Die Weisheit der Alten - Reimer Gronemeyer - E-Book

Die Weisheit der Alten E-Book

Reimer Gronemeyer

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Beschreibung

Ist hierzulande von "den Alten" die Rede, dann schaltet die Diskussion meist um in den Modus der Krisenbewältigung. Was tun mit den Alten? Wohin mit ihnen? Wie sollen sie versorgt werden? Und wer soll das alles bezahlen? Konsequent wird die alte Generation ausgegrenzt und an den Rand gedrängt, um sich nur schnell anderen Problemen der Gesellschaft widmen zu können. Übergangen wird dabei, dass "die Alten" Hüter vergessener Schätze sind. Der Theologe und Soziologe Reimer Gronemeyer unternimmt den längst fälligen Versuch, diese vergessenen Schätze zu heben. Auf faszinierende Weise stößt er auf das widerständige Potenzial, die Kunst des Andersseins, den kostbaren Starrsinn der Alten, auf ihre Fähigkeit zum Staunen und ihr produktives Abweichlertum. Auf Qualitäten also, die unsere Gesellschaft mehr denn je benötigt. In sieben Kapiteln berichtet er über: Bodenhaftung - Wider die allgemeine Mobilmachung/Kostbarer Starrsinn - Widerspenstige Alte/Bescheidenes Leben - Krisenfeste Alte/Bremsklötze der Leistungsgesellschaft - Graue Tugenden in neuem Glanz/Abweichler - Warum viele Alte alles mitmachen und warum die unverzichtbar sind, die das nicht tun/Staunen - Was die Alten alles können.../Würdige Greise - Den Respekt wiedergewinnen. "Die Schätze der Alten sind nicht wie eines dieser bunten Ostereier, die als 'Kinder-Überraschung' angepriesen werden. Auch nicht wie eine Wundertüte. Die Schätze der Alten konzentrieren sich in ihren Erfahrungen – und die sind manchmal bitter und sogar fürchterlich. Wenn man nach diesen Schätzen der Alten sucht, stößt man nicht unbedingt auf eine Kiste mit Goldbarren, sondern womöglich auf Erfahrungen, die Schuld, Unglück, Leid und Hass offenbaren. Keine süße Schokolade, keine blauen Plastik-Schlümpfe, sondern Abgründe. Verstörendes. Aber gerade darin kann dann mehr Weisheit, mehr Erfahrung und mehr Tiefe zu finden sein als in platter Positivität. Die Schätze der Alten sind nicht eine Ressource, die sich zur Ausbeutung anbietet.

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Reimer Gronemeyer

Die Weisheit

der Alten

Sieben Schätze für die Zukunft

Dieses Werk wurde vermittelt durch

Aenne Glienke | Agentur für Autoren und Verlage

www.AenneGlienkeAgentur.de

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2018

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: agentur IDee

Umschlagmotiv: © Benjamin Haas – shutterstock

E-Book-Konvertierung: Carsten Klein, Torgau

ISBN E-Book 978-3-451-81296-5

ISBN Print 978-3-451-60043-2

Inhalt

Impressum

Die Schätze der Alten

1. Mut:

Wir müssen nur unsere alten Mäntel rausholen

2. Liebe:

Wo bleibt die wahre Liebe, wenn die Liebe Ware wird?

3. Erinnerung:

Warum die Großeltern Zauberer sind

4. Früchte:

Wie überlebenswichtig Erfahrungen sind

5. Gelassenheit:

Wie die Freiheit im Alter wachsen kann

6. Tradition:

Warum der Boden wichtig ist, auf dem wir stehen

7. Wissen und Nichtwissen:

Warum die Alten keine Besserwisser sind

Perlenfischer

Das Wissen der Alten aus der Tiefe holen

Danksagung

Über den Autor

Das moderne Alter versucht sich dagegen in peinlicher Selbstverleugnung

und findet keinen höheren Wert als beibehaltene Jugendlichkeit.

Es täte besser daran, ­angesichts des Abgrunds an Jahren,

die heute manchem Betagten noch bevorstehen,

rechtzeitig aus der Tiefe der Kulturen den Schatz zu heben,

den einst der ­gesellschaftliche Vorrang des Alters anhäufte.

Botho Strauß1

1 Botho Strauß: Vom Aufenthalt, München 2012, S. 57.

Die Schätze der Alten

Die Alten hüten einen Schatz. Den gilt es neu zu entdecken. Der Schatz ist vergessen, selbst die Alten wissen nichts mehr von ihm. Warum ist der Schatz vergessen? Wie sieht er aus? Wo kann man ihn finden und bergen?

Die Zeit, in der wir leben, ist innovationssüchtig. Die Innovation gehört zur Geschichte der Menschen, aber wir sind von Innovationssucht zerfressen. Was alt ist, ist auch schlecht: das alte Smartphone, der alte Pullover, die alte Software, das alte Gesicht. Zukunft, Wohlstand, Glück sind von der ständigen Erneuerung abhängig. Der Maßstab für das, was gut ist, heißt: Jung und neu muss es sein. Wir müssen nach vorne schauen, wird gesagt. Und: Nur der Stein, der rollt, setzt kein Moos an. Und so wird alles, was alt ist, unter der Lawine der Waren, der Erfindungen, der Mobilitäten, der Neuerungen begraben. Das Alte und die Alten, das erfahren die Alten täglich: Ihre Kompetenzen, ihre Erinnerungen, ihre Kenntnisse sind nichts mehr wert. Das Neue ist das Bessere. Das Alte gehört auf den Müll. Die Alten reagieren auf diese Verwerfung in zweierlei Weise: Entweder sie nehmen sich als abgehängt, überflüssig, lästig wahr. Oder sie versuchen, sich anzupassen, üben sich krampfhaft in ihren Bemühungen mitzuhalten. Man könnte sagen: Die einen werden depressiv, die anderen reisen herum. Die einen fügen sich in ihre Randlage, die anderen stolpern in bunter Outdoorkleidung von einer Sehenswürdigkeit zur anderen. Beides sind eigentlich Wege und Weisen, der Erfahrung – der Sinnlosigkeit nicht ins Gesicht sehen zu müssen. Summa: Das Alter ist leer. Nur die Flucht vor dem Alter scheint zu helfen. Und diese Erkenntnis gebiert, wenn man sich ihr aussetzt, eiskalten Schrecken.

In der Geschichte des Umgangs mit den Alten hat es alles gegeben: die Tötung der überflüssigen Esser, die Herrschaft der Alten als Hüter der Weisheit, die religiöse Verehrung der Alten als Brücke in die andere Welt. Aber nie das: Leere.

Die entfesselte Leistungsgesellschaft, die Gesellschaft der rasenden Innovation und der ununterbrochenen Modernisierung stigmatisiert in unverhohlener Rohheit alles, was alt ist: das Alter und die Alten. Diese Rohheit ist verkleistert, weil die Alten bei uns mehrheitlich gut versorgt sind, weil sie schwer erkennen können, dass sie die Aussätzigen der Leistungsgesellschaft sind. Es gilt nun, sich die Binde von den Augen zu reißen, um wahrnehmen zu können: Die Alten sind viele, sie haben ihre Renten, am Ende sogar ihre Pflegeheime … Aber sie sind unbrauchbar. Und aus der Schlangengrube, in die Alte sich gestürzt sehen, hilft kein Anti-Aging-Programm heraus. Anti-Aging, dieser modische Blödsinn, sagt eigentlich alles darüber, was vom Alter zu halten ist: nämlich nichts. Anti-Aging: weg mit dem Alter. Anti-Aging bringt auf den Begriff, was das letzte Wort, das die Leistungsgesellschaft über das Alter spricht, sein will: Ihr seid draußen.

Die Selbsttötungsrate ist bei den Alten die vergleichsweise höchste. Die Demenz, die sich wie eine Epidemie ausbreitet, ist ein alarmierendes Signal, wenn man bereit ist, sie einmal als ein Burnout-Phänomen zu lesen. Die Menschen mit Demenz sind vielleicht jene, die die Frage aufbringen, ob sie – wie auch immer – als Menschen am verächtlich gemachten Alter gescheitert sind: Sie sind ein kurioser, bitterer Kommentar zur Anti-Aging-Mode. Denn viele der Menschen mit Demenz halten sich für ziemlich jung. Sie sehen sich im besten Alter … Wenn das kein Kommentar zum Jugendlichkeitswahn und zur Anti-Aging-Mode ist … Die Frau mit Demenz zum Beispiel, die ihren Sohn als ihren Mann ansieht, die sagt ja: Ich bin grad mal 30. Die 76 Jahre, die in ihrem Personalausweis stehen, sind geleugnet.

»In Würde altern« – ein beliebter Satz in den Reden von Landräten und Bürgermeistern. In Wirklichkeit eine hohle Phrase, ein Beruhigungsmittel, das die Frage nach den Voraussetzungen, unter denen man in Würde altern kann, nicht aufkommen lässt. Da ihr Alten – das ist die heimliche Botschaft – ohnehin nicht mehr mitkommt, beschäftigt euch bitte im Seniorenspielzimmer der Gesellschaft damit, in Würde zu vergammeln. Seid zufrieden mit dem Seniorenteller – im Restaurant und im übertragenen Sinn – im Alltag.

Es ist an der Zeit, den Spieß umzudrehen. Tatsächlich gilt es, die Schätze, die die Alten hüten, neu zu entdecken. Sie bewahren nämlich Kenntnisse, Erfahrungen, Tugenden, Sichtweisen, die gerade überlebenswichtig werden. Haben nicht immer mehr Menschen das Gefühl, die Bodenhaftung zu verlieren? Wird nicht der Wunsch nach Gelassenheit stärker? Empfinden nicht viele, dass der Zusammenhalt in den Familien, im Alltag schwindet? Nehmen nicht die Panikattacken überhand? Ist der Single im Loft, der an nichts und niemanden gebunden ist, der vom konsumistischen Rausch mitgerissen wird und von Event zu Event stolpert, der nirgendwo zu Hause ist und sich in eisiger kommunikativer Kälte aufhält – ist das wirklich die beneidenswerte Symbolfigur, zu der alle hinstreben? Ist die explodierende Zahl derer, die ausgebrannt sind, ist die zunehmende Zahl der Depressiven nicht ein Fingerzeig? Wir geraten an eine Bruchstelle, wo die Frage nach dem »Mehr«, nach dem »Weiter so« an ihre Grenzen kommt. Die Wachstums-, die Innovations-, die Beschleunigungsgesellschaft beginnt, ihre Kinder zu fressen. Und das ist der Augenblick, in dem der verpönte Blick zurück gewagt werden kann, werden muss. Die Alten sind die Verlierer der Beschleunigungsgesellschaft, aber wenn die Ratlosigkeit um sich greift, wenn die Ortlosigkeit mit Schrecken wahrgenommen wird, wenn die Menschen merken, dass sie ohne Wurzeln, ohne Sinn leben und leben sollen, nur dem Spaß und der Konkurrenz verpflichtet: Dann ist die Stunde Null da, in der mit einem Mal die Alten nicht mehr nur als die grauen Mäuse wahrgenommen werden, die auf die Apotheken-Rundschau abonniert sind, sondern als Menschen, die sich an etwas erinnern, die in etwas leben, die von etwas wissen, das verloren zu sein schien.

Ich kann mich noch sehr genau an den Augenblick erinnern, in dem ich das – wie vom Blitz getroffen – verstanden habe: Dass unser gewohntes Bild von den Alten falsch ist. Es muss ganz und gar neu gemalt werden.

Denn wir sind blind und taub gegenüber den Fähigkeiten der Alten. Auch ignorant. Unsere Aufgabe ist es, diese verschütteten Fähigkeiten und Kenntnisse freizulegen, bevor sie verloren gehen. Es geht darum, an sie zu erinnern und ihre Bedeutung für unsere Zukunft ins Licht zu stellen. Und sie so vor dem Verschwinden zu retten.

Ich saß im Sand. In einem kleinen Dorf in Malawi, im warmen Herzen Afrikas. Mir gegenüber saß eine alte Frau, vielleicht 80 Jahre alt, nicht viel älter also als ich. Sie saß sehr aufrecht, ihre Beine hatte sie gerade ausgestreckt, und so redete sie mit mir, antwortete auf meine Forscherfragen. So harrten wir beide seit Stunden aus. Während des langen Gesprächs pflückte sie mit geübten Händen kleine Blätter von einem Zweig. Die Maisernte war schlecht ausgefallen, darum hungerte fast jeder im Dorf. Diese Blätter von dem Moringa-Baum sind eigentlich kaum genießbar, aber sie sind nun mal das Einzige, was jetzt zu finden ist, um die Schüssel Maisbrei mit etwas Geschmack anzureichern. Und so wuchs ein Berg aus grünen Blättern vor meinen Augen, er wuchs auf einem zuvor ausgebreiteten blauen Tuch. Ich war gebannt von der Schönheit dieser über lange Zeit geübten zupfenden Bewegungen. Ein ganzes Leben als bäuerliche Frau bildete sich in dieser Geste ab, eine Frau, die es versteht, eine große Familie zu versorgen. In dieser ruhigen, gewohnten Geste, mit der das Einfache und das Notwendige getan wurde, wird alle Kostbarkeit sichtbar, wenn man bereit ist, sie zu sehen. Und hier am Rande der Welt, in diesem abgelegenen malawischen Dorf, habe ich plötzlich begriffen, wie viel die Alten können. Sie hüten einen Schatz, von dem sie nichts wissen – und den die Jüngeren ignorieren: in ihren Gesten, in ihrem Umgang mit Zeit, im Umgang mit Ressourcen, mit Sprache, mit Schmerz, mit Altern, mit Geld. Die Alten bewahren Unwiederbringliches. Diese Fähigkeiten werden übersehen, denn sie sind verächtlich gemacht worden. Niemand interessiert sich für das Wissen der Alten. Akzeptiert sind sie, wenn sie sich dem Modischen unterwerfen. Akzeptiert sind sie, wenn sie leugnen, dass sie alt sind. Akzeptiert sind sie, wenn sie ihre Mobilität unter Beweis stellen und wenn sie sich als perfekte Konsumenten von Dienstleistungen erweisen. Das ihnen Eigene, ihre Bodenhaftung, ihre Lebenserfahrung gilt als grau und rückständig. So gesehen erscheinen sie als Modernisierungshindernisse, die verschwinden sollen, weil sie den Fortschritt aufhalten. Oder eben so gut es geht der Mode hinterherhasten.

In diesem Buch wird nicht von den Mimikry-Alten geredet, die bei jedem modischen Unsinn mitmachen, weil sie von der Hoffnung getrieben sind, dass sie dann als Abgelebte nicht auffallen. Die Rede soll also nicht von denen sein, die sich der Gewalt des Jugendwahns unterwerfen.

Der Spieß soll vielmehr umgedreht werden: Wie oberflächlich muss man eigentlich sein, um all den hektischen, substanzlosen, oberflächlichen Unsinn mitzumachen, dem wir ausgeliefert sind und dem wir uns ausliefern? Es gilt, die Widerspenstigen aufzusuchen, die vielleicht gar nicht wissen, dass sie widerspenstig sind. Es ist an der Zeit, von denen zu erzählen, die sich vom modischen Gerede nicht mitreißen lassen. Wir wollen die ins Licht stellen, die den Schatz des Eigenen hüten: in ihrem Garten, in ihrer Sprache, in ihren Gesten, in ihrem Weltverständnis, in ihrer Gelassenheit, in ihrem Sparbuch, in ihren Kochrezepten, in ihrer Sorgfalt im Umgang mit den Dingen. Wir wollen zu Besuch sein bei den Nachdenklichen, die nicht ein Drittel der Esswaren in den Müll werfen. Bei den Bewahrenden, die nicht bereit sind, Wegwerfkleider, Wegwerfmöbel oder Wegwerfbücher zu kaufen. Und bei denen, die vor der Wohlstandsverwahrlosung der (Enkel-)Kinder erschrocken zurückweichen. Wir werden von denen erzählen, die die modische Einzelhaft mit Plastikmüll, die den Alltag unserer Kinder im modernen Einfamilienhaus kennzeichnet, als das erkennen, was es ist: Kindesmisshandlung.

Das Märchen von den Bremer Stadtmusikanten erscheint unter diesem Blickwinkel in ganz neuem Licht. Der Hahn, die Katze, der Hund, der Esel: Sie müssen im Märchen fliehen, weil sie von den Herrschaften nicht mehr gebraucht werden. Und sie sagen sich: Etwas Besseres als den Tod finden wir überall … Die Alten könnten heute sagen: Etwas Besseres als die Verachtung der mobilen, der digitalen, der wegwerfenden Gesellschaft, die mit dem Alten und den Alten nichts anfangen kann, tragen wir in uns. Ihr Jungen wisst nur nichts davon. Und sie fahren fort: Wo wir schon dabei sind, wer ist hier eigentlich tot? Ihr leistungsbesessenen entgrenzten Zapper oder wir einfältigen Verzögerer, die wir an Beziehungen, Wohnorten, Gewohnheiten festhalten – auch wenn sie sich nicht rechnen?

Heute Nachmittag traf ich Frau Heinrichsen aus einem kleinen rheinhessischen Dorf am Wegesrand. Sie hatte ihr Fahrrad an den Wegesrand gelegt und pflückte Wiesenkräuter. Schafgarbe, Leimkraut, blaublühende Kletten. Sie pflückte diesen Strauß mit einer Freundin, um ihn am nächsten Tag, am Sonntag, auf den Altar der kleinen Kirche zu stellen. Altmodisch. Außerhalb der gewohnten Geld-Kauf-Mich-Kette, kenntnisreich: Sie kannte jedes Kraut. Alle Kräuter, so sagte sie, sind ja irgendwie Heilkräuter. Womit sie recht hat. Was aber kaum noch jemand weiß. In Frau Heinrichsens Garten wachsen Erbsen, Tomaten, Karotten – sie nimmt den eigenen, sorgsam gehüteten Samen, den sie aus den geernteten Pflanzen gewinnt. Sie kocht für ihre 15-jährige Enkelin, die sich aus dem zerbrochenen Elternhaus zu ihr gerettet hat. Sie lächelt, milde möchte man sagen, über die Verfallenheit der Enkelin an ihr Smartphone. Sie missioniert sie nicht, sie lebt ihr ein anderes, ein bescheidenes, ein tätiges Leben vor. Daran kann die Enkeltochter vielleicht eines Tages anknüpfen.

Am selben Tag noch lese ich: Im US-Bundesstaat Florida hat eine Frau ihre drei kleinen Kinder im Auto ­zurückgelassen und damit eine tödliche Tragödie verursacht. Der sechsjährige Sohn von Kathleen Marie Steele schlug seine gerade mal 13 Tage alte Schwester tot. Der Junge habe die schreiende Schwester aus dem Sitz gerissen, sie geschüttelt, auf den Boden des Autos geworfen, ihren Kopf gegen die Decke gestoßen, sie ins Gesicht geschlagen und ihr schwere Verletzungen beigebracht. Die Mutter hatte Fenster und Türen des Autos geschlossen und war in einen Handyladen gegangen, da ihr Sohn das Handy hatte fallen lassen. Als Steele aus dem Laden zurückkam, habe der Sohn ihr erzählt, was geschehen sei. Sie habe aber ihre Besorgungen fortgesetzt. Als sie nach zwei Stunden zu Hause ankam, sei das Baby schon kalt und blau gewesen.

Steele, die Mutter, ist 62 Jahre alt und war einige Jahre zuvor in einer Reality-Show im Fernsehen aufgetreten. Diese stand unter dem Motto: »Ich bin schwanger und 55 Jahre alt«. Steele hatte ihre Tochter dank künstlicher Befruchtung mit dem Samen ihres toten Mannes bekommen.

Diese alte Frau ist dem Wahn der Machbarkeit ausgeliefert, an der wir alle leiden. Sie möchte verzweifelt so tun, als gäbe es das Alter nicht. Das endet in dieser besonderen Geschichte in einer tödlichen Katastrophe. Aber die Geschichte macht die generelle Richtung deutlich: Wer das Alter leugnet, wer sich dem Jugendwahn unterwirft, wer das Eigene des Alters ignoriert – verliert alles. Hierzulande gibt es das selbstverständlich auch. Annegret Raunigk ist im Mai 2015 mit 65 Mutter von Vierlingen geworden.

Es ist nicht so, dass es in diesem Buch darum geht, die altmodischen Alten gegen die angepasst-modischen Alten auszuspielen und dann zu fragen: Wer gewinnt? Das Vergessene, das Unsichtbare soll aus den Tiefen der Gesellschaft hervorgeholt werden. Wir wollen uns nicht dem Druck der flüchtigen Moderne beugen, die alles diskreditiert, was langsam ist. Alles, was gestern war. Alle Erinnerung. Alles Widerspenstige. Das, wofür die Alten stehen, wird »wegbeschleunigt«. Ihre Kenntnisse, ihre Kompetenzen, ihre Erfahrungen sollen auf dem Müllhaufen der Geschichte verschimmeln. Vielleicht wird das funktionieren. Aber vielleicht wird auch das Umgekehrte wahr: dass die Alten als die Hüter der Langsamkeit, der Bescheidenheit, der Erinnerung wiederentdeckt werden. Viel wird gegenwärtig davon geredet, dass wir langsamer (und natürlich nachdenklicher) werden müssen, wenn wir überleben wollen. Wir wissen, dass die Flammen schon aus dem Dach des Hauses schlagen (Klimawandel, Flüchtlingsströme, zerfallendes Europa, Schwund der Artenvielfalt, Ressourcenknappheit, Terrorismus …). Und da wäre der Stamm der Alten zu entdecken, der mitten unter uns lebt. Sie leben in Reservaten wie die Indianer, als Vereinzelte in ihren Wohnungen und in Heimen. Sie sind die Ausgesonderten einer neuen Apartheid, die in kostspieligen Homelands untergebracht sind. Und über ihnen schwebt das Verdikt: Zu nichts mehr nütze.

Die Suizidrate unter Alten ist – wie bereits erwähnt – die vergleichsweise höchste in Deutschland. Man fragt sich, warum sie nicht noch höher ist. Und darum ist es möglich, das Lob auf die Weisheit der Alten zu singen. Als ein Loblied in zwei Strophen, der einen Blickwechsel ankündigt. Nicht auf die Defizite schauen wir, sondern auf die Kompetenz:

Erste Strophe: Die Alten leben in finsteren Zeiten, so wahr sie in einer jugendbesessenen Welt leben. Wegschauen hilft nicht. Wie aber lässt sich das Verzweifeln vermeiden? Wie leben mit der Erfahrung der Marginalisierung, wie die Erfahrung der Unbrauchbarkeit ertragen?

Zweite Strophe: Die Alten haben eine zunehmende Bedeutung für die Zukunft, weil sie über Schätze verfügen, die diese wankende und brechende Welt dringend braucht.

Davor ist über ein mögliches Missverständnis ist zu reden. Es geht in diesem Buch nicht um die Schätze, die gerade von den Alten an die Jungen vererbt werden. 250 Milliarden Euro werden gegenwärtig jährlich in Deutschland vererbt mit steigender Tendenz. Deutschland erlebt in diesen Jahren die historisch größte Erbschaftswelle seiner Geschichte. Bis zum Jahre 2020 wird ein Drittel des deutschen Privatvermögens (das sich auf sieben Billionen Euro beläuft) auf diese Weise seinen Besitzer wechseln.1 Von einer Generation »Goldener Löffel« wird in diesem Zusammenhang gesprochen. Allerdings sind die Erbschaften sehr ungleich verteilt, und sie werden zum Wachstum der Kluft zwischen reich und arm deutlich beitragen. Von diesen Schätzen also wird in den folgenden Kapiteln nicht die Rede sein. Es wird auch nicht die Frage sein, was die Erbenden mit diesen Schätzen anfangen. Das ist ein anderes Thema.

Wir versuchen in den folgenden sieben Kapiteln, die Schätze der Alten auszugraben und ans Licht zu bringen. Wie bei einem Teppich, der gewebt werden soll, bedarf es des Schiffchens, das quer zu den gespannten Fäden das Muster in den Teppich bringt. Diese sieben Begriffe, die quer zu den sieben Kapiteln Text liegen, vervollständigen hoffentlich das Bild, das hier gewebt wird.

1. Bodenhaftung: Wider die allgemeine Mobilmachung

Kein Mensch kann ohne Wurzeln existieren. Davon wissen die Alten. Die französisch-jüdische Schriftstellerin Simone Weil schrieb 1943: Wurzeln zu haben sei das vielleicht wichtigste und zugleich am wenigsten anerkannte Bedürfnis der menschlichen Seele. Herrschende Mode aber ist jetzt die permanente Aufforderung zur Erosion aller festen Lebensverhältnisse, die Aufforderung zum Wegwerfen, zur Mobilität. Viele Alte machen da mit, lassen sich mitreißen und gehen unter. Lokalität, Heimat, Bindung, Orientierungen sind die Feinde einer globalen Gesellschaft, die nur den Aufbruch kennt. Im Grunde sind viele Alte heute Heimatvertriebene im direkten und übertragenen Sinne des Wortes. Deswegen spricht sie zu den Alten: Entweder du nimmst Teil an der globalen Mobilmachung oder »du bist raus« – wie es im Kinderreim heißt. Zu loben sind die, die sich davon nicht blenden lassen. Vielleicht gehört ihnen, zumindest dem, woran sie festhalten, die Zukunft. Wenn die Menschen denn eine haben. Es gibt einen merkwürdigen Widerspruch: Wir wissen, dass entfesseltes Wachstum den Planeten zugrunde richten wird. Trotzdem gibt es kein Parteiprogramm, das diese Gefahr wirklich zu sehen bereit ist. Der Schatz der Alten könnte ihre Bescheidenheit, ihre Immobilität, ihre Rück-Ständigkeit sein. In ihrem Verhalten (und wir reden nicht von den beschleunigungsorientierten eilfertigen Mitmachern, die es massenhaft unter den Alten gibt) ist womöglich mehr Zukünftigkeit, als wir wahrzunehmen bereit sind.

2. Kostbarer Starrsinn: Widerspenstige Alte

Wer ist jung, wer ist alt? Wenn wir auf das schauen, was die Welt, in der wir leben, braucht, dann ist es nicht vorwärtsstürmende Bedenkenlosigkeit, sondern die Erinnerung an manche Tugenden unserer Vorfahren, die in den Alten noch vorkommen. Es gilt, den Wegwerfmentalitäten zu widerstehen. Vielleicht ist die Frau, die Bohnen einkocht, viel jünger als der Student, der Abend für Abend den Pizzadienst kommen lässt. Der Wiederaufstieg des Konservierens, des Bewahrens, des Wiederverwendens wird zu feiern sein – und wird die alt aussehen lassen, die das alles verworfen haben. Die Alten, jedenfalls einige, kennen sich aus in Überlebenstugenden. Das hat sich zuletzt gezeigt in Griechenland, wo viele arbeitslose Jugendliche zu ihren Großeltern aufs Land geflohen sind, die über »Lebensmittel« verfügen. Über Oliven und Olivenbäume, über Kenntnisse im Umgang mit dem Boden, mit Saat und Ernte.

3. Bescheidenes Leben: Krisenfeste Alte

»Simplify«-Bücher erfreuen sich großer Beliebtheit. Wer hinschaut, kann sehen, dass das für viele Alte keine Devise aus Büchern ist, sondern eine eingeübte Realität. Sie leben mit Tugenden, die zukunftsfähig sind. Simplify: Das ist keine Neuentdeckung der Jungen, sondern eine hier und da aus alten Zeiten gerettete Praxis. Bescheidenheit und Geduld sind die unzeitgemäßen Worte, die in diesen Zusammenhang gehören. Sie wollen aus der Schublade geholt werden.

4. Bremsklötze der Leistungsgesellschaft: Graue Tugenden in neuem Glanz

Ja, als Modernisierungsbehinderte sehen viele die Alten – mit ihrer Disziplin, ihrer Sparsamkeit, ihrer Bescheidenheit, ihrer Skepsis gegenüber dem Neuen und dem Fremden. Und sie passen auch nicht in die Welt des unendlichen Konsums, in dem die Grenzen des Ichs sich auflösen und sich die Beziehungen der Individuen in messbare Leistungen umwandeln. So mancher Alte lebt mit einer Vorstellung vom Ich und vom Du, die einfach da ist und sich nicht in die Kategorien der Ökonomie oder der Nützlichkeit hat auflösen lassen. Manche Alte haben von Individualisierung und Selbstverwirklichung noch nichts gehört und leben überraschend gut und sozial damit. Wer so lebt, gerät aber nicht nur schnell in den Verdacht, altmodisch zu sein, sondern eigentlich nennt man solche Leute: dumm. Es wird sich zeigen, wer den längeren Atem hat.

5. Abweichler: Warum viele Alte alles mitmachen und warum die unverzichtbar sind, die das nicht tun

Wie viele Bauerngärten sind in den letzten Jahrzehnten verschwunden? Stattdessen haben sich Rasen und sogenanntes Altstadtpflaster ausgebreitet, geklebter Steinabfall – Bodenversiegelung. Wie viel an Kenntnissen über den Gartenbau, wie viel an Subsistenz, wie viel an guter Nahrung, wie viel an Artenvielfalt ist da verloren gegangen? Es ist ein Prozess stiller Verwüstung, der sich der Bequemlichkeit, der abgezirkelten Ordnung, dem Vergleich mit den Nachbarn verdankt. Es ist noch nicht lange her, dass ein Großteil der Nahrung im ländlichen Bereich aus dem eigenen Garten kam. Heute ist der Supermarkt an die Stelle getreten. Es dürfte der Vielfalt, der Gesundheit, der Figur geschadet haben. Es gibt sie aber noch, die Abweichler, die Konservativen, die der Bequemlichkeit nicht alles geopfert haben. Man kann sicher sein: Bei denen wird etwas aufbewahrt, was für die Zukunft der Menschen wichtiger ist als der ganze Supermarkt-Fertigwahn. Es bleibt zu hoffen, dass dieser Schatz entdeckt und bewahrt wird, bevor die Supermarkt-Monotonie alles zum Verschwinden gebracht hat. »Trotz des Verlangens der Menschen nach Einsamkeit und Ruhe wird es schwer sein, diese zu finden. Dennoch wird es ein Gewinn sein, in diesem Zeitenwandel ein Stück Erdboden unter den Füßen zu haben und aus ihm die Kräfte zu einem neuen, natürlichen, anspruchslosen und zufriedenen Tageswerk und Feierabend zu ziehen.« Das schreibt Dietrich Bonhoeffer 1944 aus dem Gefängnis an sein Patenkind.2 Alte Worte für einen überraschend neuen und überlebenswichtigen Tatbestand.

6. Staunen: Was die Alten alles können …

Es wäre interessant zu wissen, wie es mit den Alten und ihren Werkzeugen ist. Wie viel schönes, brauchbares, verständliches Werkzeug lagert noch irgendwo? Liegt herum? Abgelöst von vollkommen sinnlosen Laubsaugern, von maßlos übertriebenen Rasenmähpanzern. Die Elektrifizierung jedes Handgriffs im Haus und im Garten bringt Kenntnisse, Erfahrungen, Kniffe und Tricks zum Verschwinden. Es sind die Alten, die gerade noch als die Hüter von Werkzeugen und Erfahrungen erkennbar sind, die unter die zerstörende Walze von Baumarktfertiglösungen geraten. Reparieren – ein altes Wort, ein alter Tatbestand, von dem manch Alte viel verstehen. Die Fertiglösung kann mit einem Schlag jahrzehntealte Erfahrungen vernichten, auslöschen, überflüssig machen. Und ebenso wie die Bohne »Erichs Beste von allen« mit Erich stirbt und der Standardbohne weicht, ebenso wird die Fähigkeit, einen Zaun zu flicken oder im Haus eine Leitung zu verlegen, unterminiert. Versicherungsfragen, Paketlösungen – alles arbeitet gegen die Alten-Kompetenz.

7. Würdige Greise: Den Respekt wiedergewinnen

Ich habe meine Mutter immer als ängstlich erlebt. Sie hat mich nicht gegen die Attacken des Vaters geschützt. Sie hat geschwiegen und heimlich geweint, und ihre ganze Lebensenergie schien in Anpassung und Konfliktvermeidung aufzugehen. Bloß keinen Streit. Sie hat unerbittlich die Aufstiegswünsche ihres Mannes als verlängerter Arm dieses schweigend-autoritären Vaters in uns Kinder eingepflanzt, ja eingepeitscht. Aber in ihrer letzten Lebensphase trat ein anderer Mensch aus ihr heraus: Sie lag, 95 Jahre alt, in der Kurzzeitpflege. Und sie schloss ihren Mund und weigerte sich, zu trinken und zu essen. Sie wollte ihrem Leben ein Ende setzen und tat das mit bäuerlicher Entschlossenheit. Sie hatte ein Leben als Hausfrau verbracht, etwas, das heute nur noch Spott hervorruft. Sie hatte ihr Leben so eingerichtet, dass alles dem Wohlergehen ihrer Kinder diente: Die sollten es einmal besser haben. Und das ist ihr geglückt. Aus heutiger Sicht mag sie ein Emanzipationskrüppel gewesen sein. Aber sie hat mit großer Kraft, ohne auf sich zu achten, ihr Leben gelebt und ihr Ende am Schluss selbst in die Hand genommen.

Zwei Anekdoten über das Alter, in denen alles gesagt ist:

Hut am Steuer

Ich werde älter. Ich fahre langsamer. Ich habe Angst, dass ich etwas übersehe, gar einen Unfall verursache. Der Opa mit dem Hut am Steuer – das war ja früher eine Witzfigur. Bin ich das jetzt? Der Langsame da, dem der BMW, mit aufgeblendeten Scheinwerfern, fast auf der Heckklappe hängt? Ich fahre allerdings ohne Hut. Vielleicht sollte ich einen aufsetzen? Gewissermaßen als Senioren-Warnweste: Pass auf, da schleicht ein Verkehrshindernis?

Nein, so weit geht es denn doch noch nicht. Ich habe auch keinen Wackelhund auf der Ablage und es liegt da keine umhäkelte Toilettenrolle. Aber aus der Sicht des BMW-Fahrers bin ich eher ein Teil des ruhenden Verkehrs, der sich auf die Autobahn verirrt hat. Kürzlich widerfuhr mir allerdings eine merkwürdige Umkehrung. In einer endlosen Schlange auf der italienischen Autostrada: Lange Zeit muss ein schnittiger (sagt man das noch?) schwarzer Audi, in dem vier junge Männer sitzen, sehr langsam hinter mir herfahren. Stau. Schließlich die Mautstation. Mir folgt die schwarze Granate. Und was sehe ich im Rückspiegel? Der junge Mann zuckt spürbar ungeduldig hinter dem Steuer. Und er hat einen total hippen Hut auf dem Kopf, so einen, wie ihn Gene Hackmann in dem Drogenfilm French Connection trägt. Und nimmt, nachdem sich die Schranke auch für ihn öffnet, sofort die Gelegenheit wahr, mir zu zeigen, dass seine schwarze Rakete in Sekundenschnelle auf 100 Kilometer pro Stunde kommt … So wird mir eine Testosteron-Lektion erteilt. Und die Sache mit dem Hut stimmt auch nicht mehr. Einen Augenblick kam ich mir an dieser italienischen Mautschranke vor wie der Verlierer. Ohne Hut. Er da, der mit dem hippen Hut, der Gewinner. Alt gegen jung. Schnell gegen langsam. Vergangenheit gegen Zukunft. Was aber, wenn es ganz anders wäre? Wenn die Zukunft nicht den Sklaven der Geschwindigkeit gehört? Wenn die Zukunft ruhige Züge trägt, die heute nur noch bei den Alten eine Zuflucht haben? Wenn der Augenblick kommt, in dem sich die Lächerlichkeit dieses schwarz lackierten Fetischs offenbart? Wenn die hirnlosen Vertreter der Spaßgesellschaft ausgelacht werden? Das wird der Augenblick sein, in dem auf das Alte, das Langsame, das Zurückhaltende ein ganz anderer Blick fällt.

Der Rucksack