Die Weihnachtsleiche - Anne Perry - E-Book
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Die Weihnachtsleiche E-Book

Anne Perry

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Beschreibung

Ein mysteriöser Mord am Weihnachtsabend

Joshua Fielding, der berühmte Londoner Schauspieler, ist mit seinem Ensemble über Weihnachten auf dem Landgut von Charles Netheridge eingeladen. Dieser ist bereit, Joshuas neue Theaterproduktion zu finanzieren, wenn die Schauspieltruppe ein Amateurdrama seiner Tochter Alice aufführt. Während der Proben taucht ein geheimnisvoller Fremder auf, der Bram Stokers Dracula, auf dem das Drama basiert, erstaunlich gut kennt. Dann passiert ein Mord.

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ANNE

PERRY

Die Weihnachtsleiche

Roman

Aus dem Englischen von Regina Schirp

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Impressum

Die Originalausgabe A CHRISTMAS HOMECOMING erschien bei Headline Publishing Group, London

Deutsche Erstausgabe 11/2012

Copyright © 2011 by Anne Perry

Copyright © 2012 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie, Zürich unter Verwendung des Gemäldes © Coaching at Hurlingham, 1936 (w/c on paper), Butterworth, Ninetta (1922 – 2010) / Private Collection / The Bridgeman Art Library

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-08934-4

www.heyne.de

Widmung

Für alle, die sich dem Unbekannten mutig stellen

Beginn

Die Kutsche bog um die Ecke, und Caroline Fielding sah das herrschaftliche Anwesen auf der steilen Anhöhe vor ihnen stehen. Sie wurde von einem unbeschreiblichen Gefühl der Erleichterung erfasst. Endlich war die lange Reise zu Ende, und ihr ganzer Körper schmerzte vor Müdigkeit und wegen der bitteren Kälte. Früh morgens waren sie in London zum Bahnhof gefahren. Auf den überfüllten Bahnsteigen war es schwierig gewesen, sich mit dem ganzen Gepäck einen Weg durch die Menge zu bahnen, ohne dabei jemanden anzurempeln. Sie war froh, als sie endlich ihre Sitzplätze für die Reise nach York gefunden hatten.

In York waren sie ausgestiegen. Ein Gepäckstück konnte nicht gleich gefunden werden, und da die Zeit knapp war, bemühten sie sich, es schnell wieder aufzutreiben. Sie hatte den Gepäckträger immer wieder mit ihren Fragen bedrängt, bis es schließlich gefunden und sicher im Abteil des Schaffners im Zug nach Whitby verstaut war. Während sich einige Abteiltüren bereits mit einem Schlag schlossen, und die Lokomotive Ruß und Dampf ausstieß, mussten sie und Joshua regelrecht den Bahnsteig entlangrennen. Sie erreichten gerade noch ihr Abteil, als der Zug sich schon in Bewegung setzte.

Jetzt, in der Dunkelheit und im frisch gefallenen Schnee, fuhren sie in einem Zweispänner von Whitby zu den Klippen hoch, zu dem Haus, in dem sie die ganzen Weihnachtsfeiertage verbringen würden, wenn man sie überhaupt als Feiertage bezeichnen konnte.

Sie sah Joshua neben sich an. Er nahm ihre Bewegung wahr und berührte sanft ihre mit einem Handschuh bekleidete Hand.

»Kein schönes Wetter«, sagte er bedauernd. »Aber im Haus wird es sicher warm sein, und man wird uns herzlich willkommen heißen.«

Die Beleuchtung der Kutsche war nicht hell genug, um sein Gesicht zu sehen, aber sie sah es deutlich vor Augen: sanftmütig, lebendig, voller Humor. Sie bemerkte den beinahe entschuldigenden Tonfall in seiner Stimme.

»Es wird bestimmt herrlich«, sagte sie ohne zu zögern. Nie würde sie so gut schauspielern können wie er, weil sie immer sie selbst war. Er hingegen konnte sich schon wegen seines Berufs mühelos in jemand anderen hineinversetzen, ja sogar in dessen innerste Gefühle. Sie dagegen hatte schon vor langer Zeit gelernt, ihre Gefühle zu verbergen, aus Rücksicht denen gegenüber, die sie liebte, und – weiß Gott, ihn liebte sie über alles. Gelegentlich jedoch beschlichen sie Ängste, weil sie so viel älter war als er und sie nicht wie er zum Theater gehörte. Sie befürchtete, dass sie in den Augen seiner Kollegen immer eine Außenseiterin bliebe, zu alt für ihn, zu normal, zu wenig künstlerisch und viel zu ehrenhaft. Dennoch wäre sie todunglücklich gewesen, wenn sie sich nach dem Tod ihres ersten Ehemanns nicht über alle Konventionen hinweggesetzt hätte und Witwe geblieben wäre. Wie hätte sie jemand anderen heiraten können, wo sie doch Joshua so sehr liebte? Im Inneren verspürte sie nicht einen Schatten des Zweifels bezüglich ihrer zweiten Ehe, obwohl es für die Außenwelt vielleicht nicht so aussah, als ob sie richtig gehandelt hätte.

Einen Augenblick lang wurde Joshuas Händedruck fester.

Sie fuhren die letzten hundert Meter die Straße hinauf. Die Pferde mühten sich mit dem Gewicht des Gefährts und kamen schließlich vor dem herrschaftlichen Eingang des Herrenhauses zum Halt. Weit öffneten sich die Türen, und helles Licht überflutete den Säulenvorbau und dieKieszufahrt.

»Du hattest recht«, sagte Caroline lächelnd. »Hier sind wir willkommen.«

Ein Diener öffnete die Tür der Kutsche, und Joshua kletterte schnell hinaus, um Caroline behilflich zu sein. Auf der Reise war sie um ihren Umhang und ihre dicken Röcke froh gewesen – sie waren das Einzige, was sie während der Fahrt gewärmt hatte –, aber jetzt waren sie sehr hinderlich, um einigermaßen elegant auszusteigen. Sie griff Joshuas Hand fester, als sie beabsichtigt hatte, und gerade als ihr Gastgeber, Charles Netheridge, aus der prunkvollen Eingangstür trat, stand sie in voller Größe aufrecht vor ihm. Mit ausgestreckter Hand kam er ihnen die breite Treppe herunter entgegen.

Man stellte sich vor, und Netheridge erteilte Anweisungen. Diener erschienen wie aus dem Nichts und wurden beauftragt, die Kisten und Schrankkoffer abzuladen und sich um die Pferde zu kümmern.

Charles Netheridge war ein kräftiger Mann mit ausgeprägten Schultern und breiter Brust. Obwohl er die sechzig überschritten hatte, war sein noch dichtes graues Haar lediglich an der Stirn etwas zurückgegangen. Im Flackern der Außenlaternen wirkte sein Gesicht kraftvoll und ehrlich, und auch sein Verhalten schien dem zu entsprechen. Er hatte mit Kohle, später auch mit der wertvollen Pechkohle, ein Vermögen gemacht. Es war ihm ein Vergnügen, Theateraufführungen in London großzügig zu unterstützen, in der Gewissheit, dass ohne sein Engagement einige der besten Stücke niemals ein Publikum gefunden hätten.

Nun befanden sich einige vielversprechende Schauspieler in seinem Haus, und er strotzte geradezu vor Zufriedenheit. Er führte sie hinein, sorgte für ihr Wohlergehen, ließ ihnen Erfrischungen bringen, das Gepäck in die Zimmer tragen und tat alles, damit sie sich wohl-fühlten.

Caroline fand kaum Zeit, sich in der Eingangshalle mit dem grauweißen Marmorfußboden und der hohen Decke, von der ein prachtvoller Kronleuchter hing, richtig umzusehen. Die Wärme hüllte sie ein, und im Augenblick war das alles, was sie sich wünschte.

»Mr. Singer ist schon angekommen«, sagte Netheridge fröhlich. »Er sagte mir, dass er die Hauptrolle, Van Helsing, spielt.« Er wirkte etwas unsicher, als er das sagte, und warf Joshua einen ernsten Blick zu, so als wollte er seine Gedanken erraten.

Joshua machte ein Gesicht, das Caroline mittlerweile kannte. Er verdeckte damit, dass er äußerst verärgert war.

»Ja, wahrscheinlich«, stimmte er zu. »Endgültiges werden wir aber erst beschließen, wenn wir Miss Netheridges Bühnenbearbeitung gelesen haben.«

»Ja, natürlich«, versicherte Netheridge. »Alles zu seiner Zeit. Hoffentlich kommen Mr. Hobbs und Miss Carstairs bald an, und auch Miss Rye. Das Wetter ist scheußlich, und ich glaube, es könnte noch schlechter werden. An Weihnachten werden wir zweifellos eine Menge Schnee haben. Es sind noch neun Tage bis zur Aufführung.« Er warf Joshua einen festen, merkwürdig unbeteiligten Blick zu. »Glauben Sie, Sie haben noch genügend Zeit, die Vorlage zu bearbeiten? Ich weiß wirklich nicht, ob sie etwas taugt. Wissen Sie, Alice hat keinerlei Erfahrung.«

Joshua bemühte sich zu lächeln. »Sie werden überrascht sein, wie schnell das geht.«

»Verdammt dämliche Geschichte, wenn Sie mich fragen«, murmelte Netheridge, als spräche er zu sich. »Ausgerechnet Vampire! Aber in London scheinen sie der letzte Schrei zu sein, zumindest was man so hört. Wer ist überhaupt dieser Bram Stoker? ›Bram‹, was soll das denn für ein Name sein?«

»Die Kurzform von Abraham«, erwiderte Joshua.

Netheridge sah ihn mit großen Augen an. »Ein Jude?«

»Ich habe gehört, er sei Ire«, sagte Joshua mit einem leichten Lächeln, aber Caroline bemerkte, wie sein Körper und seine Schultern sich spannten. Sie hatte gelernt, ihm nicht sogleich zur Seite zu springen – das wäre herablassend gewesen, als ob es einer Entschuldigung bedürfe, wenn jemand Jude war. Für sie war das allerdings anders. Man will diejenigen, die man liebt, instinktiv beschützen; je verletzlicher jemand ist, desto heftiger wird unser Wunsch ihn zu verteidigen.

Netheridge war sich anscheinend überhaupt nicht bewusst, dass er ins Fettnäpfchen getreten war. Jetzt war auch nicht der Zeitpunkt, das zu erwähnen. Im neuen Jahr, 1898, benötigten sie seine Unterstützung. Ohne seine Hilfe könnten sie das nächste Stück nicht aufführen. Als Gegenleistung waren Joshua und die besten Schauspieler seiner Truppe über Weihnachten zehn Tage lang Netheridges Gäste, um die laienhafte Bühnenbearbeitung seiner Tochter von Stokers neuem Roman Dracula aufzuführen. Das Buch handelt von einem Vampir in einem Sarg, den das Meer im Sturm an die Küste bei Whitby spült. Es sollte am zweiten Weihnachtsfeiertag vor einem Publikum aus Netheridges Freunden und Nachbarn zur Aufführung gebracht werden.

Eliza Netheridge kam aus einem Gang im hinteren Teil der Eingangshalle herbeigeeilt. Sie war von kleiner Gestalt, ihr helles Haar war an einigen Stellen schon ergraut, und in ihrem sanftmütigen Gesicht war ihre Charakterstärke nicht sofort zu erkennen. Jetzt sah sie ein wenig besorgt aus, als ihr Mann sie ungeduldig vorstellte, weil er wohl erwartet hatte, dass sie früher erschienen wäre.

»Sie sind bestimmt müde«, sagte sie warmherzig und blickte erst Caroline und dann Joshua an. »Und durchgefroren. Sicher möchten Sie erst einmal auf Ihr Zimmer gehen und sich vor dem Abendessen etwas ausruhen.«

»Vielen Dank.« Caroline nahm den Vorschlag sofort an. »Das ist sehr freundlich von Ihnen. Die Reise war ziemlich lang, und morgen möchten wir alle in Hochform sein.«

»Natürlich.« Eliza lächelte. »Ist Ihnen acht Uhr für das Abendessen recht? Wenn Sie es wünschen, können wir Ihnen auch zu einer anderen Zeit etwas im Frühstücksraum servieren.«

»Acht Uhr passt sehr gut«, versicherte Caroline und ging zur Treppe.

Das Schlafzimmer, in das sie geführt wurden, war sehr geräumig und mit schweren Vorhängen in einem dunklen Weinrot dekoriert. Sessel standen neben dem Kamin, der so viel Licht und Wärme abgab, dass man die Kerzen, außer an den beiden Nachtkästchen, gar nicht brauchte.

Sobald die Diener das Gepäck gebracht und die Tür hinter sich geschlossen hatten, platzierte Joshua sich mitten in den Raum.

»Ich habe dir ja gesagt, wir sind hier sehr willkommen«, sagte er sanft. Er lächelte, aber sein Gesicht, in dem die Gefühle so leicht abzulesen waren, konnte weder seine Erschöpfung noch seine sorgenvollen Gedanken verbergen.

Sie ging zu ihm hin und berührte mit den Fingerspitzen zärtlich seine Wange. »Mach dir heute keine Sorgen, mein Liebster. Morgen werdet ihr alle an dem Stück arbeiten, und wenn ihr es zusammen probt, wird es lange nicht so schwierig sein, wie es auf dem Papier erscheint. Wie oft hast du mir das schon von anderen Stücken gesagt?«

Er beugte sich vor und küsste sie. »Um ehrlich zu sein, es ist grauenvoll«, sagte er betreten. »Es ist sehr schwierig, einen Roman für die Bühne umzuschreiben, und Alice Netheridge ist wirklich nicht sehr einfallsreich. Ich hätte mich niemals daran gewagt, wenn wir nicht unbedingt einen Geldgeber für nächstes Jahr bräuchten. Aber ohne Netheridges Unterstützung wären im Frühjahr die Aussichten für uns alle ziemlich düster.«

»Joshua, das stimmt doch nicht«, verbesserte sie ihn. »Für die Truppe vielleicht, aber du könntest sofort anderswo eine Rolle finden. Ich kenne mindestens drei Theaterdirektoren, die die Chance, dich zu engagieren, sofort ergreifen würden.«

Er zuckte kaum merklich zusammen, lediglich die Haut über den Wangenknochen hatte sich gespannt. »Einfach weggehen und den Rest der Truppe im Stich lassen? Das Theater ist dafür eine viel zu kleine Welt, selbst wenn ich es wollte. Es geht nicht nur um Mercy und James, oder Lydia – ganz zu schweigen von Vincent, obwohl der wahrscheinlich etwas anderes finden würde. Es geht auch um all die anderen, um die Nebendarsteller, die sich um alles Mögliche sonst kümmern: den Auf- und Abbau des Bühnenbildes, das Herbeischaffen von Requisiten, das Schneidern der Kostüme.«

Sie hatte gewusst, dass er das alles sagen würde, aber als er es ansprach, spürte sie auch dieses Mal wieder eine innere Wärme in sich aufsteigen, die bestimmt nicht vom Kaminfeuer kam.

Er runzelte leicht die Stirn. »Machst du dir Sorgen?«, wollte er wissen. Sie war es ihr ganzes Leben lang gewöhnt gewesen, dass man hinreichend für sie sorgte. Zunächst hatte das ihr Vater getan, dann Edward Ellison. Zum ersten Mal wurde ihr bewusst, dass es durchaus im Bereich des Möglichen lag, dass sie vielleicht einmal Hunger und Kälte erleiden oder aber ernsthaft Schulden befürchten müsste. Sollte sie jetzt lügen? War Aufrichtigkeit zwischen ihnen nicht wichtiger als Mut oder Liebenswürdigkeit? Was wäre in diesem Fall der größere Beweis an Zuneigung?

»Noch nicht«, sagte sie und verzog dabei leicht das Gesicht. »Erwarte dir nur nicht zu viel von Alice Netheridge. Kannst du irgendeinen Kompromiss zwischen ihrer momentanen Vorlage und dem finden, was du als professionell und gut erachten würdest?«

»Zwischen Felsen und Wasser?« Er lächelte gequält, und in seinen Augen war keine Heiterkeit zu erkennen. »Ich kann’s ja versuchen. Ich muss nur Vincent davon abhalten, auf der Bühne alles an sich zu reißen, und Lydia dazu bringen, nicht gleich alles aufzugeben, oder Mercy und James daran hindern, sich nicht ständig gegenseitig zu verteidigen, obwohl niemand sie angegriffen hat, und dabei gleichzeitig Alice Netheridge beibringen, die vielen kleinen Rollen zu übernehmen, während ich einen glaubwürdigen Dracula spielen soll?« Er zuckte mit den Achseln. »Natürlich. Vielleicht überschätzt mich meine Frau, aber immerhin glaubt sie, dass ich es schaffe.« Er senkte die Stimme. »Zumindest sagt sie das.«

Das Abendessen war sehr reichlich und die Stimmung ungezwungen. Joshua und Caroline fanden beim Betreten des Salons bereits Vincent Singer vor. Er war als Erster angekommen, hatte sich offensichtlich schon ausgeruht und umgezogen. Seit sie verheiratet war, hatte sie ihn zwar schon öfter getroffen, fühlte sich aber in seiner Gesellschaft immer noch nicht wohl. Er war eine auffallende Erscheinung: groß und schlank, mit einem ausdrucksstarken Gesicht. Zurzeit trug er einen braunen Vollbart, der langsam grau wurde. Er war ordentlich gestutzt, wobei Vincent das struppige Haar vielleicht etwas zu lang hatte wachsen lassen.

Er stand beim Kamin, drehte sich um, blickte ohne etwas zu sagen Joshua an und kam dann auf Caroline zu.

»Guten Abend, Mrs. Fielding«, sagte er herzlich. Er besaß eine kräftige, sehr gut ausgebildete Stimme und wählte seine Worte immer bedächtig. »Hoffentlich war die Reise für Sie nicht zu beschwerlich?«

Ihr war bewusst, dass er besorgt klingen wollte, aber sie verspürte dennoch eine gewisse Unsicherheit, als habe er sie daran erinnern wollen, dass sie älter als alle anderen war, eine Außenseiterin, die mit den Härten des Theaterlebens nicht vertraut war und der es vielleicht an der Selbstdisziplin fehlte, die die Schauspieler zu ihren besten Leistungen anstachelte. Erschöpfung, Hunger, Angst und persönliche Sorgen mussten überwunden werden. Das bewunderte sie, und darin wollte sie ihnen ebenbürtig sein, vor allem, damit Joshua sich nie für sie schämen müsste.

Sie bemühte sich, Singer anzulächeln. »Eine äußerst anregende Reise«, log sie. »Ich war noch nie in diesem Teil von Yorkshire. Als wir uns in der Dämmerung der Stadt näherten, konnte ich gut verstehen, warum Mr. Stoker seine Geschichte hier spielen ließ.«

Sie hatte keine Ahnung, ob er ihr glaubte. Noch nie hatte sie seinen Gesichtsausdruck lesen können. Vielleicht sollte sie, statt ihn durchschauen zu wollen und dabei kläglich zu scheitern, lieber dafür sorgen, dass er sie ebenso wenig einschätzen konnte.

»Ach wirklich?«, bemerkte er, um das Gespräch weiterzuführen. »Ich persönlich hätte Cornwall bevorzugt.«

»Da denkt man wohl eher an Schmuggler«, konterte sie. »Außerdem käme man auf dem Seeweg von Transsilvanien wohl kaum an Cornwall vorbei, um dann bei vielleicht heftigem Sturm an Land gespült zu werden.«

»Sie nehmen die Geschichte viel zu wörtlich, Madam«, erwiderte er mit einem leichten Kopfschütteln. »Das ist doch alles nur ein Fantasiegebilde.«

»Ganz und gar nicht«, insistierte sie. »Die Geschichte handelt von den dunklen Albträumen in uns selbst. Sie muss in sich stimmig sein, sonst verliert sie das Unheimliche.« In Gedanken ging sie in die Vergangenheit zurück, zu der Zeit vor sechzehn Jahren, als ihre eigene Familie von furchtbaren Ereignissen heimgesucht und fast erdrückt worden war. Aber schon drängte sie die Erinnerung wieder weg und wandte sich Alice Netheridge zu, die bei den Vorhängen gestanden hatte und nun auf sie zukam. Sie war nicht hübsch im eigentlichen Sinne, aber ihr Gesicht war sehr ausdrucksstark, und wenn sie lächelte – so wie jetzt –, sah sie auf eine gewisse Art sehr schön aus.

»Mrs. Fielding.« Sie streckte ihr die Hand entgegen. »Wie ungeheuer einfühlsam Sie sind. Genau so empfinde ich das auch. Dracula ist der Teufel in uns selbst. Ach, könnte ich das nur überzeugend zu Papier bringen. Ich bin Alice Netheridge.« Sie wandte sich Joshua zu, der hinter Caroline stand, und jetzt merkte man ihr die Nervosität an. Sie hatte sich so sehr bemüht, ihren Ideen eine Form zu geben, und war nun auf sein Urteil gespannt. Vielleicht, wenn sie sich anstrengte, würde sie die kleinen Rollen im Stück, die sie übernehmen müsste, angemessen spielen, aber sie konnte die Verletzlichkeit in ihrem Blick nicht verbergen.

Joshua gab ihr die Hand und lächelte sie an. »Schauen wir mal, wie sich das morgen liest. Man muss immer etwas ändern. Denken Sie sich also nichts dabei, wenn wir ein paar Verbesserungen vornehmen. Das gesprochene Wort unterscheidet sich sehr vom geschriebenen. Wenn wir unsere Rollen gut spielen, werden wir viel weniger sagen müssen, als Sie denken.« Er wandte sich Singer zu. »Guten Abend, Vincent. Wie war die Reise?«

»Langweilig, aber gnädigerweise ohne besondere Vorkommnisse. Abscheuliches Wetter und wahrscheinlich wird es noch schlechter werden.«

»Dann haben wir ja Glück, dass wir dieses behagliche Haus nicht verlassen müssen«, entgegnete ihm Joshua kurz.

Die Tür öffnete sich, und Lydia Rye, die Schauspielerin, die die zweite weibliche Hauptrolle übernehmen sollte, nämlich Lucy Westenra, Draculas erstes Opfer, gesellte sich zu ihnen. Ihre feine sinnliche Erscheinung konnte man durchaus als hübsch bezeichnen. Sie hatte ein ausdrucksvolles Gesicht, und ihre etwas rauchige Stimme war ungewöhnlich reizvoll. Caroline hatte sich immer gefragt, warum sie keine Hauptrollen wie Mercy Carstairs bekam.

»Zu wenig Ehrgeiz«, pflegte Joshua zu sagen. Aber wenn Caroline sie so ansah, konnte sie nicht verstehen, was Joshua genau meinte. Das war wieder einmal ein Beispiel dafür, dass sie nie ganz dazugehören würde, egal, wie sie sich bemühte. Sie hatte nun mal nicht dieses instinktive Urteilsvermögen, über das die anderen verfügten.

Lydia wurde Alice vorgestellt und dann Mr. und Mrs. Netheridge. Lydia unterhielt sich mit Joshua und Caroline mit der ihr eigenen Herzlichkeit, und sie führten ein angenehmes Gespräch über alles Mögliche, als die letzten beiden Schauspieler eintraten. Mercy Carstairs und James Hobbs waren seit drei Jahren verheiratet und schienen auch gut zueinanderzupassen. Mercy war sehr schlank, hatte große Augen und war voller rastloser Energie, die man auf der Bühne immer ein wenig zügeln musste. James sah im herkömmlichen Sinne gut aus, war etwa so groß wie Vincent Singer, aber deutlich weniger dynamisch. Seine Stärke waren die romantischen Rollen, aber er hatte gar nichts Dämonisches, wie es die Rolle eines Bösewichts erforderte. Er verfügte auch nicht über die innere Ruhe, die eine tragische Rolle verlangt.

Alle begrüßten sich, äußerten ihre Zufriedenheit mit der hervorragenden Unterkunft, die ihnen gewährt wurde, und tauschten ein paar Geschichten über die Reise von London aus.

Sie saßen schon im Esszimmer bei Tisch, als der letzte Gast dazukam. Er wurde allen als Douglas Paterson vorgestellt, Alice Netheridges Verlobter. Er war Ende zwanzig und hatte ausgeprägte Gesichtszüge. Offenbar war er außerstande, seine ablehnende Haltung bezüglich dieses Zusammenseins zu verbergen. Er nahm Platz und entschuldigte sich kurz angebunden erst bei Mrs. Netheridge, dann bei Alice.

Alice nahm das kommentarlos hin.

Caroline warf Joshua einen Blick zu und merkte, dass auch er ein erstes Zeichen von Missbilligung bemerkt hatte. Patersons kurzer Blick, und dann die seltsame Anspannung seines Gesichts, als sie nicht reagierte – beides machte die Situation völlig klar: Es passte ihm nicht, dass seine Verlobte ihre Zeit mit einer solch unangemessenen Beschäftigung vergeudete. Wahrscheinlich hatte er sein Missfallen schon früher geäußert, und Alice hatte es ignoriert. Wenn sie ihn zuvor falsch verstanden hatte, konnte sie jetzt nicht mehr darüber hinwegsehen.

Das Abendessen war reichlich und sehr schön angerichtet. Der erste Gang war eine Suppe, dann gab es frischen Fisch. Netheridge bemerkte, dass dieser in der Nacht gefangen und am Morgen gleich vom Hafen hochgebracht worden war.

»Ich glaube nicht, dass wir in nächster Zeit mehr davon bekommen werden.« Er blickte zu den geschlossenen Vorhängen, hinter denen man den immer stärker werdenden Wind deutlich hören konnte.

»Man wird ihn auf Eis legen«, beruhigte ihn Eliza. »Es ist noch genug für uns da.« Sie sah ihre Gäste einen nach dem anderen an. »Ich habe stürmische Weihnachten gerne, vor allem mit Schnee. Ich erinnere mich an Jahre, in denen Weihnachten wunderschön war, so als ob die Welt über Nacht neu erschaffen worden wäre.«

»Ja, so ist das auch«, erwiderte Caroline eilig. »Zumindest in einem übertragenen, spirituellen Sinn. So sollten wir Weihnachten begreifen.«

Singer sah sie erstaunt an. »Ich dachte, Sie wären Jüdin?«, sagte er und blickte Joshua und dann wieder Caroline mit hochgezogenen Augenbrauen demonstrativ an.

Am Tisch herrschte betretenes Schweigen. Alice ließ ihre Gabel mit einem Klirren auf den Teller fallen.

Caroline zögerte. Ihr war bewusst, dass alle sie ansahen und darauf warteten, wie sie reagieren würde. Die Schauspieler wussten alle über Joshuas Abstammung Bescheid, aber wussten es die Netheridges auch? Sie war so wütend, dass sie Messer und Gabel auf dem Teller ablegte und die Hände in ihrem Schoß verbarg, weil sie zitterten.

Sie zwang sich, Vincent charmant anzulächeln. »Das dachten Sie nicht, Mr. Singer. Sie wissen ganz genau, dass Joshua Jude ist und ich Christin bin. Sie machten die Bemerkung nur, um sicherzustellen, dass diese Tatsache unseren Gastgebern auch wirklich bekannt wird, wenn mir auch nicht ganz klar ist, warum. Es sei denn, Sie wollen unbedingt jemanden in Verlegenheit bringen. Wenn unsere Gastgeber jetzt wünschten, dass wir abreisen, hätten Sie das ganze Projekt zunichtegemacht, mit allem, was daran hängt. Das war doch sicher nicht Ihre Absicht, oder?«

Einige gespannte Sekunden lang schwiegen alle. Die Farbe schoss in Vincents Gesicht, während er um eine Antwort rang.

Joshua rutschte auf seinem Stuhl unbehaglich hin und her. Lydia starrte auf den Boden. Mercy und James warfen sich gegenseitig Blicke zu.

Alice wandte sich schließlich an Joshua und ergriff das Wort.

»Es wäre schrecklich, wenn Sie abreisten, Mr. Fielding. Sie sind hier sehr gerne gesehen. Ohne Sie können wir unmöglich Erfolg haben – weder was das Stück angeht noch in unserer Rolle als Gastgeber. Wie könnten wir Weihnachten feiern, wenn wir Menschen in den Schnee hinausjagen würden, und schon gar nicht unsere eigenen Gäste, die extra hierhergekommen sind, um uns zu helfen?«

Netheridge zuckte kaum merklich zusammen. Caroline hätte das gar nicht wahrgenommen, wenn sie ihn nicht genau beobachtet hätte.

Eliza stieß einen leisen Seufzer aus.

Douglas Paterson war zweifelsohne entsetzt.

»Sie werden doch noch einmal eine gute Schauspielerin abgeben«, bemerkte Vincent trocken. »Ich freue mich schon darauf mit Ihnen zu arbeiten.«

»Lügner.« Alice Lippen formten das Wort, ohne es auszusprechen.

»Der Schweinebraten ist hervorragend«, sagte James in die Runde. »Das Fleisch ist sicher aus der Region.«

»Danke«, erwiderte Eliza. Sie machte ihn allerdings nicht darauf aufmerksam, dass es Hammel war.

Nach dem Abendessen, bei dem etwas gekünstelt Konversation betrieben und gelegentlich nervös gelacht wurde, führten Alice Netheridge und Douglas Paterson Caroline durch das große Haus. Zunächst war man sehr förmlich, eine Angelegenheit reiner Höflichkeit. Niemand zeigte sonderliches Interesse, aber es war eine Möglichkeit, die Zeit zu überbrücken, bis es schicklich wäre, sich für die Nacht zurückzuziehen.

Alice bemühte sich ernsthaft, die zuvor entstandene Unannehmlichkeit wiedergutzumachen, obwohl sie eigentlich gar nichts dafür konnte.

»Ich zeige Ihnen jetzt die Bühne«, sagte sie begeistert. »Sie wurde ursprünglich für Musikaufführungen gebaut: Trios und Quartette und Ähnliches. Eine meiner Tanten spielte Cello oder Bratsche, ich weiß es nicht mehr so genau. Großmutter meinte, meine Tante wäre sehr begabt gewesen, aber es ist nun einmal nicht das, was einer Dame geziemt, außer vielleicht im Familienkreis.« Sie blickte Caroline dabei an, und auf ihren weichen Gesichtszügen erschien ein Ausdruck von Unduldsamkeit.

»Sie hat ja nur an das Wohl ihrer Tochter gedacht«, bemerkte Douglas hinter ihr, als sie den breiten Gang entlanggingen. An den Wänden hingen Bilder der Küste Yorkshires. Einige davon waren sehr düster, aber bei näherer Betrachtung hielt Caroline es eher für möglich, dass die Lasur im Laufe der Zeit dunkler geworden war, und es gar nicht die Absicht des Künstlers gewesen war, sie so finster wirken zu lassen.

»Sie hat vielmehr an den guten Ruf der Familie gedacht«, berichtigte ihn Alice. »Es ging wieder einmal nur darum, was die Nachbarn dachten.«

»Ohne Nachbarn kann man in der Gesellschaft nicht leben, Alice«, erwiderte er. Er klang geduldig, aber Caroline bemerkte dennoch einen Hauch von Gereiztheit in seiner Miene – das glaubte sie zumindest zu erkennen. »Man muss auch eine gewisse Rücksicht auf deren Gefühle nehmen.«

»Ich will nicht, dass die Vorurteile meiner Nachbarn mein Leben bestimmen«, gab Alice zurück. »Die arme Tante Delia hat sich ihnen unterworfen und außer in diesem Theaterraum nie wieder auf ihrer Bratsche – oder was es sonst war – gespielt.«

Ohne sich dessen bewusst zu sein, beschleunigte Alice ihre Schritte. Caroline musste ordentlich ausschreiten, um mit ihr mitzuhalten.