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Gwen Maudsley hat Pech mit den Männern. Als sie schon zum zweiten Mal vor dem Altar stehen gelassen wird, beschließt sie, ihr Leben zu verändern und von nun an nur noch ihrem Herzen zu folgen. Gemeinsam mit ihrem Jugendfreund Alex beginnt sie eine wilde Reise durch Europa, auf der die beiden schon bald Gefühle füreinander entdecken.
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Seitenzahl: 527
MEREDITH DURAN
Roman
Ins Deutsche übertragen von
Susanne Kregeloh
Über dieses Buch
Lady Gwendolyn Maudsley gilt als das wohl »netteste Mädchen der Stadt«. Seit Jahren arbeitet sie hart, um sich den Konventionen zu beugen, die die Londoner Gesellschaft ihren Mitgliedern auferlegt. Da Gwen aus einfachen Verhältnissen stammt, ihre Eltern aber zu beträchtlichem Wohlstand gelangten, ist sie besonders bestrebt, alles richtig zu machen: Sie hat jede Regel beachtet, über Beleidigungen gelächelt, stets das zweite Glas Wein abgelehnt, sich zurückgehalten, in Gesellschaft zu singen, und sich auch nicht an ausgelassenen Spielen beteiligt. Sie hat Miesepeter aufgeheitert und schroffe Antworten geschluckt, hat schlechte Laune verziehen und niemals – kein einziges Mal! – den Namen des Herrn missbraucht und in drei Wochen dreißig Taschentücher bestickt! Doch als sie zum zweiten Mal gedemütigt vor dem Altar stehen gelassen wird, hat Gwen genug! Nicht ihr Herz ist gebrochen, sondern sie ist all der Maßregeleien und Verhaltensnormen überdrüssig! Sie will ihrem Herzen folgen und das enge Korsett der gesellschaftlichen Zwänge abstreifen – dabei kommt ihr der beste Freund ihres verblichenen Bruders gerade recht: Alex Ramsey. Als Lebemann und Schürzenjäger berüchtigt, hat sich Alex noch nie um Ruf und Ansehen geschert. Gwen bringt den gutaussehenden Lord dazu, sie mit auf eine wilde Reise durch Europa zu nehmen, die mehr als nur eine Regel bricht und nicht nur Gwens Herz höher schlagen lässt …
Für Rob, Betsey und Stella,
mit all meiner Liebe
1886
Dieses England war eine bösartige Hexe, die ihm Übles wollte. Am Pier von Southampton hatte sie ihn mit Donnergrollen begrüßt. Auf seiner Reise nach Norden waren Bäume von Blitzschlägen gespalten worden und wie Dominosteine auf die Straßen gestürzt. Das Bad im Fluss heute Morgen war zu einem Kampf gegen die Unterströmung geworden. Und nun ließ sich die Sonne sehen – obwohl gerade jetzt ein Sturm die passendere Kulisse gewesen wäre. Das bunte Glas der bleigefassten Fenster strahlte auf, und helles Sonnenlicht flutete das Innere der Kirche. Wie ein kleines Wunder kam es Alex vor, dass sie ihn nicht zu Asche verbrannte.
Die Messingbeschläge des Sargs glänzten matt.
Er kniete sich auf das kleine Kissen, das unter dem Druck leise seufzte und den Duft von Lavendel verströmte. Seine Hände legten sich in einer alten, längst überkommenen Gewohnheit zusammen und verschränkten sich zum Gebet. Doch ihm fiel keines ein. Seltsam distanziert fühlte er sich von dem Geschehen.
Es war die reinste Ironie. Seine ganze Kindheit hindurch hatte Alex darum gekämpft, seine Gefühle zu unterdrücken und zum Schweigen zu bringen, damit sie ihm nicht die Luft abschnürten – aber erst jetzt, nachdem seine Krankheit seit Langem überwunden war, beherrschte er diese Fähigkeit meisterhaft. Selbst tiefes Leid berührte ihn nicht mehr. Die Gedanken, die ihm durch den Kopf gingen, fühlten sich frei an. Teilnahmslos lauschte er auf die ferne Stimme in seinem Bewusstsein, die von Zorn sprach.
Dieser Tod war sinnlos gewesen.
Richard und sein verdammter Leichtsinn.
Du bist schuld.
Was selbstverständlich Unsinn war.
Alex beobachtete, wie sich seine Finger anspannten. Die Knöchel hoben sich weiß gegen die Haut ab, die noch von der italienischen Sonne gebräunt war. Gut so, Melodramatik half oft, wenn ein Gebet es nicht vermochte. Richards letzte freundliche Worte an ihn – er konnte sich nicht daran erinnern. Sie waren betrunken gewesen. Doch am nächsten Tag war dann die Wut gekommen: Richards Anklagen gegen ihn, dann seine eigenen kalten Antworten darauf – und dazu auch noch der beißende Geruch von Gwens Brief, der im Kamin verbrannte. Daran erinnerte sich Alex genau, schließlich war er wieder nüchtern gewesen.
Auch deshalb durfte es keine Entschuldigung für das geben, was danach geschehen war.
In der Gewissheit, dass Richard wie ein neugieriger Welpe reagieren würde, hatte ihm Alex die Richtung in eine Wolfshöhle gewiesen. Seit Tagen schon hatte Richard nach einem Abenteuer gequengelt. Unstet und gereizt war er immer auf der Suche nach jenen leichtfertigen dummen Eskapaden gewesen, von denen in Reiseberichten von Junggesellen so gern die Rede war. Als ihm Alex vor einiger Zeit angeboten hatte, ihn als Partner in die Reederei aufzunehmen, hatte Richard vielleicht nicht erwartet, dass Geschäftemachen auch harte Arbeit mit sich brachte. Welchen Sinn hat es, Gewinn zu machen, wenn wir nichts davon ausgeben können?
Dann geh, hatte Alex zu ihm gesagt. Jene Spielhölle war in keinem Reiseführer verzeichnet gewesen, schließlich existierte sie außerhalb der Legalität. Aber du gehst wohl besser allein. Wenn du der Meinung bist, ich sei darauf aus, deine Schwester zu verführen, dann legst du vermutlich keinen Wert auf meine Gesellschaft. Mit dieser Bemerkung hatte sich Alex wieder einem Stapel von Finanzberichten zugewandt – als hätten derart blutleere Angelegenheiten mehr von seiner Aufmerksamkeit verdient als der naive Richard, den er losgeschickt hatte, um mit den Wölfen zu spielen.
Richard war also in jene Spielhölle gegangen, um etwas zu beweisen. Du hast nichts, worauf du stolz sein kannst, hatte er im Weggehen gesagt. Denn trotz all deiner hochfliegenden Ideale treibt dich einfach nur die Feigheit an. Jeder kann das schnelle Geld machen, Ramsey. Jeder kann den Rebellen spielen.
Für seine Naivität hatte Richard ein Messer zwischen die Rippen bekommen.
»Du bist ein verdammter Narr gewesen«, flüsterte Alex jetzt.
Und zweifellos der beste Freund, den ein Mann hatte haben können.
Richard war der einzige Junge gewesen, der sich während Alex’ erstem Semester in Rugby die Mühe gemacht hatte, mit ihm zu sprechen. Das war in jenem Jahr gewesen, bevor sich sein Körper darauf besonnen hatte, verlässlich zu atmen und zu wachsen.
Richard hatte als Einziger Alex dazu ermutigt, seine Träume zu verwirklichen. Ganz im Gegensatz zu seinem Bruder Gerry. Du bist ein einfältiger Träumer, hatte der ihn verhöhnt. Was meinst du wohl, wie weit du ohne die Beziehungen der Familie kommst?
Richard jedoch war begeistert gewesen. Bravo, hatte er gerufen. Lass uns ein Imperium aufbauen! Fangen wir gleich damit an!
Alex legte die Hand auf den Sarg; das Holz fühlte sich kühl an und war auf Seidenglanz poliert worden. Bald würden sich die Würmer daran gütlich tun. Aber Richard war längst fort.
»Du bist besser gewesen als jeder andere von uns«, sagte Alex leise, atmete tief durch und zog die Hand zurück. »Ich werde auf deine Schwester aufpassen.«
Er hatte sie jetzt schon viel zu lange allein gelassen.
Der Gedanke veranlasste ihn, sich zu erheben. Gwen stand dort, wo das Hauptschiff der Kirche anfing, ihr Haar schimmerte wie ein blutroter Heiligenschein in dem diffusen Licht, das durch eines der Oberfenster auf sie fiel. Alex’ Schwestern Belinda und Caroline, die Zwillinge, hatten sie zwar in ihre Mitte genommen, doch die Geier kreisten bereits über ihr: Trauergäste buhlten um Gwens Aufmerksamkeit und waren bestrebt, ihr zu kondolieren, damit sie in Erinnerung blieben. Vielleicht mochte ihnen das irgendwann einmal zum Vorteil gereichen.
Alex bahnte sich seinen Weg durch die Menge. Er kannte nur wenige der Anwesenden, aber wie üblich schienen die meisten ihn zu kennen. Blicke folgten ihm, das Getuschel wurde lauter. Er überhörte die Wortfetzen, die an sein Ohr drangen. Seine Sünden waren zahlreich und füllten ohne Zweifel Bände, aber die Gerüchte waren maßlos übertrieben.
Er hörte noch andere Bemerkungen: geflüsterte Einladungen nach Ascot oder zum Cricket-Duell zwischen Eton und Harrow auf dem Lord’s. All diese Leute waren Gwens Freunde. Richard hatte keine Mühe gescheut, um nutzbringende Bekanntschaften zu knüpfen, doch seine Schwester hatte bereits nach dem ersten Monat ihrer ersten Saison mit nur einem einzigen Fingerwink ganze Scharen angelockt.
Der Kummer der Trauergäste ist vermutlich nicht völlig vorgetäuscht, dachte Alex. Der Tod ihres Bruders würde es Gwen für mindestens ein Jahr unmöglich machen, am Treiben des Heiratsmarktes teilzunehmen. Landsitze würden also weiterhin verfallen, Grundbesitz würde auf Auktionen angeboten werden, weil ihr Vermögen durch die einzuhaltende Trauerzeit ärgerlich – und unerreichbar – fern sein würde.
Alex hatte den Weg durch das Kirchenschiff zur Hälfte bewältigt, als Belinda ihn abfing. Beim Anblick ihrer rot geweinten Augen zog sich etwas in ihm zusammen. Es brachte jenen vagen Zorn in ihm dazu, stärker und drängender zu werden.
Er atmete tief durch. Wie absurd, dass sich sein Zorn auf Belinda richtete. Du ziehst es vor, ein Ausgestoßener zu sein, hatte Richard irgendwann einmal zu ihm gesagt – bewundernd, wenn Alex sich recht erinnerte. Aber das Offensichtliche war Richard entgangen. Ganz gleich, wie weit Alex reiste, die Liebe seiner Schwestern fesselte ihn enger als alle Ketten. Ihre vorwurfsvollen Briefe folgten ihm um den ganzen Globus. Sie schienen zu glauben, dass seine Anwesenheit ein Trost für sie wäre – ein Segen sogar. Würde er sich doch nur endlich in England niederlassen – selbst jetzt, nach allem, was geschehen war, glaubten sie das vermutlich noch immer.
Er nahm Belindas Hand und dachte, dass sie zu kalt und zu schlaff war. Sein Griff wurde fester. »Geht es dir gut?«
Sie nickte, dann trat sie dicht an ihn heran. »Gwen war nicht wohl, vorhin in der Kutsche«, wisperte sie. »Sie muss sich hinsetzen.«
Er sah an ihr vorbei. Eine ernst dreinblickende ältere Witwe unterhielt sich mit Gwen und berührte sie jetzt leicht am Arm. Als Reaktion darauf verzogen sich Gwens Lippen zu einem höflichen, aber mechanischen Lächeln.
Ja wirklich, es war etwas pervers Beeindruckendes daran, wie ergeben sie ihre Rolle spielte. Erbrechen in der Kutsche, Lächeln in der Öffentlichkeit; in diesem Moment würde sie sogar ihr Erbrochenes wieder herunterschlucken, selbst wenn sie daran ersticken müsste. Einige Gäste missachteten die Anstandsregeln, indem sie ihr bereits in der Kirche kondolierten, schließlich befand man sich auf dem Höhepunkt der Saison, und deren gesellschaftliche Verpflichtungen ließen keine Zeit, um auch noch an der Beisetzung oder dem anschließenden Empfang teilzunehmen. Doch dass diese Leute die Etikette damit verletzten, würde Gwen niemals zugeben. Sie schriebe dieses ungewöhnliche Benehmen vermutlich einer Freundlichkeit zu, die so groß war, dass sie jegliche Anstandsregel überschreiten durfte.
Alex wusste nicht, wie Gwen es fertigbrachte, sich selbst zum Narren zu halten. Schließlich war sie nicht dumm.
»Alex …« Belinda sah ihn prüfend an. »Bist du sicher, dass es dir gut geht?«
Ihr bedeutungsschwerer Tonfall verwirrte ihn, bis er bemerkte, dass sie mit den Fingerspitzen ihre Kehle berührte. Er ließ ihre Hand los. Dreizehn Jahre war es her, seit er das letzte Mal wie ein Fisch auf dem Trockenen nach Luft geschnappt hatte, aber das machte keinen Unterschied. Seine Schwestern redeten ständig davon, grimmig wie Krankenschwestern. »Es geht mir gut«, sagte er bewusst sanft, denn diese Besorgnis seiner Schwestern begann ihn allmählich zu zermürben, und seine von Müdigkeit benommenen Sinne drängten ihn eher zu einer heftigen Antwort. »Du hast recht. Vor der Beisetzung braucht Gwen eine Ruhepause.«
Belinda seufzte. »Dann versuch du dein Glück bei ihr. Als ich sie danach fragte, sagte sie, die Trauergäste könnten es ihr als Unhöflichkeit auslegen, wenn sie sich zurückzöge.«
Herrgott. »Dein Fehler war, dass du überhaupt gefragt hast«, erklärte er und setzte seinen Weg fort.
Die ältliche Witwe verabschiedete sich soeben von Gwen. Alex winkte seine Schwester zu sich und berührte Gwen am Ellbogen. »Miss Maudsley«, sprach er sie bewusst förmlich an – eingedenk der Umstehenden, auf deren unausgesprochene Meinung sie so viel Wert legte. »Auf ein Wort, bitte?«
Sie wandte sich um. »Mr Ramsey.« Ihr Lächeln, das ihm galt, war so nichtssagend wie das für jeden anderen auch, ihre großen braunen Augen wichen seinem Blick aus. »Wie geht es Ihnen?«
»So, wie man es unter diesen Umständen erwarten kann.«
Ein leichtes Zittern zuckte um ihren Mund und ließ ihr Lächeln endlich zerbrechen. »Wie schwer dies für Sie sein muss«, sagte sie. »Von allen Menschen hier teilen Sie am ehesten meinen Schmerz, das weiß ich. Richard war so … glücklich über Ihre Freundschaft.«
»Und ich über seine. Kommen Sie doch für einen Moment mit mir zur Seite.« Als sie zögerte, ergriff er ihre Hand und legte sie auf seinen Arm. »Ich habe etwas für Sie … von Ihrem Bruder«, sagte er. »Ich wollte es Ihnen erst später geben, aber vielleicht gibt es Ihnen jetzt Kraft.«
Als er sie durch die Menge der schwarz gekleideten Trauergäste führte, schlossen sich die Zwillinge ihnen an. Alex wurde sich Gwens Hand auf seinem Arm zunehmend bewusster. Es war eine ganz leichte Berührung, doch sie entfachte seine Sinne wie ein Zündholz, das in der Dunkelheit angerissen wurde. Jener Brief damals, den sie ihm geschrieben hatte, war unverfänglich gewesen und nichts als eine höfliche Geste gegenüber einem Freund der Familie. Doch Richard hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, ihn zu lesen. Dass er ihn auf dem Schreibtisch in Alex’ Suite gefunden hatte, war für ihn der nötige Beweis gewesen, der den Verdacht bestätigte, der bereits seit Monaten in ihm gegärt haben musste – das begriff Alex jetzt. Du ermutigst Gwens Interesse, hatte Richard geschrien. Du wirst deine Finger von ihr lassen!
Alex’ Verblüffung über diesen Vorwurf war so groß gewesen, dass sie ihn zu einer wenig taktvollen Erwiderung verleitet hatte. Herrgott noch mal! Ich habe doch kein Interesse an Schulmädchen. Und dann: Sie ist ein wirklich nettes Mädchen, das jeden anlächelt und sich mit jedem gut versteht. Das wird sie auf dem Heiratsmarkt sehr begehrt machen. Aber was mich betrifft, so kann ich mir nichts vorstellen, was mich mehr langweilen würde.
Sein Dementi hatte auf Fakten beruht. Leider war er nicht aufrichtig gewesen.
Alex blickte kurz auf ihr Profil, das trotz der dunklen Schatten unter den Augen so heiter-gefasst wirkte. Sie hat nichts anderes im Kopf als Kleider und … sich zu verheiraten, hatte Richard einmal lachend gesagt. Aber während ihrer seltenen Zusammentreffen im Laufe der letzten paar Jahre – zu Weihnachten bei seinen Schwestern oder zur Jagdsaison in Schottland – waren Alex auch noch andere Dinge an Gwen aufgefallen. Sie las viel, sprach aber nie darüber. Sie sah weitaus mehr, als sie zugab. Ihre unverwüstliche Zuversicht war nichts, was sie blind für alles machte, sondern wirkte eher wohlüberlegt. Sie hatte sich mit einer geradezu soldatischen Disziplin so erfolgreich darin geschult, dass selbst ihr eigener Bruder sich hatte narren lassen.
Alex verstand eine solche Disziplin. Er wusste, wie selten sie war und welchen Preis sie forderte. Und bei einer der wenigen Gelegenheiten, wenn er sie zufällig berührte, fragte er sich, wie Gwen wohl sein würde, wäre sie nicht so entschlossen gewesen, sich anzupassen. Wenn sie nicht Richards Schwester gewesen wäre. Wenn sie keine achtbare Frau gewesen wäre.
Er schätzte Raritäten. Es hätte ihm Spaß gemacht, die Schichten ihrer Heuchelei abzustreifen und herauszufinden, was sich hinter ihrem Lächeln verbarg. Er hätte sie dazu gebracht, ihre Stirn zu runzeln und sie ermutigt, all die verpönten, vulgären Gedanken zu flüstern, die sie mit so viel Kraft verdrängte. Er würde ihr sagen, dass sie bei ihm ganz ungezwungen sein könnte: Er gab nichts auf gute Manieren oder nutzlose Tugenden. Sie hatte etwas weitaus Interessanteres an sich, und in ihrer Selbstdisziplin lag ein großes Potenzial. Was versuchte sie nur, vor sich selbst zu leugnen? Zeig es mir, wollte er murmeln. Lass uns sehen, was wir daraus machen können.
Aber sie war entschlossen, angepasst zu bleiben. Und er hatte kein Interesse an einer dauerhaften Verbindung. Er hatte seine ganze Kindheit wie in Fesseln verbracht, eingeschränkt und gefangen; freiwillig würde er sich keinem Joch mehr unterwerfen.
Was das betraf, so hatte er Richard die Wahrheit gesagt: Niemals hatte er Gwen ermutigt.
Sie betraten einen kleinen Raum neben dem Säulengang, und hier nahm Gwen die Hand von seinem Arm. Alex kannte keine Regel für einen solchen Moment. Vielleicht gab es auch keine. Wortlos griff er in die Tasche und zog den Ring hervor.
Ihre Augen füllten sich mit Tränen, während sie auf den Ring starrte. »Ich …« Sie presste die Lippen aufeinander und griff danach. Der schlichte Goldreif funkelte in dem hellen Licht, das durch das Fenster hereinfiel, als er in ihre Hand glitt. »Ich dachte, er wäre gestohlen worden«, flüsterte sie.
»Die italienische Polizei hat ihn wiedergefunden.« Richards Mörder war gestern früh gehängt und somit seiner gerechten Strafe zugeführt worden; über diese Neuigkeit würde Alex zuerst mit den Zwillingen sprechen, ehe er entschied, wie er sie Gwen mitteilte. »Ich habe ihn heute Morgen bekommen.«
Ihre Hand schloss sich zur Faust. So eine kleine Faust. Sie senkte den Kopf. »Oh«, sagte sie, und eine Träne tropfte von ihrer Wange auf den Boden.
Dieses Bild stach Alex wie ein Messer in die Brust und legte eine Art Qual frei, pur und unverfälscht von Bedauern oder Zweifel. Sie traf ihn so heftig, dass er sich mit der Hand an der Steinmauer abstützen musste, um das Gleichgewicht zu wahren. Idiot, dachte er. Das stumme Wort wurde von einer Überraschung gefärbt, einem Hauch von Wunder. Menschen konnten also tatsächlich bis in ihre Grundfesten erschüttert werden und ins Wanken geraten: Es war nicht einfach nur eine Redensart.
Aus alter Gewohnheit holte er vorsichtig Luft. Seine Lungen reagierten, wie sie es sollten.
Eine weitere Träne fiel zu Boden. Warum zum Teufel nahmen seine Schwestern sie jetzt nicht in die Arme? Bel und Caro hielten den Blick abgewandt, ohne Zweifel aus dem fehlgeleiteten Empfinden heraus, dass Gwen in ihrem Kummer ihre Privatsphäre brauchte. Dabei wusste sogar Alex, dass diese Herangehensweise die falsche war.
Er räusperte sich. »Vergib mir, Gwen. Ich habe einen schlechten Zeitpunkt gewählt.«
Vehement schüttelte sie den Kopf und presste die Faust, den Ring darin fest eingeschlossen, auf ihr Herz. »Nein«, sagte sie rau. »Es ist – es ist das Kostbarste überhaupt … für mich, Alex. Er gehörte meinem Vater. Und Richard hat ihn getragen, als er …«
»Er hat ihn immer getragen«, beendete er den Satz, als klar war, dass sie ihn nicht zu Ende sprechen würde.
Sie nickte. Dann warf sie sich mit einem unterdrückten Schluchzen in Carolines Arme.
Gut so. Alex nickte seinen Schwestern zu und verließ den Raum. Einige Trauergäste reckten den Hals, um einen Blick in das Zimmer zu erhaschen. Ein Lächeln zeigte sich um Alex’ Mund. Es musste … unfreundlich gewirkt haben, denn die meisten Gaffer wandten sich hastig ab.
All die Aufmerksamkeit, die ihm gegolten hatte, war nichts – verglichen mit dieser begierigen Neugier, die sich auf Gwen richtete. Erstaunlich. Mit seinen Reedereien hatte er ein Vermögen erwirtschaftet, doch gleichzeitig hatte er sich auch einen Ruf eingehandelt, der Menschen abschreckte. Gwen hingegen war ein unbeschriebenes Blatt: hübsch, elegant, reich, aufgestiegen aus dem Nichts. Und jetzt, da der Tod ihres Bruders sie ohne Familie zurückließ, musste sie dieser Meute wie ein Beutestück vorkommen, das bloß darum bettelte, beschlagnahmt zu werden.
Er lehnte sich mit der Schulter gegen den Türrahmen und versperrte den Blick in das Zimmer. Einer von diesen Männern hier würde Gwen bekommen. Richard hatte dafür gesorgt. Versprich mir, dass du dich um sie kümmerst, hatte er hervorgestoßen. Sorg für sie … sie soll gut versorgt sein. Um meinetwillen.
Alex blieb sich im Unklaren darüber, ob Richard ihm eine Strafe auferlegt oder ihm Vergebung gewährt hatte, indem er ihm dieses Versprechen abgenommen hatte. So oder so, er hatte jedenfalls begriffen, was mit diesem Vermächtnis gemeint war. Die Maudsleys hatten nie ein Geheimnis aus ihren Plänen für Gwen gemacht. Gwens Heirat würde der endgültige Triumph sein. Wenn es kein Prinz sein könnte, nun, dann würde ein Titel auch genügen. Für weniger allerdings hatten sich die Maudsleys ihren Weg an die Spitze der Gesellschaft nicht gebahnt.
Nun denn, er hatte den Schwur geleistet, und er würde ihn halten. Absichten auf Gwen hatte er jedenfalls keine.
Aber mochte Gott ihn davor bewahren, ihr bei der Suche nach einem Ehemann helfen zu müssen.
Freitage gehörten nicht zu Gwens Lieblingstagen; sie waren zu oft verregnet. Aber im April des Jahres 1890 schienen es ihre Glückstage zu sein. Am ersten Freitag des Monats erhielt sie einen zart nach Rosenwasser duftenden Brief von einem unbekannten Bewunderer. Am zweiten beaufsichtigte sie das Pflanzen der letzten Pagodenbäume im Park von Heaton Dale. Und am dritten Freitag, unter einer für die Jahreszeit ungewöhnlich warm scheinenden Sonne, versammelten sich gut dreihundert der erlauchtesten Mitglieder der Londoner Gesellschaft in einer Kirche, um ihrer Trauung mit Viscount Pennington beizuwohnen.
Gwen wartete in einem kleinen Nebenraum der Kirche, in dessen Kamin ein völlig überflüssiges Feuer brannte. Die Zeremonie hätte schon vor einer halben Stunde beginnen sollen, aber (so hatte Belinda es ihr berichtet, die sich eben ein weiteres Mal davon überzeugt hatte, dass der Brautschleier noch immer vollendet saß) die Gäste waren nach wie vor damit beschäftigt, ihre Plätze einzunehmen. Die bedeutendsten und strahlendsten Stützen der Gesellschaft hatten sich heute hier zusammengefunden; für einige war es das erste Ereignis, an dem sie seit dem Ende der letzten Saison teilnahmen. Folgte man der Meldung in einer der Gesellschaftsspalten heute Morgen, so konnte es »nur die engelsgleiche Miss Maudsley, die von allen bewundert wird, zustande bringen«, eine solche Anzahl von ihnen vor Pfingsten zu versammeln.
Gwen tat einen tiefen Atemzug und blickte hinauf zum Fenster. Es war nicht verwunderlich, dass sie sich wünschte, jetzt schon bei den Gästen sein zu können. Oder dass sie draußen wäre. Im Park. Hier drinnen war die Luft stickig, und es war viel zu warm.
Die Wände schienen sie zu erdrücken.
Was tue ich?
Sie biss sich auf die Lippen. Ihr Unbehagen rührte selbstverständlich nur von dem Feuer her, auf das der Junge viel zu viel Holz aufgelegt hatte. Und vielleicht war ein klein wenig davon auch der Erinnerung an jenes andere Mal und jenen ersten Verlobten geschuldet. Es hatte Monate strahlenden gesellschaftlichen Erfolgs gebraucht, bis die Zeitungen aufgehört hatten, sie »die am Boden zerstörte Miss M-, die so schrecklich von dem betrügerischen Lord T- enttäuscht wurde« zu nennen.
Doch jetzt stand sie kurz davor, ihren größten Triumph zu erringen – wenn ihr das Korsett nicht zuvor die Luft abschnürte. Und ihr Kleid, das mit unzählig vielen Perlen bestickt war, wog mindestens dreißig Pfund. In einem solchen Kleid konnte man ertrinken! Und diese Schuhe mit den hohen Absätzen drückten ganz entsetzlich.
Sie machte noch einen tiefen Atemzug. Dies ist der glücklichste Tag meines Lebens.
Natürlich war er das. Ihre Füße schmerzten aber dennoch. Der Stuhl zu ihrer Rechten begann, ihr wie eine Sirene zuzuwinken. Eine böse Sirene. Denn die kunstvoll drapierte Schleppe ihres Kleides würde ein Sichhinsetzen nicht überstehen.
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