Eine nächtliche Begegnung - Meredith Duran - E-Book

Eine nächtliche Begegnung E-Book

Meredith Duran

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Beschreibung

Als Nell Whitby nachts in das Haus eines Earls einbricht, begegnet sie dort dem attraktiven Simon St. Maur. Dieser hält sie für eine reiche Erbin, die seit Jahren vermisst wird. Da er selber zwar einen Adelstitel, aber kein Geld hat, versucht er, Nell zu einer Heirat zu bewegen ... und verliebt sich gegen seinen Willen in die hübsche junge Frau.

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Seitenzahl: 545

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MEREDITH DURAN

Eine nächtliche

Begegnung

Roman

Ins Deutsche übertragen von

Inka Marter

Zu diesem Buch

Die junge Nell Whitby ist in den Armenvierteln Londons aufgewachsen. Eines Tages erfährt sie von ihrer todkranken Mutter, dass sie die Tochter des Earls von Rushden ist. In ihrer Not schreibt Nell einen Brief an den Lord, mit der Bitte um Geld für einen Arzt. Doch sie erhält keine Antwort, und ihre Mutter stirbt schon bald darauf. Voller Zorn bricht Nell in das Anwesen des Earls ein, um ihn zur Rechenschaft zu ziehen. Doch der Mann, den sie dort vorfindet, ist nicht der, den sie erwartet hat. Der attraktive Simon St. Maur, der splitterfasernackt vor der Mündung ihrer Pistole steht, ist ein entfernter Verwandter des verstorbenen Earls, der dessen Titel geerbt hat. Und er ist offensichtlich wahnsinnig, behauptet er doch, sie sei kein uneheliches Kind, sondern die rechtmäßige Erbin des steinreichen Rushden. Er bietet ihr die Chance, der Armut zu entkommen – wenn sie seine Frau wird. Mit ihrem Erbe könnte er seinen finanziellen Ruin abwenden. Obwohl Nell Leute wie ihn zutiefst verachtet, willigt sie ein – erwarten sie zu Hause doch nur Gewalt und Elend. Fortan setzt der Earl alles daran, eine Lady aus ihr zu machen. Für beide keine leichte Aufgabe, denn obwohl sie entschlossen sind, die ganze Angelegenheit rein geschäftlich zu betrachten, können sie die Leidenschaft, die zwischen ihnen entbrennt, bald nicht mehr verleugnen.

1

Als das Schrillen der Glocke verstummte, war Nell bereits zur Tür hinaus. Sie wusste, dass sie nicht drängeln sollte. Ein- oder zweimal hatte es eine Panik gegeben und jemand war verletzt worden, hatte sich einen Arm oder ein Bein gebrochen. Aber sie konnte einfach nicht langsamer gehen. Seit ihre Mutter immerzu keuchte, fiel auch Nell das Atmen schwerer. Der heftige Gestank in der Fabrikhalle wurde immer unerträglicher, und sie musste beim Rollen der Zigarren ständig husten. Am Ende des Tages kam es ihr beinahe so vor, als wäre nicht mehr genügend Luft vorhanden, um ihre Lungen zu füllen.

Hier draußen im trüben Licht der Dämmerung roch es schwefelig nach Kohlenrauch, aber wenigstens gab es Luft zum Atmen, und darauf kam es an. Nell schlängelte sich durch das Menschengewühl: Junge Frauen blieben stehen, um sich ihre Kopftücher umzubinden, den Burschen aufreizende Bemerkungen zuzurufen und zu schwatzen, als gäbe es dafür keinen schöneren Ort als diese abscheuliche, stinkende Fabrik. Vielleicht gab es den tatsächlich nicht.

Endlich hatte sie das Gedränge hinter sich gelassen. Erleichterung überkam sie, und gleichzeitig hob sich ihre Stimmung. Das war das Gute daran, in einer Fabrik zu arbeiten: Jeder Tag hatte ein glückliches Ende. Gerade wollte sie sich erschöpft an eine Mauer lehnen, als jemand sie am Ellbogen packte.

Sie riss sich los und sah plötzlich Hannah vor sich stehen.

»Du hast mich zu Tode erschreckt!«, keuchte Nell.

Hannahs blasses, sommersprossiges Gesicht strahlte vor Aufregung. »Du bist eine solche Gans, Nellie. Wie hoch ist dein Lohn diese Woche?«

Nell blickte sich nach Lauschern um. »Neunzehn Schilling.« Von der gebeugten Haltung über dem Arbeitstisch war ihr Nacken furchtbar verspannt, und die schmerzenden Finger würden sie die ganze Nacht wach halten, aber neunzehn Schilling hatte sie noch nie geschafft.

Wenn ihr Stiefbruder Michael sich seinen Anteil nahm, würden sie allerdings auf zehn Schilling zusammenschrumpfen. Nicht genug, um einen guten Arzt zu holen und trotzdem noch das Essen für nächste Woche zu bezahlen.

Hannah machte ein langes Gesicht. »Ich hab nur fünfzehn.« Normalerweise schlug sie Nell um fünf Schilling, ihre Hände waren geschickter. »Die Sache gestern hat mich erledigt. Ich kam richtig gut voran, aber dann bekam die Vorarbeiterin einen Anfall, und ich musste den halben Stapel wieder auseinanderrollen. Ach, egal.« Sie strich sich das honigblonde Haar aus der Stirn und wackelte dann mit den Fingern. »Wie findest du meine Handschuhe? Hab ich in Brennans Trödelladen gefunden. Haben mich zwei Tageslöhne gekostet, aber sie sind aus echtem Ziegenleder, hat er gesagt.«

»Oh, sie sind wunderschön.« Eigentlich waren sie zwischen den Fingern eingerissen, und das weiße Leder war abgenutzt und schäbig. An Hannahs Stelle hätte Nell das Geld für etwas Vernünftiges ausgegeben. Zum Beispiel für gute, robuste Wolle. Einen neuen Kessel. Etwas frisches Obst – oh mein Gott, beim Gedanken an einen knackigen Landapfel lief ihr das Wasser im Mund zusammen.

Allerdings hatte Nell Frostbeulen, und Hannah nicht. Wer war also klüger?

Sie nahm Hannahs Arm und zog sie mit sich den Gehsteig entlang. »Zeig sie nicht deinem Vater.« Wenn Garod Crowley herausfand, dass seine Tochter ein paar Münzen für sich behalten hatte, würde es furchtbaren Krach geben.

Hannah lachte. »So dumm bin ich nicht!«

Ein Bursche kam ihnen entgegen und machte ihnen schöne Augen. Nell kannte ihn nicht, also warf sie ihm einen abweisenden Blick zu, damit er weiterging. Er zwinkerte ihr noch kurz zu, bevor er vorbeiging, aber Nell fiel nicht darauf herein – obwohl sie rot wurde: Er hatte Hannah bewundert. Mit dem herzförmigen Gesicht und den großen, samtbraunen Augen war Han in den letzten beiden Jahren gefährlich hübsch geworden.

»Ach übrigens, Nelly – kommst du heute Abend zum GFS?«

Nell hatte die Zusammenkunft ganz vergessen. Die Damen der Girls Friendly Society, eines Hilfsvereins, der Arbeitermädchen unterstützte, neigten zwar dazu, die Mädchen zu belehren und auf unangenehme Weise in ihren Privatangelegenheiten herumzuschnüffeln. Aber sie besaßen großartige Bücher und liehen sie jedem Mädchen, das sich ihnen anschloss. »Ich wünschte, ich könnte«, sagte sie. Aber Mum ist zu krank, um sie allein zu lassen. Die Mixturen des letzten Quacksalbers haben es nur noch schlimmer gemacht.

»Du musst kommen! Es wird Tee geben!«

»Ich weiß. Wie schön.« Eine gute Tasse Tee hätte Nell wirklich genossen. Dieser Tage konnte sie sich eigentlich keinen leisten, weil sie sparen musste.

Der Gedanke daran dämpfte ihre Stimmung. Sie konnte sparen, so viel sie wollte, sie kriegte nie schnell genug das nötige Geld zusammen. Währenddessen ging es Mum fast stündlich schlechter.

»… es gibt auch Geschenke«, plapperte Hannah weiter. »Du musst unbedingt zur Zusammenkunft kommen!«

»Was bleibt mir denn übrig? Suzie hat heute Nacht Schicht im Motts, und Mum kann nicht allein bleiben.«

Hannah warf ihr einen durchtriebenen Blick zu. »Soll Michael mal auf deine Mutter aufpassen!«

Nell hätte beinahe laut losgelacht. Das wäre ein wahres Wunder. Seit Mum zu krank zum Arbeiten war, wollte Michael nichts mehr mit ihr zu tun haben. Auf einmal erinnerte er sich daran, dass er nur ihr Stiefsohn war. »Bestimmt will er Suzie Gesellschaft leisten.« Er liebte die halbseidene Atmosphäre des Clubs, wo seine Frau hinter der Theke stand, genauso wie den feinen Likör, den Suzie ihm zuschob, wenn sie dort arbeitete.

Er liebte auch Suzies Lohn. Jeden einzelnen Penny riss er sich unter den Nagel, Suzie behielt gar nichts. Nell konnte nicht auf ihre Hilfe zählen.

Einen Geldverleiher brauchte sie. Zwar verliehen die nicht gern an Frauen, aber vielleicht könnte Michael etwas an ihrer Stelle leihen.

Aber würde Michael ihr das Geld geben, wenn er es einmal hatte? Er teilte nicht gern. Letztes Jahr war er zu einem hübschen Geldsegen gekommen, allerdings hatte er jeden Penny davon seinem politischen Club gespendet … Mit Politik hatte er inzwischen nichts mehr am Hut, jedoch sorgten Glücksspiel und Gin dafür, dass seine Taschen leer waren. Falls er ein Darlehen aufnähme und sich weigerte, ihr etwas davon zu geben … Nell wusste nicht, was sie dann noch tun sollte.

Aber eigentlich wusste sie es. Sie wusste ganz genau, wie sie ihre Probleme lösen konnte. Michael würde ihr mit der größten Bereitwilligkeit dabei helfen. Aber das konnte sie nicht. Allein beim Gedanken daran wurde ihr kalt bis ins Mark und speiübel. »Ist die Schüssel zerbrochen, wirft man die Scherben fort«, pflegte Mum immer zu sagen.

Aber Mum sagte auch, dass man nur beten müsste. Bloß weil Nell nicht daran glaubte, war sie noch lange keine Heidin.

Unglücklich sah sie Hannah an. Schon als Kinder hatten sie im gleichen Haus gewohnt, waren zusammen zur Schule gegangen, hatten an Sonntagnachmittagen auf der Straße Unfug getrieben. Nie hatten sie Geheimnisse voreinander gehabt. Aber in letzter Zeit war das anders. Über manche Dinge konnte Nell aus Scham nicht mit ihr sprechen. Mein Stiefbruder will eine Hure aus mir machen. Wie sollte eine junge Frau so etwas über die Lippen bringen? Und welchen Sinn hatte es auch? Hannah könnte ihr nicht helfen, sie hätte höchstens Mitleid mit ihr.

Wobei ein wenig Mitleid sich gerade ganz wunderbar anhörte. Nell nahm all ihren Mut zusammen. »Han, ich muss dir etwas …«

»Oh, sieh nur!« Hannah ließ ihren Arm los und rannte auf ein Schaufenster zu. Die Gaslampen im Fenster erleuchteten eine Reihe von Fotografien.

Nell atmete aus. Sie war erleichtert. Sie würde es schon allein schaffen.

Zu ihrer Überraschung musste sie trotzdem ein paarmal fest blinzeln, um die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken. »Ich muss mich beeilen.«

»Ach, komm schon. Nur ganz kurz.«

Seufzend ging Nell zum Fenster hinüber. Es war die allerneueste Tollheit, Fotografien von Schönheiten der feinen Gesellschaft zu erwerben. Michael hatte sich ein paar davon zu Hause an die Wand geheftet, Ladys in protzigen Abendkleidern und mit Diademen auf dem Kopf. Manchmal, wenn Nell Schellfisch über dem Feuer briet, ertappte sie sich dabei, wie sie sie anstarrte. Sie sahen aus wie Puppen, mit schmalen Taillen, so sanft gewelltem Haar. Wenn Nell im beißenden Fischgestank stand, konnte sie kaum glauben, dass diese Geschöpfe in derselben Welt existierten, zur selben Zeit, kaum ein paar Meilen entfernt. Sie kamen ihr so unwirklich vor, als lebten sie weit weg auf dem Mond.

»Die da kenne ich!« Hannah drückte einen Finger gegen die Scheibe und zeigte auf ein hübsches Mädchen in einem dunklen Brokatkleid mit Seidenrosen. »Lady Jennie Churchill, steht das da?«

Vor der Fotografie lag ein kunstvolles Schild, das mit Schreibschrift bedeckt war. Nell warf einen kurzen Blick darauf. »Stimmt genau.«

»Sie ist die Amerikanerin, die den Sohn des Duke of Marlborough geheiratet hat. Er hat die Syphilis!«

Nell zuckte mit den Achseln. »Wer mit Hunden zu Bett geht, steht mit Flöhen auf.«

»Nee, so feine Pinkel gehen nicht zu Straßendirnen. Die halten ihre Mädchen erstklassig aus. Richten einer ’ne protzige Wohnung in St. John’s Wood ein, sogar mit eigener Kutsche und Fahrer.«

»Und woher willst gerade du das wissen?«

»Die Leute reden halt.«

Bei diesen Worten zog sich Nells Magen zusammen. Die Leute redeten. Zum Beispiel warfen sie ihrer Mutter vor, dass sie Nell über ihrem Stand erzogen habe und sie deshalb eingebildet sei. Falls sie den Weg beschritt, zu dem Michael sie drängte, würden sie sich bis in alle Ewigkeit daran weiden. »Sie reden Unsinn, nichts weiter.«

»Komm schon, ärger dich nicht! Ein richtiger Gentleman ist nicht so wie die Männer auf der Straße. Nein, ganz bestimmt ist das nur Tratsch über seine Lordschaft.« Hannah runzelte die Stirn und klopfte mit dem Finger an die Glasscheibe. »Trotzdem. Die Arme. Hoffentlich steckt er sie nicht an.«

»Arm ist sie nicht gerade«, murmelte Nell. »Mit den Diamanten um ihren Hals könnten wir beide zusammen fünf Jahre lang Miete und Essen zahlen.«

»Hm.« Hannah schwieg und betrachtete die übrigen Bilder. Sie zeigte auf eine Fotografie weiter unten in der Reihe. »Schau diese an. Die ist hübsch, oder?«

»Affig. Gib mir einen Haufen Geld, und ich bin auch hübsch.« Nell warf einen besorgten Blick auf die Straße. Die Menge lichtete sich schon. Sobald alle fort waren, war es hier nicht mehr sicher.

»Und hey, sie sieht dir ganz schön ähnlich! Ehrlich, Nell, guck mal!«

Kamen diese Männer da mit konkreten Absichten auf sie zu, oder liefen sie zufällig die Straße entlang? »Gott bewahre mich davor, wie eine Porzellanpuppe auszusehen!«

Hannah kicherte. »Ach, du bist nur eifersüchtig, weil Dick Jackson neulich ein Foto von ihr herumgezeigt hat.«

Nell erkannte einen der Jungen, ein guter, frommer Kerl. Erleichtert wandte sie sich wieder Hannah zu. »Ich habe nichts mit Dickie Jackson zu tun und werde das nicht noch einmal sagen. Er verbringt mehr Zeit im Wirtshaus als bei der Arbeit, und das ist Grund genug. Für mich ist er erledigt.«

»Aber was ist dann los? Findest du sie wirklich nicht schön? Gib wenigstens zu, dass sie dir ähnlich sieht!«

Nell seufzte. Es war kalt hier draußen, und nicht jeder hatte Handschuhe. Aber da war etwas in Hannahs Gesicht, sie sah so sehnsuchtsvoll und ehrfürchtig aus, dass Nell sich schäbig vorkam. Wenn Hannah Freude an diesen albernen Bildern hatte, dann konnte sie noch ein bisschen bleiben.

Sie legte ihre Hände vor den Mund und blies, die Wärme ihres Atems brannte an den Frostbeulen. »Doch, du hast recht. Sie ist wirklich bildhübsch.«

»Jetzt guck sie wenigstens an, bevor du das sagst! Und sag mir, wie sie heißt.«

Seufzend richtete Nell ihre Aufmerksamkeit auf das Schild unter der Fotografie. »Lady Katherine Aubyn, Tochter des Earl of Rushden.« Sie ließ ihren Blick über das Foto wandern und erschrak. »Aber …«

»Lady Katherine«, wiederholte Hannah sanft. »Komisch, dass sie dir so ähnlich sieht.«

Nells Hand zitterte ein wenig, als sie sich ans Kinn fasste. Auch Katherine Aubyn hatte hier ein Grübchen. Ihr Kiefer war ebenso schroff und kantig, ihre Nase genauso lang und schmal und ihre Augen standen ebenfalls weit auseinander.

Ein Kribbeln lief Nell den Rücken hinunter. Das Mädchen sah wirklich aus wie sie. Wie war das möglich? Sie wusste, dass sie nicht schön war, aber dieses Mädchen hatte genau das gleiche Gesicht und sah perfekt aus, ohne jede Falte oder einen anderen Makel. Fast als wäre sie nicht real. Die Fotografie war wie ein Zauberspiegel – Nell sah darin ein anderes Leben, in dem sie reich war, in dem Dienstmädchen Seidenbänder in ihr braunes Haar flochten und ihr teure Perlen um den Hals legten, bevor sie für ein Porträt posierte.

Lady Katherine zeigte ein müdes Lächeln. Es schien breiter zu werden, während Nell sie anstarrte. Mit meinen Perlen könnte ich tausend Arztbesuche bezahlen, sagte das Lächeln.

Sie bekam eine Gänsehaut. »Was glaubst du, warum du ihr so ähnlich siehst?«, fragte Hannah.

Nell zog das Tuch fester um sich. Hexerei. Dieses Mädchen hatte ihr Gesicht gestohlen und machte viel mehr daraus. »Langweilig«, sagte sie mit schneidender Stimme. »Sie ist langweilig, so. Keine einzige Falte in ihrem Gesicht. Glaubst du, dass sie jemals furzt, oder hat sie auch dafür ihre Dienstmädchen?«

Hannah lachte. »Mit so viel Geld muss sie gar nicht interessant sein!«

Nell rang sich ein Lachen ab. »Stimmt. Ihr Daddy kauft ihr einen Ehemann, wenn sie selbst keinen findet.«

Irgendwie wurde ihr übel beim Anblick dieses Bildes. Sie hakte sich bei Hannah unter und zog diese mit sich fort.

Ihre Freundin warf einen verlorenen Blick zurück auf das Schaufenster. »Stell dir vor, Nell, wenn man dich hier sehen könnte! Wenn Männer für dein Bild bezahlen würden!«

»Oh Gott, bloß nicht!« Ihre Stimme klang fest genug. »Ich will wirklich nicht, dass Dickie Jackson sich mein Gesicht in die Tasche steckt.«

Hannahs Lachen klang zuerst überrascht, dann traurig, bevor es verstummte. »Oh, Nell. Jetzt aber im Ernst. Wie das wohl wäre? Ein Haufen Geld. Nie wieder Sorgen.«

Nell konnte es sich nicht vorstellen. Aber sie wusste, was für eine Quälerei es war, wenn man zu oft an so etwas dachte. »Das sind zwei verschiedene Paar Schuhe, Han. Reiche Frauen haben nur andere Sorgen.« Das musste einfach wahr sein. Jeder Mensch hatte ein Herz und eine Sorge, die schwer auf ihm lag.

»Ach ja? Ich hätte auch gern solche Sorgen!« Hannah löste ihren Arm von Nell und wirbelte einmal um die eigene Achse. »Oh Mylord, soll ich heute Nacht das Diadem mit den Diamanten oder lieber das mit den Smaragden tragen? Das Kleid aus Samt oder Seide?« Sie klapperte mit den langen dunklen Wimpern und machte einen albernen Knicks. »Oh, Ihr wollt mir noch mehr Geld geben? Ob ich wohl damit auskomme?«

Nell fühlte sich noch etwas benommen, als wäre die verdammte Fotografie aus dem Rahmen gesprungen und hätte ihr eine Ohrfeige verpasst. »Ach, Ihr habt diese ekelerregende Krankheit von einer Eurer Huren mitgebracht?«, gab Nell zurück. »Zu freundlich, Mylord!«

Hannah stemmte die Fäuste in die Hüften. »Das war nur Spaß! Aber ernsthaft, du musst doch neugierig sein. Gib es zu.«

Nell runzelte unwillkürlich die Stirn. »Es ist Zeitverschwendung, sich nach etwas zu sehnen, das man nicht haben kann. Das ist nicht der Weg zum Glück.«

»Glück?« Das Mädchen verzog den Mund zu einem höhnischen Grinsen. »Bin ich etwa glücklich? Mit diesen abgewetzten Handschuhen, die bestimmt eine feine Dame ihrem Dienstmädchen gegeben hat und das wieder dem Küchenmädchen, bevor sie bei Brennan gelandet sind!«

Nell erschrak kurz: So ein Ausbruch passte gar nicht zu Hannah. Aber warum nicht? Vielleicht hatte Hannah nicht so große Sorgen wie Nell, aber auf keine von ihnen wartete eine Zukunft voller Perlen und Luxus.

Inzwischen war Nebel aufgekommen, hing in düsteren, schmutzigen Wolken über dem unregelmäßigen Kopfsteinpflaster. Licht und Geräusche um sie herum waren gedämpft, und die feuchte, kalte Luft kündigte Regen an. Irgendwo in dieser Stadt hatte Lady Katherine es warm und behaglich, aber hier draußen verhieß es eine scheußliche Nacht zu werden, die für eine unglückliche Seele mehr als genügend Kummer bereithielt.

Gott möge uns beide schützen.

Nell band sich das Tuch fester um den Kopf und streckte die Rechte mit den aufgesprungenen roten Fingerknöcheln aus. »Falls du die Handschuhe wegwirfst, ich hätte Verwendung dafür.«

Hannah starrte sie an. Sie presste die Lippen zusammen und verbarg ein Gefühl, das Nell lieber nicht erraten wollte. »Tut mir leid, Nellie. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist.«

»Oh, ich weiß es schon«, sagte Nell sanft. »Ach Hannah, natürlich denke ich auch darüber nach.« Gott im Himmel, in letzter Zeit viel zu oft. Sie konnte kaum schlafen bei all diesen Gedanken. »Aber es ist dumm, sich damit zu beschäftigen. Es tut nur weh.«

Diese Fotografie schien fast wie ein böses Omen. Es gab nur eine begrenzte Menge Glück auf dieser Welt, und das Mädchen mit Nells Gesicht hatte den Anspruch auf ihren Anteil schon geltend gemacht.

Abergläubischer Unsinn, dachte sie. Und sagte: »Denk an die schönen Dinge, Han.«

Hannah atmete tief ein und lächelte sie dann resolut an. »Du hast ja recht.« Sie hakte sich wieder bei Nell unter. »Komm, mein Schatz. Wir sollten besser die Beine in die Hand nehmen; das wird hier gleich eine Waschküche.«

Hannahs Finger sagten etwas anderes als ihr Lächeln. Sie gruben sich so fest in Nells Arm, dass es fast wehtat. So fest, dass Nell sich Sorgen machte, obwohl sie wirklich schon genug ertragen musste. Sie öffnete den Mund, besann sich dann aber eines Besseren. Ich denke ununterbrochen daran, hätte sie vielleicht gesagt. Es ist so ungerecht und liegt mir schwer auf dem Herzen wie ein Stein, wie ein glühend heißer Stein.

Aber was hätte Hannah davon gehabt? Sie brauchte ein Vorbild – jemanden, der ihr zeigte, dass man akzeptieren musste, was nicht zu ändern war. Man musste es akzeptieren; sonst breitete sich das Feuer in der Brust aus und man verbrannte von innen. Nell spürte bereits, wie das mit ihr geschah. Sie hatte gesehen, wie es mit ihrem Stiefbruder geschehen war. Letzten Herbst hatte Michael gewettert und getobt und wollte die Welt verändern. Er hatte sich den Sozialisten angeschlossen und dabei geholfen, über tausend Mann zu versammeln. Sie waren durch den Hyde Park marschiert, hatten Slogans gerufen und nach Gerechtigkeit verlangt.

Und was hatte es ihnen gebracht? Den Zorn der Polizei. Gebrochene Rippen und zerschmetterte Nasen. Ein paar Tage lang waren sie in den Zeitungen gewesen … und dann war es vorbei. Die Snobs hatten sich wieder ihren Teegesellschaften gewidmet, und Michael hatte zum Gin gegriffen.

Nein. Solche Ideen sollte man besser vergessen.

»Das mach ich«, sagte Hannah und Nell schrak zusammen. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie den letzten Satz laut ausgesprochen hatte. Doch sie hatte das Richtige gesagt, denn Hannahs Griff lockerte sich. Sie schenkte Nell ein richtiges Lächeln und stimmte eine Ballade an, die gerade auf der Straße die Runde machte. Nell fiel ein, und zusammen liefen sie in flottem Tempo nach Hause.

In der Nacht wurde Nell von dem Geräusch von Schritten geweckt, die direkt neben ihr aufhörten. Als sie die Augen öffnete, sah sie drohend über sich gebeugt Michaels dunkle Gestalt. Keine Armeslänge entfernt ließ Mum einen feuchten, erstickten Atemzug hören.

»Es ist aus mit ihr«, sagte Michael. »Hörst du sie röcheln?«

Hundertmal hatte er das schon gesagt. Sie roch Gin an ihm. Die Dielen knarrten unter seinen Füßen, als er taumelte.

Sie stützte sich auf den Ellbogen. »Wo ist Suzie?«

»Wo ist Suzie«, äffte er sie nach. »Wo zum Teufel soll sie schon sein?«

Zu ihrer Rechten hörte sie ihre Mutter murmeln. Sag nichts, beschwor Nell sie still. Schlaf weiter. Sie hatte Suzie früher am Abend gesehen – mit einem blauen Auge und rotem, verweintem Gesicht. Obwohl Michael eine Weile ohne Alkohol auskam, war niemand wirklich froh darüber. Seine Abstinenz endete ausnahmslos in einem tagelangen Besäufnis.

Wenn er Streit suchte, konnte er den im hinteren Zimmer haben. Mum brauchte ihren Schlaf.

Nell schob die Decke beiseite und stand auf. Sie spürte ein Kribbeln im Nacken, als sie hinter ihm herging.

Ein dünnes Laken trennte die beiden Räume. Auf der anderen Seite stand eine Petroleumlampe auf dem kleinen Tisch neben der Herdstelle. Nell tastete nach den Streichhölzern, um die Lampe anzuzünden.

Doch Michael packte sie plötzlich am Handgelenk und riss sie herum. Seine heiße, feuchte Hand war doppelt so groß wie ihre. »Hör auf«, sagte er. »Mach bloß kein Licht. Sonst muss ich dein hässliches Gesicht sehen.«

»Ist gut«, flüsterte sie. Mum sagte, in ihm wohne ein Dämon, der sich vom Alkohol ernähre. Nell hörte meistens nicht zu, wenn sie von Teufeln fantasierte, aber in Nächten wie dieser konnte man leicht an so etwas glauben.

Mit der freien Hand tastete sie hinter sich nach der langen Eisengabel, mit der sie Würste über dem Feuer grillte. Sie lag gut in der Hand, ein solides, beruhigendes Gewicht. Nell hatte die Zinken vor einer Woche geschärft.

»Wo ist Suzie?«, fragte sie wieder. Lieber Gott, lass sie nicht tot sein. Wenn ein Mann erst einmal anfing, die Fäuste zu gebrauchen, hörte er meistens nicht wieder auf. Eines Tages würde Michael bei einer von ihnen zu hart zuschlagen, fürchtete sie.

»Im Motts.« Sein Lachen war leise und gemein. »Sie macht den Männern schöne Augen, wie immer. Macht mich krank, sie zu sehen.«

Nell wünschte, sie könnte sein Gesicht erkennen. Er kam nach ihrem Stiefvater. Sein Teint war schmutzig braun, aber er war gut gebaut, ein Boxer, gut aussehend und stolz darauf. Solange er nicht die Beherrschung verlor, würde er sich nicht erlauben zu grinsen oder den Mund zu verziehen. Wenn sie ihn nur sehen könnte. Dann wüsste sie genau, wann sie die Gabel gebrauchen musste. »Das ist Teil ihrer Arbeit, Michael. Sie verdient gutes Geld.«

»Ja, oder? Ich frage mich, warum sie so viel bekommt. Und ich glaube, ich weiß es.«

»Ich weiß nur, dass sie dich liebt.« Bedauerlich, aber wahr. Suzie war ein hübsches Mädchen mit einem Dutzend Verehrern gewesen. Fast jeder von ihnen hätte sie besser behandelt als Michael. Wie zahllose Frauen vor ihr hatte sie ihr Glück weggeworfen und war ihrem törichten Herzen gefolgt. Wenn Nell heiratete, würde sie ihren Mann nach besseren Kriterien auswählen: Freundlichkeit, Anständigkeit, ein solides Dach, das ihr einen Unterschlupf bot. Ein Mann, der sie mehr liebte als sie ihn: Das war der sicherste Weg zum Glück.

»Klar, sie liebt mich.« Michael fing zu lallen an, aber der Griff um ihr Handgelenk lockerte sich nicht. »Bist ja fürchterlich besorgt um Suzie! An deiner Stelle wäre ich um mich selbst besorgt.«

»Das bin ich, sobald ich Grund dazu habe.« Wahrscheinlich war sie die Einzige in dieser Wohnung, die halbwegs klar dachte.

»Ich denke, du hast Grund genug. Ich habe von deinem kleinen Gespräch mit der Vorarbeiterin gehört. Was für beeindruckende Ideen du doch hast!«

Nell hielt den Atem an. Sprachen die Leute etwa darüber? Sie hatte Mrs Plimpton nur gebeten, mit dem Fabrikbesitzer über ein paar Fenster für die Halle zu sprechen. Viel Gutes war nicht dabei herausgekommen – die Frau hatte sich schiefgelacht. Du wirst nicht fürs Atmen bezahlt, hatte sie gesagt. Zurück an die Arbeit.

»Es hat niemandem geschadet«, flüsterte sie. »Nur ein kurzes Gespräch.«

»Du bist eine Närrin. Glaubst du, es schert sie, ob du es bequem hast? Was, glaubst du, bist du in ihren Augen? Genauso ein Stück Schlachtvieh wie all die anderen.«

Die Bitterkeit in seiner Stimme traf Nell. Seine ganze Geschichte klang darin mit, und das besänftigte sie ein wenig. Vor dem Gefängnis hatte er eigene Vorstellungen davon gehabt, was Arbeitern zustand. Er hatte sein Geld in den Kampf für Reformen investiert und nichts als Elend und Kummer zurückbekommen. Sie konnte verstehen, wenn er es für dumm hielt, ihm nachzueifern.

»Ich werde nichts mehr sagen«, sagte sie. »Aber ich habe recht, Michael. Mum ist von der Luft in der Fabrik krank geworden. Und es wäre so einfach, das zu ändern …«

Seine Nägel bohrten sich in ihren Arm. »Geht mich das was an?«

Nell packte die Gabel fester. Wenn sie ihn wirklich stechen müsste, würde es eine hässliche, lange Nacht werden. »Nein.«

»Sobald sie dich rauswerfen, geht es mich was an. Dann mache ich was mit Dickie ab, egal was du davon hältst.«

»Ist gut«, sagte sie monoton.

»Er hat heute auf der Straße nach dir gefragt. Hatte zehn Schilling in der Hand. Meinte, er gibt sie genauso gern für dich aus wie für ein anderes Mädchen.«

Die Dunkelheit fühlte sich an wie eine Hand, die sich auf ihren Mund presste und ihr den Atem abdrückte. Verdammter Dickie Jackson. Er wusste genau, was er mit solchen Reden anrichtete. Als würde er mit einem roten Tuch vor einem Stier herumwedeln. Er hielt sich für so clever, Michael mit dem Geld zu ködern. Glaubte, es wäre nur eine Frage der Zeit, bis ihr Stiefbruder sie dazu zwang.

Aus dem anderen Raum kam ersticktes Husten. Oh Gott, lass sie nicht aufstehen. Lass sie zu schwach sein zum Aufstehen. »Ich habe diese Woche das Doppelte verdient.« Ihre Stimme klang heiser. Ihr Handgelenk pochte.

»Aber du könntest zehn Schilling in einer Viertelstunde machen. Hältst dich für zu gut, was? Glaubst, du bist was Besseres als wir anderen. Was Besonderes.«

Nell schluckte. In letzter Zeit hatte sie selbst manchmal darüber nachgedacht. So viele Mädchen, die sie kannte, hatten an der Mauer schnelles Geld verdient. Warum sollte es ihr anders ergehen? Sicher, sie konnte lesen und schreiben und hatte hart gearbeitet, um etwas zu lernen, aber das machte sie nicht zu etwas Besonderem. Hungernde Menschen waren alle gleich. Und am Ende mussten alle sterben.

Zehn Schilling in einer Viertelstunde. Keine schlechte Ausbeute.

Aber es ging nicht. Es war nicht mal Logik oder Vernunft, die es ihr verboten, sondern etwas tief in ihrem Inneren und hart wie Diamant. Sie konnte diese Möglichkeit zwar in Betracht ziehen, würde aber niemals einwilligen. Es gab einen anderen Weg. Ihr würde irgendetwas einfallen. Wenn nicht der Geldverleiher, dann würde sie stehlen, bevor sie sich vom verdammten Dickie Jackson flachlegen ließ. »Ich zahle für meinen Schlafplatz hier …«

»Von wegen! Mason unten in der Straße sagt, ich könnte zwölf die Woche für deinen Platz kriegen …«

Wut schoss unangekündigt in ihr empor. »Dein Vater hat versprochen, dass wir hierbleiben können!«

Michael ließ sie los. »Deine verdammte Mutter, nicht du. Und sie stirbt, hörst du’s nicht?«

»Weil du das Geld versäufst, das sie retten könnte!«

Der Schlag kam plötzlich aus der Dunkelheit. Wie ein Blitz fuhr der Schmerz in ihren Kiefer. Nell krachte auf die Dielen. Sie riss die Augen auf und hörte ihr eigenes ersticktes Keuchen. Das raue Holz brannte unter ihrer Wange.

Im Hintergrund rief Mama: »Cornelia! Geht es dir auch gut?«

»Geht es dir auch gut?«, äffte Michael sie nach. »Die verdammte Queen persönlich!«

Nell rührte sich nicht. Das Gehirn schien in ihrem Schädel zu rasseln, aber sie konnte den Kiefer noch bewegen. Gott sei Dank hatte er den Handrücken benutzt, nicht die Faust.

»Ein fester Tritt«, sagte Michael leise. »Mehr braucht es nicht, eingebildete Schlampe.«

Der Schmerz wurde von ihrem Zorn hinweggeschwemmt. Die dumme, nutzlose Gabel, die sie noch umklammert hielt – sie hätte zustechen sollen, als sie noch Gelegenheit dazu hatte.

»Aber du musst Geld verdienen«, fuhr er fort. »Also gewöhn dich dran, auf dem Rücken zu liegen.«

Vorher bringe ich dich um, dachte sie.

Sie sah den Schattenriss seiner breiten Schultern vor dem Vorhang, bevor er ihn rabiat zur Seite zog. Der Stoff riss ab und fiel zu Boden. Seine Schritte stampften über die bebenden Dielen. Angeln quietschten. Die Haustür fiel zu.

Eine zitternde Stimme ertönte im Nebenraum. »Cornelia? Cor…«

Ein Hustenanfall unterbrach sie und brachte Nell dazu, sich aufzusetzen. Der ganze Raum drehte sich um sie. Vorsichtig wischte sie sich das Blut von der Nase. Ihre Wut schmeckte bitter wie Galle. Sie hasste Michael. Und sie hasste Dickie Jackson. Sie hasste Michael so sehr, dass ihr ganz schwindelig und heiß davon wurde. Wütend schleuderte sie die nutzlose Gabel zur Seite.

Nebenan raschelte es. Mum versuchte, sich aufzusetzen.

Nell atmete tief ein. »Mir geht es gut«, sagte sie, zwang sich aufzustehen und eilte am zerrissenen Vorhang vorbei zu ihrer Mutter. »Schsch, Mum, leg dich hin. Mir geht es gut.«

»Nein«, sagte Mum. Ihr ergrauendes Haar umrahmte das dunkle Gesicht wie ein blasser Heiligenschein. »Gott schütze dich. Gott bewahre dich. Gott behüte uns alle …« Sie drehte den Kopf zur Seite, um zu husten.

Nell legte ihr eine Hand auf den Rücken und stützte sie, als sie sich wieder auf die Matratze zurücklegte. »Alles ist gut, Mum. Schlaf wieder ein.«

»Du musst … ihn um Hilfe bitten. Er ist böse, aber er wird dir helfen.«

»Das mache ich«, murmelte Nell. Sie streichelte die heiße, trockene Wange ihrer Mutter. Das Fieber stieg immer zur Nacht.

Mum drehte gereizt den Kopf weg. »Hör mir zu«, sagte sie. »Schreib ihm. Ich hatte gehofft … ich habe es für dich getan, Cornelia. Seine Wollust, er war ein Teufel. Noch verdorbener und hochmütiger als Michael. Wollust und Verderbnis …«

Großartig. Das Letzte, was Mum jetzt brauchte, war einen ihrer Anfälle. »Beruhige dich bitte. Leg dich einfach still hin.«

»Nein.« Die knochigen Finger gruben sich tief in Nells Arm, als bettelten sie um ihre Aufmerksamkeit. »Wappne dich. Bitte Gott, dich zu beschützen. Aber sag ihm, wer du bist. Sag ihm … ich glaubte, dich zu retten. Wollte einen Teil von ihm behalten. Und auch einen Teil von ihm retten.« Mum wurde von einem heftigen Hustenanfall heimgesucht. Ihr schmaler Leib zerbrach beinahe an dem Versuch zu atmen.

»In Ordnung. Das sage ich ihm.« Dieser verfluchte Michael! Und die verfluchten Malloys von oben, die sich in den Kopf gesetzt hatten, dass Mum eine zweitrangige Heilige wäre. Sie bestärkten sie in ihrem Gerede von Dämonen und Engeln und baten ihre Mutter, Fürsprache für sie zu halten. »Mum, du musst jetzt schlafen.«

»Ich bin bei Verstand.« Eine erstaunliche Sekunde lang klang Mum so bestimmt und klar wie früher, als sie Michael noch mit Ohrfeigen bestrafte, wenn er den Namen des Herrn missbrauchte, und ihn jeden Sonntag dazu zwang, drei Stunden lang mit ihnen allen auf Knien zu beten. »Du musst zu ihm zurückgehen, Cornelia. Ich vergebe dir.«

»Ich gehe. Aber beruhige dich.«

»Du musst zu deinem Vater gehen. Lord Rushden wartet.«

Nell erstarrte. Lord Rushden? Der Vater von dem Mädchen auf der Fotografie?

Bei diesem sonderbaren Zufall sträubten sich ihr die Nackenhaare. »Mum, was meinst du damit?«

»Ach, der Teufel«, sagte ihre Mutter seufzend. »Aber ich vergebe dir.«

»Was vergibst du mir?«, flüsterte Nell.

»Du musst mit deinem Vater sprechen.« Mums Stimme klang plötzlich eigenartig – seltsam mädchenhaft. »Du musst mit seiner Lordschaft sprechen.«

Ihrem Vater? »Mum.« Sie wagte kaum zu atmen. »Was redest du da? Du kannst nicht meinen, dass Lord Rushden …«

»Lass nicht zu, dass er dich in Versuchung führt«, murmelte Mum. »Widerstehe der Sünde.«

»Du fantasierst.« Nell schluckte schwer. »Donald Miller ist mein Vater.« Mum hatte von ihm erzählt. Ein freundlicher, achtbarer Bauer aus Leicestershire, der an Cholera starb, als Nell noch ein Baby war.

»Nein«, sagte Mum, noch immer mit dieser zarten, träumerischen Stimme. »Eine Lüge. Nur Lord Rushden, Cornelia. Vor langer Zeit, früher. Er wird dir helfen. Ich habe dich zu deinem Besten mitgenommen. Nun kann ich nicht länger für dich da sein. Schreib ihm.«

Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Es konnte unmöglich wahr sein, aber sie fand keine andere Erklärung: Ihre tugendhafte Mutter hatte gerade zugegeben, dass Nell ein Bastard war. Der Bastard eines Lords.

Kein Wunder, dass sie aussah wie das Mädchen auf der Fotografie.

Nell beugte sich über ihre Mutter und packte hart ihre Hand. »Würde er einen Arzt für dich bezahlen?«

»Ach, Cornelia …« Beim schrillen Lachen ihrer Mutter lief es ihr kalt den Rücken hinunter. »Der Teufel würde noch sehr viel mehr tun.«

2

Es gab kaum etwas Langweiligeres als eine Party, die lediglich die Verderbtheit des Gastgebers unter Beweis stellen sollte. Die Zusammenkunft bei Colton war da keine Ausnahme. Die Wände waren mit dunklem Samt abgehängt, und der Strom war abgestellt worden. Das einzige Licht spendeten eiserne Kandelaber, die man überall im Raum verteilt hatte. Ein jämmerlich aussehendes Streichquartett saß in einer Ecke und schrammelte eine Melodie, die Simon nachträglich als rückwärts gespieltes Te Deum erkannte. Über ihren Köpfen hing an einem verdunkelten Kronleuchter ein umgedrehtes Kreuz. Die Dienstmädchen – jedenfalls die, die noch bekleidet waren – trugen Nonnentrachten.

Simon lachte leise auf, als er eintrat. Warum bloß diese ewige Fixiertheit auf Nonnen? Die Gesichter in der lärmenden Menge waren ihm größtenteils bekannt, und wie immer war kein Katholik darunter. Er konnte daraus nur schließen, dass irgendetwas in der anglikanischen Tradition schmutzige Fantasien mit religiöser Thematik hervorrief.

Wenigstens war keine schwarze Messe im Gang. Ein schwacher Trost.

Sobald seine Anwesenheit bemerkt wurde, begrüßte man ihn rechts und links – ein Abgeordneter ließ von einer halb nackten Frau ab, um eine Verbeugung anzudeuten, und drei Magnaten der Stadt prosteten ihm so eifrig zu, dass der größte Teil des Whiskys auf dem Teppich landete. Er nickte liebenswürdig und suchte die Menge nach seiner Beute ab. Dabei drangen erregt gemurmelte Spekulationen an seine Ohren, Bemerkungen über seine realen und imaginären Sünden. Die meisten selbstverständlich imaginär.

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