dann noch 2 × 26 im Kopf behalten mussten um dieses zweite Resultat (52) mit dem ersten Resultat (260) zu addieren, hatte der Junge ein schnelleres System entdeckt. Ein System sozusagen, dass das Rechnen im eigentlichen Sinn hinfällig machte. Das ging so: 12 × 26 ist das Gleiche wie 6 × 52 und das ist wiederum das Gleiche wie 3 × 104. Aber 3 × 104 ist viel einfacher auszurechnen als 12 × 26. Ja, 3 × 104 ist sozusagen weniger abstrakt wie 12 × 26. Genau gesagt musste der Junge nicht einmal mehr rechnen, um das Resultat von 3 × 104 zu wissen. Er sah das Resultat blitzartig im Kopf – bildlich – vor sich. Nämlich 312. Der Junge rechnete also nicht mehr, sondern er suchte nach Mustern. Nach einfachen mathematischen Mustern, die ihm das Kopfrechnen erleichterten.
Besonders verblüffend fand der Sechstklasslehrer des Jungen von der Schutthalde dessen Kopfrechenkünste bei Prozentrechnungen. Der Lehrer fragte: »Wie viel ist 37,5 % von 25?« Das wagte niemand in der Klasse im Kopf auszurechnen. Papier und Bleistift mussten her. Doch dann fiel schon die Antwort. Unser kleiner Held präsentierte sie freudenstrahlend dem verdutzten Lehrer: 9,375.
Wie war das möglich? Der Junge berechnete das Ergebnis im Kopf mit 4 Rechnungsschritten:
Die Klassenkameraden berechneten das Ergebnis mit Papier und Bleistift mit und das mit 5 Rechnungsschritten – also offensichtlich mit einem komplizierteren Lösungsweg, einem komplizierteren System:
Das eigene Rechnungs-System des Jungen für seine Kopfrechnungen beruhte auf dem Verstehen des »Verhältnis der Zahlen zueinander«.
So vergingen die Jahre in dem alten Bauernhaus: Die Großeltern wurden noch älter, wurden langsam greise und plötzlich krank. Der Junge rechnete und las viel, arbeitete täglich nach der Schule auf der Schutthalde. Ferien kannte er nicht. In den Ferien arbeitete er schon als 13-Jähriger regelmäßig als Handlanger auf Baustellen. Und wenn er einmal weg kam aus seinem Tal, dann Dank der Trainingslager als kleiner Skirennfahrer.
Und trotzdem: Bis er 15 Jahre alt war, hatte er dreimal für kurze Zeit Ferien gemacht, einmal hatte er sogar das Meer gesehen. Seine Tante hatte ihn mit nach Italien genommen. Er stand am Strand und staunte über die unendlich vielen Leute in den Liegestühlen. Leute, die selten lasen, nicht rechneten und schon gar nicht arbeiteten – oder wenigstens trainierten. Ja, das Training war sein Leben neben der Arbeit. Das Training war die luxuriöse, dekadente Form des Arbeitens. Wobei er das Wort »dekadent« damals noch nicht kannte. Dieses Wort fand er viele Jahre später in einem Buch von Thomas Mann. Ein Wort, das für ihn vieles zusammenfasste, worin sich sein Leben vom Leben der anderen unterschied: Er lebte, um zu arbeiten. Die anderen arbeiteten, um zu leben, wie es schien. Und wenn er nicht arbeitete, dann trainierte er. Und so trainierte er Skifahren, Schwimmen, Gitarre spielen, Kuchen backen, Torten garnieren – schrieb als Zuckerbäckerlehrling tausendmal mit flüssiger Schokolade »Zum Geburtstag«, »Frohe Ostern«, »Schöne Weihnachten« – und kannte diese Feste selbst nicht.
Als die Großmutter nach langem Leiden starb, lebte er als 18-Jähriger ganz alleine im alten Bauernhaus. Er in der Küche, sein Großvater in der Stube. Sein Großvater war schwer erkrankt an einem Hirntumor. Sprach laut mit sich selbst, ruderte wie wild mit den Armen, wenn er sich das Gebiss aus dem Mund nehmen wollte, schrubbte mit der Toilettenbürste das Geschirr in der Küche. Niemand kochte. Niemand kam zu Besuch. Jeden Tag Champion-Birchermüsli mit Wasser angerührt. Und die Kleider von der Schutthalde.
Eines Tages saß er am dunklen Küchentisch und schrieb einen Brief ans kantonale Sportamt: Darin kündete er feierlich an, dass er sich entschlossen habe, Langstreckenläufer zu werden. Denn als Skifahrer konnte er nicht mehr an die Weltspitze gelangen, dazu hatte er zu wenig Talent, war er jetzt bereits zu alt. Mit 18 fuhr er zwar schnell, aber nicht schneller als die allerbesten 15-Jährigen. Zeit zum Aufhören also. Und so ging er nie mehr auf den Berg. Fuhr nie mehr die Tiefschneehänge hinunter, musste nie mehr Rennskis wachsen am Samstagabend. Nun wurden die Landstraßen zur Rennpiste. Die Landstraßen, sie zogen ihn magisch an. Die Distanz als Ziel, die Stoppuhr als Tachometer, der Puls als Drehzahlmesser. Für ihn war das Rennen ein Gefühl des Fliegens. Mit 20 Stundenkilometer lautlos über den Teer gleiten, den Wind im Gesicht und den Kopf voller Zahlen. Denn Marathonlaufen war für ihn pure Mathematik:
Um die Marathon-Distanz von 42,195 Kilometer unter 2 Stunden 30 zu laufen, musste
jeder Kilometer in 3 Minuten 33 Sekunden bewältigt werden.
Was auf einer 400-Meter-Tartanbahn pro Runde 85 Sekunden sind.
Für 42 Kilometer müssen 105 solche 400-Meter-Runden in je 85 Sekunden gerannt werden.
Und so machte er sich mit 18 unverzüglich ans Werk, der Erfolg erschien im absolut sicher. Denn einen Marathon zu rennen, das empfand er als extrem banal. Letztlich war es für ihn bloß eine Frage des Fleißes. Einen Trainer oder eine Fachperson, die ihm mit Rat zur Seite hätte stehen können, hatte er bei diesem »Projekt« nicht. Er eignete sich die Trainingsmethoden durch Fachbücher an. Und so lernte er schnell, dass Top-Marathonläufer sehr dünn sein müssen. Kein Problem für ihn: Bei seinem Menüplan von 7 Tagen die Woche Birchermüsli mit Wasser angerührt war er so dünn wie Frank Shorter, Bill Rodgers, Waldemar Cierpinski und wie seine neuen Idole alle hießen. Nach vier Jahren Training reiste er ein zweites Mal in seinem Leben nach Italien – für seinen ersten Marathon. Er hatte sich seriös, aber unkonventionell vorbereitet. Mitten im Winter war er in seinem Bergtal bis zu 180 Kilometer pro Woche durch den Schnee gerannt. Jeden Tag kontrollierte er seinen Puls mit seinen Stoppuhren, stand mehrmals auf die Körperwaage, durchlief die von ihm genau vermessenen Kilometerabschnitte auf den einsamen Landstraßen – trotzte dabei eisigen Temperaturen von bis zu minus 28 Grad.
Dann stand er am Start seines allerersten Marathons. Und zwar mitten aus dem Wintertraining heraus. Anfang Februar. Weit weg von der Topform, die im Sommer möglich gewesen wäre. Er durchlief die 42,195 Kilometer in 2 Stunden 29 Minuten 58 Sekunden. Somit war die Sache mit dem Marathonlaufen erledigt. Für immer. Das Rätsel Marathon hatte er für sich mit Erfolg entschlüsselt – ähnlich einer komplizierten Kopfrechnung. Viele Jahre später stieß er zufällig auf eine Statistik, die besagte, dass von 10.000 Marathonläufern nur einer die »Schallgrenze« von 2 Stunden und 30 Minuten unterbieten kann. Und dies erst mit einer Erfahrung von mindestens 5 Marathons.
Als er dies las, wunderte er sich: Warum bloß packten all die abertausenden Marathonläufer ihre Passion so ungeschickt an? Unter 2 Stunden 30 zu rennen war doch keine Hexerei. Es war bloß eine Frage des Systems – fast wie beim Kuchenbacken. Bloß dass das Marathonlaufen noch viel banaler war. In einem Fachbuch aus der damaligen DDR wurde diese Banalität wie folgt in einer einfachen Formel zusammengefasst:
1.
Trainiere möglichst intensiv. (Es geht nicht um das Wohlsein, sondern um die Wirkung.)
2.
Trainiere möglichst häufig. (Übung macht den Meister.)
3.
Trainiere über einen mehrjährigen Zeitraum (möglichst intensiv und vor allem häufig).
Mit dieser einfachen Formel betrieb er gleichzeitig zum Marathontraining sein Fernstudium, das er nach dem Lehrabschluss als Zuckerbäcker begann. Dabei fiel ihm nach einem Jahr etwas Sonderbares an sich selbst auf: Ein Nebenfach war das 10-Finger-System für das Schreibmaschinen-Schreiben. Dieser Kurs-Teil dauerte 1 Jahr. In den Unterrichtsheften stand geschrieben, dass jedes Mal, wenn jemand in einer Übung mehr als 3 Tippfehler gemacht habe, er die Übung wiederholen müsse.
So kam es, dass er 11 Monate lang immer wieder mit den Schreibmaschinen-Übungen von vorne anfangen musste, weil er mehr als 4 Tippfehler machte. Dies war tagtäglich der Fall. Und dies war dann besonders ärgerlich, wenn dieser 4. Tippfehler ganz am Schluss des vollgeschriebenen Blattes passierte. Nach 11 Monaten erst fiel ihm auf, dass es niemand sah, wenn er eine Übung mit 4 Tippfehlern durchgehen ließ. Schließlich lernte er ja tagtäglich alleine zu Hause – und kein Lehrer konnte und wollte seine Übungen kontrollieren. Diese Entdeckung war für ihn eine große Erleichterung. Nun war sein Fernstudium auf einen Schlag weniger kompliziert und anstrengend.