Die vielen Gesichter des AD(H)S - Helga Simchen - E-Book

Die vielen Gesichter des AD(H)S E-Book

Helga Simchen

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Beschreibung

AD(H)S bedeutet weit mehr als nur eine Beeinträchtigung von Konzentration und Verhalten. Seine genetisch bedingte Stirnhirnunterfunktion mit Reizüberflutung und Botenstoffmangel hat eine dichtere Vernetzung von Nervenbahnen im Gehirn zur Folge. Diese Besonderheit verleiht den Betroffenen nicht nur Nachteile, sondern auch besondere Fähigkeiten, über die sie leider bei ausgeprägter AD(H)S-Problematik nicht immer verfügen können. Eine rechtzeitige multimodale Behandlung mit individueller und problemorientierter lern- und verhaltenstherapeutischer Begleitung sowie dem Praktizieren eines Selbstmanagements kann verhindern, dass Selbstwertgefühl und Sozialverhalten in eine Negativspirale geraten, was zu Dauerstress sowie psychischen und psychosomatischen Erkrankungen führen kann. Das in der 6. Auflage vorliegende Buch zeigt Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, was sie tun können, damit sie nicht unter ihrem AD(H)S leiden, sondern dessen Vorteile nutzen können.

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Die Autorin

Dr. med. Helga Simchen war zunächst Oberärztin der Kinderklinik und dann wissenschaftlich sowie klinisch in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Neurologie der Medizinischen Akademie Magdeburg tätig. Dort arbeitete sie in enger Kooperation mit dem Institut für Neurobiologie und Hirnforschung auf dem Gebiet der Aufmerksamkeits-, Lern- und Leistungs- sowie Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen. In der ehemaligen DDR galt sie als Spezialistin für die Problematik der hyperaktiven Kinder. Schwerpunkte waren dabei die Früherfassung von Teilleistungsstörungen (z. B. Legasthenie), der Komorbiditäten des Hyperkinetischen Syndroms (HKS) sowie der Tic- und Tourette-Symptomatik. Im Vorstand der Gesellschaft für Rehabilitation war sie über viele Jahre als Arbeitsgruppenleiter tätig. Sie hielt Vorlesungen über Kinder- und Jugendpsychiatrie und Entwicklungsneurologie und hatte einen Lehrauftrag am Institut für Rehabilitationspädagogik. Ihr Arbeitsschwerpunkt waren die neurobiologischen und psychosozialen Ursachen der Aggressivität bei Kindern und Jugendlichen.

    Dr. med. Helga Simchen hat eine abgeschlossene Ausbildung als Facharzt für Kinderheilkunde, Kinder- und Jugendpsychiatrie und Neurologie, Verhaltenstherapie und tiefenpsychologische Psychotherapie, Hypnose und Systemische Familientherapie. Der breite Fundus ihres Wissens und die täglichen Erfahrungen aus ihrer Spezialpraxis für AD(H)S und Teilleistungsstörungen in Mainz verleihen Frau Dr. Simchen eine besondere Befähigung, sich mit dem zukunftsweisenden Thema der Begleiterscheinungen und Folgeerkrankungen des AD(H)S zu beschäftigen. Dabei behandelt sie nicht nur die betroffenen Kinder und Jugendlichen, sondern ebenso die mit dem AD(H)S verknüpfte Problematik der Familie und des sozialen Umfeldes in deren Psychodynamik.

Helga Simchen

Die vielen Gesichter des AD(H)S

Begleit- und Folgeerkrankungen richtig erkennen und behandeln

6. Auflage

Verlag W. Kohlhammer

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6. Auflage 2023

 

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

 

Print:

ISBN 978-3-17-043556-8

 

E-Book-Formate:

pdf:         ISBN 978-3-17-043557-5

epub:      ISBN 978-3-17-043558-2

Inhalt

Vorwort

1         AD(H)S hat viele Gesichter

1.1       Viele fragen: »Woran erkenne ich ein AD(H)S vom Unaufmerksamen Typ?«

1.2       Auch das ist AD(H)S – Berichte über Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit AD(H)S

1.3       Die positiven Seiten des AD(H)S

2         Wenn Üben allein nicht ausreicht

2.1       AD(H)S und Störungen in der Informationsverarbeitung

2.2       Die Bedeutung von Motorik und Bewegung

2.3       Blicksteuerungsschwäche und gestörtes dynamisches beidäugiges Sehen

3         Häufige Begleiterkrankungen des AD(H)S

3.1       Das Asperger-Syndrom

3.2       Lern- und Teilleistungsstörungen

3.3       Der soziale Reiferückstand

3.4       Fehlentwicklungen rechtzeitig erkennen

3.5       Aggressives Verhalten muss nicht sein

3.6       Die häufigsten psychosomatischen Beschwerden

3.7       Drohende seelische Behinderung bei Kindern und Jugendlichen

4         Folgeerkrankungen des AD(H)S

4.1       Die Angststörung

4.2       Zwangstörungen bei AD(H)S

4.3       Depressionen

4.4       Tics und Tourette-Syndrom

4.5       Anfallsleiden

5         »Liebe allein genügt nicht!«

5.1       Kinder und Jugendliche mit AD(H)S brauchen mehr als Zuneigung

5.2       Auf die richtige Erziehung kommt es an

5.3       Wie Geschwister eine erfolgreiche Behandlung verhindern können

6         »Fahren mit angezogener Handbremse«

6.1       Ein Leben zwischen Nichtwollen und Nichtkönnen

6.2       Träume und Fantasien – eine Flucht aus der Wirklichkeit

6.3       Die erlernte Hilflosigkeit

6.4       Frustabbau durch Aggressionen und Zwänge

6.5       Essstörungen als Komorbidität bei Jugendlichen und Erwachsenen mit AD(H)S

6.6       AD(H)S und Allergien

7         »Niemand versteht mich!«

7.1       Impulssteuerungsschwäche

7.2       Borderline-Persönlichkeitsstörung

7.3       Sucht

7.4       Depressionen oder depressive Reaktionen?

8         Die Bedeutung der Frühdiagnostik und Frühbehandlung

8.1       »Nichts gelingt mir!« – Auf das Selbstbewusstsein kommt es an

8.2       Die Bedeutung des sozialen Umfeldes und der Schule

8.3       Die Notwendigkeit der Behandlung

9         AD(H)S erfolgreich behandeln – Erfahrungen aus der Praxis

9.1       Eltern im Dschungel gegensätzlicher Meinungen

9.2       Goldstandard der AD(H)S-Behandlung

10      Mit AD(H)S sein Leben gut meistern

Empfohlene Ratgeber und Fachliteratur

Hilfreiche Internet-Adressen

Im Buch erwähnte Testverfahren

Sachwortverzeichnis

Vorwort

AD(H)S verstehen heißt, seine Dimensionen zu begreifen. AD(H)S erkennen bedeutet, sein Labyrinth zu durchschreiten. AD(H)S behandeln heißt, Mensch und Umwelt als Einheit zu sehen.

Das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (AD(H)S) wird nicht nur wegen seiner Akutsymptomatik behandelt, sondern – und das vor allem – um seine Spätfolgen zu vermeiden. Der Ausgangspunkt dafür ist meist eine seelische Krise, die mit einem schlechten Selbstwertgefühl einhergeht.

Es gibt eine Fülle von AD(H)S-assoziierten Begleit- und Folgekrankheiten. Obgleich eine diesbezügliche wissenschaftliche Forschung erst noch am Anfang steht, geben die Erfahrungen aus der psychotherapeutischen und psychiatrischen Praxis mit Jugendlichen und Erwachsenen dafür eindeutige Hinweise. Diese Begleit- und Folgeerscheinungen sollten durch eine frühzeitige Diagnostik und Behandlung des AD(H)S möglichst vermieden bzw. rechtzeitig behandelt werden.

Noch immer warten jedoch zu viele AD(H)S-Betroffene und ihre Angehörigen mit dem Besuch bei einem Facharzt zu lange ab und ebenso zögern leider noch immer zu viele Ärzte und Therapeuten eine Stimulanziengabe so lange hinaus, bis ihre Patienten unter einer schwerwiegenden seelischen und/oder körperlichen Beeinträchtigung leiden. Auf diese Weise vergeht viel Zeit, in der Kinder und Jugendliche wichtige Entwicklungsphasen für sich hätten besser nutzen können. Stattdessen haben sie nun mit Defiziten zu kämpfen, die sie noch zusätzlich belasten.

Die wichtigsten Begleiterscheinungen und Folgeerkrankungen des AD(H)S sind:

•  Ein oppositionelles Verhalten, das in 40–60 % der Fälle als ein aufsässiges Benehmen infolge eines unbehandelten oder nicht optimal behandelten AD(H)S auftritt

•  Eine Lese-Rechtschreib- Schwäche (Legasthenie) und eine Rechenschwäche (Dyskalkulie), die sich bei etwa 50 % aller Kinder mit AD(H)S nachweisen lassen

•  Entwicklungsstörungen der Sprache, die sich häufig als ein Leitsymptom für ein beginnendes AD(H)S manifestieren

•  Beeinträchtigungen der Fein-, Grob- und Visuomotorik

•  Auditive Wahrnehmungsstörungen, die bei zwei Dritteln aller AD(H)S-Kinder vorkommen

•  Ticstörungen, insbesondere bei hyperaktiven Kindern

•  Depressionen, Angst- und Zwangsstörungen, unter denen oft Erwachsene und Jugendliche mit AD(H)S leiden

•  Zu viel Stress, innere Verunsicherung bei negativ geprägtem Selbstwertgefühl können die Entwicklung einer Essstörung begünstigen

•  Eine besondere Art von Epilepsie

•  Einnässen und Einkoten, die – besonders wenn sie tagsüber auftreten – als mögliche Hinweise auf ein AD(H)S mit Beeinträchtigung der körperlichen und seelischen Entwicklung ernst genommen werden sollten

•  Eine Tabak- und Alkoholabhängigkeit, vor allem bei Erwachsenen, die nicht selten den gelegentlichen bzw. regelmäßigen Konsum weiterer »leichter« Drogen wie Haschisch mit einbezieht und rasch in eine Abhängigkeit mündet

•  Ein Medikamentenmissbrauch, speziell bei AD(H)S-Betroffenen mit chronischen Kopfschmerzen sowie Angst- und Zwangsstörungen

•  Eine erhöhte Unfallrate, da hyperaktive Kinder im Vergleich zu ihren Altersgenossen häufiger zu Unfallopfern werden und zudem verhältnismäßig schwerer verunfallen

Rechtzeitig und richtig behandelt, muss sich AD(H)S nicht in jedem Fall nachteilig auf die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen auswirken. Man kann im Leben mit AD(H)S gut zurecht- kommen, viel erreichen und – gerade auch aufgrund des AD(H)S – beruflich sehr erfolgreich sein.

Mit AD(H)S richtig umgehen zu lernen, bedeutet einen Weg zu beschreiten, der manchmal nicht ganz einfach ist. Dennoch lohnt es sich, nach ihm zu suchen. Anfangs ist an Kreuzungen und Kurven zeitweilig professionelle (ärztliche bzw. therapeutische) Hilfe erforderlich. Anliegen dieses Buches ist es, allen Betroffenen, Angehörigen, Lehrern, Ärzten und Therapeuten diesen Weg aufzeigen. Im Kern geht es darum, Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen die unnötigen Folgen des AD(H)S zu ersparen und ihnen aufzuzeigen, wie sie von den positiven Seiten ihres AD(H)S profitieren können.

AD(H)S hat viele gute Seiten, man muss nur die Hierarchie der Besonderheiten erkennen, sie nicht bekämpfen, sondern sich ihrer bedienen, um seine Persönlichkeit voll entfalten zu können.

Helga Simchen

Januar 2003 für die 1. Auflage November 2019 für die 5., überarbeitete Auflage

1         AD(H)S hat viele Gesichter

1.1       Viele fragen: »Woran erkenne ich ein AD(H)S vom Unaufmerksamen Typ?«

»AD(H)S ist eine Modekrankheit, AD(H)S hat heute jeder«, so Meinungen aus der Praxis, die häufig geäußert werden. Weder das eine noch das andere stimmt. Richtig ist, dass AD(H)S heute – im Vergleich zu früher – öfter diagnostiziert und mehr behandelt wird, doch längst noch nicht ausreichend, was die tägliche Arbeit der Ärzte beweist, die sich auf die Diagnostik und Behandlung von AD(H)S spezialisiert haben.

Das Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom (ADS) gibt es mit und ohne Hyperaktivität, deshalb wird es korrekterweise jetzt in der Fachliteratur AD(H)S genannt. Beide Formen des AD(H)S unterscheiden sich deutlich in ihrer Symptomatik, wobei die wesentlichen Diagnosekriterien immer vorhanden sein müssen. Die beiden Subtypen beschreibe ich mit ihren unterschiedlichen Symptomen und Verläufen in diesem Buch ausführlich. Das ADS vom Unaufmerksamen Typ, dass ich auch gern als hypoaktive Variante bezeichne, wurde viel später erst als solches wissenschaftlich anerkannt. Deshalb wird das ADS jetzt korrekterweise als AD(H)S bezeichnet, als Oberbegriff für ein ADS mit oder ohne Hyperaktivität. Manchmal liegt aber auch ein sog. Mischtyp vor.

Die Disposition, d. h. die Veranlagung zum AD(H)S mag häufig sein, aber behandlungsbedürftig werden Kinder, Jugendliche und Erwachsene erst dann, wenn ihre Entwicklung und Lebensqualität deutlich beeinträchtigt sind. Unerkannt und unbehandelt führt AD(H)S zur inneren Verunsicherung der Betroffenen mit psychischer Instabilität und schlechtem Selbstwertgefühl. Kinder, Jugendliche und Erwachsene werden dann schnell zum Außenseiter und fühlen sich von ihrer Umwelt unverstanden. Sie wissen, dass sie vieles können und durchschauen, aber sie sind nicht in der Lage, dies aufs Papier zu bringen und es ihren Angehörigen, Freunden und Kollegen verständlich zu machen.

Das ist aber nur die aktuelle Seite der AD(H)S-Problematik. Viel schwerwiegender ist die Gefahr der späteren psychischen Instabilität mit einer hohen Rate an sekundären seelischen und körperlichen Erkrankungen. Das Selbstwertgefühl entwickelt sich in der Kinder- und Schulzeit, etwa in der Zeit vom achten bis elften Lebensjahr, und es entscheidet mit darüber, wie das betroffene Kind sein weiteres Leben in den verschiedenen Bereichen meistern wird. Deshalb die große Bedeutung der Frühdiagnostik und Frühbehandlung des AD(H)S.

Die Symptomatik des AD(H)S ist sehr vielfältig und nicht anhand von Tabellen oder Skalen zu erfassen. Diese dienen mehr der Verlaufskontrolle und der Orientierung, wann an ein AD(H)S gedacht werden sollte. Die Kinder und Jugendlichen selbst merken nur, dass sie anders reagieren und dass sie trotz Anstrengung und fleißigem Lernen auch bei guter Intelligenz keinen für sie ausreichenden Erfolg in der Schule und im Beruf haben. Sie spüren ihre innere Unruhe und den Drang, sich immer bewegen zu müssen. Manche müssen alles anfassen, immerzu reden oder ständig jemanden provozieren. Sie lernen nicht aus Fehlern und hören schlecht zu. Was sie aber hören wollen, hören sie ganz genau. Sie können sich auch konzentrieren, wenn sie etwas interessiert, aber es gelingt ihnen nicht immer, selbst dann nicht, wenn sie es möchten.

In ihren Zeugnissen steht sehr oft sinngemäß der Satz: »Du kannst, wenn du willst, das hast du schon bewiesen.« Sie wollen ja, aber sie können die Daueraufmerksamkeit nicht halten, wenn Nebengeräusche oder andere Dinge sie ablenken. Sie beginnen voller Freude und Elan das erste Schuljahr und merken bald, dass sie den Anforderungen nicht gewachsen sind. Sie resignieren langsam und ziehen sich zurück oder sie werden zum Klassenclown, um sich so Bestätigung zu holen. Manche entwickeln psychosomatische Beschwerden. Je nachdem, ob das Kind hyper- oder hypoaktiv ist, neigt es zu Aggressionen oder Ängsten als Folge seiner inneren Verunsicherung.

Viel Leid könnte manchem Kind erspart bleiben, wenn das Krankheitsbild des AD(H)S Eltern, aber auch Lehrern, Psychologen und Ärzten besser bekannt wäre und hilfesuchende Eltern rasch fachkundige Unterstützung erhielten.

Das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (AD(H)S) wird definiert als eine neurobiologisch bedingte, spezifisch veränderte Steuerungsdynamik der Wahrnehmung, der kognitiven und emotionalen Verarbeitung und der sich daraus ergebenden Reaktions- und Verhaltensbildung. Aus epidemiologischen Untersuchungen1 ist bekannt, dass in Deutschland ca. eine Million Kinder und Jugendliche eine AD(H)S-Konstitution mit beratungs- bzw. behandlungsbedürftigen Entwicklungsbeeinträchtigungen haben. Im Erwachsenenbereich liegt die Zahl der Betroffenen bei etwa 1,5 Millionen. Diese leiden zudem häufig ebenso unter Depressionen, Suchterkrankungen und Angststörungen.

Liegt ein AD(H)S vor, ist die Reizverarbeitung beeinträchtigt

•  Wahrnehmungen sind oberflächlich und »hüpfend«

•  Wegen der Reizfilterschwäche wird das Arbeitsgedächtnis überlastet

•  Äußere Reize können nicht ausreichend nach Wichtigkeit gefiltert werden

•  Durch Reizüberflutung bilden sich zu viele Leitungsbahnen

•  Es werden auch unwichtige Informationen abgespeichert

•  Botenstoffmangel beeinträchtigt die Weitergabe von Informationen vom Arbeitsgedächtnis ins Langzeitgedächtnis

•  Die Umstellung von einer Tätigkeit zur anderen kann beeinträchtigt sein

•  Ein schneller Ver-/Abgleich mit »Erinnerungen« ist nicht möglich

•  Gelerntes und Handlungsabläufe automatisieren sich sehr langsam

•  Abgespeichertes Wissen kann nicht schnell genug abgerufen werden

Die Symptomatik des AD(H)S ist in jeder Altersgruppe etwas unterschiedlich. Sie wird im Wesentlichen dadurch bestimmt, ob eine Hypo- oder Hyperaktivität vorliegt.

Die Schwere der Symptomatik und damit auch das Ausmaß des Leidensdruckes hängen von vielen Faktoren ab. Eine gute Intelligenz, ein verständnisvolles soziales Umfeld und geringe Anforderungen bilden schützende Faktoren.

Symptome des AD(H)S

•  Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörung

•  Störung der Wahrnehmung und Informationsverarbeitung

•  Störung der Merkfähigkeit

•  Innere und motorische Unruhe

•  Mangelhafte emotionale Steuerung

•  Frustrationsintoleranz

•  Impulssteuerungsschwäche

•  Störung der Feinmotorik

•  Teilleistungsstörungen

Symptome des AD(H)S im Säuglingsalter

Die Symptome des AD(H)S beginnen sich zumeist allmählich, vom ersten Lebensjahr an, zu entwickeln. Häufig fallen sie zunächst noch nicht merkbar auf, da sie je nach Ausmaß der Beeinträchtigungen, der Höhe der Anforderungen und der vorhandenen Ressourcen zuweilen noch über einen längeren Zeitraum kompensiert werden können. Die ersten Anzeichen einer AD(H)S-Problematik sind bereits im Säuglingsalter zu finden. Sie sind aber noch unspezifisch und lassen nur bei familiärer Veranlagung einen Verdacht zu. Die Kombination folgender Symptome – die von Eltern von AD(H)S-Kindern häufig beobachtet wurden – könnte im Säuglingsalter auf eine AD(H)S-Veranlagung hindeuten:

AD(H)S-Symptome im Säuglingsalter

•  unstillbares Weinen (phasenhaft)

•  oberflächlicher Schlaf, hellwach

•  können Streicheln nicht genießen

•  unruhig und unausgeglichen

•  kein Krabbeln

•  zeitiges Laufen

•  kein ausdauerndes »Spielen«

•  Trinkschwierigkeiten

•  Hautallergie

Gibt es in einer Familie bereits AD(H)S-Betroffene, sollten die genannten Symptome Anlass für eine gezielte weitere Beobachtung sein. Eine frühe Diagnose ermöglicht es sodann, den betroffenen Kindern von Anfang an eine strukturierte Betreuung mit viel Verständnis und individueller Förderung zu geben.

Neben den Babys und Kleinkindern, bei denen Eltern die Symptome frühzeitig bemerken, gibt es ebenso völlig unauffällige Säuglinge, die ausgesprochen »pflegeleicht« sind. Sie entwickeln erst später eine meist hypoaktive oder eine zwischen den beiden Subtypen liegende AD(H)S-Form.

Trinkschwierigkeiten sind oft die Folge der manchmal vorhandenen unregelmäßigen Atmung und der gestörten Mundmotorik. Hautallergien und Neurodermitis haben besonders hyperaktive Säuglinge. Viele von ihnen leben gleich nach ihrer Geburt im Stress und verunsichern ihre Eltern durch ihre Unruhe. Möglicherweise leiden sie unter einem Noradrenalinüberschuss im Rahmen ihres angeborenen Ungleichgewichts (dysbalance) der Neurotransmitter (Botenstoffe). Dieser Dauerstress destabilisiert das Immunsystem der Kinder und macht ihren Körper für allergische Reaktionen anfällig. Nicht wenige Eltern berichten, wie anstrengend die Pflege ihres später hyperaktiven Kindes im Säuglingsalter war. Oft konnten sie sich aus diesem Grund zu keinem weiteren Kind entschließen.

Dass seelisches Wohlbefinden und Immunsystem miteinander verknüpft sind, zeigt die Tatsache, dass sich eine Allergie bei einem AD(H)S-Kind unter der Behandlung nicht selten deutlich bessert oder gar verschwindet.

Symptome des AD(H)S bei Kleinkindern

AD(H)S-Symptome beim Kleinkind (1.–3. Lebensjahr)

•  hochgradige motorische Unruhe oder auffallend ruhig und brav

•  spielt nur kurzzeitig, schnell wechselnd in der Beschäftigung, ohne sie zu beenden

•  verzögerte Sprachentwicklung

•  fein- und grobmotorisch ungeschickt

•  lernt schwer, sich allein anzuziehen

•  motzt schnell und unangemessen stark

•  fällt »über die eigenen Beine« und weint leicht

•  Auffälligkeiten in der Mundmotorik (offener Mund, sabbert lange)

•  hat Umstellungs- oder Anpassungsprobleme

•  überängstlich, klammert, sehr anhänglich

•  kann nicht warten, bis es an der Reihe ist

•  empfindlich oder extrem unempfindlich gegenüber Außenreizen

Das hyperaktive Kleinkind ist sehr unruhig, umtriebig und schwer lenkbar. Es ist dauernd in Bewegung, klettert überall hoch, macht alle Schränke auf und reagiert nicht auf Zuruf. Es wird schnell wütend und schlägt gleich zu. Solche Kinder sind für ihre Eltern eine große Herausforderung und für ihre Geschwister nicht selten eine Belastung. Ihr Kommentar lautet oft: Der oder die »nervt«…

Hyperaktive Kinder fallen frühzeitig durch die Hauptsymptome des AD(H)S

•  motorische Unruhe,

•  Impulssteuerungsschwäche mit Spontanhandlungen sowie

•  verminderte Konzentration und Daueraufmerksamkeit

auf und grenzen sich durch die Intensität und Beständigkeit dieser Symptome von den lebhaften, temperamentvollen Kindern ab.

Weniger fallen dagegen die hypoaktiven Kinder auf.

Symptome des hypoaktiven Kindes im Vorschulalter (4.–6. Lebensjahr)

•  verhält sich ängstlich und unsicher

•  weint und motzt leicht, ist stimmungslabil

•  begreift manches langsam, kann nicht zuhören, sagt gleich: das kann ich nicht

•  Auffälligkeiten in der Mundmotorik, spricht undeutlich

•  Auffälligkeiten in der Sprache, verwechselt Konsonanten

•  motorische Probleme, malt und bastelt nicht gern

•  Probleme beim Schwimmenlernen und beim Fahrradfahren

•  selten Kontaktaufnahme zu gleichaltrigen Kindern

•  im Kindergarten Rückzugs- und Regressionstendenzen

•  spielt gern allein in der Puppen- oder Bauecke (oft stundenlang)

•  hat über viele Jahre immer den gleichen Freund

•  in seiner Tätigkeit viel zu langsam oder viel zu schnell

•  zieht sich aus dem Stuhlkreis zurück, kann nicht zuhören

•  kann sich nicht allein beschäftigen, langweilt sich immer

•  vergisst und verliert immer wieder Gegenstände

Die oben genannten Symptome des hypoaktiven Kindes werden zwar häufig übersehen, können jedoch in ihrer Summe seine seelische Entwicklung maßgeblich beeinträchtigen. Unerkannt, unbeachtet und unbehandelt kann das AD(H)S schwere Folgen für die Lebensqualität und Leistungsfähigkeit bis hin zum Erwachsenenalter haben.

Bei ausgeprägter Symptomatik sollte das AD(H)S schon vor der Einschulung diagnostiziert und behandelt werden, wenn nötig auch schon medikamentös mit Stimulanzien. Dies, damit sich das betroffene Kind nach der Einschulung nicht als »Versager« erlebt.

Symptome des hyperaktiven Kindergartenkindes (4.–6. Lebensjahr)

•  motorisch sehr unruhig, immer in Bewegung

•  spricht schnell und laut, schreit herum

•  regt sich leicht und übermäßig stark auf

•  reagiert spontan und oft unüberlegt, schlägt schnell zu

•  fragt viel, wartet aber oft die Antwort gar nicht ab

•  kann nicht lange zuhören, vergisst und verliert viel

•  bei Unsicherheit schnell aggressiv

•  hat Sprachprobleme: Stammeln, Schwierigkeiten einige Konsonanten auszusprechen

•  hält den Stift verkrampft und drückt ihn viel zu sehr auf

•  kann schlecht malen und Linien einhalten

•  hält sich nicht an Regeln, vergisst sie und redet immer dazwischen

•  will immer bestimmen, motzt schnell, ist schnell beleidigt

•  hat mit sich und anderen keine Geduld

•  hat einen großen Gerechtigkeitssinn, verzeiht auch schnell

•  will im Sport immer der erste sein, bei sozialen Diensten sehr eifrig

•  schläft spät ein, braucht wenig Schlaf

•  nässt tagsüber manchmal noch ein, seltener auch nachts

•  kann sich zu Hause anders als im Kindergarten verhalten

Im Kindergartenalter sind zwischen dem hypo- und hyperaktiven Subtyp schon verschiedene Übergangsformen zu beobachten. Das hypoaktive Kind ist angepasst und ängstlich, das hyperaktive Kind dagegen verhaltensauffällig und aggressiv. Sowohl die Ängstlichkeit als auch die Aggressivität sind jedoch beide Zeichen einer inneren Verunsicherung, die bereits den Beginn einer reaktiven Fehlentwicklung anzeigen.

Symptome des AD(H)S bei Schulkindern

Im Schulalter werden die Unterschiede zwischen hypo- und hyperaktiven Kindern deutlicher sichtbar, wobei zwischen beiden AD(H)S-Varianten viele Übergänge und Zwischenstufen existieren: Ein Kind kann z. B. in seinem äußeren Auftreten hyperaktiv, in seinem Denk- und gezielten Handlungsvermögen jedoch hypoaktiv geprägt sein.

Symptome des hypoaktiven Schulkindes

•  ist unkonzentriert, verträumt und viel zu langsam

•  hat Probleme in der Feinmotorik, beim Schreiben und Malen

•  leicht ablenkbar, vergisst und überhört viel

•  innerlich und motorisch unruhig, im Denken langsam und umstellungserschwert

•  ist zu empfindlich, weint leicht, ist schnell gekränkt

•  kann Kritik nicht vertragen, fühlt sich ungeliebt und missverstanden

•  macht zu Hause stundenlang und nicht allein Hausaufgaben

•  ist ängstlich und traut sich nichts zu

•  bleibt in der sozialen Reife zurück, spricht manchmal in Babysprache

•  hat oft Kopf- oder Bauchschmerzen

•  lässt sich leicht ärgern, kann sich nicht entsprechend wehren

Im Folgenden sei der Kommentar einer Lehrerin zum Abschlusszeugnis der ersten Klasse eines Jungen (Tobias) wiedergegeben, der ein Jahr später – trotz sehr guter Intelligenz – die zweite Klasse wiederholen musste (siehe unten). Die Gründe dafür lagen vor allem in einem zu langsamen Arbeitstempo des Jungen sowie in seinen zu vielen Fehlern im Diktat und beim Rechnen. Zu Hause war Tobias ständig unzufrieden mit seinen Hausaufgaben, bei denen er mehr radierte als er schrieb. Da er sich zwischendurch sehr erregte und weinte, brauchte er für die Hausaufgaben ein bis drei Stunden. Lautes Lesen verweigerte er. Die Ursache dafür war ein AD(H)S ohne Hyperaktivität mit Lese-Rechtschreib-Schwäche infolge multipler Störungen in der Informationsverarbeitung.

Wenn man dieses Zeugnis genau liest, lassen sich schon am Ende der ersten Klasse Schwierigkeiten erkennen, die von der Lehrerin sehr gut beobachtet und beschrieben wurden. Nach deren Ursachen wurde zunächst allerdings leider nicht weiter geforscht, sonst wäre dem Jungen einiges erspart geblieben.

Kommentar zum Abschlusszeugnis der ersten Klasse von Tobias

Tobias hat nach wie vor große Schwierigkeiten, sich im Schulalltag zurechtzufinden. Mit den anderen Kindern kommt er meist gut zurecht. Häufig muss er noch daran erinnert werden, die vereinbarten Regeln einzuhalten. Manchmal stört er durch Dazwischenreden und lautes Lachen den Unterricht. Leicht ablenkbar kann er diesem nur phasenweise folgen und sich nur für kurze Zeit konzentrieren. Seine Mitarbeit ist noch zu gering. An Gesprächen beteiligt er sich äußerst selten und muss zur Mitarbeit immer erst aufgefordert werden. Meist ist er gedanklich mit anderen Dingen beschäftigt, träumt, schaut aus dem Fenster – dadurch bekommt er viele Erklärungen nicht mit.

Erst in den letzten Wochen gelang es ihm, Arbeitsanweisungen, die für alle gegeben wurden, auch auf sich selbst zu beziehen und umzusetzen. Dabei muss er sein Arbeitstempo noch erheblich steigern und seine Hefte sorgfältiger führen.

Erst sehr spät verstand Tobias das Leseprinzip. Allerdings kennt er noch nicht alle Buchstaben sicher und hat große Mühe, sie zu unterscheiden. Er liest noch sehr stockend, bei längeren Wörtern muss er noch lautieren, sodass er den Sinn des Gelesenen nicht versteht. Schriftliche Arbeitsanweisungen kann Tobias erst nach persönlicher Erklärung umsetzen. Er sollte täglich lautes Lesen üben.

Tobias’ Stifthaltung ist noch sehr verkrampft, sein Schriftbild sehr eckig und ungleichmäßig. Vorgegebene Reihen werden nicht eingehalten. Beim Abschreiben macht er wenig Fehler, aber es erfolgt viel zu langsam. Bei Diktaten sind nur ganz wenige Wörter lesbar. Nach intensivem Üben kann er auch fast fehlerfrei schreiben.

Tobias erzählt gern von eigenen Erlebnissen, dabei zeigt er einen reichhaltigen und differenzierten Wortschatz. Hier ist er den meisten Kindern seiner Klasse weit voraus.

Im Rechnen hat er den erarbeiteten Zahlenraum weitgehend erfasst. Einfache Plus- und Minusaufgaben rechnet er meist richtig. Für neue und ungewohnte Aufgaben braucht er noch zu viel Zeit. Bei Sachaufgaben findet er selten den Rechenweg allein.

Musische Tätigkeiten scheinen ihn eher zu langweilen, aber im Sportunterricht ist er für alle Bewegungsspiele schnell zu begeistern und bemüht sich immer der Erste zu sein.

Das hyperaktive Kind zeigt dagegen ein anderes, fast gegenteiliges Erscheinungsbild, wenngleich beiden AD(H)S-Varianten die wesentlichsten Symptome gemeinsam sind, da bei beiden die gleiche Grundstörung vorliegt.

Symptome des hyperaktiven Schulkindes

•  ist motorisch unruhig, immer in Bewegung und zappelt viel

•  unkonzentriert, kann nicht zuhören und vergisst viel

•  spielt und arbeitet unbeständig, wechselt schnell von einer Beschäftigung zur anderen

•  hat motorische Probleme, kann seine Kraft schlecht dosieren

•  guter Beobachter, bemerkt alles, kann andere gut durchschauen

•  nimmt alles wahr, kann schlecht zwischen wichtig und unwichtig unterscheiden

•  antwortet oft, noch bevor die Frage richtig gestellt wurde

•  glaubt, alles zu können, und überschätzt sich leicht

•  lernt nicht aus Fehlern, fühlt sich schnell ungerecht behandelt

•  ist sehr laut, aber selbst oft geräuschempfindlich

•  kann schlecht mit den Hausaufgaben anfangen und unterbricht sie oft

•  will immer bestimmen, kann Gefahren schlecht einschätzen

•  setzt sich für andere ein, auch wenn es dadurch selbst Ärger bekommt

•  kommt mit Gleichaltrigen schlechter aus als mit Älteren oder Jüngeren

•  sammelt nutzlose Dinge

Viele Schulkinder, ob hyper- oder hypoaktiv, haben Probleme beim Lösen von Textaufgaben und beim Aufsatzschreiben.

Die neurobiologisch bedingten Defizite können bei AD(H)S-Kindern im Schulalter aufgrund der erhöhten Anforderungen im Leistungs- und Verhaltensbereich zu verschiedenen Funktionsstörungen führen, die in ihrer Vielfalt bei jedem einzelnen Kind in eine unterschiedliche individuelle Symptomatik münden. Diese weist ein immer gleiches Grundmuster auf, das jedoch in verschiedener Schwere ausgeprägt ist.

Abb. 1:   Verschiedene Formen des AD(H)S

Einteilung und Beschreibung des AD(H)S durch das DSM-V

Das zurzeit am besten standardisierte diagnostische Manual ist das amerikanische DSM-V aus dem Jahre 2014. Dieses teilt das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom in drei Gruppen ein, nämlich AD(H)S

•  mit vorwiegend Unaufmerksamkeit

•  mit Hyperaktivität und Impulsivität

•  den Mischtyp, der von beiden etwas hat

Das DSM-V (= das diagnostische und statistische Manual psychischer Störungen der amerikanischen psychiatrischen Gesellschaft) wird auch in den deutschsprachigen Ländern für die Diagnostik seelischer Erkrankungen verwendet. Die USA sind uns in der Diagnostik und Behandlung von AD(H)S und seiner Akzeptanz in der Bevölkerung jedoch weit voraus. Das mag nicht zuletzt daran liegen, dass in den Vereinigten Staaten von Amerika besonders viele Personen vom AD(H)S betroffen sind. Dies beruht zu großer Wahrscheinlichkeit nicht zuletzt darauf, dass diese Störung vererbt wird. So wissen wir heute, dass es für AD(H)S eine genetische Veranlagung gibt, die auf die nächste Generation übertragen werden kann.

Der unaufmerksame AD(H)S-Typus nach DSM-V

•  beachtet häufig Einzelheiten nicht oder macht Flüchtigkeitsfehler bei den Schulaufgaben, bei der Arbeit oder anderen Tätigkeiten

•  hat oft Schwierigkeiten, längere Zeit die Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten

•  scheint häufig nicht zuzuhören, wenn andere sprechen

•  führt Anweisungen anderer nicht vollständig durch und kann Schulaufgaben oder andere Pflichten nicht zu Ende bringen

•  hat Schwierigkeiten, Aufgaben und Aktivitäten zu organisieren

•  vermeidet Aufgaben oder macht solche nur widerwillig, die eine längere geistige Tätigkeit erfordern

•  verliert häufig Gegenstände, die benötigt werden

•  lässt sich leicht und oft durch äußere Reize ablenken

•  ist bei Alltagstätigkeiten oft vergesslich

•  flüchtet häufig in eine Traumwelt

Der hyperaktive AD(H)S-Typus nach DSM-V

Dieser Typus liegt vor, wenn bei einer mindestens sechs Monate bestehenden Störung mindestens acht der folgenden Anzeichen vorhanden sind. Der/die Betroffene

•  wird leicht durch äußere Reize abgelenkt

•  hat Schwierigkeiten, bei Aufgaben und Spielen längere Zeit aufmerksam zu sein

•  kann nur schwer sitzen bleiben, wenn dies von ihm verlangt wird

•  zappelt häufig mit Händen und Füßen oder windet sich in seinem Sitz (bei Jugendlichen kann sich dies auf subjektive Empfindungen von Rastlosigkeit beschränken)

•  kann nur schwer ruhig spielen

•  kann bei Gruppen- und Spielsituationen nur schwer warten, bis er an der Reihe ist

•  unterbricht oft andere und drängt sich diesen auf, platzt z. B. in das Spiel anderer Kinder hinein

•  redet häufig übermäßig viel

•  platzt oft mit der Antwort heraus, bevor die Frage vollständig gestellt ist

•  scheint häufig nicht zuzuhören, wenn andere mit ihm sprechen

•  hat Schwierigkeiten, Aufträge anderer vollständig auszuführen (nicht bedingt durch oppositionelles Verhalten oder Verständigungsschwierigkeiten), beendet z. B. die Hausaufgaben nicht

•  wechselt häufig von einer nicht beendeten Aktivität zur anderen

•  verliert häufig Gegenstände, die er für Aufgaben oder Aktivitäten zu Hause oder in der Schule benötigt (z. B. Spielzeug, Bleistifte, Bücher, Anweisungen)

•  unternimmt oft ohne Rücksicht auf mögliche Folgen körperlich gefährliche Aktivitäten (nicht aus Abenteuerlust), rennt z. B. ohne zu schauen auf die Straße

Bei der besonders schweren Form des AD(H)S mit Hyperaktivität sind noch weitere Symptome vorhanden, die mit einer Störung der sozialen Anpassung an die Familie und an Gleichaltrige sowie mit einer deutlichen Beeinträchtigung der schulischen Leistungsfähigkeit verbunden sind.

Die Symptome sind Folge einer Funktionsbeeinträchtigung des Stirnhirns durch Mangel einzelner Botenstoffe mit der Folge einer »Dysbalance« (d. h. dass das Verhältnis der einzelnen Botenstoffe zueinander verschoben ist). Dies führt zum Beispiel zu einer veränderten Wahrnehmung, die wiederum mit zu schnellen oder zu langsamen Reaktionen verknüpft ist.

Die wichtigsten Symptome des AD(H)S im Kindesalter im Detail

Mangel an Konzentration und Daueraufmerksamkeit

Ist ein AD(H)S-Kind von einer Sache fasziniert, kann es sich sehr gut konzentrieren. Wird es aber abgelenkt und die Beschäftigung uninteressant, lässt seine Konzentration erheblich nach, sie kann dann auch nicht willentlich aktiviert werden. Ein AD(H)S-Kind kann seine Aufmerksamkeit nicht über einen länger andauernden Zeitraum aufrechterhalten und schon gar nicht, wenn es gelangweilt ist. Dann hat es mit seiner inneren Unruhe zu kämpfen, die für ihn bei Nichtbeschäftigung unerträglich wird. Dann muss es sich körperlich intensiv bewegen oder durch Provozieren Ärger erzeugen.

AD(H)S-Kinder sind aber auch in der Lage, stundenlang mit Lego-Bausteinen zu spielen, fernzusehen, mit dem Game-Boy zu spielen oder anderen »Lieblingsaktivitäten« nachzugehen, soweit diese ihr Belohnungssystem aktivieren. Auffällig ist, dass Computerspiele fast alle Kinder, Jugendlichen oder Erwachsenen mit AD(H)S faszinieren. Dies hat seinen Grund darin, dass der Computer das menschliche Gehirn durch seine schnell wechselnden Bildfrequenzen besonders stimuliert.

Mangelnde Strukturierung

AD(H)S-Kinder können sich schlecht für eine komplexe Aufgabe motivieren und diese erfolgreich strukturieren. Kinder mit AD(H)S stehen deshalb häufig vor großen Problemen beim Lösen von Textaufgaben. Sie nehmen zu oberflächlich wahr und können nicht ordnen. Sie schreiben ebenso die Schulaufsätze sehr oft viel zu kurz und mit Gedankensprüngen. Dabei achten sie weder auf die Rechtschreibung noch auf die Zeitform. Sie wechseln in ihrer Schilderung ständig zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Bei Klassenarbeiten setzen sie sich häufig zu sehr unter Druck: Infolge ihrer emotionalen Steuerungsschwäche verbunden mit Stressintoleranz gelingt ihnen dann gar nichts mehr, ihr logisches Denken ist unter Stress beeinträchtigt. So kommt es – trotz guter Vorbereitung und ausreichendem Wissen – nicht selten zum regelrechten Black-out.

Hausaufgaben werden zum Problem Nr. 1

Das Erledigen von Hausaufgaben wird zu Hause und in der Schule zu einem schwerwiegenden Problem, wenn AD(H)S-Kinder keine Lust dazu haben. Sie besitzen kein Zeitgefühl, denken in Stunden und können sich gar nicht erst überwinden, anzufangen. Beginnen sie endlich nach langen Diskussionen mit den Aufgaben, muss die Mutter daneben sitzen und immer wieder zum Weiterarbeiten ermuntern. Verlässt die Mutter das Zimmer, wird sofort aufgehört und gespielt, aus dem Fenster geschaut oder gemalt. Das AD(H)S-Kind steht während der Hausaufgaben mehrmals auf, um irgendetwas ganz »Dringendes« zu erledigen.

Handeln, ohne vorher nachzudenken

Das impulsive Handeln, ohne vorher nachgedacht zu haben, ist für AD(H)S-Kinder typisch. Zunächst in Ruhe nachzudenken, fällt den Kindern schwer, da ihr Stirnhirn nicht einwandfrei funktioniert. Unser Tun und Handeln wird vom Stirnhirn kontrolliert und mit den Erfahrungen aus dem Langzeitgedächtnis verglichen und dann erst »freigegeben«. Bei Menschen mit AD(H)S muss jede Idee jedoch sofort umgesetzt werden. Sie können schlecht abwarten, bis sie an der Reihe sind, weil sie bis dahin sonst alles wieder vergessen haben. Auch jedes Gefühl wird deshalb unmittelbar und unkontrolliert geäußert. AD(H)S-Betroffene lernen nicht aus Fehlern und können gemachte Erfahrungen nicht direkt mit dem aktuell Erlebten vergleichen. Die Aktivierung des Langzeitgedächtnisses und dessen Informationsweiterleitung gelingen infolge von Botenstoffmangel und eines viel zu dichten und weit verzweigtem neuronalen Netzes deutlich langsamer. Deshalb können diese Kinder schlechter aus Fehlern lernen und ihnen bekannte Regeln einhalten. Sie stehen ihnen im Moment des Handelns nicht so schnell zur Verfügung. Denn ein AD(H)S-Kind braucht für die Automatisierung von Leistungen im Denken und im Handeln um ein Vielfaches mehr Zeit als ein anderes Kind. Man muss also einem AD(H)S-Kind wichtige Informationen mehrmals direkt mitteilen und diese wiederholen lassen, erst dann ist es in der Lage, diese abrufbereit zu speichern. Interessant und auffällig ist, dass AD(H)S-Kinder zugleich fähig sind, sich dagegen Dinge zu merken, die schon längst Vergangenheit und für andere uninteressant und unbedeutend sind. So besteht bei ihnen besonders für kränkende Ereignisse ein Riesengedächtnis. Das AD(H)S-Kind kann meist schnell auswendig lernen, ist aber nicht in der Lage, aus einem längeren Text das Wesentliche zu erfassen. Der Text bedeutet Chaos, Wichtiges und Unwichtiges zu unterscheiden fällt schwer.

Schlechte Steuerung der Gefühle

Das Stirnhirn ist auch dafür verantwortlich, dass AD(H)S-Kinder ihre Emotionen nur schwer steuern können. Die Kinder können ihre Gefühle bei Motz- oder Wutanfällen nicht abfangen und sie sozial angepasst abreagieren. Sie weinen rasch und fühlen sich leicht angegriffen. Dabei sucht das hypoaktive Kind immer die Schuld bei sich, das hyperaktive dagegen meist bei anderen, mit einem »immer ich!« weist es lautstark alle Beschuldigungen energisch zurück.

Vergesslichkeit und Lügen

AD(H)S-Kinder verfügen im Gehirn nur über einen durch Reizüberflutung überlasteten Arbeitsspeicher, der die Reize der Umgebung nicht nach ihrer Wichtigkeit sortieren kann. Sie nehmen ihre Umwelt nur oberflächlich wahr und ersetzen Erinnerungslücken als Selbsthilfe durch ihre sehr gute Fantasie. Tatsächlich können sie sich im Moment an nichts anderes erinnern und halten die auf diese Weise konstruierten Wirklichkeiten für real. Sie werden deshalb schnell als Lügner beschimpft, womit man ihnen Unrecht tut. Kommen sie innerlich zur Ruhe, fällt ihnen die wirkliche Begebenheit wieder ein – nur unter Stress gelingt dies eben nicht.2

Eine zu langsame bzw. zu schnelle Arbeitsgeschwindigkeit

Die Arbeitsgeschwindigkeit von AD(H)S-Kindern fällt je nach AD(H)S-Typ entweder viel zu langsam oder viel zu schnell aus, besonders im Rahmen schriftlicher Arbeiten. Das Ergebnis entspricht dann nicht der eigentlichen Intelligenz und dem Leistungsvermögen der Kinder, trotz reichlichem Üben. Ihre Schrift ist krakelig, die Buchstaben hängen zwischen den Linien und sind oft unleserlich. Weder Rand noch Datum, nur viele Kleckse und Eselsohren. Oder die Kinder liefern eine gezirkelte Schrift mit perfektionistischer Ordnung ab, ohne jedoch den Stoff der Schulstunde je zu schaffen. Beide Male wird mit verkrampfter Hand und mit viel zu viel Druck geschrieben.

Motorische Beeinträchtigungen

Motorische Beeinträchtigungen können sich als Probleme in der Fein-, Grob-, Grapho-, Sprech- und/oder Augenmotorik sowie in der Koordination äußern. Die Körperbewegungen von Kindern mit AD(H)S wirken dann nicht fließend, sondern unharmonisch mit schlechter Kraftdosierung. Ihre Schrift automatisiert sich nicht, d. h. mit zunehmendem Schreibtempo wird sie eckig, »krakelig«, meist gelingt Druckschrift besser. Bei beeinträchtigter Körperkoordination können Hampelmannsprung, Radfahren oder Schwimmen nur mühsam erlernt werden. Ist die Sprachmuskulatur betroffen, gelingt eine deutliche Aussprache von Wortenden oder einiger Konsonanten nicht immer, z. B. der S- und Z-Laute; es kommt zum Lispeln. Ist der Sprachrhythmus gestört, tritt unter psychischer Anspannung zeitweiliges Stammeln auf. Sind die Augenmuskeln betroffen, kann es zum gestörten dynamischen beidäugigen Sehen kommen, d. h. die Augen bleiben bei Bewegung nicht ständig in Parallelstellung, sodass kurzzeitig das Gelesene unscharf erscheint oder sich nach oben oder unten verschiebt.

Das Selbstwertgefühl leidet

AD(H)S-Kinder leiden je nach der Schwere der Symptomatik unter einem verminderten Selbstwertgefühl. Dieses bleibt, sofern das Kind sich weiterhin nur negativ erlebt und nicht bald Anerkennung und Lob erhält, lebenslänglich negativ besetzt. Häufig bemühen sich die Kinder, ihr schlechtes Selbstwertgefühl zu kompensieren: Sie suchen die Anerkennung der Gleichaltrigen durch die Aufgabe eigener Interessen oder durch das »Erkaufen« von Freundschaften. Sie wagen Mutproben, die kein anderer machen würde, oder fallen in die Rolle des Klassenclowns. Manche kompensieren ihr schlechtes Selbstbild auch durch einen unangepasst »starken Willen«.

Ordnung halten fällt sehr schwer

AD(H)S-Kinder sammeln tausend Dinge, die ihnen in die Hände fallen; alles muss direkt griffbereit sein und nichts wird nach System abgelegt. Die Kinder sind nicht in der Lage, ihre Zimmer systematisch aufzuräumen: Die Spielsachen werden nicht auf-, sondern einzig umgeräumt.

AD(H)S-Kinder sind in ihrer sozialen Reife zurück

AD(H)S-Kinder zeigen in Situationen der Unsicherheit oft kleinkindhaftes Verhalten. Sie spielen grundsätzlich lieber mit jüngeren oder auch älteren Kindern und entwickeln nur wenige Freundschaften, diese aber dafür umso intensiver. Sie suchen verstärkt Kontakt und intensive Zuwendung zu einzelnen Erwachsenen und sind für diese in ihrer großen Anhänglichkeit nicht selten anstrengend. Von ihren Klassenkameraden werden sie oft ausgegrenzt, da sie sich schlecht in eine Gruppe eingliedern können. Die Hyperaktiven wollen immer bestimmen, die Hypoaktiven erwarten eine besondere »Einladung« mitzumachen. Die übrigen Altersgenossen merken, dass das Verhalten der AD(H)S-Kinder anders ist. Untereinander verstehen sich AD(H)S-Kinder gut, allerdings gibt es oft Ärger, der aber schnell vergessen wird.

Abb. 2:   Ein Jugendlicher mit AD(H)S hat »aufgeräumt«

Die oben beschriebenen Symptome müssen nicht in ihrer Gesamtheit bei allen Kindern mit AD(H)S vorhanden sein. Neben einer ausgeprägten AD(H)S-Symptomatik gibt es eine Veranlagung zum AD(H)S mit diskreter Symptomatik und die verschiedensten Erscheinungsbilder zwischen der Hyper- und Hypoaktivität. Die Hyperaktivität schwächt sich meist im Laufe des Jugendalters ab, was aber bleibt, ist die emotionale Steuerungsschwäche, die innere Unruhe und der Mangel an Daueraufmerksamkeit.

Symptome des AD(H)S bei Jugendlichen

Im Folgenden sind zum einen allgemeine Auffälligkeiten bei Jugendlichen mit AD(H)S, zum anderen spezifische Symptome bei hyper- und hypoaktiven Jugendlichen aufgeführt.

Auffälligkeiten bei Jugendlichen mit AD(H)S

•  sehr stark ablenkbar

•  innere und äußere Unruhe

•  schlechte Gefühlssteuerung mit Impulsivität

•  unzureichende Fähigkeit, den Tagesablauf zu organisieren

•  geringe Zielstrebigkeit

•  Leistungsabfall unter Stress

•  negatives Selbstwertgefühl

•  schneller Verlust der Selbstkontrolle

•  Einnahme von anregenden oder beruhigenden Mitteln als Selbstbehandlung

•  Schlafschwierigkeiten und häufiges Grübeln

•  Energiemangel

•  Geräuschempfindlichkeit bei selbst lauter Sprache

•  schlechtes Schriftbild

•  Handeln unüberlegt, ohne an die Folgen zu denken

•  sind überempfindlich

•  fallen bei Trennung in ein »Loch«

AD(H)S-Symptome bei Jugendlichen

•  spätere Pubertät als bei Gleichaltrigen, aber intensiver und länger

•  Selbstwertproblematik mit Versagensängsten und Selbstwertkrisen

•  mangelnde Selbstkontrolle mit starken Stimmungsschwankungen

•  sehr sensibel mit großem Gerechtigkeitssinn

•  extreme Reaktion bei Trennung, Verlust und Enttäuschung

•  schneller Wechsel von Interessen und Freunden oder Rückzug in die Isolation

•  Probleme bei der Berufsfindung, können sich nicht entscheiden

•  starker Wille, wenn von etwas überzeugt und begeistert

•  kein Zeitgefühl, Leben zwischen Langeweile und Zeitstress

•  Schwierigkeiten, konzentriert zu lernen und das Gelernte zu behalten

•  Schwarz-Weiß-Denken mit depressiven Löchern

•  Impulssteuerungsschwäche mit Panikattacken und Blackout-Reaktionen

•  Frustrationsintoleranz

•  Selbstgefährdung, um sich zu spüren und sich abzureagieren

•  Neigung zum Nikotin- und Alkoholmissbrauch und Drogenkonsum

•  Freude an Geschwindigkeit und Computerspielen oder Rückzug in eine Traumwelt

Symptome des AD(H)S bei Erwachsenen

Die meisten Erwachsenen mit AD(H)S klagen über:

•  eine innere Unruhe,

•  ein schlechtes Selbstwertgefühl,

•  Schwierigkeiten bei der Gefühlssteuerung,

•  Konzentrationsschwäche,

•  mangelhafte Wahrnehmung,

•  nicht verstanden zu werden.

Die häufigsten AD(H)S-Symptome bei Erwachsenen sind:

•  Hohe Ablenkbarkeit, Konzentrationsschwäche

•  Gefühl innerer und äußerer Unruhe

•  Affektlabilität, Aggressivität, Impulssteuerungsschwäche

•  Probleme bei der Selbstorganisation und der emotionalen Steuerung

•  Bei der Tagesstrukturierung Schwierigkeiten, Ordnung und Zeit einzuhalten

•  in der Lebensplanung oft Mangel an Zielstrebigkeit und eigener Perspektive

•  Leistungsabfall unter Stress, der sich nur verzögert abbaut

•  Mangel an Problemlösungsstrategien

•  Geringes Selbstvertrauen oder Selbstüberschäzung bei beeinträchtigter Wahrnehmung

•  Reiferückstand in der sozialen Kompetenz

•  Bedürfnis nach anregenden Mitteln zur Selbstbehandlung

•  Ein- und Durchschlafschwierigkeiten

•  Energiemangel bei Interesse, aber sehr leistungsfähig

•  Immer wieder vergesslich trotz gelobter Besserung

Einige Eltern von AD(H)S-Kindern berichten, dass sie selber in der Grundschule unter einer AD(H)S-Problematik litten, die zuweilen mit einer Rechtschreib- und/oder Rechenschwäche verknüpft war. In einigen Fällen habe sich die Problematik von der 5. Klasse an deutlich gebessert. Diese Berichte bestätigen die Tatsache, dass es durchaus eine spontane Besserung der AD(H)S-Problematik gibt, wie sie sich auch unter der Behandlung in der Praxis zeigt.

Ist erst einmal die Pubertät überstanden, verliert bei vielen Erwachsenen das AD(H)S an Dramatik. Finden sie einen interessanten Beruf, der ihnen die Entfaltung ihrer vielen positiven Fähigkeiten gestattet, und einen passenden Lebenspartner, der Verständnis, Struktur und Toleranz mitbringt, so können sie ein erfülltes Leben mit guter Qualität genießen. Vorausgesetzt, ihr Selbstwertgefühl hat in der Kindheit nicht zu sehr gelitten. In der Familie sind Erwachsene mit AD(H)S sehr harmoniebedürftig, sehr feinfühlig und manchmal leider zu inkonsequent, was sodann auch die Erziehung ihrer Kinder (ohne und eventuell mit AD(H)S) betrifft. Im Beruf sind sie fähig, besonders hohe Leistungen zu vollbringen, zu denen nur sie so in der Lage sind. Sie verausgaben sich dabei schnell, klagen über eine starke Erschöpfung und Kraftlosigkeit nach der Arbeit. Sie sind dann so müde und ausgebrannt, dass sie sich abends weder der Familie noch einem Hobby widmen können. In ersten Ansätzen können diese Erscheinungsformen auch schon Jugendliche betreffen.

Weitere Symptome können je nach Schwere des Betroffenseins und abhängig vom AD(H)S-Typ bei Erwachsenen auftreten:

•  Ziellosigkeit trotz vieler Pläne bei gleichzeitiger Unfähigkeit, Prioritäten zu setzen

•  leben im Hier und Jetzt, sind leicht beeinflussbar, schnell zu begeistern bei fehlender Ausdauer

•  bei Interesse arbeiten sie unermüdlich und können sich durch ihre Fähigkeit der Überfokussierung auch dann gut auf diese Sache konzentrieren

•  Stimmungsschwankungen zwischen Impulsivität und »depressiven Löchern«

•  unzuverlässig und ungeduldig bei Entscheidungen privater, geschäftlicher oder finanzieller Art, oder

•  perfektionistisch mit sturen, fast zwanghaften Regeln

•  niedrige Stresstoleranz, reagieren dann unüberlegt

•  Pessimismus, mangelndes Selbstvertrauen, fehlende Motivation

•  keine Strukturierung, keine Zielsetzung, fehlende realistische Perspektive

•  unfähig, »nein« zu sagen, werden leicht ausgenutzt, zu gutmütig

•  Schwierigkeiten in der Kommunikation, können nicht zuhören und ihre Ideen verständlich einbringen, weil ihnen im Moment die passenden Worte fehlen

•  Schwarz-Weiß-Denken, wenig kompromissbereit, verhalten sich undiplomatisch

•  Mangelhaftes Zeitgefühl

•  sammeln alles, können sich von nichts trennen

•  Suchttendenzen als Selbstbehandlung zum Frustabbau (Nikotin, Alkohol, Drogen, Spiel- und Kaufsucht)

•  Gefühl der inneren Unruhe mit unüberlegt schnellem oder zu langsamem, unentschlossenem Handeln, umstellungserschwert, wenig entscheidungsfreudig

Wender-Utah-Kriterien zur AD(H)S-Diagnose im Erwachsenenalter

Aufmerksamkeitsstörung

•  Erhöhte Ablenkbarkeit und Reizoffenheit, fluktuierende Aufmerksamkeitsleistung

Motorische Hyperaktivität

•  Gefühl der inneren Unruhe, Unfähigkeit zu entspannen, stark schwankender Antrieb bzw. Energie, dysphorische Stimmung bei Inaktivität

Affektlabilität

•  Rasch wechselnde Stimmungslage, häufig als Unzufriedenheit und Langeweile empfunden

Desorganisiertes Verhalten

•  Defizitäre Alltagsorganisation, Wechsel zu verschiedenen Aufgaben, unsystematische Problemlösestrategien

Affektkontrolle

•  Andauernde Reizbarkeit bei geringem Anlass, Intoleranz von Frustration, mangelhafte Wutkontrolle

Impulsivität

•  Störungen der Impulskontrolle wechselnder Intensität

Emotionale Übererregbarkeit

•  Unfähigkeit, mit alltäglichen Stressoren umzugehen, überschießende Reaktionen, rasche Erschöpfung

Differenzialdiagnose des AD(H)S

Wichtig ist es bei der Diagnose, andere Störungen mit einer zum Teil ähnlichen Symptomatik vom AD(H)S abzugrenzen (= Differenzialdiagnose). Dabei ist zu beachten, dass durchaus eine Kombination von mehreren Störungsbildern vorhanden sein kann.

Differenzialdiagnose des AD(H)S

Bevor ein AD(H)S diagnostiziert wird, müssen folgende Störungen als »Hauptverursacher« ausgeschlossen werden:

•  intellektuelle Minderbegabung

•  Schädigungen in der Schwangerschaft und unter der Geburt

•  chromosomale Schäden

•  Funktionsstörungen der Schilddrüse

•  verwöhnende Erziehung mit wenig Arbeitsmotivation

•  depressive Erkrankungen

•  posttraumatische Störungen (z. B. Schädel-Hirn-Trauma als organische Schädigung des Gehirns)

•  Zustand nach schweren Gehirninfektionen

•  epilepsiebedingte Anfallsformen

•  Trennungsproblematik mit schweren familiären Konflikten

Die oben genannten Störungen allein können ein AD(H)S oberflächlich betrachtet vortäuschen und müssen deshalb bei der Diagnostik beachtet, abgegrenzt, berücksichtigt oder ausgeschlossen werden. Sie können aber durch ihre spezifische Symptomatik die Schwere des AD(H)S und den Behandlungserfolg wesentlich negativ beeinflussen.

Begleiterscheinungen und Folgeerkrankungen des AD(H)S

In der ärztlichen Praxis sind es nicht selten gerade die unten genannten Begleiterscheinungen und Folgeerkrankungen, die den Weg zur Diagnose »AD(H)S« weisen, wenn man die Kindheit, die Familie, die Schule mit ihren Zeugnissen, den beruflichen Werdegang und die Partnerbeziehungen genau analysiert. Die akute Symptomatik, die der Anlass des Arztbesuchs ist, steht oft am Ende eines langen Leidensweges.

Begleiterscheinungen und Folgeerkrankungen des AD(H)S

•  Lese-Rechtschreib-Schwäche und Rechenschwäche

•  emotionale Steuerungsschwäche

•  psychosomatische Beschwerden

•  Einnässen und Einkoten

•  Ängste

•  Selbstwertkrisen

•  Impulssteuerungsschwäche

•  Zwänge

•  Essstörungen

•  Depressionen

•  Nikotin- und Alkoholmissbrauch

•  Tics und Tourette-Syndrom

•  Rauschgiftkonsum und Drogenabhängigkeit

•  Anfallsleiden

Die Zusammenhänge von AD(H)S und anderen seelischen und körperlichen Beschwerden, wie sie die Praxis bei der Betreuung von Familien mit AD(H)S täglich zeigen, sind allgemein noch immer viel zu wenig bekannt und in der Wissenschaft längst nicht alle durch Studien belegt. Aber aus der psychiatrischen und psychotherapeutischen Praxis berichten Ärzte und Psychologen immer häufiger darüber.3

AD(H)S mit seinen Begleiterscheinungen und Folgeerkrankungen richtig und angemessen zu begreifen, erweitert und verbessert die Behandlungsmöglichkeiten vieler psychischer und psychosomatischer Störungen. AD(H)S zeitig erkennen und richtig behandeln bedeutet auch, die Entwicklung seiner Begleiterscheinungen und Folgeerkrankungen zu mindern bzw. zu verhindern. Damit wäre ein wesentlicher Beitrag zur Verbesserung der Lebensqualität der Menschen geleistet, die unter AD(H)S leiden. Bei einer Veranlagung zum AD(H)S von fast 10 % der Bevölkerung in Deutschland (unter Einbeziehung des hypoaktiven Subtyps), wäre dies mit Sicherheit ein wesentlicher Beitrag zur psychischen Stabilisierung und verbesserten Lebensqualität.

1.2       Auch das ist AD(H)S – Berichte über Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit AD(H)S

In einem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom sind stets zwei – scheinbar entgegengesetzte – Seiten angelegt: Die eine Seite offenbart sich in besonderer Impulsivität und Kreativität sowie ungewöhnlicher Leistungsfähigkeit der Betroffenen, die andere in einer Neigung zur psychischen Instabilität, die mit Entwicklungsdefiziten und deren seelischen und körperlichen Folgeerkrankungen einhergeht.

Es muss jetzt gehandelt werden, denn die praktischen Erfahrungen von Fachärzten, die sich intensiv mit AD(H)S-Patienten und ihren Familien beschäftigen, zeigen immer offenkundiger einen Zusammenhang zwischen der Schwere und der Dauer der AD(H)S-Symptomatik im Kindesalter und der psychischen und körperlichen Beeinträchtigung im Erwachsenenalter. Dabei spielen der Zeitpunkt, die Dauer und die Qualität der Betreuung des AD(H)S im Kindesalter eine wesentliche Rolle, denn AD(H)S ist angeboren und kann somit zu einem Wesensmerkmal der betroffenen Person werden.

Die zum Zeitpunkt der Diagnostik dargebotene akute Symptomatik entspricht nur einer kurzen Momentaufnahme im Leben des Betroffenen. Noch viel zu wenig sind die Langzeitfolgen des AD(H)S bekannt. Auch sie müssen bei der Entscheidung über die Art der Behandlung mit berücksichtigt werden. Dabei sollte eine notwendige Therapie so früh wie möglich beginnen, damit das Selbstwertgefühl gar nicht erst leidet. Ängste und Aggressionen im Kindesalter sind schon die ersten Zeichen einer beginnenden seelischen Beeinträchtigung. Wird bei ausgeprägter Symptomatik zu spät mit der Stimulanzienbehandlung begonnen, bedeutet das für die Betroffenene, dass wichtige Entwicklungsphasen der Kindheit ungenutzt verstreichen.

Die AD(H)S-Symptomatik umfasst vier Ebenen, die organische, kognitive, seelische und die soziale. Sie sind alle eng miteinander verflochten und bestimmen das jeweils individuelle Erscheinungsbild beim Einzelnen, das somit sehr verschieden sein kann. Diese AD(H)S-Vielfalt an Symptomen im Kindes- und Jugendalter und deren Dynamik bei der Entstehung von Begleiterscheinungen und Folgeerkrankungen werden im Folgenden anhand von Patientenberichten erläutert.

Was führt bei AD(H)S-Kindern zur Lese-Rechtschreib-Schwäche? Was zu einer Rechenschwäche? Wann kommt es zum Einnässen? Warum haben manche AD(H)S-Kinder Schlafstörungen, Kopf- oder Bauchschmerzen, Ängste, eine Tic-Symptomatik oder irgendwelche Zwänge und was kann man dagegen tun? Wie kommt es zu Essstörungen und selbstverletzenden Handlungen?

Schaubild 1 gibt einen Überblick über einen in der Praxis oft nachweisbaren Zusammenhang zwischen AD(H)S und seinen Begleiterscheinungen und Folgeerkrankungen in ihrer möglichen Psychodynamik (Schaubild 1).

Was zunächst beim Kind als vorübergehende oder zeitweilige psychische Überforderung angesehen wird, kann bei Nichtbehandlung im Jugend- und Erwachsenenalter zu Angststörungen mit Panikattacken, Depressionen und Selbstwertproblematik mit mangelnder sozialer Einbindung führen.