Die Waffen-SS - Klaus-Jürgen Bremm - E-Book

Die Waffen-SS E-Book

Klaus-Jürgen Bremm

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Beschreibung

Die Waffen-SS umgibt bis heute der düstere Mythos der Brutalität, der Indoktrination und Unbesiegbarkeit. Doch in wie weit war die Waffen-SS tatsächlich militärische Elite? Oder waren ihre Divisionen doch nur ganz normale Fronttruppen? Klaus-Jürgen Bremm wagt eine ebenso kritische wie fundierte Gesamtdarstellung der militärischen Eliteformation. Er schildert die Verfahren der Ideologisierung und die Organisationsgeschichte von den ersten Totenkopfverbänden und der Leibstandarte Adolf Hitler bis zu den schließlich 38 Divisionen der Waffen-SS am Kriegsende, zu denen auch viele Einheiten mit ausländischen Soldaten zählten. Er fächert detailliert ihre Operationsgeschichte, ihre tatsächlichen – erfolgreichen wie desaströsen – Kampfeinsätze auf. Er widmet sich den Kriegsgräueln der 1946 zur »verbrecherischen Organisation« erklärten Truppe und den Aktivitäten ihrer Angehörigen in der frühen Bundesrepublik. Sein prägnantes Fazit: Am besten war die Waffen-SS nach dem Krieg.

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Seitenzahl: 468

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Klaus-Jürgen Bremm

Die Waffen-SS

Hitlers überschätzte Prätorianer

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttp://dnb.dnb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen,Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitungdurch elektronische Systeme.

wbg Theiss ist ein Imprint der wbg.© 2018 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), DarmstadtDie Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht.Lektorat: Christina Kruschwitz, BerlinSatz: TypoGraphik Anette Bernbeck, GelnhausenUmschlagabbildung: Heinrich Himmler bei einem Besuch des KonzentrationslagersDachau 1936 (Ausschnitt). Foto: © akg-imagesUmschlaggestaltung: Harald Braun, Helmstedt

Umschlaggestaltung: Harald Braun, HelmstedtUmschlagabbildung: Heinrich Himmler bei einem Besuch des Konzentrationslagers Dachau 1936

Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-8062-3793-1

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:eBook (PDF): 978-3-8062-3794-8eBook (epub): 978-3-8062-3795-5

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Inhalt

Einleitung

1. Die Vorläufer der Waffen-SS bis zum Kriegsausbruch

Der 30. Juni 1934 – Die Geburtsstunde eines SS-Staatsschutzkorps

Drei Säulen der bewaffneten SS – SS-»Leibstandarte«, SS-»Verfügungstruppe«, SS-»Totenkopf«-Standarten

Weltanschauliche Erziehung – Gegen Judentum, Kirche und Moderne

Die SS-Junkerschulen – Kaderschmieden einer neuen Elite des Regimes?

2. Die Waffen-SS bis zum Krieg gegen die Sowjetunion

Polen 1939 – Hitlers Prätorianer auf ganzer Front verteilt

Die erste Metamorphose – Verfügungstruppe, Leibstandarte und Totenkopf werden zur Waffen-SS

Kein Triumph des Willens – Die Waffen-SS im Westfeldzug 1940

Gottlob Berger und der Griff über die Grenzen – Die Waffen-SS wird zur internationalen Truppe

Intermezzo auf dem Balkan – 15 Divisionen kapitulieren vor einem SS-Sturmbann

3. »Barbarossa« – Ein neuer »Germanenzug« nach Osten

Zwischen Düna und Don – Hitlers Prätorianer bis zum Rückzug von Rostow

Die vierte Säule der Waffen-SS – Der Kommandostab Reichsführer-SS und die Anfänge der Shoah

Pfeiler der Ostfront oder propagandistischer Aplomb? Die Waffen-SS in der Winterkrise 1941/42

Die Waffen-SS wird zur Armee – Vom Staatsschutzkorps zur strategischen Reserve des Regimes

Charkow 1943 – Sieg auf Umwegen

Kein Durchkommen – Das II. SS-Panzer-Korps in der Schlacht von Kursk

4. Die Waffen-SS in der Defensive 1943–45 – Militärische Trumpfkarte oder Ressourcengrab?

Zwischen Dnjepr und Bug – Tscherkassy-Korsun, der wandernde »Hube-Kessel« und der »Feste Platz« Tarnopol

Normandie 1944 – Himmlers »Babysoldaten« trotzen der alliierten Flut

Ein geschenkter Sieg – Die Waffen-SS bei Arnheim 1944

Kein Hurra in den Ardennen – Die Waffen-SS in der »Wacht am Rhein«

Die Waffen-SS auf dem Balkan – Die unedlen Ritter der »Prinz Eugen«

Budapest und Berlin – Die Waffen-SS im Untergang

5. Erfolgreicher als im Krieg – Die Ehemaligen der Waffen-SS im Nachkriegskampf um die Deutungshoheit ihrer Geschichte

Fazit – Hitlers überschätzte Prätorianer?

Anhang

Liste der Verbände der Waffen-SS

Anmerkungen

Quellen- und Literatur

Abbildungsnachweis

Personenregister

Einleitung

Schlacht um Charkow – Ein General der Waffen-SS verweigert den Befehl des »Führers«

Nur zwei Wochen nach der Kapitulation der Reste der 6. Armee in Stalingrad am 2. Februar 1943 schien der deutschen Wehrmacht im Raum Charkow eine zweite militärische Katastrophe bevorzustehen. Seit Anfang Februar strömten die Panzer gleich dreier sowjetischer Armeen über Don und Oskol nach Westen. Zwei deutschen Divisionen, die noch ihre Stellungen in der viertgrößten Metropole der Sowjetunion hielten, drohte die Einschließung.1 An ein Ausweichen schien nicht zu denken. Denn ein Befehl des »Führers« verpflichtete am 13. Februar nochmals ausdrücklich die beiden Großverbände zum Halten von Charkow, und niemand im Hauptquartier der neuen Heeresgruppe »Süd« konnte sich vorstellen, dass der unsinnige Haltebefehl des Diktators keinen Gehorsam finden würde.2 Gehörte doch zu den Verteidigern von Charkow auch die 2. SS-Panzergrenadier-Division »Das Reich«, die zusammen mit der 1. SS-Panzergrenadier-Division »Leibstandarte Adolf Hitler« die Stammtruppe der Waffen-SS bildete. Nicht nur im Reich, auch in ganz Europa genoss der bewaffnete Arm der SS inzwischen den Ruf einer militärischen Elite. Soldaten der Waffen-SS galten vor allem als radikale Kämpfer und als williges Instrument des NS-Regimes. Sie würden keine Gefangenen machen, glaubte damals die deutsche Bevölkerung nach einem Bericht des Sicherheitsdienstes zu wissen, und jeden Gegner restlos vernichten.3 Von diesen Männern, die darauf eingeschworen schienen, ihrem Führer bedingungslos zu folgen, konnte somit erwartet werden, dass sie in Charkow bis zur letzten Patrone kämpfen würden, zumal die Verteidigung der Stadt in der Hand eines bewährten Generals der Waffen-SS lag. Der ehemalige Reichswehrgeneral Paul Hausser war vermutlich nie ein überzeugter Nationalsozialist gewesen, hatte sich aber wie viele Generale mit dem Regime und seinen Verbrechen so weit arrangiert, dass er seit 1935 unter der doppelten Sigrune der SS eine zweite militärische Karriere machen konnte, die ihn inzwischen an die Spitze des I. SS-Panzer-Korps gebracht hatte.

Erst zwei Wochen zuvor war die Masse von Haussers neuem Armeekorps aus Frankreich an die wankende Ostfront verlegt worden.4 Hitler hatte die größten Hoffnungen auf seine Prätorianergarde gesetzt, die mit dem besten Material ausgestattet war, das die Rüstungsschmieden des Reiches zu bieten hatten. Doch statt eine kraftvolle Gegenoffensive führen zu können, waren die beiden Divisionen des SS-Korps schnell von den numerisch überlegenen Sowjets in die Verteidigung gedrängt worden. Müsste nun auch noch Charkow aufgegeben werden, würde nicht nur ein wichtiger Pfeiler der Südfront verloren gehen. Schlimmer noch! Der sorgfältig gepflegte Nimbus der Waffen-SS als unbezwingbare militärische Elite des Regimes wäre zumindest stark angeschlagen. Doch soldatisches Prestige, fanatischer Einsatzwille und elitäres Selbstbewusstsein halfen wenig gegen Kälte, Schnee und einen Gegner, der ständig neue Divisionen in den Kampf werfen konnte.

Im Verlauf des 14. Februar 1943 verschärfte sich die Lage um die Stadt. Die Sowjets saßen bereits in den Außenbezirken, und nur noch ein dünner Schlauch verband am nächsten Morgen die in Charkow kämpfenden Teile des SS-Panzerkorps und der Infanterie-Division »Großdeutschland« mit der übrigen Front. Nachdem erst zwei Wochen zuvor eine ganze Armee des Heeres an der Wolga zugrunde gegangen war, konnte sich niemand vorstellen, dass Hitlers Prätorianer ihrem Führer ein ähnliches Fanal eines heroischen Untergangs verweigern würden. Doch der ehemalige Generalstabsoffizier Hausser, der als Vater der Waffen-SS galt und seit einer schweren Gesichtsverletzung eine Augenklappe tragen musste, dachte in anderen Kategorien. Wenn man die sowjetische Winteroffensive noch vor dem Dnjepr zum Stehen bringen wollte, dann nur mit einer beweglichen Gefechtsführung. Hausser tat das militärisch Vernünftige. Entgegen dem ausdrücklichen Willen des »Führers« erteilte der kampferprobte SS-General am 15. Februar 1943 um 13 Uhr seinen noch in Charkow ausharrenden Truppen den Befehl zum Rückzug aus der Stadt. Gegenüber Himmler und anderen NS-Größen hatte Hausser zwar wiederholt seine Eigenwilligkeit bewiesen. Kaum jemand hätte jedoch erwartet, dass der 63-jährige Offizier in dieser verzweifelten Krisenlage den Schneid aufbringen würde, genau das zu tun, wozu sich die Generalfeldmarschalle Manstein und Paulus im Falle der eingeschlossenen 6. Armee nicht hatten durchringen können. Am 15. Februar 1943 geschah das scheinbar Unfassbare. Hausser gab im letzten Augenblick den Rückzugsbefehl und rettete damit nicht nur seine alte Division »Das Reich«, sondern wohl auch die gesamte deutsche Südfront.

Hitlers befürchtetes Donnerwetter blieb aus. Dass Joseph Goebbels am selben Tag in seinem Tagebuch die Hoffnung äußerte, die Waffen-SS möge es erst gar nicht auf eine Einkesselung in Charkow ankommen lassen, lässt sogar darauf schließen, dass die Erwartungshaltung im engeren Kreis des »Führers« eine ganz andere war.5 Zum allgemeinen Erstaunen akzeptierte der Diktator, wenn auch grummelnd, Haussers Entscheidung und beließ dem General sogar sein hohes Kommando. Dass von allen Beteiligten allein der General der Gebirgstruppen, Hubert Lanz, der Haussers Maßnahme nachträglich gebilligt hatte, als verantwortlicher Armeeoberbefehlshaber sein Kommando abgeben musste, quittierte man in Heereskreisen mit Sarkasmus. Nur ein General der Waffen-SS könne es sich eben leisten, ungehorsam zu sein, kommentierte etwa Feldmarschall Erich von Manstein, der Oberbefehlshaber der verantwortlichen Heeresgruppe »Süd«, den erstaunlichen Vorgang.6

Als allerdings Haussers SS-Panzerkorps, nach der Ankunft der 3. SS-Panzergrenadier-Division »Totenkopf« endlich vollständig versammelt, nur vier Wochen später Charkow zurückeroberte, zeigte sich Hitler sehr nachtragend und überging den eigensinnigen General. Demonstrativ ließ er dagegen seine Propaganda den Kommandeur der SS-»Leibstandarte«, Oberstgruppenführer Sepp Dietrich, als Helden von Charkow feiern und verlieh dem alten Haudegen aus der gemeinsamen Kampfzeit die Schwerter zum Ritterkreuz.7

Oberstgruppenführer Sepp Dietrich und Adolf Hitler nach der Rückeroberung Charkows bei einer Ordensverleihung auf dem Obersalzberg am 27. März 1943.

Nach dem Krieg hat Paul Hausser seinen fraglos spektakulären Ungehorsam vor Charkow als willkommenen Beleg für die soldatische Eigenständigkeit der Waffen-SS dargestellt, und noch anlässlich der Bestattung Haussers im Dezember 1972 nannte der ehemalige SS-Brigadeführer Otto Kumm vor einer riesigen Trauergemeinde den Entschluss von Charkow ein zweites »Tauroggen«.8 Man war sich in diesen Kreisen gegenüber allen Anwürfen der Nachkriegsöffentlichkeit einig. Die Männer und Führer der Waffen-SS hätten keineswegs innerlich dem Regime nahegestanden und sklavisch jeden Befehl Hitlers ausgeführt. Ihre Divisionen hatten im Verlauf des Zweiten Weltkrieges an jeder Front in Europa gekämpft, und kaum eine Division des Heeres hatte es nicht begrüßt, die Waffen-SS an ihrer Seite zu haben. In Wahrheit seien sie daher Soldaten wie andere auch gewesen und nur formal ein Teil der SS.

Eine willkommene Stütze fand diese Kernthese der Ehemaligen durch die Behauptung, dass die ständigen politischen Indoktrinationsversuche Himmlers ebenso wie die Schulungsunterlagen seines Rasse- und Siedlungshauptamtes nie wirklich ernst genommen worden seien. Der Weltanschauungsunterricht habe, so Hausser in seinem großen Rechtfertigungswerk, in der Truppe kaum Wirkung erzielt.9 Der Mann der Waffen-SS habe sich stets als Träger einer »neuen soldatischen Idee« gefühlt, doch »nie als Ordenskrieger«, beteuerte Felix Steiner, die zweite große Leitfigur der Waffen-SS.10 Selbst ein sachlicher und insgesamt kritischer Autor wie der Spiegelredakteur Heinz Höhne schien noch in den 1960er-Jahren diese Argumentation zu bestätigen, wenn er von einer im Kriegsverlauf immer stärker werdenden Distanz zwischen der Truppe und Himmler sprach.11

Von den Gräueltaten und den Massenmorden der Allgemeinen SS habe man nichts oder nur sehr wenig gewusst. Robert Brill, der ehemalige Hauptabteilungsleiter des SS-Ergänzungsamtes, dürfte vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg seine Richter zum Erstaunen gebracht haben, als er erklärte, die Alliierten hätten den Männern der Waffen-SS mit der Aufdeckung von Himmlers Verbrechen »ein großes Rätsel aufgegeben«.12 Viele andere Schriften ehemaliger Soldaten der Waffen-SS flankierten derartige Schutzbehauptungen. So scheute sich etwa Albert Frey, der vormalige Kommandeur des 1. SS-Panzergrenadier-Regimentes, nicht, in seinen Memoiren zu behaupten, erst kurz vor Kriegsende von der Existenz des Konzentrationslagers Mauthausen Kenntnis erhalten zu haben.13 Gewiss aber war Frey als langjähriger Angehöriger des Führerkorps der SS-»Leibstandarte« am 7. September 1940 im lothringischen Metz dabei gewesen, als Himmler unverblümt von den Massenerschießungen der SS-Totenkopfverbände in Polen gesprochen hatte.14

Ein weiteres beliebtes Element der Nachkriegsapologie war die Behauptung der Ehemaligen, die Waffen-SS sei die erste europäische Armee gewesen, die Europa vor dem Bolschewismus zu verteidigen versucht habe. Exgeneral Felix Steiner sprach sogar von einer »europäischen Schicksalsgemeinschaft«, die alle europäischen Freiwilligen umfasst und innerlich verbunden habe.15 Tatsächlich dienten bis Kriegsende 200.000 Ausländer allein aus den besetzten Gebieten Westeuropas in ihren Reihen, doch jenseits des propagandistischen Topos eines gemeinsamen Kampfes gegen die bolschewistische Barbarei existierte keine echte gemeinsame geistige Grundlage. Hitler wusste konsequent jede konkrete Zusage über die Gestaltung eines nationalsozialistischen Nachkriegseuropas zu vermeiden, und mit Himmlers Traum eines pangermanischen Europas mochten sich selbst die niederländischen Nationalsozialisten um Anton Adriaan Mussert nicht anfreunden.16

Nachweisbare Kriegsverbrechen der Waffen-SS wurden in späteren Darstellungen entweder gar nicht erst erwähnt oder wie im Fall des Massakers von Malmedy/Baugnez bagatellisiert.17 Die Wahnsinnstat von Oradour-sur-Glane, der im Juni 1944 642 Männer, Frauen und Kinder des französischen Dorfes im Limousin zum Opfer gefallen waren, deuteten die Ehemaligen zum Exzess eines einzelnen SS-Offiziers um, während Erich Kernmayr, ein Angehöriger der SS-»Leibstandarte«, wiederholt von seinen alten Kameraden gedrängt wurde, die angebliche Ermordung von 4000 russischen Kriegsgefangenen im Juli 1941 in seinen Memoiren zu verschweigen.18

Den wegen massiver Kriegsverbrechen angeklagten Tätern gelang es sogar, sich als Opfer einer alliierten Siegerjustiz zu inszenieren. So schrieb etwa im Oktober 1952 der ehemalige SS-Obersturmbannführer Jochen Peiper voller Larmoyanz in seiner Landsberger Gefängniszelle: Wer anfänglich noch gemeint habe, dass einer blindwütigen Politik die Augen durch Wahrhaftigkeit zu öffnen seien, bald erfahren musste, dass dort nur wenig Gerechtigkeit zu erwarten sei, wo zu demagogischem Zweck eine blutrünstige Figur an die Wand gemalt werden solle.19

Den Verfolgungen und Verunglimpfungen nach dem Krieg standen die Ehemaligen gekränkt und fassungslos gegenüber.20 Doch bald immer besser untereinander vernetzt, verteidigten sie mit einer Vielzahl von Veröffentlichungen ihr angeblich sauberes Soldatentum und erlangten in der Bundesrepublik sogar zeitweilig das Deutungsmonopol in der Kriegsgeschichtsschreibung der Waffen-SS.21 Demnach sei sie eine militärische Elite gewesen, die während des Krieges die wiederholte Anerkennung der Heereskameraden gefunden habe, auch wenn renommierte Heerführer wie Erich von Manstein später nichts mehr davon wissen wollten. Über die drei Stammdivisionen der Waffen-SS legten ehemalige Offiziere auf der Basis von Erlebnisberichten und Militärakten bis Anfang der 1980er-Jahre mehrbändige Divisionsgeschichten vor, die das kämpferische Heldentum der SS-Soldaten und ihr Leiden sehr detailreich beschrieben. Obwohl die Verfasser auch Aktenmaterial verarbeiteten und gerne aus etlichen lobenden Tagesbefehlen der vorgesetzten Heeresbefehlshaber zitierten, war der wissenschaftliche Wert dieser Publikationen doch eher gering.22 Den Anforderungen an eine präzise kriegsgeschichtliche Studie entsprach noch am ehesten die 1982 erschienene zweibändige Geschichte der 12. SS-Panzer-Division »Hitlerjugend« des ehemaligen Ersten Stabsoffiziers der Division Hubert Meyer. Sie liefert immerhin nüchterne und akribisch recherchierte Gefechtsbeschreibungen auch unter starker Berücksichtigung britischer, kanadischer sowie amerikanischer Militärarchivalien und Tagebücher.23 Über die Beteiligung etlicher Divisionsangehöriger an Kriegsverbrechen in den ersten Tagen der Invasion schweigt sich der Verfasser allerdings ebenso aus wie seine alten Waffenkameraden.

Im Kern waren die Überlebenden der Waffen-SS mit ihrem Narrativ von den »Soldaten wie andere auch« in der Bundesrepublik so erfolgreich, dass selbst ein deutscher Bundeskanzler noch im April 1985 in einem Brief an US-Präsident Ronald Reagan sich zu behaupten traute, die auf dem Bitburger Soldatenfriedhof begrabenen 49 Angehörigen der Waffen-SS seien als junge Soldaten ebenso Opfer gewesen wie alle Soldaten des Zweiten Weltkrieges.24

Dabei hatte der Hamburger Historiker Bernd Wegner schon 1982 seine inzwischen als Grundlagenwerk geltende Dissertation über »Hitlers politische Soldaten« veröffentlicht und darin klar nachgewiesen, dass die Angehörigen der Waffen-SS bei allem in ihrer Mehrheit wohl untadeligen Verhalten aufgrund ihrer strukturellen Einbindung in das NS-Unrechtssystem, der weltanschaulichen Prämissen ihres Soldatentums und der politischen Zielsetzungen der Schöpfer ihrer Truppe zu keinem Zeitpunkt »Soldaten wie andere auch« gewesen seien. Wegners Fazit lautete: Die Geschichte der Waffen-SS könne nicht einfach abgelöst von der Geschichte der SS als Ganzer betrachtet werden.25

Längst hat die wissenschaftliche Forschung die strukturellen Verknüpfungen der Waffen-SS mit der Allgemeinen SS weitgehend offengelegt und aufgezeigt, dass personelle Wechsel zwischen den einzelnen Organisationen der SS keineswegs die Ausnahme gewesen sind. Schon die Ausbildung der zukünftigen SS-Führer erfolgte seit 1934 gemeinsam an den beiden SS-Junkerschulen in Braunschweig und Bad Tölz, und Theodor Eickes berüchtigte KZ-Aufseher waren seit 1939/40 integraler Bestandteil der Waffen-SS. Seine drei ältesten Standarten bildeten den Stamm der 3. SS-Division »Totenkopf«, und umgekehrt wurde die 11. SS-Totenkopfstandarte 1940 Haussers SS-Division »Reich« zugeteilt.26 Etliche Soldaten der Waffen-SS leisteten sogar, wenn auch nicht immer freiwillig, Dienst in den Einsatzgruppen an der Ostfront. Martin Cüppers wiederum hat nachgezeichnet, dass die drei bewaffneten SS-Brigaden des Kommandostabes Reichsführer-SS in der ersten Phase des Russlandskrieges Seite an Seite mit den Einsatzkommandos des Sicherheitsdienstes gemordet und geplündert haben.27 Sollte es Paul Hausser im verklärenden Rückblick wirklich entgangen sein, dass der ehemalige Reitlehrer an seiner Braunschweiger SS-Junkerschule, Franz Magill, als Abteilungskommandeur der 1. SS-Kavallerie-Standarte für den Tod von mindestens 14.000 Juden in Weißrussland im August 1941 verantwortlich war? Aus Himmlers berittenen Massenmördern war schließlich im Oktober 1943 die 8. SS-Kavallerie-Division »Florian Geyer« als echte Division der Waffen-SS entstanden.28

War es ein Zufall, dass erst mit dem Abtreten der Generation der »alten Weltkriegskämpfer« und ihrer geschickt agierenden Wortführer seit den 1990er-Jahren eine Renaissance der Militärgeschichtsschreibung in Deutschland stattfand? Die in der Bundesrepublik lange verpönte Disziplin etablierte sich seit der Debatte um die Wehrmachtsausstellung überraschend schnell im deutschen Wissenschaftsbetrieb. Dies verdankte sich aber durchaus nicht einer Rejustierung des ideologischen Koordinatensystems der Zunft, sondern beruhte auf einem gewandelten Verständnis der Thematik. Die neue Militärgeschichte als »Geschichte der organisierten Gewalt« betrachtet Armeen und Militärs nicht mehr länger als isolierte Organisationen, sondern als Teil von Staat und Gesellschaft. Sie fragt nicht mehr nach der Zahl der eingesetzten Bataillone und interessierte sich auch kaum noch für Bewaffnungen, Schlachtfelder oder Operationspläne. Eine neue Generation von Militärhistorikern bemühte sich stattdessen um ein breiteres Verständnis von Streitkräften, fragte nach Strukturen, Herkunft, Bildung und Mentalitäten der Akteure und wagte sich zuletzt sogar wieder auf das lange umstrittene Feld der Biografie.29

Auch die Historiografie der Waffen-SS profitierte von diesem Paradigmenwechsel durch eine Vielzahl von Studien zu Einzelaspekten. Sozialstruktur und weltanschauliche Prägung der Soldaten der Waffen-SS sind inzwischen gut erforscht, auch liegen mittlerweile etliche Publikationen zu ihrer Funktion als NS-Propagandahelden oder zu ihrer Verwicklung in Kriegsverbrechen auf fast allen europäischen Kriegsschauplätzen vor.30 Alle diese auf Aktenmaterial basierenden Studien haben die langlebige Legende vom reinen Soldatentum der Waffen-SS überzeugend entlarvt und überdies gezeigt, dass so gut wie alles, was im Krieg und vor allem danach an Behauptungen und Darstellungen über Himmlers Krieger produziert wurde, häufig nicht mehr als Mythen der Propaganda oder zuletzt sogar Selbstbetrug der Überlebenden war.

Allein das markige Bild von der Waffen-SS als militärischer Elite des Regimes blieb bis heute – trotz sehr guter Quellenlage für die Zeit von 1940–1943 – von der Forschung ausgespart und unangetastet. Nach wie vor gelten zumindest einzelne Divisionen der Waffen-SS als militärische Eliteverbände, die durch harte Ausbildung, weltanschauliche Indoktrination und überdurchschnittlich gute Ausrüstung wiederholt kritische Lagen an allen Fronten meistern konnten.31 Noch in den 1960er-Jahren sprach der Spiegeljournalist Heinz Höhne von einem »ungewöhnlichen Siegeszug durch die Kriegsgeschichte« und der amerikanische Historiker George Harwyn Stein glaubte resümieren zu können, dass die Elitepanzerdivisionen der Waffen-SS den Zusammenbruch des Regimes vielleicht sogar um zwei Jahre verzögert hätten.32 Obwohl der Potsdamer Militärhistoriker Sönke Neitzel bereits 2002 mit Verweis auf Karl-Heinz Friesers Buch »Blitzkrieg« auf den Erkenntnisgewinn einer quellennahen und kritischen Operationsgeschichte verwiesen hat, blieb eine Analyse der militärischen Schlagkraft der Waffen-SS jenseits aller Propagandalegenden und posthumen Selbstdarstellungen bis heute ein Desiderat der Forschung. Bisher habe man, so resümiert Neitzel, nur wenig gesicherte Erkenntnisse über die Waffen-SS in ihrer eigentlichen Aufgabe – dem Fronteinsatz.33 Auch Jens Westemeiers stark überarbeitete Studie über Jochen Peiper und die Waffen-SS konnte die Lücke nicht füllen.34 Die vorliegende Arbeit wird sich daher im Rahmen einer kritischen Gesamtdarstellung der Geschichte der Waffen-SS besonders der Frage nach den militärischen Qualitäten von Himmlers Kriegern widmen. Schließlich ist nicht entscheidend, so der britische Militärhistoriker John Keegan, was Armeen sind oder waren, sondern wie sie tatsächlich auf den Schlachtfeldern kämpften.35 Allein darin hat sich immer noch das wahre Gesicht von Streitkräften gezeigt.

1. Die Vorläufer der Waffen-SS bis zum Kriegsausbruch

Der 30. Juni 1934 – Die Geburtsstunde eines SS-Staatsschutzkorps

»Als wenige haben wir angefangen. Wir sind damals angetreten nach heiligen und großen Gesetzen, angetreten nach unserem Gesetz der Auslese nordisch bestimmter Menschen, nach unserem unverbrüchlichen Gesetz von Treue und Tapferkeit, nach unserem Gesetz, dass wir unser Blut heilig halten wollen und das Blut weitergeben wollen, angetreten aber vor allem nach dem Gesetz einer unverbrüchlichen Gefolgschaft zum Führer Adolf Hitler.«

Reichsführer-SS Heinrich Himmler im September 1940

vor Angehörigen der SS-»Leibstandarte« in Metz1

Kurz nach Mitternacht des 30. Juni 1934 erhielten zwei Kompanien (Stürme) der in Berlin-Lichterfelde untergebrachten SS-»Leibstandarte Adolf Hitler« (LAH) ihren ersten scharfen Einsatzbefehl. Ein nächtlicher Bahntransport sollte die 220 Männer in geheimer Mission nach Bayern bringen. Hitlers persönliche Prätorianer waren erst 15 Monate zuvor als besondere Stabswache für die Reichskanzlei aufgestellt und am 9. November 1933 in einer nächtlichen Zeremonie vor der Münchner Feldherrnhalle auf den Diktator vereidigt worden. Noch lebte Reichspräsident Paul von Hindenburg, aber kaum jemand hatte damals Anstoß daran genommen, dass die formal noch gültige Weimarer Verfassung eigentlich keine bewaffneten Kräfte unter dem direkten Befehl eines Reichskanzlers vorsah.

Von ihrer Anfangsstärke von 117 Mann war die illegale Truppe nach Zusammenlegung mit den SS-Sonderkommandos Jüterbog und Zossen rasch auf mehr als 1000 Mann angewachsen und in die ehemalige preußische Hauptkadettenanstalt umgezogen, die in der Weimarer Zeit als Polizeikaserne gedient hatte. Hitlers Leibstandarte verfügte inzwischen sogar über eine Maschinengewehreinheit, einen motorisierten Sturm und eine eigene Versorgungsstaffel, was weit über den Bedarf einer »Palastwache« hinausging.2 Die Männer stammten aus der SA oder der Allgemeinen SS und hatten sich in zahllosen Saalschlachten eine ausgeprägte Gewaltaffinität erworben. Das Berufsbild war vom Akademiker bis zum Gelegenheitsarbeiter bunt gefächert. Etliche der Älteren unter ihnen hatten bereits in Freikorps oder in der Reichswehr gedient. Andere Prätorianer wie etwa Theodor Wisch, der spätere Generalmajor der Waffen-SS, oder Georg Schönberger, der 1944 das Panzerregiment der SS-»Leibstandarte« führen sollte, besaßen auch eine gut gefüllte Polizeiakte.3 Nicht wenige Angehörige dieser angeblichen Elite waren schwere Alkoholiker, wie beispielweise Kurt Gildisch, der für seine Untaten im Verlauf des 30. Juni 1934 von Reichsführer-SS Heinrich Himmler zum Sturmbannführer (Major) befördert werden sollte, zwei Jahre später aber wegen öffentlicher Pöbeleien im angetrunkenen Zustand gegen Reichswehrsoldaten und Polizei aus der SS ausgestoßen wurde.

Fast 40 Angehörige der Leibstandarte stammten aus Österreich und hatten im Mai 1933, nach dem Verbot der dortigen NSDAP, ihr Heimatland illegal verlassen, wodurch sie zu Staatenlosen geworden waren.

Für die militärische Grundausbildung der zusammengewürfelten Truppe hatte die Reichswehr auf den Truppenübungsplätzen Jüterbog und Zossen gesorgt. Noch 1938 fand Himmler deswegen schmeichelnde Worte für den Befehlshaber des zuständigen Wehrbereichs III, General der Artillerie Werner Freiherr von Fritsch. Er habe den Aufbau der Leibstandarte sehr gut unterstützt.4 Es störte den Reichsführer-SS durchaus nicht, dass der Aristokrat Fritsch in Wahrheit ein beharrlicher Kritiker der bewaffneten SS war und sie sogar als einen »lebendigen Misstrauensbeweis gegen das Heer und seine Führung« bezeichnete.

Röhm und Hitler gemeinsam auf dem Reichsparteitag in Nürnberg zwischen dem 30. August und dem 3. September 1933.

Die Reichswehrführung im Berliner Bendlerblock sah dies allerdings weniger dramatisch. Reichskriegsminister Generaloberst Werner von Blomberg sowie der Chef des Ministeramtes, Generalmajor Walter von Reichenau, wollten in Hitlers kleiner Prätorianerschar vorerst keine ernsthafte Konkurrenz zur legalen Streitmacht des Reiches sehen. Man begrüßte sie im Gegenteil sogar als willkommene Verbündete gegen Ernst Röhm und dessen SA. Als die SS-»Leibstandarte« am 30. Juni 1934 zu Hitlers bewaffneter Speerspitze gegen diesen gemeinsamen und weitaus bedrohlicher wirkenden Gegner avancierte, fand sie mit Reichenaus Genehmigung auch die bereitwillige Unterstützung der bayerischen Militärbehörden.

Kaum 18 Monate nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler stand dem neuen Regime im Frühsommer 1934 ein brutaler innerparteilicher Schlagabtausch bevor. Im Kern ging es um die zukünftige Rolle der SA im neuen NS-Staat. Hermann Göring, der als preußischer Ministerpräsident zugleich zum Herrn über den größten deutschen Polizeiapparat avanciert war, hatte sich mit Himmler und dessen sinistren Sicherheitschef Reinhard Heydrich gegen Röhm, den Stabschef der omnipräsenten Massenorganisation, verbündet. Seit der Machtergreifung hatte Röhm, der Weltkriegsoffizier, Verdunkämpfer und nunmehrige Staatsminister ohne Geschäftsbereich, immer wieder auf eine gewichtigere Rolle seiner braunen Kolonnen gedrängt und zuletzt sogar mit einer »zweiten Revolution« gedroht. Göring sah seine eigenen militärischen Ambitionen bedroht, falls Röhm seine Pläne einer Massenmiliz durchsetzen sollte. Seit der Machtergreifung spekulierte der Weltkriegsflieger und letzte Kommodore des Jagdgeschwaders »Richthofen« auf den Oberbefehl über das Heer. Dagegen kalkulierten Himmler und Heydrich, im Erfolgsfall Görings gesamte Polizeigewalt erben zu können.

Für die Reichswehrgeneralität wiederum war Röhms Anspruch absolut inakzeptabel, mit seiner – nach dem Beitritt des rechtsnationalen Stahlhelms – auf über vier Millionen Mann angewachsenen SA der »erste Waffenträger der Nation« zu werden. Zwar hatte Hitler bereits am 28. Februar 1934 Röhms Konzept einer Milizarmee in einer Erklärung im Beisein der Spitzen von SA und Reichswehr rundweg abgelehnt. Für seine politischen Expansionspläne brauchte der Diktator eine professionelle und hoch bewegliche Armee, die zu offensiven Operationen fähig war. Doch schien er gleichwohl noch lange nach Kompromissen mit der SA-Führung und seinem alten Duzfreund Röhm gesucht zu haben. Derweil bemühten sich Göring, Himmler und Heydrich, völlig frei von sentimentalen Rücksichten, mit gefälschten oder völlig übertriebenen Meldungen ein Bedrohungsszenario aufzubauen, demzufolge die SA sich bereits in einigen deutschen Städten zusammenrotte und die SA-Führung um Röhm kurz vor einem Staatsstreich stände.5 Nicht ohne Erfolg. Ende Juni zeigte sich Hitler endlich zum Schlagen entschlossen.

Die Männer der nachts in Berlin alarmierten Leibstandarte unterstanden dem Kommando des damals 42-jährigen Sepp Dietrich, einem grobschlächtigen, aber bauernschlauen Schwaben, der im Ersten Weltkrieg zuletzt als Panzersoldat zum Einsatz gekommen war und sich seit seiner Zeit im berüchtigten Freikorps »Oberland« in etlichen zivilen Berufen mit mehr oder weniger Erfolg versucht hatte. Seine tatsächliche Bestimmung schien der ehemalige Vizefeldwebel der bayerischen Armee erst gefunden zu haben, nachdem er 1928 als Hitlers Leibwächter in die NSDAP eingetreten war und sich – erstaunlich weitsichtig – sogleich für die damals noch unbedeutende SS entschieden hatte.6 Joseph Goebbels notierte später spöttisch in sein Tagebuch, dass Dietrich ohne den Nationalsozialismus wohl immer nur Unteroffizier geblieben wäre, so aber sollte er unter dem Hakenkreuz bis zum Kriegsende noch zum Oberbefehlshaber einer Armee aufsteigen. Hitler hatte ihn einmal als seinen »bayerischen Wrangel« gelobt, doch nach Auskunft des späteren Stabschefs der SS-»Leibstandarte«, Wilhelm Bittrich, sei Dietrich nicht einmal in der Lage gewesen, eine Lagekarte zu lesen.7

Während Hitlers oberster Prätorianer auf Befehl seines »Führers« mit einem Flugzeug nach München flog, wurden die beiden in ihren Quartieren alarmierten Stürme mit einem auf dem Anhalter Bahnhof beschlagnahmten Urlaubszug ins bayerische Kaufering am Lech befördert. Dort eingetroffen sollten sie am nächsten Morgen auf Lastwagen der Reichswehr in das etwa 100 Kilometer entfernte Bad Wiessee gebracht werden, wo sich in dieser Nacht die Führungsspitze der SA unter ihrem völlig arglosen Stabschef Ernst Röhm in einer Pension einquartiert hatte. Hitler selbst war kurz nach Dietrich mit einer dreimotorigen Junkers Ju 52 von Bonn in die bayerische Hauptstadt geflogen, wo er morgens gegen 3.30 Uhr eintraf. Meldungen über spontane große SA-Aufmärsche in den Straßen Münchens am Abend zuvor versetzten ihn in rasende Wut. Auch wenn die alarmierten SA-Männer längst wieder von ihren Vorgesetzten nach Hause geschickt worden waren, glaubte Hitler jetzt keine Zeit mehr verlieren zu dürfen. Röhm und sein Führungskorps mussten sofort in Bad Wiessee verhaftet werden. Nach nur kurzem Aufenthalt im Braunen Haus in der Brienner Straße machte sich der Diktator, in äußerster Erregung und von nur wenigen Polizisten eskortiert, auf den Weg zu Röhms Urlaubsquartier am malerischen Tegernsee.8

Stabschef Ernst Röhm (Mitte) vor dem Hauptquartier der SA in München unmittelbar vor seiner Ermordung während des Röhm-Putsches am 1. Juli 1934.

Seine von Kaufering kommenden 220 Leibgardisten waren dazu bestimmt, die Verhaftung der SA-Führungsspitze gegen den möglichen Widerstand rasch alarmierter SA-Männer abzuschirmen. Doch als Hitler, dessen Wut auf Röhm sich inzwischen zur Panik gesteigert hatte, kurzerhand gegen 6.30 Uhr morgens an der Spitze seiner kleinen Begleitgruppe mit einer Reitgerte in der Hand die Pension stürmte, um die vermeintlichen Verräter mit seinen Begleitern unter wüsten Beschimpfungen aus ihren Betten zu werfen, war von seiner Leibgarde weit und breit nichts zu entdecken. So sah sich der Parteiführer und Reichskanzler gezwungen, eine plötzlich mit einem Lastwagen aus München eingetroffene SA-Stabswache mit viel Aplomp und Pathos auf Distanz zu halten. Das morgendliche Treiben am idyllischen Seekurort hatte etwas Surreales. Der Regierungschef einer modernen Industrienation von mehr als 70 Millionen Menschen war an diesem Samstagmorgen in die Rolle des gesetzlosen Räuberhauptmanns geschlüpft, um einigen scheinbar untreuen Bandenmitgliedern persönlich den Garaus zu machen. Auch als die kritische Lage mit dem Abzug der bewaffneten SA-Männer bereinigt schien, blieb der Reichskanzler in besonderer Mission vorsichtig und nahm mit seiner kleinen Gruppe und den Gefangenen einen weiten Umweg zurück in die bayerische Hauptstadt.

Dort im Braunen Haus meldete sich dann auch gegen Mittag endlich der Chef seiner verschollenen Leibgarde bei ihm. Der reichlich verlegene Dietrich entschuldigte das Ausbleiben seiner beiden Stürme mit nassen Straßen und abgefahrenen Reifen. Die mangelnde Fahrtüchtigkeit der von der Reichswehr gestellten Transporter konnte den Soldaten der SS-»Leibstandarte« zwar ebenso wenig angelastet werden wie ein zusätzliche Zeit kostender Tankstopp in Landsberg. Doch aus Hitlers Sicht war der erste scharfe Einsatz seiner Prätorianer gründlich schiefgegangen. Der Diktator hatte für einige ungemütliche Minuten in Bad Wiessee praktisch allein einer mit Gewehren bewaffneten SA-Stabswache gegenübergestanden, die ihn ohne Weiteres hätte verhaften oder gar umbringen können. Mit einem unwirschen Murren quittierte Hitler fürs Erste Dietrichs kleinlaute Erklärungen und erteilte ihm kurz darauf neue Befehle. Er hatte jetzt aus seinen beiden Kompanien sofort ein Kommando zusammenzustellen, um gemäß einer soeben erstellten Todesliste sechs der in das Stadelheimer Gefängnis verschleppten SA-Funktionäre, darunter auch den Münchener Polizeipräsidenten August Schneidhuber, ohne weitere Umstände im Hof der Haftanstalt zu erschießen. Nur der Duzfreund Röhm selbst sollte vorerst verschont bleiben. Dass der Chef der Leibstandarte sich kurz darauf noch einmal in der Brienner Straße zurückmeldete, weil der zuständige Gefängnisdirektor Robert Koch die Herausgabe der Gefangenen ohne eindeutige schriftliche Befehle verweigert hatte, hätte Hitlers Unwillen über seinen obersten Prätorianer wohl noch gesteigert. Doch der Diktator befand sich bereits auf dem Rückflug nach Berlin, und so musste der ans Telefon gerufene Rudolf Heß den widerstrebenden Koch mit einem Schwall übelster Drohungen auf Linie bringen. Derart eingeschüchtert ließ er die Leibstandarte schließlich in seinem Gefängnis gewähren.

Die von Dietrich nach eigenen Worten sorgfältig ausgesuchten Schützen, damit, wie er 1958 vor dem Münchner Landgericht versicherte, »keine Schweinerei« passiere, erledigten offenbar ohne Einwände ihren blutigen Auftrag, der ihnen nach bestehender Gesetzeslage mindestens als Totschlag angelastet werden konnte. Kurt Meyer, der später als »Panzermeyer« bekannt wurde und 1944 die 12. SS-Panzer-Division »Hitlerjugend« an der Invasionsfront führen sollte, war als Angehöriger der SS-»Leibstandarte« Zeuge der Geschehnisse gewesen und bezeichnete zehn Jahre später in britischer Gefangenschaft im Gespräch mit dem General der Panzertruppe Heinrich Eberbach die Erschießungen als eine »saubere Angelegenheit«. Die seien da »soldatisch erschossen worden«.9 Angesichts der verzweifelten Unschuldsbekundungen etlicher der Delinquenten bewiesen Meyers Kameraden an diesem Abend mehr Kaltblütigkeit als ihr kleinwüchsiger Chef, der, wie ein Entlastungszeuge ein Vierteljahrhundert später vor dem Münchner Landgericht erklärte, die Nerven verloren und sich angeblich schon nach der dritten Salve vom Ort des Geschehens zurückgezogen habe.10 Dietrich zählte zu den wenigen NS-Größen, die sich für ihre Beteiligung an der Mordwelle des 30. Juni 1934 in der Bundesrepublik juristisch verantworten mussten. Das Münchener Landgericht verurteilte Hitlers obersten Leibwächter fast ein Vierteljahrhundert nach den Todessalven von Stadelheim zu einer erstaunlichen milden Strafe von 18 Monaten Gefängnis.

Nach dem Überrumplungsakt von Bad Wiessee und Hitlers wohlbehaltenem Eintreffen in Berlin war auf das am frühen Nachmittag ausgegebene Stichwort »Kolibri« über die Reichshauptstadt und andere Städte eine Welle von Verhaftungen und Morden hinweggezogen, wie sie Deutschland mitten im Frieden noch nie erlebt hatte. Auf Befehl Himmlers und Görings wurde aus der Unterkunft der Leibstandarte in der ehemaligen Hauptkadettenanstalt in Berlin-Lichterfelde eine Hinrichtungsstätte. Bis in die Nacht hinein passierten in kurzen Abständen Lastwagen mit Verschleppten das von zwei in Stein gehauenen Weltkriegssoldaten flankierte Kasernentor. Die Gewehrsalven hallten durch die anliegenden Straßen und ließen die gutbürgerlichen Anwohner entsetzt in ihren Betten hochfahren. Nach späteren Zeugenaussagen müssen wohl 170 SA-Funktionäre, aber auch konservative Regimekritiker, vor den alkoholisierten Erschießungskommandos der Leibstandarte den Tod gefunden haben.11

Hitler hatte am Nachmittag des 30. Juni den in Stadelheim gefangenen Ernst Röhm zunächst noch verschont. Doch nach dem Abklingen der Mordaktionen war auch die letzte Stunde des einstigen Kampfgenossen gekommen. Ein Hochverratsprozess gegen Röhm musste unbedingt vermieden werden, und so ließ der Diktator am Abend des 1. Juli Himmler den brisanten Mordbefehl an Theodor Eicke erteilen, den Kommandanten des Dachauer Konzentrationslagers. Dessen Schergen hatten sich in den zurückliegenden 24 Stunden bereits rege an der großen Abrechnung mit der SA beteiligt und dabei reibungslos funktioniert. Mindestens 17 Tote gingen in Bayern auf ihr Konto.12 Begleitet von seinem Adjutanten, SS-Sturmbannführer Michael Lippert, verschaffte sich Eicke mit wilden Drohungen und Gebrüll Zugang zu Röhms Zelle im Stadelheimer Gefängnis. Doch der Todgeweihte wollte die auf ausdrückliche Weisung Hitlers in seiner Zelle hinterlegte Waffe nicht zum Suizid nutzen, und so töteten Eicke und Lippert nach kurzer Wartezeit den immer noch ungläubigen und verwirrten Stabschef der SA durch mehrere Schüsse in Kopf und Brust.

Hitler hätte kaum einen weniger sentimentalen Kandidaten für den Mord an einem alten und verdienten Parteigenossen finden können als Theodor Eicke.13 Der ehemalige Unterzahlmeister der bayerischen Armee, Sohn eines deutschen Bahnhofsvorstehers in Hampont an der Grenze zu Lothringen und einer französischen Mutter, aufgewachsen im damals zum Deutschen Reich gehörenden Elsass, entstammte demselben Jahrgang wie Sepp Dietrich. Obwohl Eicke nach einigen beruflichen Fehlschlägen in den Nachkriegswirren schließlich als Sicherheitschef der I.G. Farben im badischen Ludwigshafen ein reichliches Auskommen gefunden zu haben schien, verachtete er die Weimarer Demokratie zutiefst und hatte mit seiner Sturheit sogar Schwierigkeiten, sich in eine von Ressentiments und Gewalttätigkeit geprägte Partei wie die NSDAP einzufügen. Vor einer bereits verhängten Strafe wegen des Besitzes von Sprengstoff, den er gegen einen Ludwigshafener Parteirivalen hatte einsetzen wollen, war er 1932 auf Himmlers Befehl unmittelbar vor Haftantritt nach Italien geflohen. Durch sein knappes Entkommen kaum milder gestimmt, hatte der nach der Machtergreifung sogleich zurückgekehrte Eicke seine alten Mordpläne unbeirrt wieder aufgenommen und war daraufhin von seinen Gegnern kurzerhand in die Würzburger Psychiatrie eingewiesen worden. Dort hatte Himmler seinen schwierigen, aber ihm treu ergebenen Schützling loseisen müssen und bewies einmal mehr ein »gutes Händchen«, als er den notorischen Querulanten im Juni 1933 mit der Leitung des Dachauer Konzentrationslagers beauftragte. Wohl kaum eine andere Aufgabe hätte auf Eickes radikale Persönlichkeit besser zugeschnitten sein können. Nach der Ermordung Röhms belohnte der Reichsführer den skrupellosen Todesschützen von Stadelheim mit der Beförderung zum Gruppenführer, dem zweithöchsten Dienstgrad der SS, und ernannte ihn am 5. Juli 1934 sogar zum Inspektor sämtlicher Konzentrationslager des Regimes.14

Auch der zögerliche Dietrich, der nicht einmal imstande gewesen war, sich allein gegen den biederen Gefängnisdirektor Koch durchzusetzen, wurde von Hitler sogleich nach seiner Rückkehr aus München zum SS-Obergruppenführer (General) ernannt. Dass Dietrichs Männer in Bayern überhaupt nicht zum Zuge gekommen waren und daher von einer Bewährung der Leibstandarte in ihrem ersten scharfen Einsatz kaum die Rede sein konnte, war für Hitler kein Hinderungsgrund. Der Diktator folgte mit Dietrichs demonstrativer Beförderung einem propagandistischen Muster, das er fast bis zum Untergang beibehielt: Seine persönliche Leibgarde konnte niemals versagen, und selbst als sich am 24. Dezember 1944 der von der NS-Propaganda gefeierte SS-Obersturmbannführer Jochen Peiper mit 800 Mann der SS-»Leibstandarte« nach Sprengung sämtlicher Fahrzeuge aus dem belgischen La Gleize in einem Nachtmarsch zu den eigenen Linien hatte durchschlagen müssen, verlieh ihm sein »Führer« für diesen katastrophalen Fehlschlag noch die »Schwerter« zum Ritterkreuz.15

»So räumte der Führer auf!« Titelseite der Extra-Ausgabe des Völkischen Beobachters vom 30. Juni 1934.

Immerhin hatten sich die in Berlin verbliebenen Teile der Leibstandarte in den zurückliegenden 24 Stunden, die später von zynischen Kommentatoren als »Nacht der langen Messer« bezeichnet werden sollte, als gefügige Handlanger einer völlig enthemmten Gewaltpolitik erwiesen. Ohne Fragen zu stellen, verschleppten und ermordeten sie zusammen mit Görings Gestapo zahllose echte oder vermeintliche Regimegegner oder beglichen gelegentlich auch alte persönliche Rechnungen. Hitler musste schließlich den Erschießungen Einhalt gebieten, die längst außer Kontrolle geraten waren. In einer Kabinettssitzung am 3. Juli mimte er plötzlich den Maßvollen, distanzierte sich sogar von dem Treiben seiner Schergen und erklärte im Brustton des weisen Staatsmannes, dass er nicht sämtliche Exekutionen befohlen habe.16 Als der Diktator am 13. Juli 1934 vor dem Reichstag seine Maßnahmen zu rechtfertigen versuchte, fehlten immerhin 13 Abgeordnete, die alle erst zwei Wochen zuvor von der SS ermordet worden waren.17

Hitlers Verhältnis zu seiner Leibgarde blieb in den folgenden Jahren eher indifferent. Er schien zwar sämtliche Mitglieder seiner ursprünglichen Stabswache, den sogenannten 117er-Klub, namentlich gekannt zu haben. Auch hatte er zwei Dutzend Prätorianer für ihre Mordtaten im Verlauf des 30. Juni persönlich ausgezeichnet.18 Ob aber der Diktator als fanatischer Abstinenzler in Dietrichs trinkfester und offenbar recht lebensfroher Meute tatsächlich eine Elite des Regimes sah, der er sein Schicksal bedingungslos anvertrauen konnte, ist nicht gewiss. Das fortgesetzte Fehlverhalten von Angehörigen der Truppe im Berliner Stadtbild, häufige Schlägereien mit Reichswehrsoldaten in Lokalen oder gar die Verführung minderjähriger Mädchen auf dem Lichterfelder Kasernengelände schlugen sich in etlichen Meldungen der Polizei nieder und brachten Dietrich wiederholt in Erklärungsnot.19 Hitler dürften die ständigen Reibereien und Auffälligkeiten kaum verborgen geblieben sein. Noch 1937 musste Himmler Angehörige der SS-»Leibstandarte«, die zum Nürnberger Parteitag kommandiert worden waren, dringend ermahnen, sich nicht an den für die Gäste bestimmten Getränken und Zigaretten zu vergreifen.20 Dass die Leistungen der Leibgardisten beim diplomatischen Protokoll ihren »Führer« durchaus nicht immer zufriedengestellt haben, berichtet der spätere Standartenführer der Waffen-SS, Albert Frey, der im Frühjahr 1938 als Zugführer zur SS-»Leibstandarte« gekommen war und auch auf dem Obersalzberg Dienst geleistet hatte.21 Am militärischen Kampfwert von Dietrichs Männern schien Hitler dagegen kaum interessiert. Besichtigt hat der Diktator seine übende Standarte jedenfalls nur ein einziges Mal im April 1936.22

Der »Führer« betrachtete seine prächtig gewachsenen Prätorianer trotz ihrer offenkundigen Mängel in Disziplin und Charakter vor allem als Propagandatruppe und politische Staffage. Bei seinen zahllosen öffentlichen Auftritten zeigte er sich gern in Begleitung der großen Gestalten in ihren beeindruckenden schwarzen Uniformen mit weißem Koppelzeug. Dietrichs Männer produzierten zudem die gewünschten Propagandabilder, als sie an der Spitze der Wehrmachtsverbände im März 1936 in das entmilitarisierte Rheinland einrückten. In diesem Kontext muss auch Hitlers schon bald nach dem »Röhmputsch« getroffene Entscheidung gesehen werden, Dietrichs SS-»Leibstandarte« vollständig zu motorisieren. Die militärische Elite des Regimes konnte nicht gut auf pferdebespannten Fuhrwerken an den Brennpunkten Hitler’scher Außenpolitik in Erscheinung treten. Zwei Jahre danach war der Umstellungsprozess allerdings noch nicht zum Abschluss gekommen. Um mit allen seinen Einheiten rechtzeitig an der Besetzung Österreichs teilnehmen zu können, hatte Dietrich zusätzlich doppelstöckige Busse der Berliner Verkehrsbetriebe und der Reichspost anmieten müssen.23

Als Prätorianergarde hingegen hat die SS-»Leibstandarte«, als es tatsächlich darauf ankam, die ihr ursprünglich zugedachte Rolle einer bewaffneten Stütze des Regimes kaum noch ausgefüllt. Hitlers theatralisches Diktum vor Angehörigen der beiden neuen SS-Junkerschulen anlässlich des Nürnberger Reichsparteitages von 1936, er erwarte von ihnen, dass sie als Letzte um ihn stehen werden, wenn einmal die »Fahne fallen sollte«, hat sich nie erfüllt.24 Als am 20. Juli 1944 Oberst Graf von Stauffenbergs verzweifelter Putsch schon im Ansatz scheiterte, war es das Wachbataillon der Wehrmacht unter Major Otto Ernst Remer, das sich im entscheidenden Augenblick auf die Seite des Regimes schlug. Dagegen verharrten die in Berlin verbliebenen Stürme der Leibstandarte ebenso wie Himmlers gesamte SS mehrere Stunden lang in verdächtiger Untätigkeit.25 Schlimmer noch! Nur wenige Tage zuvor schien an der erodierenden Front in der Normandie sogar der getreue Sepp Dietrich, inzwischen zum Kommandierenden General eines ganzen SS-Panzerkorps aufgestiegen, an die Seite Rommels getreten zu sein. Im Falle eines erfolgreichen Umsturzes in Berlin hatte er sich offenbar verpflichtet, seine Linien für die Alliierten zu öffnen. Gegenüber dem »Wüstenfuchs«, der sich vorsichtig erkundigt hatte, ob er auch von Hitlers Willen abweichende Befehle befolgen würde, soll er nach der Erinnerung General Hans Speidels erklärt haben: »Sie, Feldmarschall, sind mein Oberbefehlshaber, ich gehorche nur Ihnen, was Sie auch vorhaben werden.«26

Als schließlich am 30. April 1945 die Sowjets auf das Gelände der Reichskanzlei vordrangen, war es die Armee »Wenck«, auf die Hitler seine letzten Hoffnungen setzte, während Dänen und Norweger der 11. SS-Panzergrenadier-Division »Nordland« zusammen mit 100 französischen Freiwilligen der 33. Waffen-Grenadier-Division der SS »Charlemagne« das Berliner Regierungsviertel fast bis zur letzten Patrone verteidigten. Zur selben Zeit befand sich seine alte Leibgarde fern von der Berliner Trümmerwüste auf dem Rückzug durch Österreich, um die rettenden amerikanischen Linien hinter der bayerischen Enns zu erreichen. Ihre Ärmelstreifen hatte sie schon einen Monat zuvor, nach dem vorhersehbaren Scheitern ihrer letzten Offensive »Frühlingserwachen«, die weitab vom erodierenden Machtzentrum des Reiches nördlich des Plattensees stattfand, auf Befehl ihres enttäuschten und wütenden »Führers« ablegen müssen.27

Unter den immer wieder genannten Gründungsdaten der Waffen-SS nimmt der 30. Juni 1934 in zweifacher Hinsicht einen prominenten Platz ein. Einmal hatten sich Dietrichs SS-»Leibstandarte« und Eickes KZ-Wächter als willige Schlächter ihres Regimes bewiesen, die nach den Worten Himmlers ihre gebotene Pflicht ohne Zögern erfüllten, dabei keine Fragen stellten, niemals diskutierten und jederzeit wieder bereit sein würden, selbst Kameraden, die gefehlt hatten, an die Wand zu stellen.28 Darüber hinaus war die blutige Entmachtung der SA das Startsignal für eine vorerst verhaltene und genau mit der Reichswehr abgestimmte Expansion der neuen bewaffneten SS-Truppe.

Außer der SS-»Leibstandarte« durfte Himmler jetzt auch aus seinen Politischen Bereitschaften im gesamten Reich sechs bewaffnete und kasernierte Infanteriebataillone aufstellen, die gemeinsam den Namen SS-»Verfügungstruppe« erhielten. Sämtliche Formationen wurden Anfang 1935 aus den bisher für sie zuständigen SS-Oberabschnitten herausgelöst und ebenso wie Theodor Eickes SS-Totenkopfverbände einem neu eingerichteten SS-Hauptamt unter SS-Gruppenführer August Heißmeyer unterstellt. Eickes KZ-Wächter blieben allerdings in Himmlers neuem Imperium zunächst eine separate Truppe. Erst ein Führererlass aus dem Jahre 1938 erklärte auch die SS-Totenkopfverbände ausdrücklich zu einem Teil der bewaffneten SS.29 Aus ihren drei Standarten ging nach der Besetzung Polens die SS-Division »Totenkopf« hervor, die Eicke, der ehemalige Unterzahlmeister der bayerischen Armee und notorische Verächter aller soldatischen Ordnung, bis zu seinem Tod im Februar 1943 mit beachtlichem militärischem Erfolg selbst führte. Neben der SS-»Leibstandarte« und der im Winter 1939/40 gebildeten Division »Verfügungstruppe« war sie einer der drei Kernverbände der späteren Waffen-SS.

Nach der überraschend reibungslosen Liquidierung der SA-Führungsspitze wähnten sich Offiziere wie der damalige Chef des Wehrmachtsamtes, Generalmajor Walter von Reichenau, und dessen oberster Vorgesetzter, Reichswehrminister Generaloberst Werner von Blomberg, auf der Seite der Sieger. Das Militär hatte die Mordaktionen der SS in Bayern zwar unterstützt und für Dietrichs sowie Eickes Männer Transportfahrzeuge zur Verfügung gestellt. Auch hatten Reichswehrsoldaten am 30. Juni vorsorglich das Braune Haus in der Münchner Brienner Straße gegen mögliche Angriffe der SA gesichert. Doch die Generalität war sorgfältig darauf bedacht gewesen, sich nicht selbst die Hände schmutzig zu machen, und hatte sich darauf beschränkt, die Truppe für den Fall größerer SA-Unruhen »Gewehr bei Fuß« in den Kasernen bereitzuhalten.30

Mit dem gewaltsamen Ende Röhms und der raschen Zerschlagung seiner Organisationsstrukturen war die SA als militärische Konkurrenz endgültig ausgeschaltet und die Reichswehr in ihrer von Hitler mehrfach zugesicherten Rolle als zweite Säule des Reiches vorerst bestätigt. Doch nicht überall in der Reichswehr herrschte in den ersten Julitagen Sektlaune, Generale wie etwa Werner Freiherr von Fritsch, seit Februar 1934 Chef der Heeresleitung, dürften geahnt haben, dass ihnen wohl ein ähnliches Los wie Röhm bevorstehen könnte. Denn Göring, Himmler und Heydrich hatten nicht nur in der eigenen Partei »aufgeräumt«, sondern auch gleich eine sich formierende konservative Opposition um Vizekanzler Franz von Papen ins Visier genommen. Dessen regimekritische Marburger Rede hatte am 17. Juni für erheblichen Wirbel in der Partei gesorgt und den Stein überhaupt erst ins Rollen gebracht.

Als sich der Pulverdampf des 30. Juni verzogen hatte, musste das Offizierkorps entsetzt feststellen, dass sich unter den fast 200 Todesopfern des 30. Juni auch die beiden Reichswehrgenerale Kurt von Schleicher und Ferdinand von Bredow befanden. Der vormalige Reichskanzler von Schleicher war am helllichten Tag zusammen mit seiner Frau in seiner Neubabelsberger Wohnung vor den Augen des Hauspersonals von zwei Gestapomännern erschossen worden. Zu den Opfern der SS-Mordbanden zählten auch der Pressesprecher des Vizekanzlers Franz von Papen, Herbert von Bose, sowie der Ministerialdirektor im Reichsverkehrsministerium und Vorsitzende der Katholischen Aktion, Dr. Erich Klausener. Dass Hitler auch die Gelegenheit nicht hatte verstreichen lassen, den verhassten Widersacher aus seinem kläglich gescheiterten Münchener Novemberputsch von 1923, den früheren bayerischen Ministerpräsidenten Gustav Ritter von Kahr, umbringen zu lassen, versteht sich von selbst. Die Reichswehrführung war indessen bemüht, die Ermordung ihrer beiden Generale kleinzureden. Kurt von Schleicher, der angeblich konspirativen Umgang mit Röhm und sogar auswärtigen Mächten gehabt hatte, soll sich seiner Verhaftung mit der Waffe widersetzt haben, ließ Minister von Blomberg verbreiten. Die versprochenen Beweise hat der Hitler vollkommen hörige General jedoch nie vorgelegt und noch im Februar 1935 in einem besonderen Erlass weitere Debatten über die angebliche Verschwörung Schleichers strikt untersagt.31 Vizekanzler Franz von Papen selbst blieb verschont, stand aber anfangs unter Hausarrest und wurde nach dem gescheiterten Putsch gegen die Regierung Dollfuß (25. Juli 1934) auf den schwierigen Gesandtenposten nach Wien abgeschoben.32

Drei Säulen der bewaffneten SS – SS-»Leibstandarte«, SS-»Verfügungstruppe«, SS-»Totenkopf«-Standarten

»Würden wir keine Blutopfer bringen und würden wir nicht an der Front kämpfen, hätten wir die moralische Verpflichtung verloren, in der Heimat auf Menschen, die sich drücken und feige sind, zu schießen. Dafür ist die Verfügungstruppe da.«

Rede Himmlers vor SS-Gruppenführern in München am 8. November 193833

Wenige Wochen nach der spektakulären Blutnacht des 30. Juni erneuerte Hitler seine alte Zusage an die Generalität: Die Reichswehr sei der einzige Waffenträger der Nation. Im Gegenzug akzeptierte die Reichswehrführung die Existenz einer bewaffneten Parteitruppe. Ein auf Hitlers Vorgaben beruhender Erlass von Reichswehrminister von Blomberg, datiert auf den 24. September 1934, versuchte die neue Frontlinie zwischen Heer und SS abzustecken. Demnach sollte die Allgemeine SS grundsätzlich unbewaffnet bleiben. Als Ausnahme nannte das Papier die Berliner SS-»Leibstandarte«, drei neu einzurichtende SS-Junkerschulen – von denen aber bis Kriegsbeginn nur zwei den Ausbildungsbetrieb aufnahmen – sowie die Politischen Bereitschaften, die sich inzwischen in Hamburg, Arolsen, Ellwangen und München formierten. Diese nach dem 30. Juni 1934 rasch auf Bataillonsstärke anwachsenden Verbände bezeichnete der Blomberg-Erlass erstmals gesamthaft als »SS-Verfügungstruppe«. Neben seinen drei Schützenstürmen durfte jeder dieser Sturmbanne durch einen Maschinengewehr- sowie einen Kradschützensturm verstärkt werden. Anders als die Berliner Leibstandarte sollten sie jedoch vorerst nicht zu Regimentern (Standarten) zusammengefasst werden. Deutlich erkennbar war das Bestreben der Generale, die neue bewaffnete Macht numerisch sowie organisatorisch zu begrenzen und sie zugleich dauerhaft zu kontrollieren. Hinsichtlich Besoldung und Dienstrecht stellte der Blomberg-Erlass die Angehörigen der SS-»Leibstandarte« und der SS-»Verfügungstruppe« den Soldaten der Reichswehr gleich, mit Blick auf die bereits geplante Einführung der allgemeinen Wehrpflicht sollte der Dienst in beiden Formationen der bewaffneten SS zukünftig als Wehrdienst gelten. Es durften jedoch nur Freiwillige rekrutiert und keine offizielle Werbung betrieben werden. Die Dienstzeit betrug bei den Mannschaften vier, bei Unterführern zwölf und bei den Offizieren sogar 25 Jahre. Außer der Leibstandarte und den sechs Sturmbannern gestattete die Reichswehr der SS-»Verfügungstruppe«, eine berittene Nachrichtenabteilung in noch festzulegender Stärke aufzustellen.

Mit einem eigenen Erlass bestätigte Hitler am 2. Februar 1935 noch einmal die Vereinbarung und konzedierte darin Himmler lediglich den Aufbau einer zusätzlichen SS-Pionierabteilung.34 Den Wunsch seines Paladins, aus der bewaffneten SS so bald wie möglich eine Division zu bilden und sie sogar mit schweren Waffen auszurüsten, wies der Diktator ausdrücklich ab. Dies sollte nach Hitlers Willen erst im Alarmierungs-oder Kriegsfall geschehen, wobei die zukünftige SS-Division aber weiterhin der Reichswehr unterstellt bleiben würde.35

Der Kompromiss war ein Musterbeispiel für Hitlers immer wieder mit Erfolg praktiziertes Machtkalkül der Schaffung von Reibungspunkten zwischen den ihm unterstehenden Paladinen und Sachwaltern. Die Führung der Reichswehr konnte sich immerhin einreden, die Kontrolle über die neue bewaffnete SS erhalten zu haben. Ihre Offiziere erhielten auch das Recht, regelmäßig den militärischen Ausbildungsstand der Truppe zu inspizieren. Zugleich aber band die offengehaltene Perspektive einer bei Bedarf zu bildenden SS-Division die Generalität an Hitler und machte sie von seinem Wohlwollen abhängig.

Aus Sicht der Reichswehr war zwar mit dem 30. Juni ein zunehmend gefährlicherer Konkurrent in Gestalt der Röhm’schen SA beseitigt worden, doch dürfte es selbst den überzeugten Nationalsozialisten Blomberg und Reichenau im Berliner Bendlerblock kaum entgangen sein, dass der so bieder wirkende Himmler der einzige Gewinner der Blutnacht war. Nur drei Wochen nach der Ausschaltung Röhms hob Hitler die bisherige Unterstellung der SS unter die SA auf und erklärte Himmlers in nur vier Jahren auf 250.000 Mitglieder angewachsene SS zur eigenständigen Organisation innerhalb der NSDAP. Sie war dem »Führer« damit direkt unterstellt. Auch wenn sich Himmler, der Sohn eines autoritären Münchener Gymnasialdirektors, studierter Agrarökonom und verhinderter Weltkriegssoldat, durch die Reichswehrführung vorerst noch in seinen militärischen Ambitionen gebremst sah, so war es ihm doch immerhin gelungen, im Blomberg-Erlass die Perspektive einer zukünftigen Erweiterung aufrechtzuerhalten. Durch die Zusicherung einer Verstärkung der politischen Polizei im Bedarfsfall um 25.000 SS-Männer hatte er sich zudem eine Hintertür offengelassen, um bei günstiger Lage mit diesem Reservoir eine Vergrößerung seiner bewaffneten Truppe zu betreiben. Auch die auf insgesamt 500 Lehrgangsteilnehmer ausgelegten Junkerschulen, die zukünftig in Bad Tölz und Braunschweig dem Nachwuchs der SS das militärische Handwerkszeug als Zugführer vermitteln sollten, verrieten Himmlers strategisches Ziel, seine bewaffnete SS einmal weit über den jetzt bewilligten Umfang hinaus zu vergrößern.36 Der erste achtmonatige Junkerlehrgang hatte bereits am 1. April 1934 in Bad Tölz mit 83 Teilnehmern begonnen.

Für Außenstehende kaum erfassbar hatte sich der Reichsführer-SS bereits über die SS-»Verfügungstruppe« hinaus ein zukünftiges militärisches Potenzial erschlossen, indem er Theodor Eicke, den Kommandanten von Dachau, mit der Organisation aller Konzentrationslager im Reich beauftragte. Der kaltblütige Mörder Röhms sollte sich dabei als durchsetzungsstarker Organisator bewähren, der nicht einmal davor zurückschreckte, sich gelegentlich mit Reinhard Heydrich, der gefährlichsten Gestalt der NS-Hierarchie, anzulegen. In einer bizarren Mischung aus pathologischem Hass gegen alle Regimegegner, Sadismus und notorischer Rücksichtslosigkeit selbst gegenüber Parteigenossen baute Eicke in kürzester Zeit eines der schlimmsten Terrorsysteme des 20. Jahrhunderts auf. Aus den provisorischen Lagern, die oft noch von der SA betrieben worden waren, bildete er zunächst sieben und bis zur Annektierung Österreichs vier große Lager für etwa 9000 Gefangene. Im März 1936 war seine Truppe aus Schlägern und Sadisten schon auf 3500 Mann angewachsen, die Eicke jetzt in drei Standarten organisierte und in Dachau (SS-Standarte »Oberbayern«), in Weimar (SS-Standarte »Thüringen«) sowie in Sachsenhausen (SS-Standarte »Brandenburg«) stationierte.

Auch der Personalbestand von SS-»Leibstandarte« und SS-»Verfügungstruppe« (VT) entwickelte sich sehr dynamisch. Bis Ende 1938 verdreifachte er sich von anfangs knapp 4000 auf mehr als 14.000 Mann. Der Andrang der Freiwilligen war groß. Der Wunsch, einer neuen militärischen Elite anzugehören, war ebenso mächtig wie die Anziehungskraft der schneidigen schwarzen Uniform. Himmler konnte sogar die Einstellungsvoraussetzungen verschärfen und die Mindestgröße der Bewerber auf 1,74 Meter erhöhen. Für die SS-»Leibstandarte« galt sogar ein Maß von 1,80 Meter als Aufnahmegrenze.37 Brillenträger hatten keine Chance. Das äußere Erscheinungsbild und der sogenannte Ariernachweis waren ausschlaggebend, Schulbildung und soziale Klasse spielten dagegen kaum eine Rolle und wurden von Himmler sogar demonstrativ in ihrer Bedeutung heruntergespielt.38

Der rasante Aufwuchs seiner bewaffneten SS bedeutete durchaus keinen Bruch der im Herbst 1934 getroffenen Vereinbarung mit der Reichswehr. Er resultierte vielmehr aus der Tatsache, dass der im Blomberg-Erlass der SS eingeräumte personelle Spielraum überhaupt erst ausgeschöpft werden musste. So bestand die spätere SS-Standarte »Deutschland« Mitte 1934 aus einem etwa 500 Mann starken Sturmbann in den Mauern der einstigen württembergischen Unteroffizierschule in Ellwangen. Ihr Kommandeur war der ehemalige Reichswehrhauptmann Felix Steiner. Der Weltkriegsoffizier sollte einer der prägenden Figuren der zukünftigen Waffen-SS werden und bis Kriegsende zum SS-Obergruppenführer und Armeeoberbefehlshaber aufsteigen. Geprägt durch seine Erfahrungen als Leutnant an der Westfront, wo gegen Ende des Krieges hochbewegliche Stoßtrupps eine immer wichtigere Rolle gespielt hatten, war der Ostpreuße Steiner ein glühender Verfechter des Gefechts kleiner Kampfgruppen. Sie sollten sich schnell und gut getarnt auf dem Gefechtsfeld bewegen und damit für die schweren Waffen des Gegners kaum fassbar sein. Zusammengestellt aus den besten Soldaten aller Verbände und besonders für den Nahkampf mit Handgranate, Maschinenpistole und Spaten ausgebildet, verkörperten die Angehörigen der SS-»Verfügungstruppe« nach den Vorstellungen Steiners einen neuen elitären Soldatentypus. Die traditionellen Ausbildungsmethoden der Reichswehr lehnte Steiner als alte Zöpfe ab. Den verhassten Kasernenhofdrill ersetzten täglicher Sport und häufige Geländedienste. Zum Teil kam es aber auch zu skurrilen Experimenten. So etwa übernahm der gesamte Sturmbann eine besondere Form des Marschierens, das sogenannte Schefflern, das seinen Namen dem gleichnamigen Sportlehrer und SS-Hauptsturmführer Wilhelm Scheffler verdankte und später sogar zur olympischen Disziplin avancierte. Tatsächlich ließen sich durch diese Form des Gehens bei Vergleichswettbewerben mit Heeresverbänden spektakuläre Erfolge erzielen, doch Steiner erkannte schon bald die Untauglichkeit dieser Methode für militärische Zwecke und ließ sie nach einiger Zeit wieder vom Dienstplan verschwinden.39

Die beiden anderen Sturmbanne der späteren SS-Standarte »Deutschland« formierten sich erst im Winter 1934/35 in München und Dachau. Der Dachauer Verband bildete eine Besonderheit. Er bestand anfangs zum großen Teil aus Österreichern, die nach dem gescheiterten Putsch gegen die Regierung »Dollfuß« nach Deutschland geflohen waren. Nur die Offiziere waren Reichsdeutsche. Da seine Angehörigen durch ihre Flucht und den illegalen Grenzübertritt staatenlos geworden waren, wurde dieser Sturmbann anfangs als »SS-Legion« oder als »Hilfswerk Österreich« bezeichnet.40

Ein Bericht des Bayerischen Wehrkreiskommandos, das Offiziere zur Inspektion in beide Sturmbanne geschickt hatte, zog im Juli 1935 eine gemischte Bilanz. So sei Steiners Bataillon zwar inzwischen personell auf vollen Stand gebracht. Doch die Ausrüstung mit Waffen und Gerät lasse noch zu wünschen übrig und ermögliche derzeit noch keine mobile Verwendung. Auch habe bisher noch keine Gefechtsausbildung im Zug- und Kompanierahmen stattgefunden. Der Ausbildungsstand des Dachauer Sturmbanns sei sogar noch geringer. »Im Gesamten ist festzustellen, dass ein gewisses strammes äußeres Bild (gesteigert durch sehr guten Ersatz von ausgesuchten Größenmaßen und gute Bekleidung) nicht täuschen darf über Mangel an Gründlichkeit und Erfahrung.«41

Auch in Norddeutschland hatten sich erst im Januar 1936 in den Standorten Hamburg, Arolsen und Soltau drei bewaffnete Sturmbanne mit Unterstützungstruppen gebildet.

Als Himmler am 1. Oktober 1936 befahl, alle sechs Sturmbanne der SS-»Verfügungstruppe« nun doch zu zwei SS-Standarten mit den Bezeichnungen »Germania« und »Deutschland« zusammenzufassen, akzeptierte die damals in voller Aufrüstung befindliche Wehrmacht diesen ihr nicht dramatisch erscheinenden Verstoß gegen den Blomberg-Erlass. Auch an der zeitgleichen Einrichtung einer neuen Inspektion der SS-»Verfügungstruppe« nahm die Generalität keinen Anstoß, da der nunmehr rasche Aufwuchs des Heeres Himmlers Truppe ohnehin zu marginalisieren schien.42 Kommandeur der »Germania« in Hamburg wurde SS-Standartenführer Karl Maria Demelhuber, ein damals 40-jähriger Bayer, der nach dem Weltkrieg und seiner Zeit als Freikorpssoldat in der bayerischen Polizei Karriere gemacht hatte und erst 1935 zur SS gekommen war. Den Befehl über die SS-Standarte »Deutschland«, die in der neuen Kaserne in München-Freimann untergebracht wurde, übernahm der reformfreudige SS-Standartenführer Felix Steiner.

Dass Himmler den ehemaligen Generalmajor der Reichswehr, Paul Hausser, zum Chef der neuen Inspektion der SS-»Verfügungstruppe« ernannte, dokumentiert einen gewissen Lernprozess. Ganz auf militärische Professionalität wollte der Visionär eines zukünftigen »nordischen Ordens des guten Blutes« nun doch nicht verzichten. Auch ein nach rassischen Gesichtspunkten ausgesuchtes Personal schien nicht automatisch gute Soldaten zu ergeben. Der 1880 in Brandenburg an der Havel als Sohn eines preußischen Offiziers geborene Hausser war Zögling der Hauptkadettenanstalt in Lichterfelde gewesen und hatte im Weltkrieg als Generalstabsoffizier auch in Frontkommandos gedient. Nach seiner Zeit im Grenzschutz »Ost« war Hausser im Rang eines Hauptmanns in die Reichswehr übernommen worden und nach einer respektablen Karriere als Regimentskommandeur und Infanterieführer in Magdeburg 1932 bei Erreichen der regulären Altersgrenze mit dem Charakter eines Generalleutnants aus dem Dienst ausgeschieden. Über Stahlhelm und SA war der General im Ruhestand im November 1934 schließlich zu Himmlers SS gekommen. Da sich seine Hoffnungen auf eine Wiederaufnahme in die Reichswehr nicht erfüllt hatten, musste Hausser mit der für ihn kaum befriedigenden Aufgabe vorliebnehmen, die zweite SS-Junkerschule in Braunschweig aufzubauen und zunächst als Kommandeur zu leiten. Auch die zweite Position dürfte kaum nach seinem Geschmack gewesen sein. Als neuer Inspekteur der SS-»Verfügungstruppe« besaß Hausser keine unmittelbare Befehlsgewalt über ihre zwei Standarten, und sein Stab bestand nur aus einem Dutzend Offizieren. Genaue Vorgaben für seine Dienststellung gab es offenbar nicht, was der General jedoch mit Gleichmut hinzunehmen schien. Im Rückblick meinte er, niemand habe ihm gesagt, was aus diesen Verbänden werden sollte, und er habe auch nicht danach gefragt, sondern sich einfach darauf konzentriert, den »Laden in Ordnung zu bringen« und die Regimenter richtig auszubauen.43

Wiederholt geriet Hausser, der nur den Dienstgrad eines SS-Brigadeführers besaß, in seiner Rolle als Inspekteur mit dem ranghöheren Dietrich aneinander. Der glaubte sich bei seinen Extratouren durch Himmler und den »Führer« gedeckt und setzte sich gewöhnlich über Haussers Anweisungen, sofern sie ihm nicht passten, schlicht hinweg. Der Streit zwischen dem früheren bayerischen Vizefeldwebel und dem vormaligen preußischen General eskalierte im Mai 1938, als nach der Annektierung Österreichs auch Dietrichs SS-»Leibstandarte« wie die beiden anderen Standarten der SS-»Verfügungstruppe« jeweils einen Sturmbann zum Aufbau der sich in Wien, Graz und Klagenfurt bildenden dritten SS-Standarte »Der Führer« abstellen sollte. Hausser musste sogar mit seinem Rücktritt drohen, um Himmler zu veranlassen, Dietrichs fortgesetzte Eigenmächtigkeiten endlich zu beenden. Das gelang zwar nie ganz, aber immerhin gab der Kommandeur der SS-»Leibstandarte« in der Frage der Abstellung schließlich nach. Am 15. Mai 1938 verabschiedete Dietrich das befohlene Kontingent von 450 Männern nach Graz, wo sie das Stammpersonal des II. Sturmbanns der neuen SS-Standarte bilden sollten. Obersturmbannführer Georg Keppler, bisher Führer des I. Sturmbanns in der Standarte »Deutschland«, avancierte zum Kommandeur der österreichischen Standarte, die bis Ende 1938 auf knapp 2500 Mann anwuchs.

Wie nah der Preuße Hausser den weltanschaulichen Grundsätzen der SS gestanden hat, ist nicht klar. Für die ideologische Schulung der Truppe, für Himmler ein ständiges Anliegen, war nicht seine Inspektion zuständig, sondern das SS-Rasse- und Siedlungshauptamt. Hausser brauchte hier keine Farbe zu bekennen. In einem Schreiben an Himmler empfahl der General im März 1943 allerdings die Rückversetzung eines sonst gut bewährten Heeresoffiziers, da dieser den Grundsätzen und Zielen der SS fremd geblieben sei.44 Hausser zögerte allerdings nicht, sich vor seine Leute zu stellen, wenn diese, wie im Fall des Taktiklehrers an der Braunschweiger Junkerschule, Friedemann Goetze, von Vertretern der Partei aus politischen Motiven angegriffen wurden.45 Goetze wurde noch Kommandeur der Schule und schied 1939 altersbedingt aus dem Dienst.