Die Wahrheit deiner Berührung - Meredith Duran - E-Book

Die Wahrheit deiner Berührung E-Book

Meredith Duran

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Beschreibung

Die schöne Mina Masters rettete dem englischen Spion Phineas Granville einst das Leben. Nun ist sie eine erfolgreiche amerikanische Geschäftsfrau, die ihre Vergangenheit in England hinter sich gelassen hat. Als sie von den britischen Behörden gefangen genommen wird, um einen Verräter aus dem Versteck zu locken, ist Phineas der Einzige, der ihr helfen kann.

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MEREDITH DURAN

DIE WAHRHEIT DEINER

BERÜHRUNG

Roman

Ins Deutsche übertragen von

Nicole Friedrich

Für Lebensmittel frei Haus und die Hilfe beim Brainstorming. Für Road Runner und Hühnersuppe und die aufmunternden Gespräche auf Parkplätzen. Für Reiseberichte: Moldarama, Phase III; die Anden und den Zoo. Für den Heizlüfter, als meine Hände schon fast blau waren. Für das Kidnapping meines Modems, für Yacht Rock und joie de vivre.

Dieses Objekt der näheren Zukunft ist Steve gewidmet.

1

Hongkong, 1880

Es war spät am Abend, als er sein Problem auf sich zukommen sah. Es schwankte von zu viel Champagner und hatte einen Mann an jedem Arm. Phin stand gegen die Wand gelehnt und widmete sich dem Glas Brandy in seiner Hand, mit dem er den sich ankündigenden Kopfschmerz bekämpfen wollte. Er beobachtete, wie die Blondine den Blick über die Menge gleiten ließ. Die Papierlaternen, die über der Tür hingen, warfen einen rötlichen Schein auf ihr weißblondes Haar. Sobald sie ihn entdeckte, lächelte sie.

Noch so etwas Unerledigtes, dachte Phin düster. Unerledigtes, über das er leicht stolpern und sich dabei das Genick brechen konnte.

Er stellte sein Glas auf das Tablett einer Angestellten, die vorbeiging. Sie war eine junge Chinesin mit einem Gesicht so rund wie der Mond. Sie balancierte das Tablett auf den Fingerspitzen und hielt es dabei über den Kopf erhoben. Fast ein wenig neidisch folgte Phins Blick dem Glas, das über den Köpfen der Menschen in Richtung Ausgang hinwegzuschweben schien. Ein wahrlich traumhafter Fluchtweg. Beim Allmächtigen, er wollte endlich weg aus Hongkong.

Jeder, der etwas auf sich hielt, war heute Abend anwesend – mit Ausnahme des Gouverneurs und des amerikanischen Konsuls. Und das konnte nur bedeuten, dass deren Verhaftung unmittelbar bevorstand. Sein Auftrag war somit erledigt. Es gab keinen Grund, noch länger hierzubleiben. Doch Ridland hatte ihm untersagt, vor morgen Abend abzureisen. Der Mann war darauf aus, ihm etwas zu beweisen. Was zählt, Granville, sind die Ergebnisse. Sie sollten stolz sein auf Ihre Arbeit. Sie sind ein Naturtalent.

Stolz, sinnierte Phin und fragte sich, ob ein Hund Stolz empfand, wenn er seinem Herrn aufs Wort gehorchte. Allerdings bestand letztlich keine Notwendigkeit, sich diese Frage zu beantworten, denn ihm saß die Kette, an die man ihn gelegt hatte, mehr als eng um den Hals. Je nach Ridlands Anweisung wurde sie gelockert oder noch fester zusammengezogen, je nachdem, ob Phin bereit war, dem Mann die Hand zu lecken oder nicht. Falls tatsächlich nur die Ergebnisse zählten, hätte er schon längst von hier verschwunden sein sollen. Immerhin gab es hier noch andere Agenten, die ihn nicht kannten und die er nicht kannte, die sich mit den Folgen der Ereignisse beschäftigen konnten. Sich um die Konsequenzen zu kümmern war schließlich nicht seine Aufgabe.

Als Phin den Blick durch den Raum schweifen ließ, blieb der an Miss Masters, besagter Blondine, hängen. Sie kam direkt auf ihn zu, wobei sie sich entschlossen ihren Weg zwischen den Paaren hindurchbahnte, die sich wie Marionetten in dem Takt bewegten, den die Musiker ihnen vorgaben. Sein kurzer Flirt mit Mina Masters hatte sich als folgenschwerer Fehler erwiesen. Am Ende hatte er keinerlei Verwendung für sie gehabt. So wenige Komplikationen wie möglich – so lautete sein Grundsatz. Leider war ihm in diesem speziellen Fall klar geworden, dass ebendieser Grundsatz das eigentliche Problem war. Dem Anschein nach war Miss Masters es auch nicht gewohnt, einen Korb zu bekommen; ein Umstand, der unmissverständlich ihre Neugierde auf den Plan gerufen zu haben schien.

Phin beobachtete, wie Mina Masters auf dem Weg zu ihm ihre Begleiter verlor. Erst den einen, weil er über seine eigenen Füße stolperte, dann den anderen, der mit einem Walzer tanzenden Paar zusammenstieß. Von alledem schien Mina nichts mitzubekommen. Vermutlich erleichterte diese besondere Art der Ignoranz ihr Leben. Bis jetzt. Mit Gerard Collins als Stiefvater würde ihr zu viel Durchblick vermutlich auch nicht gut bekommen. Die Dinge, die ihr zu Ohren kommen könnten, würden ihrem Schönheitsschlaf nicht unbedingt förderlich sein.

Noch hatte das blonde Spatzenhirn keine Ahnung, dass es sich bald in einer ganz fremden Welt wiederfinden würde. Sobald Collins in Gewahrsam war, würden ihre Verehrer sie verlassen – wie die sprichwörtlichen Ratten das sinkende Schiff. Minas Mutter würde wahrscheinlich versuchen, aus dem Fenster zu springen. Die beiden Frauen würden sehr schnell lernen, wie es sich anfühlte, ein Leben voller Entbehrungen zu führen. Phin sah jedenfalls schwarz für sie. Minas Mutter hatte sich mit ihrer Familie überworfen, und keine von beiden verfügte über das Talent, sich den Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Natürlich würde ihre Schönheit ihnen von Nutzen sein, aber die würde vergehen, waren sie erst einige Male etwas rauer angepackt worden waren.

Diese Gedanken verdarben Phin gehörig die Laune. Ein Ochse im Joch, der sich Sorgen um zwei Lämmer auf dem Weg zur Schlachtbank machte: ein eher schlechter Scherz. Die beiden Frauen gingen ihn nichts an, und sich für etwas zu geißeln, das er ohnehin nicht verhindern konnte, half weder ihnen noch ihm. Er wandte sich ab und verließ den Raum.

Im Foyer herrschte eine ausgelassene Stimmung. Phin drängte sich zwischen den formell gekleideten Gästen hindurch und bog in einen spärlich beleuchteten Flur ein. In den geöffneten Fenstern, die einer schwülen Brise Einlass gewährten, standen Lampen, die ein flackerndes Licht spendeten. Nach dem Sturm, der Hongkong am Abend heimgesucht hatte, präsentierte es sich jetzt strahlend und grün, und Blütenduft schwängerte die Luft. Die ganze verdammte Stadt roch wie eine zu stark parfümierte Debütantin.

»Mr Monroe!«

War sie ihm gefolgt? Phin drehte sich um. Sie war einige Schritte von ihm entfernt unter einem Türbogen aus roten und schwarzen Kacheln stehen geblieben. Ihm war schleierhaft, wie sie sich in ihrem engen Kleid so schnell hatte bewegen können. Es war aus himmelblauer Seide und sollte vermutlich ihre Augenfarbe betonen. Ein Fehler, wie er fand. Ihre Augen hatten eine so ungewöhnliche Farbe, dass es nicht nötig war, sie hervorzuheben. Durch das Himmelblau des Kleides wirkten sie fast schon übertrieben strahlend.

Er konnte gut nachvollziehen, warum sich in der Gesellschaft Hongkongs die Geister an ihrer Schönheit schieden. Ihr Farbgeschmack mutete höchst sonderbar an. »Guten Abend«, sagte er.

»Mr Monroe.« Sie machte einen Schritt auf ihn zu. Ihre Stimme klang atemlos und leicht triumphierend, so als wäre sein Name die Antwort auf ein Rätsel, das sie schon seit Langem beschäftigte. Ein kleiner Schweißtropfen lief an ihrem Hals herunter und benetzte ihre schmale Schulter. Gebannt folgte sein Blick dem Tropfen. Es war ihm unerklärlich, warum sein Körper die schlechte Angewohnheit entwickelt hatte, derart fasziniert auf diese Frau zu reagieren. Zumal sie so zerbrechlich wie ein Püppchen aussah.

»Wie gefällt Ihnen der Abend?«, fragte sie. »Sie wollen sich doch wohl noch nicht zurückzuziehen, oder?«

Phin rang sich ein Lächeln ab. »Ich kann nicht klagen«, erwiderte er. »Und nein, ich wollte lediglich etwas aus meinem Zimmer holen.« Er schwieg und hoffte, sie würde den Wink verstehen und sich empfehlen. Doch wie befürchtet ließ sie die Gelegenheit verstreichen. »Und Sie, Miss Masters? Ich hatte den Eindruck, dass Sie sich gut amüsieren.«

»O ja! Ich habe mich prächtig amüsiert. Aber wie ich schon zu meinen englischen Freunden sagte …« Sie blickte hinter sich, als würde ihr erst jetzt bewusst, dass sie ihre beiden Begleiter im Ballsaal zurückgelassen hatte. Als sie sich wieder Phin zuwandte, schaffte sie es irgendwie, zu stolpern und gegen seine Brust zu prallen.

Geistesgegenwärtig hielt er sie an den Unterarmen fest. Die Kleine roch wie eine Schnapsbrennerei. Als sie ihn mit weit aufgerissenen Augen anstarrte, traf ihn dieser Blick wie ein Schlag in die Magengrube. Welch ungewöhnliche Farbe. Es war nicht so, dass Phin ihre Schönheit verkannte, doch er zog es vor, wenn eine Frau wie eine Frau aussah. Mit dem weißblonden Haar, den riesigen Augen und dem zierlichen Körper erinnerte Miss Masters eher an eine Porzellanpuppe als an einen erwachsenen Menschen. Schade nur, dass sie sich nicht wie eine Puppe benahm. Puppen waren stumm, sie hingegen plapperte ununterbrochen. Doch er wusste schon, wie er sie zum Schweigen bringen konnte.

Herrje! Dieses Mädchen brachte ihn dazu, anders zu reagieren, als er eigentlich wollte. Energischer als die Situation es gebot, packte er sie fester. »Sie müssen aufpassen«, sagte er.

Mina hob eine helle Braue. »Worauf denn?«

Darauf, Männer nicht in schummerigen Fluren zu überfallen. Und darauf, Ihre Hoffnungen nicht in einen Fremden zu setzen. »Darauf, nicht die Balance zu verlieren. Wenn Ihnen so etwas in Gesellschaft passiert, könnte so mancher vermuten, Sie seien betrunken.«

»Oje!« Sie klimperte mit den Wimpern. »Ist das verboten?«

Er seufzte. Sie würde eines Tages Gefahr laufen, sich um Kopf und Kragen zu reden. In der kleinen Welt, in der sie sich bewegte, ging es leicht und unbeschwert zu, aber nichtsdestotrotz galten gewisse Regeln. Regeln, die Mina Masters immer unbesonnener brach. »Ich glaube nicht, dass es ein Gesetz dagegen gibt.« Sein Mund fühlte sich trocken an, und Phin musste sich räuspern. Gütiger Gott, aber diese Kopfschmerzen waren das Letzte, was er jetzt brauchte. Erst als sie ihn anstarrte, wurde ihm bewusst, dass er sich die Schläfen rieb. Irgendwie hatten diese Schmerzen etwas mit ihr gemein: Beide wurden mit jedem Augenblick unerträglicher. Was hatte er sagen wollen? Ach ja. »Aber Sie können unmöglich wollen, dass man Sie für von Natur aus trunksüchtig hält.«

Unvermittelt fiel ihm seine Gesprächigkeit auf, und er ärgerte sich darüber. Es war fast, als verfügte Miss Masters über das Talent, ihm törichte Bemerkungen zu entlocken. Wie kleine Kinder oder junge Hunde hatte sie etwas Argloses an sich. Wann immer er sie ansah, machte er sich auf etwas Schlimmes gefasst. Welpen wurden getreten, Kinder fielen von der Fensterbank. Miss Masters tanzte am Rande einer Klippe, und niemand – weder ihre introvertierte Mutter noch ihr tyrannischer Bastard von Stiefvater – machte sich die Mühe, sie an die Leine zu legen.

»Das ist unfair, Mr Monroe!«, protestierte Mina. »Ich trinke nichts außer Champagner, einem durchaus achtbaren Getränk. Und wenn ich ein wenig zu viel davon hatte, dann nur, weil hier alle so langweilig sind.«

Er lachte unwillkürlich. Wie schon so manches Mal zuvor beschlich ihn auch jetzt wieder der Verdacht, Mina Masters könnte sich einen Spaß daraus machen, ihre Umwelt mit ihrer dümmlich-naiven Art an der Nase herumzuführen. Es stand außer Frage, dass dieselbe Bemerkung, aus dem Munde einer anderen Frau, seiner Selbstgefälligkeit einen heftigen Dämpfer verpasst hätte.

Doch nein, sie lächelte ihn derart unbedarft an, dass sie unmöglich zu denen gehören konnte, die geistreiche Bonmots zum Besten gaben. »Es sei denn, Sie erklären sich bereit, mich ein wenig zu unterhalten.« Als ihr Blick zu seinem Mund glitt, erstarb sein Lachen. Sie täte besser daran, Vorsicht walten zu lassen. »Oh«, sagte sie leise. »Mr Monroe, was für wundervolle Lippen Sie haben.«

Und wie aus heiterem Himmel stürzte sie sich auf ihn.

Zuerst war er zu überrascht, um sie abzuwehren. Sie war immer sehr direkt, aber dass sie ihn verführte, damit hatte er nun wahrlich nicht gerechnet. Auch wenn dieser Überfall streng genommen nichts mit Verführung zu tun hatte, denn sie packte sein Haar mit dem Feingefühl eines Schraubstocks und zerrte seinen Kopf zu sich herunter. Als ihre Lippen sich vehement auf seinen Mund pressten, befürchtete er, im nächsten Augenblick Blut zu schmecken. Getrieben von purer Selbsterhaltung wich er zurück, doch sie ließ nicht locker und schmiegte sich warm und weich an seine Brust. Das leise Keuchen, das sich ihren Lippen entriss, mogelte sich an seinem Verstand vorbei und fuhr ihm direkt ins Gemächt.

Nein. Er würde diesen Kuss nicht erwidern. Sie war wie ein unbekümmertes, aufgedrehtes Kind, und sollte er von ihr geträumt haben, dann lediglich aus Langeweile.

Sie öffnete den Mund, und er spürte das Streicheln ihrer Zunge. Phin packte Mina bei den Ellbogen und wollte sie wegschieben. Doch ihre samtige Haut zu fühlen machte sein Vorhaben zunichte, und er ertappte sich dabei, wie er stattdessen mit dem Daumen über ihren Arm strich, wenn auch nur, um sich davon zu überzeugen, dass sie tatsächlich so weich war wie er glaubte. Ihr leises Stöhnen ermunterte ihn. Mochte Gott ihm beistehen, aber auf der ganzen Welt gab es gewiss keine Puppe, die je ein solches Geräusch von sich gegeben hatte. Zudem zählte Mina Masters bereits zwanzig Lenze und war beileibe kein Mädchen mehr.

Zur Hölle damit! Ehe er es sich versah, erwiderte er den Kuss. Sie schmeckte nach Champagner und Erdbeeren, und ihr schlanker, aber nichtsdestotrotz mit wundervollen Kurven gesegneter Körper drängte sich ihm entgegen. Ihm war, als könnte er keinen klaren Gedanken mehr fassen. Bezaubernd, viel bezaubernder, als er erwartet hatte. Sie war geschmeidig wie eine Flamme, die an ihm züngelte. Ihre Hände gruben sich in seine Schultern und drückten ihn gegen die Wand. Sie brauchte dringend eine Lektion in Sachen Raffinesse, und es hätte ihr gutgetan, einige Wahrheiten über die Welt zu erfahren, und das schnell. Am besten, noch ehe der Morgen graute. Nur zu gern würde er sie ihr näherbringen; ihr gewissermaßen einen Liebesdienst erweisen …

Was zum Teufel mache ich hier eigentlich?

Er stieß sie von sich und atmete tief durch. Als sie stolperte, wollten seine Arme instinktiv vorschnellen und sie auffangen, doch er ballte die Hände zu Fäusten und blieb stehen.

Sie stieß mit dem Rücken gegen die Wand und fand das Gleichgewicht wieder. Ihre Brüste hoben und senkten sich heftig, während sie ihn aus weit aufgerissenen Augen ansah. »Tanzen Sie etwa mit mir, Mr Monroe?«

Gütiger Gott! Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Diese Frau war nicht ganz bei Trost. Oder sie begriff nicht, dass er ihr soeben eine Abfuhr erteilt hatte. Phin suchte nach den richtigen Worten, um an ihr Gefühl für Anstand zu appellieren, vorausgesetzt, ihr war die Bedeutung des Wortes überhaupt geläufig. Doch sein Körper verhöhnte ihn, und in seinem Kopf herrschte erschreckende Leere. »Wie bitte?«, war schließlich alles, was er herausbrachte.

»Meine Freunde aus England haben sich darüber beschwert, dass Amerikaner nicht tanzen können«, sagte sie und nestelte an einem ihrer Perlenohrringe. Sie hatte sich wieder gefangen und gab sich zwanglos. Nichts ließ ahnen, dass sie ihn eben so intim geküsst hatte. »Aber das sehe ich anders. Ich tanze sehr gut, und ich bin sicher, dass Sie ebenfalls ein ausgezeichneter Tänzer sind. Wollen wir es unter Beweis stellen? Für Amerika, Sir!«

Vielleicht war es falsch von ihm, sie zu unterschätzen. Aber ganz gewiss wäre er ein verdammter Idiot, wenn er sich selbst überschätzte. »Ich glaube kaum, dass das angemessen wäre.«

Sie runzelte die Stirn. »Warum denn nicht? Weil ich Sie geküsst habe?«

Er blickte den Flur entlang. »Ganz genau, Miss Masters.« Es war nur eine Frage der Zeit, bis jemand sie zusammen sah. Und das war das Allerletzte, was er gebrauchen konnte. Vielleicht halfen einige deutliche Worte dort, wo die Manieren versagt hatten. »Es sei denn, Sie verspüren das brennende Verlangen, von mir an dieser Wand gevögelt zu werden.«

Das Bild, das seine Worte heraufbeschworen, verlieh seiner Stimme etwas Heiseres, schien aber auf Miss Masters keine Wirkung zu haben. »Nun, in einem Ballsaal würde ich so etwas auch nicht tun wollen«, entgegnete sie, ging auf ihn zu und nahm seinen Arm.

Vielleicht hätte er sich für eine elegantere Formulierung entscheiden sollen. Allem Anschein nach hatte sie ihn nicht verstanden. Oder sie hatte ihn nur allzu gut verstanden, denn sie klammerte sich an ihn, als wäre auch noch der letzte Fetzen jungfräulichen Anstands aus ihr gewichen. Aber wie auch immer – sie war das Chaos in Person, und ihre Verrücktheit war vermutlich ansteckend. Denn Phin, der sich ein wenig benommen fühlte, ließ sich von ihr zum Ballsaal führen.

Einen Tanz also. Nicht weiter schwierig. Für die Dauer eines Tanzes würde es ihm gelingen, die Finger bei sich zu lassen, selbst wenn er sich dafür auf die Zunge beißen musste, um sich abzulenken. Dass er etwas aus seinem Zimmer hatte holen wollen, war gelogen gewesen. Gott war sein Zeuge, dass Miss Masters ihm vermutlich bis ins Bett gefolgt wäre, wäre er bei seiner kleinen Schwindelei geblieben.

Wie zur Begrüßung schallte ihnen Musik aus dem Ballsaal entgegen. Phin empfand sie als sehr laut, fast als aggressiv. Er merkte, wie sehr ihm die Lautstärke und das Stimmengewirr zusetzten, als Miss Masters ihn in den Saal zog. Sie sagte etwas, das er jedoch nicht verstand. Weshalb ließ er überhaupt zu, dass sie ihren Willen bekam? Sein Kopf schmerzte entsetzlich. Ja, sie war zwar hübsch anzusehen und hatte einen attraktiven Körper, zu dem aber leider auch ein Kopf gehörte, in dem nichts als gähnende Leere herrschte. Für ihn bedeutete sie nur eine Menge Ärger.

Als die letzten Takte verklangen, trennten sich die meisten Tanzpaare. In wenigen Augenblicken würde eine neue Melodie ertönen. Erwartungsvoll sah Mina zu ihm auf. Als er ihr nicht sogleich die Hand entgegenstreckte, griff sie einfach danach. In dem Moment, in dem Phin bewusst wurde, dass er ihre Finger nicht spürten begriff er, dass etwas nicht stimmte.

Er wollte tief durchatmen – mit dem Ergebnis, dass der Boden unter seinen Füßen heftig ins Schwanken geriet.

Wie volltrunken taumelte er einige Schritte zurück und stieß mit jemandem zusammen. Ein Schrei. Die Welt zerfiel und fügte sich wieder zusammen. Miss Masters Lippen bewegten sich. Ihm war, als würden ihm zwei winzige Schrauben in die Schläfen gedreht. Gott im Himmel. Litt er womöglich an einer unbekannten Form der Malaria?

Das Antlitz seiner Tanzpartnerin wurde riesig und rückte immer näher. Es bereitete Phin größte Mühe, klar zu sehen. Seine Sicht wechselte zwischen scharf und verschwommen. Beim Allmächtigen, war ihm kalt. »Geht es Ihnen gut?« Das war es also, was sie gefragt hatte.

Als die Dunkelheit ein weiteres Mal über ihn hinwegschwappte, erinnerte er sich, dass die Malaria keinen derart rasanten Verlauf nahm. Das Bild des Brandyglases schoss ihm durch den Sinn. Es war ihm entglitten, und er hatte die Hälfte des Inhalts verschüttet. Halb voll. Nur halb voll. »Nein«, stammelte er. Es ging ihm nicht gut.

Jemand hatte ihn vergiftet.

Er kippte vornüber und direkt in Minas Arme. Sein Kinn prallte gegen ihre Nase. Beim Allmächtigen, was für unsägliche Schmerzen! Sie sah Sterne vor ihren Augen tanzen, ehe sein Kopf ihre Schulter traf. Wegen des Schocks dauerte es einen Augenblick, bis sie begriff, was vor sich ging: Sie hatte ihn unter den Armen packen wollen, um ihn zu stützen. Aber er war zu groß und zu schwer, und seine Knie gaben nach. Er würde sie mit zu Boden reißen.

Mina sprang zur Seite und sah, wie er mit dem Gesicht voran fiel. Mit einem entsetzlichen Knacken, das mit Sicherheit Blut bedeutete, schlug sein Kopf auf dem Boden auf. Fassungslos starrte Mina auf ihn herunter. In unmittelbarer Nähe ertönte ein spitzer Schrei. Seidene Schleppen raschelten über die Tanzfläche, als sich die weiblichen Gäste umdrehten, um zu sehen, was passiert war. Drei lange Wochen hatte Mina darauf gewartet, dass Phineas Monroe ihr zu Füßen lag. Doch er war sehr zurückhaltend gewesen und hatte sich sowohl ihren weiblichen Reizen als auch jeglichen Avancen gegenüber als immun erwiesen. Aber zu guter Letzt hatte er sich ihr nun doch noch ergeben, wenn auch auf eine höchst ärgerliche Manier. Trotz all seines Charmes war er eben auch nur ein Mann.

Wie durch Watte registrierte sie, dass das Orchester zu spielen aufgehört hatte, was ihr sehr entgegenkam. Die Interpretation des Beethoven-Werkes hatte ohnehin ein wenig bizarr geklungen. Einzig der Cellist, der seinen Bogen gefühlvoll über die Saiten zu streichen wusste, verstand sein Handwerk. Während sich immer mehr Gäste um sie versammelten, kniete sich Mina auf den Boden. »Betrunken«, mutmaßte jemand, aber sie hatte eher den Eindruck gehabt, Monroe sei nüchtern gewesen. Auch wenn dagegen sprach, dass er jetzt bewusstlos vor ihr lag. Selbst eine sanfte Ohrfeige holte ihn nicht zurück.

Ihre Hand verweilte länger an seinem Kinn, als eigentlich nötig. Nur zu gern hätte sie das Grübchen berührt. Seine Wimpern waren ungewöhnlich lang. Sie waren ein faszinierender Anblick in einem Antlitz, das kaum männlicher hätte sein können. Dass sie sich zu ihm hingezogen fühlte, hatte sie immerhin nicht vorgetäuscht. Aber sie mochte ihn sehr viel lieber, wenn er die Augen offen hatte. Er sah sie an, wenn sie mit ihm sprach, und das war für sie etwas eher Ungewohntes.

Mina erhob sich und trat einen Schritt zurück. Dass ihre Sorge um ihn echt war, beunruhigte sie ein wenig. Ihre Gedanken kreisten ohnehin schon viel zu sehr um ihn. Ihr imponierte, dass er nicht barsch mit Untergebenen sprach, und er hatte sie aus einem höchst unangenehmen Intermezzo mit Bonham gerettet. Aber womöglich hatte das nicht viel zu bedeuten. Bei genauer Betrachtung war sie sich nicht einmal sicher, ob sein rechtzeitiges Auftauchen purer Zufall oder geschickte Planung gewesen war. Und seit der vergangenen Woche verhielt er sich ihr gegenüber zunehmend kühl und abweisend.

Sie sollte sich nicht allzu sehr um ihn zu sorgen. Ansonsten stünden ihr mit Sicherheit unzählige Probleme ins Haus.

»Ach du meine Güte!« Eine Hand legte sich um ihren Ellbogen. »Ist mit dir alles in Ordnung?« Jane sah sie erschrocken an. Ihr Gesicht war kreidebleich.

»Ja, mir geht es gut.«

»Du siehst aber nicht so aus.«

Mina seufzte. Collins hatte Jane engagiert, als Mina sechzehn geworden war. Eine junge Dame braucht eine Reisebegleiterin, hatte er gesagt. Die Freundschaft mit Jane war in den letzten vier Jahren stetig inniger geworden, und sie war für Mina das Kostbarste auf der Welt. Doch manchmal war es auch ein Fluch, dass Jane sie so gut kannte. Es schien, als könnte sie in Mina hineinsehen, und sie hatte Mina mehr als einmal davor gewarnt, Monroes Charme zu verfallen. Du kennst denn Mann doch gar nicht; sei lieber vorsichtig, hatte sie ihr geraten. »Er ist mir auf die Nase gefallen«, sagte Mina. »Und jetzt tut sie mir weh.«

Janes haselnussbraune Augen wurden schmal. »Lass mich mal sehen.« Sie fasste Mina beim Kinn und drehte ihr Gesicht zu sich, während immer mehr Menschen sich um sie drängten. Ellbogen stießen Mina in die Seite, und man trat ihr auf den Saum. Es war ungewohnt für sie, dass Menschen an ihr vorbeigingen, ohne sie eines zweiten Blickes zu würdigen. Sie ließ sich von der Menge tragen, und es wurde zu einem Spiel, die Balance zu halten. »Es sieht aus, als sei alles in Ordnung«, entschied Jane. »Die Nase ist leicht gerötet. Was ist mit ihm? Ist er tot?«

Mina schüttelte den Kopf. Sie erinnerte sich an seinen heißen Atem an ihrem Hals, als sie sich ihm in die Arme geworfen hatte. Er hatte ihr ein Prickeln den Rücken herunterlaufen lassen – vielleicht war das der Grund, dass sie nicht sofort reagiert hatte. Er küsste fantastisch, besser, als sie zu hoffen gewagt hatte. Aber seine Ausdrucksweise war ordinär. Warum hatte er so derb mit ihr gesprochen? Was hatte sie getan, dass er sich so anders benahm? Es wurmte sie, dass er die Macht über sie hatte, sich über derartige Fragen den Kopf zu zerbrechen. Er war schließlich nichts weiter als ein Freund ihres Stiefvaters.

Dr. Sullivans Sohn drängte sich an Mina und Jane vorbei, und die beiden Freundinnen sahen zu, wie er sich neben Monroe kniete und ihm den Puls fühlte.

»Ich sollte mich auf die Suche nach Mr Collins machen«, murmelte Jane.

»Versuch’s mal im Kartenzimmer.« Nachdem er Minas Mutter gezwungen hatte, sich in ihr Zimmer zurückzuziehen, hatte er am Pokertisch Stellung bezogen. Auch seine Bewunderer hatten sich dort eingefunden, um ihm, ähnlich wie Tagelöhner ihrem König, zu huldigen. Jedes Mal, wenn Mina am Kartenzimmer vorbeigegangen war, hatte er ihr durch die geöffnete Tür zugewunken und einen Rauchkringel in die Luft geblasen, als hatte er sie auffordern wollen, ihm zu seiner Beliebtheit zu gratulieren. Sie wünschte sich, über seine Überheblichkeit lachen zu können, doch sie konnte es nicht.

»Ich bin gleich wieder da.« Jane raffte ihren Rock und entfernte sich.

Mina war der einzige Farbtupfen in einem Meer aus breiten dunklen Rücken. Die Gentlemen hatten sich um Monroe geschart, und das Stimmengewirr wurde beständig lauter. Jeder versuchte, den anderen mit autoritärer, noch männlicherer Stimme zu übertönen.

»Treten Sie doch zur Seite …«

»Lockert ihm die Krawatte …«

»Atmet er noch?«

»Er ist Collins’ Gast, nicht wahr?«

»Er scheint Fieber zu haben …«

Mr Bonham drängte sich durch die Menge. Als sein Blick auf Mina fiel, bedachte er sie, wie so oft, mit seinem höchst sonderbaren Lächeln. Noch nie hatte sie gesehen, dass er andere auf diese Weise anlächelte. Hielt er es für attraktiv? Dabei sah es eher aus, als versuchte er, seine Lippen in den Mund zu saugen. Mina sah sich außerstande, dieses Lächeln zu erwidern. Sollte Mr Monroe ernstlich krank sein, wäre alles ruiniert.

Dr. Sullivans Sohn hatte sich wieder aufgerichtet. »Er atmet«, verkündete er, woraufhin ein Raunen einsetzte.

Um besser sehen zu können, stellte sich Mina auf die Zehenspitzen. Sie würde zehn Jahre ihres Lebens dafür opfern, zwei Fingerbreit größer zu sein. Im Alter von dreizehn hatte sie Gott genau diesen Vorschlag gemacht, jedoch ohne Erfolg. Er hatte ihn schlichtweg ignoriert.

Durch das Meer an Schultern sah sie, wie Mr Bonham sich herunterbeugte, Monroe an den Haaren packte, dessen Kopf zu sich hochzog und an ihm roch. »Zu tief ins Glas geschaut«, urteilte er. »Oder …« Er blickte auf und suchte nach Mina. Allmählich wurde sein anzügliches Grinsen lästig. »Womöglich hat ihn Miss Masters’ Schönheit überwältigt.«

Ein Lachen ging durch die Menge. Sämtliche Blicke ruhten jetzt auf ihr, bis einige der Umstehenden fanden, dass sie sich unhöflich verhielten und ihr Platz machten, sodass Mina sich mit einem Mal im Zentrum eines Kreises befand und wie ein preisgekröntes Schwein auf einem Jahrmarkt begafft wurde. Am liebsten hätte sie angefangen zu schielen und das Gesicht zu einer Fratze zu verziehen.

Da sie jedoch im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit stand, blieb ihr nichts anderes übrig, als ein Lächeln aufzusetzen. Mr Bonham wertete dies als gutes Zeichen zu seinen Gunsten. Sein Grinsen wurde breiter, bis es seine Zähne entblößte. Bonham war gut betucht und ehrgeizig – ein Emporkömmling eben, der sein Geld in den Kolonien gemacht hatte, was nicht zwangsläufig gegen ihn sprechen musste. Es wurde erwartet, dass ihm die Herzen der Ballschönheiten nur so zuflogen. Hätte Mina nichts über ihn gewusst, hätte sie ihm womöglich ihr Herz geschenkt. Schließlich war er von schlanker Statur, hatte elegante, schlanke Künstlerhände und rabenschwarzes Haar. Das Talent eines Bankiers und das Antlitz eines Poeten; seine meergrünen Augen waren schuld daran, dass Damen einander Derartiges zuraunten, wenn er an ihnen vorbeischritt.

Doch Mina hatte noch manch anderes, eher pikantes Detail über sein Wesen in Erfahrung gebracht: Wie es schien, hatte er seine Finger schlechter unter Kontrolle als eine Krake ihre Fangarme, und seine Lippen schmeckten nach Brackwasser. Es mochte sein, dass er ein Herz für die Straßenhunde hatte, die sich jeden Abend vor den Toren der Stadt versammelten, doch auf seine Bediensteten drosch er mit dem gleichen Lächeln ein, mit dem er die Streuner fütterte. Bonham hatte sich mit Minas Stiefvater zusammengetan, um eine Kokaplantage in Ceylon zu finanzieren. Als Bonbon verlangte er jedoch Minas Hand. Während Mina Ersteres egal war, raubte ihr Letzteres vor lauter Panik den Verstand.

Mina gab sich einen Ruck und verbot sich, noch länger darüber nachzudenken. Schließlich war sie nicht wie ihre Mutter, die stundenlang weinend dasaß und die Hände rang. Handeln, lautete die Devise. Und der Mann, der bewusstlos auf dem Boden lag, sollte ihr eigentlich helfen, einen Ausweg aus dem Dilemma zu finden. Mr Monroe beabsichtigte ebenfalls, mit ihrem Stiefvater ins Geschäft zu kommen. Er war gebürtiger Amerikaner, aber in seinen Adern floss pures irisches Blut – ein Vorteil, dem Bonham nichts entgegenzusetzen hatte, der in Singapur das Licht der Welt erblickt und lediglich einen englischen Vater vorzuweisen hatte. Würde Monroe also ihren Stiefvater für sich einnehmen können, oder würden sie dabei ertappt werden, wie sie sich im Korridor küssten, dann verlöre Bonham vielleicht das Interesse an ihr. Zumindest hoffte Mina, dass sein Stolz das von ihm verlangen würde.

Geistesgegenwärtig schlug Mina einen Nutzen aus dem Umstand, dass alle sie anstarrten. »Es könnte Typhus sein. Oder die Cholera. Was denken Sie?«

Allein der Hinweis auf eine ansteckende Krankheit reichte aus, die Gentlemen zurückweichen zu lassen. Mit Ausnahme von Bonham, der genau wie Collins ein gutes Gespür für die subtileren Formen der Aufmüpfigkeit hatte und deshalb lediglich die Augen zusammenkniff.

Eine Hand legte sich um ihren Arm. Collins zog Mina mit derselben Achtlosigkeit herum, wie er einen jungen Hund am Genick packen würde. »Was ist passiert?«, brummte er, während er aus blutunterlaufenen Augen auf den am Boden liegenden Monroe stierte.

Mina fand, dass der Anblick eigentlich für sich selbst sprach, aber Collins stellte oft Fragen, auf die er eine Antwort verlangte. »Er ist zusammengebrochen, Sir«, sagte sie.

»Zusammengebrochen? Ohne Vorwarnung?«

Es kam nur selten vor, dass er ins Irische verfiel. Vermutlich hatte er im Kartenzimmer reichlich dem Alkohol zugesprochen. Meist sprach er ein breiteres Amerikanisch als sie selbst. Wegen der ausgedehnten Reisen um den Globus in Minas Kindheit und der vielen, von ihrer Mutter handverlesenen britischen Kindermädchen war ihre Aussprache eher verwischt.

Mina überlegte genau, ehe sie antwortete: »Sein Gesicht war leicht gerötet.« Aus den Augenwinkeln sah sie, dass Jane zu ihnen kam und dass zwei stämmige Diener ihr folgten. »Wenn Sie wollen, sorge ich dafür, dass er in sein Zimmer gebracht wird.«

Bonham erhob sich. »Vielleicht wäre es klüger, ihn nach Aberdeen ins Krankenhaus zu bringen. Miss Masters hat recht, womöglich ist er ansteckend.«

Mina blickte zu Jane, die so leicht den Kopf schüttelte, dass nur sie es sah. Es war nicht schwer zu erraten, was mit Monroe im Krankenhaus geschehen würde. Bonham passte es schließlich nicht, dass er um die Gunst Collins’ buhlen musste, und würde mit Sicherheit dafür sorgen, dass eine der Krankenschwestern ihm »aus Versehen« ein falsches Medikament verabreichte.

Mit einer sachten Berührung am Arm sagte sie: »Ich würde mich freuen, wenn ich mich um ihn kümmern dürfte, Vater.«

Für gewöhnlich mochte ihr Stiefvater es, wenn sie ihn so nannte, doch heute Abend, nach dem Streit mit ihrer Mutter, schien er nicht sonderlich erfreut über die Anrede. Unwirsch schüttelte er ihre Hand ab. »Ich verstehe nicht, was ihm zugestoßen sein könnte«, brummte er. »Vorhin schien es ihm doch noch gut zu gehen, oder?«

»Bringt ihn in sein Zimmer«, wies Jane die Diener an.

»Einen Moment noch«, meldete Bonham sich abermals zu Wort und warf Jane einen stechenden Blick zu. »Mit solch einem plötzlichen Anfall ist nicht zu spaßen. Im Krankenhaus wäre er besser aufgehoben. Gesetzt den Fall, er hat etwas Ansteckendes, dann …«

Mina unterbrach ihn mit lauter Stimme. »Mr Bonham, ich muss schon sagen, ich bin schockiert. Mr Monroe ist unser Gast. Sie werden mir sicherlich recht geben, dass es unsere christliche Pflicht ist, uns nach bestem Wissen und Gewissen um ihn zu kümmern.«

Minas Strategie ging auf: Wie ein Hahn in Kampflaune plusterte Collins sich auf. Erzürnt ließ er den Blick über die Menge schweifen, falls noch jemand es wagte, seine Gastfreundschaft infrage zu stellen. »Mina hat recht«, donnerte er. »In meinem Haushalt wird kein hilfebedürftiger Gast der Tür verwiesen. Wenn Sie sich nützlich machen wollen, Bonham, dann verständigen Sie Dr. Sullivan.«

»Aber gern doch«, murmelte Bonham und deutete eine Verbeugung an.

»Er hält sich in Little Hongkong auf«, sagte Dr. Sullivans Sohn. »Er wurde an das Wochenbett von Mrs Harlock gerufen.«

»Dann schicken Sie eben einen Boten. Und sorgen Sie dafür, dass die Musiker weiterspielen.« Mit diesen Worten drehte Collins sich um. Für ihn war die Angelegenheit um Monroe beendet. Solange es noch irgendwo Alkohol und ein Kartenspiel gab, würde sein Mitleid warten müssen.

Als die Diener Mr Monroes schlaffen Körper davontrugen, nahm Jane Mina beim Ellbogen. »Mr Bonham dürfte nicht sonderlich erfreut sein«, murmelte sie. »Bist du sicher, dass du das Risiko eingehen willst, ihn zu kränken?«

Mina nickte, wenngleich die Frage so nicht ganz richtig gestellt war. Das Ganze hatte nichts mit einem Risiko zu tun – schon gar nicht, wenn man keine andere Wahl hatte.

2

Nur ein schmaler Lichtschimmer drang unter der Tür zum Zimmer ihrer Mutter hervor. Ohne anzuklopfen drückte Mina leise den Griff herunter, der sofort nachgab. Harriet Collins saß in der Fensternische, die Beine untergeschlagen, das Gesicht gen Nachthimmel gerichtet. Das helle blonde Haar fiel ihr bis über die Schultern und ließ dabei ihren schlanken Hals und die weichen Konturen ihres Kinns frei. So, wie sie dasaß, nur mit Nachthemd und Morgenrock bekleidet, wirkte sie ungemein jung. Fast so jung wie das Konterfei, das Mina allmorgendlich im Spiegel erblickte.

Reflexartig verkreuzte Mina die Finger. Niemals. Sie würde nie und nimmer derart gebrochen aussehen, und das nur, um einem Mann zu gefallen. An einer derartigen Liebe hatte sie kein Interesse.

Ein kaum hörbares Geräusch musste sie beim Betreten des Raums verraten haben, denn ihre Mutter wandte das Wort an Mina, ohne den Kopf zu drehen: »Sind die Gäste gegangen?«

Die Frage machte Mina stutzig. Es war noch nicht einmal Mitternacht. Sie schaute zum Kaminsims und entdeckte sofort die Lücke an der Stelle, an der für gewöhnlich eine Uhr stand. Sie ließ den Blick durch das Zimmer schweifen. Dort drüben, vor dem Kleiderschrank, lag die Uhr in einem Meer von Scherben, das Ziffernblatt zum Boden gewandt.

Sie sah ihre Mutter an, deren Gesicht keine Regung zeigte. »Nein, noch nicht.« Behutsam zog Mina die Tür ins Schloss. Der Riegel war gut geölt und rastete lautlos ein … Nicht nur die Türriegel, sondern alles in diesem Hause befand sich in vorzüglichem Zustand, war teuer und reich verziert und diente dazu, Collins’ gesellschaftlichen Rang hervorzuheben. In dieser Hinsicht unterschieden Mina und ihre Mutter sich kein bisschen von dem Seidenteppich unter ihren Füßen. »Das kann auch noch einige Stunden dauern.«

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