AD(H)S und Hochbegabung - Helga Simchen - E-Book

AD(H)S und Hochbegabung E-Book

Helga Simchen

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Beschreibung

Bei hochbegabten Kindern mit AD(H)S wird ihre Hochbegabung meist nicht erkannt, auch weil sie beim Intelligenztest im Handlungsteil AD(H)S-bedingt schlechter abschneiden. Mithilfe einer multimodalen AD(H)S-Therapie kann dies ausgeglichen werden. Neben dem IQ-Wert können sich auch Selbstwertgefühl und soziale Kompetenz nun deutlich steigern. Dieses Buch gibt Antworten auf häufig gestellte Fragen und zeigt auf, wie Hochbegabung bei Kindern mit AD(H)S erkannt und gefördert werden kann. Zahlreiche Fallbeispiele aus der Praxis belegen, wie Schullaufbahn und Lebensqualität sich dadurch wesentlich verbessern.

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Inhalt

Cover

Titelei

Vorwort

1 Hochbegabung – ein Solotanz mit oder ohne Erfolg

1.1 Begabungen erkennen und fördern

1.2 Intelligenz – eine variable Größe und ihre Bedeutung für die Entwicklung

1.3 Hochbegabung ist nicht gleich Erfolg

1.4 Woran kann man hochbegabte Kinder und Jugendliche erkennen?

1.5 Die multiple Intelligenz – ein moderner Begriff

1.6 Beispiele für sehr und hochbegabte Kinder und Jugendliche, die ihren Weg gehen

1.6.1 Beatrice, die eine wissenschaftliche Laufbahn eingeschlagen hat

1.6.2 Thomas, der gern viele Menschen um sich hat

1.6.3 Jonas, ein technisch begabter Junge, der Erfinder werden will

2 Die Probleme sehr und hochbegabter Kinder und Jugendlicher

2.1 Erfahrungen aus 40 Berufsjahren als Kinderärztin, Kinder- und Jugendpsychiaterin sowie Verhaltens- und Familientherapeutin

2.2 Voraussetzungen für eine unbeeinträchtigte Entwicklung von Kindern und Jugendlichen

2.3 Hochbegabung kann Probleme bereiten

2.3.1 Jan, 9 Jahre alt, unkonzentriert, überempfindlich, impulsiv mit Schulproblemen

2.3.2 Corinna, 14 Jahre alt, schnell beleidigt, schüchtern und antriebsarm, hat eine Rechtschreibschwäche und Probleme mit dem Selbstwertgefühl

2.3.3 Steve, 17 Jahre alt, Hauptschulabschluss, ohne eine Perspektive für seine Zukunft

2.4 Underachievement – das Schicksal mancher Hochbegabter

2.5 Lernen und Computer

2.6 Frühförderung, eine wichtige Grundlage für spätere Erfolge

2.7 Störungen der Wahrnehmungsverarbeitung

3 Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom bei Hochbegabung

3.1 Was bedeutet AD‍(H)‍S?

3.1.1 Funktionsbeeinträchtigungen und Symptome von AD‍(H)‍S

3.1.2 AD‍(H)‍S-Symptome

3.2 Bestimmung der Intelligenz – eine diagnostische Notwendigkeit

3.3 Hochbegabte mit AD‍(H)‍S und deren ganz unterschiedlicher Symptomatik

3.3.1 Was haben Hochbegabte mit AD‍(H)‍S gemeinsam?

3.3.2 Einige Beispiele für eine ganz unterschiedliche Symptomatik bei Kindern und Jugendlichen mit AD‍(H)‍S und Hochbegabung:

3.3.3 Hochbegabte mit Teilleistungsstörungen

3.4 Lerntraining für Hochbegabte mit AD‍(H)‍S

4 Eine hohe Begabung garantiert keinen Schulerfolg

4.1 Warum versagen sehr begabte Kinder und Jugendliche manchmal in der Schule und im Leben?

4.2 Die Negativspirale am Beispiel von Simon, 17 Jahre alt, hochbegabt, hat ein ADS mit Lese-Rechtschreib-Schwäche und depressiver Verstimmung

4.3 Die besondere Art der AD‍(H)‍S bedingten Verarbeitung von Informationen und ihre Auswirkung auf die intellektuelle Entwicklung

4.3.1 Die Körperwahrnehmung

4.3.2 Die große Bedeutung von Sport und Bewegung

4.3.3 Das Hören und die auditive Wahrnehmung

4.3.4 Die Blicksteuerungsschwäche

4.3.5 Die Visuomotorik ist beim AD‍(H)‍S sehr häufig beeinträchtigt

4.4 Teilleistungsstörungen trotz sehr guter Begabung

4.4.1 Therapie bei AD‍(H)‍S und Rechtschreibschwäche

4.4.2 Rechenschwäche

4.4.3 Arbeitsstörungen bei AD‍(H)‍S

4.5 Störung der Merkfähigkeit

4.6 Die emotionale Intelligenz

4.7 Eigen- und Fremdanspruch und die Rolle der Eltern

4.8 Die positiven Seiten des AD‍(H)‍S

5 Frühförderung und Entwicklungsdiagnostik

5.1 Die große Bedeutung der motorischen Entwicklung

5.1.1 Was beeinträchtigt die Entwicklung des Gehirns bei AD‍(H)‍S?

5.1.2 Ein Training der Motorik fördert die Entwicklung

5.2 Symptomatik des AD‍(H)‍S im Vorschulalter

5.2.1 AD‍(H)‍S-Symptome im Vorschulalter

5.2.2 Fördernde Beschäftigungen im Kindergarten

5.3 Abweichungen vom normalen Entwicklungsverlauf

5.4 Überdurchschnittliche Intelligenz bei Vorschulkindern

5.5 Voraussetzungen für eine erfolgreiche Schulzeit

5.5.1 Im kognitiven Bereich

5.5.2 Im Leistungsbereich

5.5.3 Im Verhaltensbereich

5.5.4 Hochbegabte brauchen Sonderförderung

6 Selbstwertgefühl und soziale Kompetenz

6.1 Der hohe Selbstanspruch sehr begabter Kinder und Jugendlicher

6.2 Die große Bedeutung der sozialen Kompetenz und des Selbstwertgefühls

6.2.1 Soziales Kompetenztraining

6.2.2 Selbstwertgefühl und soziale Kompetenz sind eine Investition fürs Leben

6.3 Schulversagen beeinträchtigt das Selbstwertgefühl und die soziale Kompetenz

6.4 Die Fantasie als Ort der Erlebnisverarbeitung

6.4.1 Frederic, 10 Jahre alt, aggressiv, hochbegabt, hat eine Lese-Rechtschreib-Schwäche

6.4.2 Sebastian, hochbegabt 9 Jahre alt, impulsiv und mit sich unzufrieden

6.5 AD‍(H)‍S bedingte Komorbiditäten

6.6 Die Pubertätskrise

6.7 Die Psychodynamik autoaggressiver Handlungen

7 Die Notwendigkeit einer Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit sehr hoher Begabung und ausgeprägtem AD‍(H)‍S

7.1 Das multimodale Behandlungsschema

7.2 Die kognitive Verhaltenstherapie

7.3 Die medikamentöse Therapie

7.4 Die Erziehung ein wichtiger Teil der Therapie

7.5 Psychischer Stress und seine Folgen

7.5.1 Stress in der Schule

7.5.2 Stress zu Hause

7.5.3 Selbstverursachter Stress

7.5.4 Möglichkeiten zur Vermeidung von stressauslösenden Situationen

8 Hochbegabte mit AD‍(H)‍S, deren Diagnostik und Behandlung – Beispiele aus der Praxis

8.1 Marcus, 13 Jahre alt, hochbegabt, unterfordert und verwöhnt, hat eine Impulssteuerungsschwäche, depressive Gedanken und psychosomatische Beschwerden

8.2 Christina, 14 Jahre alt, sehr begabt, AD‍(H)‍S, hat einen Reiferückstand in der Persönlichkeitsentwicklung und eine Selbstwertproblematik, neigt zu autoaggressiven Handlungen (Ritzen)

8.3 Adrian hochbegabt, psychosomatische Beschwerden, verweigert die Schule und zieht sich zurück

8.4 Maximilian, 14 Jahre alt, hochbegabt mit Lese-Rechtschreib-Schwäche, einen sozialen Reiferückstand mit oppositionellem Verhalten

8.5 Anja, 17 Jahre alt, hochbegabt mit einer Rechenschwäche, leidet unter Schulversagen, Ängsten, einer Selbstwertproblematik mit autoaggressivem Verhalten

Literatur für Eltern und Therapeuten

Hilfreiche Internetadressen

Wichtige Testverfahren

Die Autorin

Dr. med. Helga Simchen war zunächst Oberärztin der Kinderklinik und dann wissenschaftlich und klinisch als Oberärztin tätig in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Neurologie der Medizinischen Akademie Magdeburg. Dort arbeitete sie in enger Kooperation mit dem Institut für Neurobiologie und Hirnforschung auf dem Gebiet der Aufmerksamkeits-‍, Lern- und Leistungs- sowie Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen. In der ehemaligen DDR galt sie als Spezialistin für die Problematik der hyperaktiven Kinder. Schwerpunkte waren dabei die Früherfassung von Teilleistungsstörungen (z. B. Legasthenie), der Komorbiditäten des Hyperkinetischen Syndroms (HKS) sowie der Tic- und Tourette-Symptomatik. Im Vorstand der Gesellschaft für Rehabilitation war sie über viele Jahre als Arbeitsgruppenleiterin tätig. Sie hatte einen Lehrauftrag über Psychiatrie und Neurologie im Kindes- und Jugendalter und Entwicklungsneurologie mit Lehrauftrag am Institut für Rehabilitationspädagogik. Ihr Arbeitsschwerpunkt waren die neurobiologischen und psychosozialen Ursachen der Aggressivität bei Kindern und Jugendlichen.

Dr. med. Helga Simchen hat eine abgeschlossene Ausbildung als Fachärztin für Kinderheilkunde, für Psychiatrie und Neurologie für Kinder- und Jugendliche, Verhaltenstherapie und tiefenpsychologische Psychotherapie und Systemische Familientherapie. Der breite Fundus ihres Wissens und die täglichen Erfahrungen aus ihrer Spezialpraxis für AD‍(H)‌S und Teilleistungsstörungen in Mainz verleihen ihr eine besondere Befähigung, sich mit dem zukunftsweisenden Thema der Hochbegabung bei AD‍(H)‌S zu beschäftigen. Während ihrer praktischen Tätigkeit in Mainz diagnostizierte und behandelte sie viele Patienten mit AD‍(H)‌S und Hochbegabung. Sie stellte auch als eine der ersten Therapeuten einen Zusammenhang von AD‍(H)‌Sund Essstörungen her. Dabei behandelte sie nicht nur die betroffenen Kinder und Jugendlichen, sondern ebenso die mit dem AD‍(H)‌S verknüpfte Problematik der Familie und des sozialen Umfeldes mit deren Psychodynamik.

Helga Simchen

AD‍(H)‌S und Hochbegabung

Lern- und Verhaltensprobleme trotz hoher Intelligenz bei Kindern und Jugendlichen

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2022

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-041408-2

E-Book-Formate:pdf: ISBN 978-3-17-041409-9epub: ISBN 978-3-17-041410-5

Vorwort

In den letzten 20 Jahren wurde das ADS mit und ohne Hyperaktivität immer bekannter, es fand mehr wissenschaftliches Interesse, sodass auch nach dessen neurobiologischen Ursachen gesucht wurde. Inzwischen sprechen wir von einer AD‍(H)‍S-Spektrum-Störung, deren Spannbreite von einer Persönlichkeitsvariante mit vielen möglichen Vorteilen, die den Betroffenen auch große Fähigkeiten verleihen, bis hin zur psychiatrischen Erkrankung reicht. Noch vor ca. 20 Jahren war man der Überzeugung, dass Hochbegabung und AD‍(H)‍S sich einander ausschließen. Erst durch die in der Praxis gemachten Erfahrungen; sowie durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse über AD‍(H)‍S und Hochbegabung in den letzten Jahren änderte sich diese Sichtweise grundlegend. Inzwischen zeigt sich, dass es diese Kombination von AD‍(H)‍S und Hochbegabung wahrscheinlich häufiger gibt als bisher bekannt. Erste Hinweise, noch ganz vorsichtig geäußert, lassen vermuten, dass Kinder und Jugendliche mit AD‍(H)‍S im Vergleich zu gleichaltrigen Nichtbetroffenen im Durchschnitt möglicherweise ein etwas höheres Intelligenzniveau haben könnten. Weil aber AD‍(H)‍S-Betroffene mit ausgeprägter Symptomatik nicht immer sofort auf ihre vorhandenen Fähigkeiten zurückgreifen können und eine Vielzahl recht unterschiedlicher Defizite Leistung und Verhalten negativ beeinflussen, wird letztendlich ohne entsprechende Behandlung deren Intelligenzquotient in der Bewertung niedriger ausfallen.

Hochbegabte zeichnen sich durch ein hohes Potenzial an Wissen und Leistungsfähigkeit aus, aber unter ihnen gibt es schon lange eine Gruppe, die vielfach als sozial schwierig und emotional labil beschrieben wird. Gerade diese Gruppe von Hochbegabten waren meine Patienten1; ihre Problematik und deren Ursache machte ich zum Mittelpunkt meiner ärztlichen Arbeit. Durch eine intensive Beschäftigung mit dieser Personengruppe konnte ich als Ursache für ihr dysharmonisch agierendes Verhalten und ihre Schwächen im Leistungsbereich sehr häufig eine AD‍(H)‍S-Spektrum-Störung als eigentliche Ursache diagnostizieren und behandeln. Dabei sehe ich das AD‍(H)‍S nicht nur als Krankheit, sondern als eine Persönlichkeitsvariante an, die bei ausgeprägter Symptomatik unerkannt und unbehandelt zur Krankheit werden kann, aber bei geringer Symptomatik oder nur als erblich bedingte Veranlagung durchaus die Betroffenen zu außergewöhnlich großen Leistungen befähigt.

Deshalb will ich mit diesem Buch darüber informieren, wie und warum beeinträchtigt AD‍(H)‍S die Hochbegabung, was für Probleme haben die Betroffenen und wie ihnen geholfen werden kann. Mit vielen konkreten Beispielen aus meiner Praxis bei der Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Hochbegabung und AD‍(H)‍S beschreibe ich ihre unterschiedliche Problematik. Hochbegabte mit AD‍(H)‍S werden als solche fast nie erkannt, dabei leiden gerade sie besonders stark unter einer ausgeprägten AD‍(H)‍S-Symptomatik.

Während ich in meinem 2004 geschriebenen Buch »Kinder und Jugendliche mit Hochbegabung – Erkennen, stärken, fördern, damit Begabung zum Erfolg führt«, schon auf den Zusammenhang von Hochbegabung und AD‍(H)‍S hinwies, können jetzt neue Erkenntnisse in der Neurobiologie des AD‍(H)‍S meine schon damals in der Praxis gemachten Erfahrungen unterstützen. Deshalb möchte ich mit diesem Buch den Betroffenen, ihren Eltern, den Therapeuten und Lehrern erklären, wann man an ein AD‍(H)‍S denken sollte und warum Leistungsfähigkeit und Verhalten von Kindern und Jugendlichen trotz sehr guter Intelligenz durch AD‍(H)‍S beeinträchtigt werden. Da Hochbegabung durch einen Intelligenzquotienten von mindestens 130 definiert wird, fällt gerade dieser Quotient in einigen Bereichen AD‍(H)‌S-bedingt niedriger aus. Erst eine erfolgreiche Behandlung des AD‍(H)‍S zeigt dann die wahre Höhe des Intelligenz-Quotienten, weil deren therapeutische Strategien den Punktwert vom Handlungsteil verbessert. Deshalb ist eine frühzeitige Diagnostik mit entsprechender Behandlung wichtig, damit die Betroffenen von ihren vorhandenen Fähigkeiten unbeeinträchtigt profitieren können. Wie AD‍(H)‍S die eigentlich vorhandene Intelligenz negativer erscheinen lässt, wie man AD‍(H)‍S mit und ohne Hyperaktivität diagnostiziert und behandelt, ist der Inhalt dieses Buches. Hochbegabte stellen an sich und an ihr soziales Umfeld besondere Anforderungen, denen muss man sich als Therapeut stellen, um ihr Vertrauen zu erlangen. Dazu sind Einfühlungsvermögen, Kenntnisse und Überzeugungskraft wichtige Voraussetzungen für eine erfolgreiche Therapie, denn jede noch so kleine Unsicherheit des Therapeuten spürt ein Hochbegabter mit AD‍(H)‍S sofort.

Mainz, im Sommer 2022Dr. med. Helga Simchen

Endnoten

1Zugunsten einer lesefreundlichen Darstellung wird in der Regel die neutrale bzw. männliche Form verwendet. Diese gilt für alle Geschlechtsformen (weiblich, männlich, divers).

1 Hochbegabung – ein Solotanz mit oder ohne Erfolg

Schon einige Jahre vor der Einschulung begeistert so manches Kind durch seinen großen Wissensdrang, seine ständigen Fragen nach dem Warum, durch seine fließende Sprache mit großem Wortschatz und seine überraschende Kreativität. Es will alles erklärt haben, begreift sehr schnell, ist pfiffig und neugierig zugleich, merkt sich jede Kleinigkeit. Es ist an allem Neuen interessiert und will aus eigenem Antrieb schon vor der Einschulung rechnen, lesen oder schreiben. Alles deutet auf eine sehr hohe Intelligenz hin, die eine erfolgreiche Schullaufbahn mit einem zufriedenen und selbstbewussten Kind verspricht.

Andere Kinder dagegen fallen durch außerordentliche Fähigkeiten auf einem oder mehreren Gebieten auf. Sie können z. B. gut turnen, Fußball spielen, singen ein Instrument spielen oder sie entwickeln technische Fähigkeiten. Wir sprechen dann von besonderen Begabungen.

1.1 Begabungen erkennen und fördern

Als Begabung bezeichnet die Psychologie die Summe der angeborenen außerordentlichen Fähigkeiten. Sie ist die Voraussetzung für das Erbringen überdurchschnittlicher Leistungen im schulisch-wissenschaftlichen, praktisch-technischen oder künstlerisch-kreativen Bereich. Der Begriff »Talent« beschreibt einzelne angeborene überdurchschnittliche Fähigkeiten für ein begrenztes Gebiet. Talent an sich ist von der Höhe des Intelligenzquotienten unabhängig, profitiert aber nicht unwesentlich davon die Anteile von Veranlagung und Umwelteinflüssen sind dabei individuell unterschiedlich.

Es gibt verschiedene Begabungs- oder auch Fähigkeitsbereiche (Talente), die einzeln oder in Kombination vorkommen können, wobei allein die intellektuellen Fähigkeiten den klassischen Begriff der Intelligenz prägen. Inzwischen wurde noch der Begriff der multiplen Intelligenz eingeführt, der Fähigkeiten umfasst, die berufliche Erfolge und Karrieren begünstigen. Dazu gehören etwa Eigenschaften, die für leitende Tätigkeiten und im Personalmanagement von Vorteil sind.

Menschen können auf einzelnen Gebieten herausragende Fähigkeiten erreichen, die nicht unbedingt mit einer überdurchschnittlichen Intelligenz korrelieren. Solche Begabungen gibt es:

·

im sozialen Bereich

·

in der Musik, als musische Fähigkeiten

·

in künstlerischen Bereichen wie Malerei oder Bildhauerei

·

als schauspielerische Fähigkeiten

·

als dichterische Fähigkeiten

·

als sportliche Fähigkeiten

Alle diese Fähigkeiten werden im allgemeinen Sprachgebrauch mit dem Begriff Begabung gleichgesetzt und können mit mehr oder weniger Intelligenz kombiniert sein. Auch wenn hohe Intelligenz keine zwingende Voraussetzung ist, so ist sie doch immer für alle Fähigkeitsbereiche förderlich.

1.2 Intelligenz – eine variable Größe und ihre Bedeutung für die Entwicklung

Der deutsche Psychologe William Stern definierte 1920 den Begriff der Intelligenz mit der Fähigkeit, abstrakt und analytisch denken zu können, und legte den Intelligenzquotienten (IQ) als das Verhältnis des Intelligenzalters zum Lebensalter mal 100 fest. Das bedeutet, dass der errechnete Intelligenzquotient einer Person immer dem statistischen Mittelwert der Intelligenzleistung ihrer Altersgruppe entspricht. Der durchschnittliche IQ liegt also bei 100.

Es gibt viele Definitionen des Begriffes Intelligenz, aber folgende kommt den Erkenntnissen der aktuellen Forschung am nächsten:

Intelligenz ist die angeborene Fähigkeit, durch Erkennen von Gesetzmäßigkeiten und Regeln geistige Leistungen zu erbringen, mit deren Hilfe neue Aufgaben und Anforderungen optimal gelöst werden können. D. h. also, sich in neuen Situationen und Aufgaben mithilfe des eigenen Denkvermögens zurechtzufinden, ohne dass bereits spezielle Erfahrungswerte vorliegen.

Die Intelligenz ist die wichtigste Voraussetzung, um den Anforderungen in der Schule und im Leben gerecht zu werden. Aber Intelligenz allein reicht nicht, um das Leben in seiner Vielfalt meistern zu können. Intelligenz ist im Wesentlichen angeboren, sie wird durch Eigenschaften wie Flexibilität, Kreativität und Eigenmotivation beeinflusst, also durch Eigenschaften, die zum größten Teil durch soziales Umfeld, Erziehung und gemachte Erfahrungen erworben werden.

Intelligenz ist in ihrer Verwirklichung abhängig von verschiedenen anlage- und umweltbezogenen Faktoren; die wichtigsten sind:

·

die Fähigkeit der Gefühlssteuerung

·

die Merkfähigkeit

·

die Aufmerksamkeit

·

die Fähigkeit zur Motivation zum Lösen von Aufgaben

·

der Antrieb und die Freude am Lernen und innovativen Denken

·

die Wahrnehmungsfähigkeit und deren optimale Verarbeitung

·

das Sprachvermögen und die sprachliche Ausdrucksfähigkeit

·

der innere Drang, alles zu hinterfragen und überall nach Gesetzmäßigkeiten zu suchen

·

das Arbeitstempo und die Arbeitsorganisation

·

die altersentsprechende Entwicklung motorischer Fähigkeiten

Dazu kommen noch vielfältige Umweltfaktoren, die von Geburt an wirken und die Entwicklung der Persönlichkeit lebenslang fördern oder beeinträchtigen.

Zusammenfassend ist für ein erfolgreiches Umsetzen der Intelligenz entscheidend:

·

die Höhe des mit einem standardisierten Test festgestellten Intelligenzquotienten (IQ)

·

das Maß an Flexibilität und Kreativität

·

Eigenmotivation und Freude an der Wissensaneignung

·

die Fähigkeit, Gelerntes zu abstrahieren und Gesetzmäßigkeiten zu erkennen

1.3 Hochbegabung ist nicht gleich Erfolg

Kinder und Jugendliche, die einen IQ von über 130 haben, gelten als hochbegabt. Dies trifft auf etwa 2,2 % der Bevölkerung zu.

Interessant ist, dass bei Kindern und Jugendlichen mit einem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (AD‍(H)‌S) der prozentuale Anteil an Hochbegabten deutlich höher zu liegen scheint, wie es Erfahrungen aus der Praxis zeigen. Zu diesem Ergebnis kamen in den vergangenen Jahren auch verschiedene voneinander unabhängige Untersuchungen.

Gerade die Schullaufbahn der hochbegabten Kinder und Jugendlichen mit AD‍(H)‌S beweist, dass der Intelligenzquotient allein keine Aussagefähigkeit über das kognitive und soziale Leistungsvermögen besitzt. Denn trotz intensiver Anstrengung in der Schule werden manchmal Leistungen erbracht, die nicht dem Intelligenzniveau entsprechen, worunter die Kinder natürlich psychisch leiden. Durch die Spezialisierung einzelner Therapeuten und Einrichtungen auf die Behandlung von diesen Kindern und Jugendlichen zeigt sich zunehmend, dass die Betroffenen mit AD‍(H)‌S im Allgemeinen einen höheren Intelligenzquotienten haben als der Durchschnitt der Bevölkerung, nur dass sie aufgrund ihrer Beeinträchtigung nicht immer davon profitieren können. Dieser Sachverhalt wurde bisher schon von einigen Autoren beschrieben (Rossi 2001; Neuhaus 2003). Erklären lässt sich dieses Phänomen möglicherweise damit, dass das Gehirn der Kinder mit AD‍(H)‌S von Geburt an einem viel größeren Angebot von Informationen ausgesetzt ist und sich dadurch viel mehr Nervenzellen zu viel mehr Nervenbahnen vernetzen, wodurch die Zentren im Langzeitgedächtnis mehr Informationen erhalten und abspeichern können.

Es ist schon lange bekannt, dass hochbegabte Menschen oftmals nur mittelmäßige oder gar schlechte schulische und berufliche Leistungen erbringen. Dafür gibt es sehr unterschiedliche Ursachen und Erklärungen. Diese Menschen werden in der Hochbegabtenforschung »Underachiever« genannt, was so viel bedeutet wie »unter ihren Möglichkeiten bleibend«.

Hochbegabung ist von Talent zu unterscheiden, d. h. Menschen, die auf einem Gebiet etwas Außergewöhnliches zu leisten vermögen, müssen nicht hochbegabt sein; sie haben ein besonderes Talent oder eine besondere Begabung auf einem Gebiet. Ein Hochbegabter muss nicht unbedingt über große Fähigkeiten auf einem Gebiet verfügen, aber seine intellektuellen Fähigkeiten müssen herausragend sein.

1.4 Woran kann man hochbegabte Kinder und Jugendliche erkennen?

Sehr begabte Kinder und Jugendliche verfügen über eine Vielzahl von Fähigkeiten, die in ihrer Gesamtheit mit der Höhe der Intelligenz korrelieren.

An folgenden Fähigkeiten kann man Hochbegabte erkennen:

·

sie haben einen schnellen, meist frühen Spracherwerb

·

ihre statomotorische Entwicklung ist altersgemäß oder beschleunigt

·

sie haben eine hohe Lerngeschwindigkeit und großes Interesse an Problemlösungen

·

ihre Denkweise ist kreativ und produktiv, sie suchen nach kausalen Zusammenhängen

·

sie beschäftigen sich gern und intensiv mit Symbolen

·

sie haben vielseitige Interessen

·

sie haben ein hohes Konzentrations- und Beharrungsvermögen bei meist selbst gestellten Aufgaben

·

sie haben ein sehr gutes Gedächtnis

·

sie können Unwichtiges ausblenden und sich strukturieren

·

sie setzen sich Ziele, die sie beharrlich verfolgen

·

sie können sich und andere gut einschätzen

·

sie haben einen hohen Anspruch an sich selbst, aber auch an ihre Eltern und Lehrer

·

sie verfügen über eine überdurchschnittliche Urteils-‍, Kritik- und Wahrnehmungsfähigkeit

·

sie handeln selbständig und eigenverantwortlich

·

sie reagieren emotional angepasst

1.5 Die multiple Intelligenz – ein moderner Begriff

Der Hamburg-Wechsler-Intelligenztest (HAWIK) erfasst viele Fähigkeiten nicht. Er kann genauso wie eine Schulnote keine Voraussage für Lebenserfolg, Problemlösefähigkeit und Zufriedenheit geben. Weil also die Höhe der üblicherweise ermittelten und standardisierten Intelligenzquotienten nach HAWIK oder Kaufmann (Kaufmann Intelligenztest (K-ABC)) nicht immer mit dem Erfolg im Leben übereinstimmt, entwickelte der Psychologe Howard Gardner von der Harvard-Universität in Boston vor gut zwanzig Jahren den Begriff der »multiplen Intelligenz«, der neben klassischen Intelligenzmerkmalen auch soziale und emotionale Fähigkeiten umfasst. Daher ist bei der multiplen Intelligenz nicht mehr die Höhe des IQ entscheidend, sondern die sozialen und emotionalen Stärken, die erfahrungsgemäß den beruflichen oder privaten Erfolg ermöglichen. Dieses Modell berücksichtigt auch die Erfahrungen von Daniel Goleman, einem klinischen Psychologen der gleichen Universität.2 Gardner und Goleman fanden in Studien heraus, dass der Intelligenzquotient für die berufliche Entwicklung im späteren Leben nur etwas über 20 % beträgt, denn dann sind emotionale und besondere soziale Fähigkeiten wichtiger.

Die wichtigsten Eigenschaften emotionaler Intelligenz:

·

psychische Stabilität

·

sich selbst und andere motivieren zu können

·

seine Gefühle unter Kontrolle zu haben

·

sich durch Niederlagen und Frust nicht beeinflussen zu lassen

·

die Gefühle anderer zu erfassen, beeinflussen und steuern zu können

Die soziale Intelligenz, die nach Gardner auch als interpersonelle Intelligenz bezeichnet wird, setzt ein gutes Selbstwertgefühl voraus und umfasst folgende Fähigkeiten:

·

Gruppen organisieren und führen zu können

·

sich in andere Menschen hineinversetzen zu können

·

die Wünsche und Ziele anderer zu erfassen und auszusprechen

·

durch Zuverlässigkeit andere überzeugen und mitreißen zu können

·

Lösungswege aufzuzeigen

·

Körpersprache zu beherrschen

·

eigene Interessen in Übereinstimmung mit sozialen Normen und mit Rücksicht auf andere durchzusetzen

Nach Gardner wird die Höhe der multiplen Intelligenz durch die genetische Veranlagung, durch sozial und emotional gelerntes Verhalten, durch kulturelle Einflüsse und durch Bildung bestimmt. Entscheidend ist dabei die Summe bzw. das Zusammenspiel dieser Faktoren. Gardners Ansatz ist ein plausibles Modell, das sich an der Praxis orientiert und sich dort auch bestätigt.

1.6 Beispiele für sehr und hochbegabte Kinder und Jugendliche, die ihren Weg gehen

Hochbegabte, die uneingeschränkt über ihre Intelligenz verfügen können, genießen ihre Erfolge und die daraus resultierende Anerkennung. Dadurch entwickeln sie ein gutes Selbstwertgefühl und soziale Kompetenz, die wiederum Voraussetzung für ein Erfolg versprechendes Persönlichkeitsprofil sind.

Hochbegabte Kinder und Jugendliche, die diesen Weg gehen bzw. gehen konnten, sind psychisch stabil, können sich von anderen abgrenzen, entscheiden und handeln wohlüberlegt und zukunftsorientiert. Sie können Kritik annehmen, konstruktiv damit umgehen sowie Niederlagen angemessen verarbeiten und sie als eine Herausforderung ansehen.

Auch können Hochbegabte rationell denken und ihre Gefühle bewusst steuern. Sie akzeptieren Grenzen und setzen sich selbst welche. Tatsachen, die unabänderlich sind, werden akzeptiert, unnütze Gedanken um ein Warum und Weshalb können gestoppt werden. Eine hohe soziale Kompetenz befähigt sie dazu, ihre eigenen Ziele mit Rücksicht auf die Interessen anderer durchzusetzen. Sie wissen, was sie wollen, und schmieden Pläne, wie ihre Ziele am besten zu erreichen sind, wenn möglich mit dem geringsten Aufwand.

Solche Schicksale verlaufen leise, fast unauffällig in allen Lebensbereichen, bis dann fast ohne Ankündigung die besonderen Fähigkeiten zu Tage treten. Hochbegabte brauchen eher Ruhe, um sich zu entwickeln, sie meiden Lärm und Rummel um ihre Person. Sie sind nicht auf Motivation von außen angewiesen, sondern kennen ihre Fähigkeiten und können sich auf sie verlassen. Sie setzen sich realistische Ziele, die sie auch erreichen, wenn nicht auf geradem Weg, dann auch mithilfe eines Umweges. Zielstrebigkeit, Fleiß, Flexibilität und Beharrlichkeit sind ihre Stärken. In der Entwicklung hochbegabter Kinder lassen sich die Kriterien der multiplen Intelligenz, wie sie Gardner beschrieb, durchaus nachweisen.

Aber trotzdem stehen Eltern hochbegabter Kinder und Jugendlicher genau wie alle anderen vor der entscheidenden Frage: »Welchen Bildungsweg soll mein Kind einschlagen; was soll mein Kind beruflich am besten machen?« Hochbegabte haben oft so viele Fähigkeiten und Interessen, dass die Entscheidung schwerfällt. Aber gerade von der richtigen Entscheidung zum richtigen Zeitpunkt hängt vieles ab.

Die Hochbegabung als angeborenes Persönlichkeitsmerkmal entwickelt sich aus dem Wechselspiel von Veranlagung, Umwelteinflüssen und gemachten Erfahrungen im Verlauf des Lebens weiter.

1.6.1 Beatrice, die eine wissenschaftliche Laufbahn eingeschlagen hat

Beatrice ist ein hochbegabtes Mädchen, das ohne Probleme durch die Schulzeit kommt. Sie hat fast immer nur sehr gute Noten, ist sehr sportlich und gilt als ein Talent für Leichtathletik. Außerdem spielt sie Klavier, bekommt Unterricht am Konservatorium und nimmt Gesangsstunden. Nachdem sie die Schule und das Konservatorium mit »sehr gut« abgeschlossen hat, steht Beatrice vor der Frage: »Soll ich Pianistin werden oder ein naturwissenschaftliches Fach studieren?«. Nach reiflicher Überlegung trennt sie sich von ihrem liebgewonnenen Hobby und studiert Medizin, ein breit angelegtes Fach mit bleibender Bedeutung und Perspektiven. Sie ist vom Studium begeistert und habilitiert sich bereits wenige Jahre nach Abschluss der Facharztausbildung. In diesem Fall war also der Entschluss, nicht Pianistin zu werden, richtig, sie fühlte sich zu beidem berufen, konnte aber nur eins zum Beruf wählen. Ihre innere Stimme half bei der Beantwortung der Fragen »Bin ich ein Gefühlsmensch oder eher rationell veranlagt, übe ich gern Fingerfertigkeit oder lese und lerne ich lieber, um kreative Ideen zu entwickeln?«, »Mit welchem Beruf kann ich mein Leben besser planen?«. Sie entscheidet sich schließlich für ein Medizinstudium mit wissenschaftlicher Laufbahn, da es sie fasziniert, sich immer neuen Forschungsaufgaben zu stellen.

1.6.2 Thomas, der gern viele Menschen um sich hat

Thomas ist ein hochbegabter sportlicher Junge, der zunächst unbedingt ein großer Fußballspieler werden will. Fußball ist seine Welt, er spielt bereits in der Jugendmannschaft eines Oberligavereines; die Schule ist Nebensache, trotzdem hat er gute bis befriedigende Zensuren. Schon in der 10. Klasse wird ihm klar, dass es wie überall harte Konkurrenz und Beziehungen gibt, und wechselt den Verein, weil er glaubt, ungerecht bei der Auswahl behandelt zu werden. Thomas beginnt, sich neu zu orientieren, spielt weiterhin Fußball, jedoch ohne das unbedingte Ziel, einmal in die Bundesliga zu kommen, und konzentriert sich auf das Abitur, um den gewünschten Studienplatz zu bekommen. In der Schule profitiert Thomas von seiner guten Beobachtungsgabe, seinem Einfühlungsvermögen und seinem großen Einfluss auf die Klassenkameraden. Er verfügt über gute soziale Eigenschaften, wahrscheinlich als Folge des jahrelangen Mannschaftssportes mit hoher Anforderung an den Teamgeist. Er ist Klassensprecher und Vertrauter seiner Mitschüler. Für ihn kommt nur der Beruf des Psychologen infrage. Mit seinem sehr guten Abitur bekommt er gleich einen Studienplatz, hat Freude am Studium, aber auch an vielen Geselligkeiten und sportlichen Aktivitäten, die die Universität bietet. So trainiert er Langlauf und nimmt am Marathon-Lauf teil. Trotz seiner Hochbegabung und eines guten Examens hat er genug vom Lernen und will sich jetzt der Praxis der Menschen zuwenden. Er wird ein sehr gefragter Psychologe mit einem großen Freundeskreis und einer Familie mit drei Kindern. Er genießt das Leben mit der Familie, den Freunden, den Patienten und deren Anerkennung. In die Wissenschaft zieht es ihn nicht, in der Praxis arbeitet er erfolgreich, aber mit weniger Anstrengung und mit viel mehr Freizeit. Er möchte um keinen Preis auf diese schönen Seiten des Lebens verzichten.

1.6.3 Jonas, ein technisch begabter Junge, der Erfinder werden will

Jonas ist hochbegabt und langweilt sich in der 1. Klasse. Er ist sehr fleißig, wissbegierig und lernt gern. Von der Idee, die 2. Klasse zu überspringen, ist er begeistert, seine Lehrerin hält das für möglich und würde es befürworten, seine Eltern sehen das eher skeptisch und müssen erst überzeugt werden. Sie glauben, der Junge sei damit überfordert. Als die Überprüfung der Intelligenz mit zwei Verfahren Werte ergibt, die für Hochbegabung sprechen, stimmen die Eltern dem Wunsch des Jungen zu. Sie helfen ihm, den Stoff der 2. Klasse in den großen Ferien zu erarbeiten, was keiner großen Anstrengung bedarf. Jonas ist motiviert, arbeitet jeden zweiten Vormittag in den Ferien und freut sich auf die 3. Klasse. Er hat immer noch Zeit, seinem Hobby, der Technik, nachzugehen. Mit drei Jahren nahm er schon technische Geräte zum Entsetzen seiner Mutter auseinander und sammelte Ersatzteile, auch wenn sie noch so verrostet waren. Daraus baute er Flugzeuge und Schiffe, um sie später einmal mit einer Funkfernsteuerung in Bewegung zu setzen.

Seitdem die Eltern wissen, dass Jonas hochbegabt ist, gehen sie ganz anders mit ihm um. Der Vater, ein Physiker, erklärt ihm Zusammenhänge und sagt kaum noch »das verstehst du jetzt nicht, da bist du noch zu klein«. Jonas will alles wissen und alles können. So lernt er das Morse-Alphabet und von der Mutter die englische Sprache. Er hatte im Urlaub bewundert, wie sie sich mit den Leuten so gut auf Englisch unterhalten konnte, während er kein Wort verstand.

Die 3. Klasse ist für Jonas zunächst eine Herausforderung, er freut sich über jede gute Note. Jetzt besucht er die 4. Klasse und gehört wieder zu den Leistungsstärksten, ohne viel lernen zu müssen. Er freut sich auf das Gymnasium, denn er will unbedingt das Abitur machen und dann Techniker werden, am liebsten Weltraumraketen konstruieren oder Astrophysiker werden.

Was zeichnet leistungsstarke Menschen aus?

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Sie arbeiten ergebnisorientiert

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Sie wollen sich immer verbessern

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Sie sind kreativ und suchen ständig nach neuen Informationen

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Lernen versetzt sie in den Zustand des »Fließens«

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Sie denken und handeln vorwiegend rationell und haben ihre Gefühle unter Kontrolle

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Sie können über ihre Fähigkeiten jederzeit erfolgreich verfügen

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Ihre gute Wahrnehmungsfähigkeit erlaubt ihnen kalkulierbare Risiken

In den folgenden Kapiteln möchte ich von Kindern und Jugendlichen berichtet, die im Gegensatz zu den eben beschriebenen Beispielen mit sich und ihrer Umwelt unzufrieden sind. Auch sie wünschen sich, Erfolg und Anerkennung, was ihnen trotz Anstrengung nicht gelingt und auch aus ganz bestimmten Gründen nicht gelingen kann. Denn sie leiden an einem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (AD‍(H)‍S) mit oder ohne Hyperaktivität, welches ihre Leistungsfähigkeit und damit auch ihr Selbstwertgefühl trotz Hochbegabung beeinträchtigt.

Endnoten

2Goleman arbeitete lange als verantwortlicher Redakteur für Psychologie und Neurowissenschaften bei der »New York Times« und schrieb 1995 den empfehlenswerten Bestseller »Der EQ und die emotionale Intelligenz«.

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