Nichts funktioniert mehr. Welche Chance! - Reimer Gronemeyer - E-Book

Nichts funktioniert mehr. Welche Chance! E-Book

Reimer Gronemeyer

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Beschreibung

1.Die Dienstleistungsgesellschaft zerfällt vor unseren Augen. Sie funktioniert nicht mehr. Warum passiert das? Und wie kommen wir da wieder raus? 2.Gleichzeitig sehen wir, dass immer mehr Menschen zerbröseln. Sie werden depressiv; sind erschöpft, ängstlich, krank oder mutlos. Was fehlt ihnen? 3.Wie hängt das zusammen? Hat die perfekte Dienstleistungsgesellschaft uns entmündigt und kraftlos gemacht? Ist also endlich Schluss mit dem zunehmenden Konsum von Profiangeboten? Laufen wir vielleicht ohne die Krücken besser? 4.Die Erde wird immer heißer, die Gesellschaft wird immer kälter. Wollen wir sozial erfrieren? Die Profis stehen nicht mehr zur Verfügung, sie werden uns nicht mehr pampern. Werden wir erwachsen und sehen uns um: Wir können selbst mehr als wir ahnen. Nehmen wir die Chance wahr. 5.Entziehen wir uns der Herrschaft der Spezialisten, die sowieso nicht mehr kommen. Probieren wir die neuen Freiheiten aus.

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Reimer Gronemeyer

Nichts funktioniert mehr. Welche Chance!

Vom Ende der Dienstleistungsgesellschaft

Der Verlag behält sich das Text-und Data-Mining nach §44b UrhG vor, was hiermit Dritten ohne Zustimmung des Verlages untersagt ist.

1. Auflage 2024

© edition einwurf GmbH, Rastede

Folgende Ausgaben dieses Werkes sind verfügbar:

ISBN 978-3-89684-717-1 (Print)

ISBN 978-3-89684-718-8 (Epub)

Satz und Gestaltung:

Die Werkstatt Medien-Produktion GmbH, Göttingen

Datenkonvertierung E-Book: Bookwire - Gesellschaft zum Vertrieb digitaler Medien mbH

Alle Rechte vorbehalten! Ohne ausdrückliche Erlaubnis des Verlages darf das Werk weder komplett noch teilweise vervielfältigt oder an Dritte weitergegeben werden.

www.edition-einwurf.de

Reimer Gronemeyer

Nichtsfunktioniert mehr.Welche Chance!

Vom Ende derDienstleistungsgesellschaft

Inhalt

PanikattackeEin Kurzbesuch in der Dienstleistungsgesellschaft

Es wird wehtunEinstürzende Dienstleistungen

Wer hat sich das ausgedacht?Geburtsfehler der Dienstleistungsgesellschaft

Dienstleistungen sind so schädlich wie Kohle, Gas und ÖlWarum es so nicht mehr weitergeht

Symptomträger des ZerfallsVerweigerer als Seismografen der Krise

Warum unser postindustrielles Gesellschaftsmodell überholt istWir brauchen mehr Gemeinschaft statt mehr Individualisierung

Aufbruch aus der Vergeldlichung unserer BeziehungenVom Widerstand gegen die nekrophile Gesellschaft

Was kommt nach der Wohlstandsgesellschaft?Entprofessionalisierung: Was wir alles selbst können

Das Wagnis der WildnisVom Ende der Expertenherrschaft

Welche Chance! Welche Chance?Die Caring Society ist (k)ein Rezept

Anmerkungen

Dank

Der Autor

Es ist nicht nur die Erdatmosphäre, diezerstört wird, oder der Mensch, der mit fünfzig‚ausgebrannt‘ ist. Auch öffentliche Einrichtungen werden verwüstet.

SHELDON S. WOLIN1

Panikattacke Ein Kurzbesuch in der Dienstleistungsgesellschaft

„Es donnert in den Kitas!“

„Wir können sagen, dass das System auf den Kollaps zugeht“, sagt Katharina Raschdorf, Gewerkschaftssekretärin bei Verdi. Sie sagt es im Blick auf die Zustände in sächsischen Kindertagesstätten.2 Sachsens Personalschlüssel ist im Keller: Im bundesweiten Vergleich findet sich Sachsen auf dem vorletzten Platz. In der Krippe liegt er bei 5,2, im Kindergarten bei 11,5 Kindern pro Erzieher oder Erzieherin. Es sei nicht möglich, sich einmal mit drei Kindern hinzusetzen, um eine Geschichte vorzulesen, klagt eine Kita-Mitarbeiterin. Wenn jemand wegen Krankheit oder Urlaub fehlt, ist die Belastungsgrenze für die Betreuenden schnell erreicht. Die Bertelsmann Stiftung empfiehlt einen Betreuungsschlüssel von eins zu drei in der Krippe, von 1 zu 7,5 im Kindergarten. Aus dem Kultusministerium heißt es: Eine solche Aufstockung würde für Krippen fast 400 Millionen Euro kosten und 6.800 neue Vollzeitstellen bedeuten. Das Geld dafür sei nicht da und das Personal sowieso nicht. Und so beschränkt sich die Tätigkeit der Kinderbetreuung auf die Wahrung der Aufsichtspflicht. Bildungsimpulse zu setzen – die vorgesehen sind –, das ist nahezu ausgeschlossen. Eine Mitarbeiterin sagt, sie kenne niemanden, der momentan zufrieden sei. Deshalb verlassen viele den Beruf vor der Rente: „Wir unterhalten uns häufig darüber: Schaffe ich das noch 35 Jahre mit dieser krassen Belastung?“ Und die Erzieherin aus Leipzig ergänzt: „Meiner Meinung nach fehlt ein großer gesellschaftlicher Aufschrei.“3

Der große gesellschaftliche Aufschrei fehlt, aber wenn man Fledermausohren hätte, könnte man hören, dass in der Bundesrepublik unablässig ein Aufschrei in Zimmerlautstärke stattfindet. Über Kitas. Über Schulen. Über Ärzte. Über Krankenhäuser. Über Handwerker. Über Sparkassen. Das Geld fehlt an allen Ecken und Enden – und das Personal gibt es auch nicht. Was passiert da? Ein Flüstern, ein Mosern, ein Meckern, ein Klagen erfüllt die Luft. Man könnte denken, die Gesellschaft im Ganzen leidet unter einer Panikattacke. Das System geht auf einen Kollaps zu – das gilt nicht nur für Sachsens Kitas, sondern die Panikattacke ist zu einer gesellschaftlichen Grundmelodie geworden. Ob ich mich im Café mit Freunden treffe, auf einer Geburtstagsfeier bin, im Zugabteil sitze oder in der Pizzeria – alle sind sofort beim Thema: Die Bahn fährt nicht. Der Arzt hat keine Termine frei. Die Gastherme wartet auf eine Reparatur. Die Banküberweisung klappt nicht. Alles wackelt, darüber besteht Einigkeit.

Standortwechsel. Frau Müller-Flass sitzt hinter ihrem Schreibtisch in einem großen Altenwohn- und Pflegeheim der AWO. Und sie fragt: „Was ist los mit den jungen Leuten?“ Sie ist seit 1975 in der AWO tätig, Sie sitzt auch jetzt nach ihrer Pensionierung hinter dem Schreibtisch, sie ist vor allem für die Ehrenamtlichen zuständig, kümmert sich aber um alles Mögliche. Aber da – hinter dem Schreibtisch – sitzt sie selten, weil sie viel im Haus und in der Kommune unterwegs ist. 240 Pflegebedürftige leben hier in dieser Einrichtung. Sie ist voller Empathie für die Menschen, für die sie verantwortlich ist. Aber sie engagiert sich außerdem noch im Ortsbeirat und im Seniorenbeirat der Kommune … Voller Zorn ist sie über die – aus ihrer Sicht – wuchernde Bürokratie. Da braucht eine Frau, die allein lebt, einen Handgriff in ihrer Dusche. Die Krankenkasse lehnt die Bewilligung ab. Frau Müller-Flass erhebt Einspruch. Wer sollte es sonst tun? Die Betroffenen, Alte, Behinderte, Kranke können es oft selbst nicht. Was ist die Haupttätigkeit, die Frau Müller-Flass ausübt? Die Auseinandersetzung mit einer Bürokratie, die immer weniger funktioniert. Da sind junge Leute, die sich nicht mehr auskennen. Sie sitzt hinter ihrem Schreibtisch und fragt sich (beziehungsweise uns, ihre Gesprächspartner): „Was ist los mit den jungen Leuten?“ Sie stellt jetzt auch Leute ein, die Schwierigkeiten mit dem Einstieg in das Berufsleben haben. Der Personalmangel zwingt sie dazu, neue Wege zu gehen. Auf ihrem Bildschirm ploppt gerade eine Anfrage aus der Mongolei auf, ob sie einen Job zu vergeben hätte … Die Leute, die sich da reihenweise aus der Ferne bewerben, stellen sich eine quasi medizinische Tätigkeit wie im Krankenhaus vor, von Pflege wollen sie nichts wissen. Angesichts des Personalmangels nimmt Frau Müller-Flass nun zum Beispiel auch Menschen, die psychische Probleme gehabt haben. Das werden immer mehr. Aber es fehlt bei vielen das, was man früher Pflichtgefühl genannt hätte. Ihr Beispiel: Ein junger Mann, durchaus zufrieden mit seiner Tätigkeit in der AWO, bricht zu einem Hausbesuch auf. Er macht seine Sache wohl gut. Aber danach geht er erst mal nach Hause. Es verblüfft Frau Müller-Flass, dass er kurzerhand während des Dienstes eine Auszeit zu Hause nimmt. Er teilt das niemandem mit. Er versteht nicht, dass Frau Müller-Flass das nicht versteht. Und Frau Müller-Flass fragt darum: „Was ist los mit den jungen Leuten?“

Das sind zwei Szenen, die das Dienstleistungsdilemma offenlegen: die Empörung der Kita-Mitarbeiterin einerseits und die Empörung der Mitarbeiterin im Altenwohnheim andererseits. Es ist, als würde gerade von zwei Seiten eine Sturmflut über uns hereinbrechen. Von der einen Seite kommt die Woge, die die gewohnte, zuverlässige Dienstleistungsgesellschaft unterspült, weil überall das Personal fehlt. Von der Bundeswehr bis zur Müllabfuhr klafft die Lücke. Und die Pensionierungswelle, die die Babyboomer jetzt auslösen, wird den Personalmangel noch einmal dramatisch zuspitzen. Von der anderen Seite bricht eine Sturmflut über uns hinein, die man als Motivationszusammenbruch bezeichnen könnte: Die Leute wollen und können nicht mehr weitermachen wie gewohnt. Es ist von allen Seiten zu hören: „Ich kann nicht mehr.“ Und: „Ich will nicht mehr.“ Kitamitarbeiter kollabieren ebenso wie Fernsehmoderatorinnen, Verwaltungsangestellte ebenso wie Shiatsu-Therapeutinnen. Das Gespräch über den Burnout, den jemand hat oder der sich ankündigt, droht zum letzten gemeinsamen Thema einer Gesellschaft zu werden, die im Panikzustand lebt.

Die doppelte Diagnose ist klar: Einerseits ist die Dienstleistungsgesellschaft dabei, wegen des Mangels an Geld und Personal zu kollabieren. Andererseits schmilzt die Motivation der Dienstleistenden, die nicht mehr das leisten können oder wollen, was ihnen abverlangt wird. Die Krise der Dienstleistungsgesellschaft ist deshalb eine, die sich gleichzeitig von außen und von innen ereignet. Sie explodiert und implodiert in einem Augenblick. Die gesellschaftliche Panikattacke ist insofern eine angemessene Reaktion. Die Anschlussfragen quellen aus dieser Krise wie aus einem Vulkan hervor: Was sind die Ursachen? Wie manifestiert sich die Krise? Was kann man tun? Wie soll es weitergehen? Das sind die Fragen, die nun auf der Tagesordnung stehen.

„Ich bin nicht krank,“ sagt Greta F. zu mir, „ich geh nur nicht arbeiten.“ Sie arbeitet in einem Hospiz und ihre Kräfte sind aufgebraucht. Sie erlebt den Arbeitsstress als gewalttätig. Sie will nicht mehr ‚leisten‘. Torkelt die Disziplinargesellschaft, die uns im Griff hatte, ihrem Ende entgegen? Schrumpft die Lebenskraft der Menschen, ebenso wie die Lebenskraft des Planeten zu schrumpfen scheint? Hat die Verwüstung des Planeten verwüstende Folgen in den Individuen? Oder ist dieser Satz: „Ich bin nicht krank, ich gehe nur nicht mehr arbeiten“ – der zuckende Anfang einer Befreiung, die sich gerade zu rühren beginnt? Ist es vielleicht ganz anders: Ist der Zusammenbruch der Dienstleistungsgesellschaft gar nicht Ausdruck eines Versagens, sondern Folge eines beabsichtigten Ruins? Geht die Gesellschaft, die entschlossen und diszipliniert aus den Trümmern des untergegangenen Faschismus aufgebaut wurde, ihrem Ende entgegen, weil sie nicht mehr gebraucht wird? Unzufriedenheit und Ohnmachtserfahrungen kombinieren sich und führen zu den beunruhigenden Erfolgen rechtspopulistischer Parteien. Schlagen sich diese Erfahrungen vielleicht auch nieder in der dramatisch hohen Zahl von Nichtwählern? „Die überwältigende Asymmetrie zwischen der Macht der ökonomischen Eliten und dem Rest der Bevölkerung“4 könnte Wut auslösen, aber es sieht so aus, als wenn sich die Menschen einfach abwenden von einer demokratischen Inszenierung, in der sie selbst nicht vorkommen.

Vielleicht ziehen sich die Menschen zunehmend aus dem öffentlichen Leben zurück, weil die Ohnmachtserfahrungen so überwältigend sind, dass die Energie fehlt und die Lust vergangen ist? Und viele landen dann in frustrierenden Zweierbeziehungen, in nervigen Kleinfamilien oder in der narzistischen Singleexistenz. „Exekutivapparate, Parteien, Parlamentsfraktionen, Medien und ökonomische Interessengruppen haben sich zu einer Organisationsform von Macht verschmolzen, die demokratischen Ideen zutiefst feindlich gegenüberstehen“5 Ist die Hoffnung auf eine aktiv-partizipatorische Demokratie so beschädigt, dass sich die Bürgerinnen und Bürger für das, was da passiert, nicht mehr interessieren? Dass sie sich stattdessen in das Privat-Lokale zurückziehen, keineswegs resignativ, sondern in der klaren Erkenntnis, dass es dort Aussicht dafür gibt, „dass man gemeinsam jene Kräfte kontrolliert, die das Leben und die Lebensbedingungen Anderer und der eigenen Person unmittelbar und maßgeblich beeinflussen“?6

Sandsäcke

Die Versuchung, bei einem Klagegesang zu bleiben, ist angesichts der von vielen empfundenen deprimierenden Lage groß. Es ist das Anliegen dieses Buches, immer wieder die andere Seite zum Leuchten zu bringen. Das, was gelingt, was trotz allem gelingt. Dies zum Beispiel:

Über der Einfahrt zu dem Fachwerkhaus in einem kleinen hessischen Dorf schwebt ein Balken. Wie oft ist wohl durch dieses Tor der Pferdewagen mit der Heuernte eingefahren worden? In den Balken ist das Jahr 1782 eingeschnitzt und die Zahlen sind mit roter Farbe ausgemalt. So lange steht das Haus schon hier am Bach. Der schwillt plötzlich an, weil es seit Tagen regnet. Deutschland ist im Januar 2024 vielerorts überschwemmt. Kennt das alte Haus solche Überschwemmungen, bei denen der Bach unversehens zu einem reißenden Fluss anschwillt? Oder ist diese Wasserflut Folge des Klimawandels? Ich weiß es nicht. Auf jeden Fall sind auch hier die Wiesen, in die sich das Wasser früher hinein ausbreiten konnte, geschrumpft oder verschwunden. Es wird also gefährlich. Ich brauche Sandsäcke, um das Haus gegen die drohende Flut abzuschirmen. So fahre ich zum Gebäude der Freiwilligen Feuerwehr, die am Dorfeingang ihr neugebautes Gebäude hat. Ich klingele an der Pforte, aber da ist niemand. Es ist eben eine Freiwillige Feuerwehr, die Leute verlassen ihren Arbeitsplatz oder ihr Bett und kommen, wenn Not herrscht, wenn sie gerufen werden. Aber ich habe eine Telefonnummer. Ich rufe also den Gemeindebrandinspektor an. Da meldet sich niemand. Darum rufe ich den stellvertretenden Gemeindebrandinspektor an. Seine Frau ist am Telefon und sie gibt mir die Handynummer ihres Mannes. Er meldet sich sofort. Ich frage ihn nach Sandsäcken. Er verspricht, sogleich zurückzurufen. Das geschieht auch. Und er fragt mich, ob ich kurzfristig, das heißt: jetzt, zum Gebäude der Freiwilligen Feuerwehr kommen kann – er mache sich von seinem Arbeitsplatz auf den Weg. Das kann ich. Die Schranke öffnet sich, er steht im schon hochgezogenen Tor der Feuerwehr. Wieviel Sandsäcke ich denn brauche? Fünfzehn. Er kennt das alte Fachwerkhaus, er weiß, dass es an exponierter Stelle, nahe dem Bach, steht. Er hilft mir, die Sandsäcke in den Kofferraum meines kleinen Autos zu heben, das bei dieser Last in die Knie geht. „Nehmen Sie doch den Rest auch!“ Ich weiß: Der Nachbar wird sich freuen. Acht Säcke kommen noch obendrauf. Ich biete eine Spende für die Freiwillige Feuerwehr an. „Das freut uns. Der Kassenwart wohnt bei Ihnen im Haus nebenan.“ Vorsichtig fahre ich das schwer beladene Auto die kurze Strecke zum Haus zurück. Gerettet.

Es ist ein schönes Erlebnis: eine nachbarschaftliche, schnelle, unbezahlte Dienstleistung. Die klappt noch. Auch wenn die Klage der Freiwilligen Feuerwehr über Nachwuchsprobleme unüberhörbar ist. Es ist eine persönliche Begegnung, sie ist nicht über eine automatisierte hotline mühsam errungen. Dieses Sandsackerlebnis: Ist das ein Blick in vergangene paradiesische Zeiten? Die Freiwillige Feuerwehr ragt in die Gegenwart wie ein Fossil aus Zeiten, in denen Dienstleistungen einen lokalen Geschmack hatten, in denen man Menschen aus Fleisch und Blut fragen konnte, antraf und sprechen konnte – den Schuster, den Bäcker, den Kolonialwarenhändler, den Klempner, den Dachdecker, den Elektriker … Das ist vorbei. Dienstleistungen, das ist die Grunderfahrung in der Gegenwart, Dienstleistungen sind schwer zu bekommen. Die Hürden sind hoch, sie kosten Geld und dennoch funktioniert’s oft nicht. In der Kleinstadt kaufe ich Brötchen und die Frau mit der Plastikhaube auf den Haaren sagt: „Wir sind die letzte Bäckerei im Ort.“ Ich nehme mir vor, nur noch hier meine Brötchen zu holen

Der rote Faden, der diesem Buch zugrunde liegt, lässt sich in diesen fünf Thesen vorstellen:

Die Dienstleistungsgesellschaft zerfällt vor unseren Augen. Sie funktioniert nicht mehr. Warum passiert das? Und wie kommen wir da wieder raus?

Gleichzeitig sehen wir, dass immer mehr Menschen zerbröseln. Sie werden depressiv, sind erschöpft, ängstlich, krank oder mutlos. Was fehlt ihnen?

Wie hängt das zusammen? Hat die perfekte Dienstleistungsgesellschaft uns entmündigt und kraftlos gemacht? Ist also endlich Schluss mit dem zunehmenden Konsum von Profiangeboten? Laufen wir vielleicht ohne die Krücken besser?

Die Erde wird immer heißer, die Gesellschaft wird immer kälter. Wollen wir sozial erfrieren? Die Profis stehen nicht mehr zur Verfügung, sie werden uns nicht mehr pampern. Werden wir erwachsen und sehen uns um: Wir können selbst mehr als wir ahnen. Nehmen wir die Chance wahr.

Entziehen wir uns der Herrschaft der Spezialisten, die sowieso nicht mehr kommen. Probieren wir die neuen Freiheiten aus.

Leben darf nicht heißen, dass man nie tut, wasman will und dass man nie gewollt hat, was man getan hat.

ANDRÉ GORZ7

Es wird wehtunEinstürzende Dienstleistungen

Eine weiß-rote Plastikschnur zeigt mir: Der Biergarten ist geschlossen. Die Türen der Kinderkrippe sind auch zu. In der Schule fällt der Unterricht in Mathematik aus. Die Demenzabteilung im Pflegeheim ist gestrichen. Und ich habe in den nächsten drei Monaten keine Aussicht auf einen Termin beim Orthopäden. Bei meiner Hausärztin hebt niemand das Telefon ab. Du setzt Dich ins Café, um Freunde zu treffen – und sofort geht es los. Frust über die Dienstleistungsgesellschaft: Nichts funktioniert mehr. Es ist überall dasselbe: kein Personal. Nur Friseurgeschäfte und Nagelstudios scheint es genug zu geben.

Es ist wie eine Zangenbewegung, wie ein Doppelbeschluss der Krisengesellschaft: Von einer Seite strömt uns der Frust zu, die Wut, die Resignation darüber, dass nichts mehr so funktioniert wie früher. Von der anderen Seite rollt die Woge auf uns zu, die in dem Satz gipfelt: „Ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr.“ Die Leute wissen nicht, wie sie ihren Beruf und ihren Familienalltag bewältigen sollen. Und zugleich werden sie begraben unter der Lawine dessen, was nicht mehr funktioniert. Emilia geht in die elfte Gymnasialklasse. Montags morgens beginnt der Unterricht mit zwei Stunden ‚Bio‘. Aber die Lehrerin ist eigentlich nie da. Die Klausur wird dennoch angesetzt und die Leistungsanforderungen werden nicht verringert. Tränen zu Hause, Versagen bei der Klausur. Folgenlose Empörung bei den Eltern, „verfluchte Schule“ – sagt die Tochter. Mit ihrem Bruder ist sie sich einig: Die Schule ist ein Ort des Schreckens. Sie und ihr Bruder werden in dem Augenblick, in dem sie das Abitur haben, erst mal – so sagen sie – ein Jahr nichts tun. Ich erinnere mich, dass ich, als ich in den sechziger Jahren zu studieren begann, regelrecht heiß auf die Universität war – und froh, der demütigenden Schule entronnen zu sein. Das ist nicht mehr die Grundstimmung. Haben wir es mit einer frühzeitigen Abflachung der Lebensenergie zu tun? Früher war „Weltwärts“ überlaufen. Weltwärts vermittelt Freiwilligendienste im Ausland, in Europa, Nord- und Südamerika, in Afrika. Viele wollten bisher ein Jahr als Freiwillige irgendwo in der Welt etwas „Sinnvolles“ tun. „Mit Weltwärts kannst du dich für eine gerechte Welt engagieren. Ob in Afrika, Asien, Lateinamerika, Ozeanien oder Osteuropa. Du unterstützt ein lokales, gemeinnütziges Projekt.“8 Jetzt ist es schwieriger geworden, Leute für „Weltwärts“ zu finden.

Geht der Dienstleistungsgesellschaft das Personal aus? Und wie wollen die jungen Leute leben? Gibt es da so etwas wie eine Schrumpfung der Lebensleidenschaft? Oder haben die jungen Leute die absurden Volten der Leistungsgesellschaft satt? Verbirgt sich hinter der Forderung nach einer Work-Life-Balance die vernünftige Kritik an der auslaugenden Leistungsgesellschaft, oder verschafft sich da eine erschöpfte Gesellschaft Gehör, die ein unaufgeregtes Leben will? Es knackt im Gebälk. Die Risse im Gefüge der Gesellschaft werden sichtbar. Die Zahnärztin steht in ihrer Praxis und hebt die Hände: „Ich finde niemanden mehr, der eine ganze Woche arbeiten will. Was ist da los?“

Man könnte den Eindruck haben, dass die Dienstleistungsgesellschaft dasteht wie ein Dinosaurier kurz vor dem Aussterben. Ein Zittern durchläuft den riesigen Körper der Dienstleistungsgesellschaft, die Beine geben nach und der Koloss bricht in sich zusammen. Dienstleistung funktioniert nicht mehr und das Personal, das den Dienstleistungsapparat bisher bedient hat, macht nicht mehr mit. Handwerker finden keine Lehrlinge, Kitas keine Hilfskräfte, Restaurants keine Kellner, Altenheime keine Pflegekräfte, Schulen keine Lehrerinnen und Lehrer. Im Bioladen steht ein Schild auf der Theke der Käse- und Fleischabteilung: „Ab 14 Uhr wegen Personalmangel geschlossen.“ Heute streiken die Ärzte in Marburg, die Gepäckkontrolleure am Frankfurter Flughafen, die Busse in Gießen. Alle aus guten Gründen, aber das Gefühl ist: Nichts geht mehr. Und jeden Tag gibt es solche Meldungen wie zum Beispiel diese am 23.01.2024 morgens im hr-info: „Ab Samstag gilt in Frankfurt ein ausgedünnter Fahrplan. Statt alle 7 ½ Minuten fahren die Züge nur noch alle 10 Minuten.“ Grund für die Ausdünnung – so heißt es in den Nachrichten – ist, dass immer wieder Fahrpersonal ausfällt, sei es wegen Krankheit oder wegen generellen Personalmangels.

Ofen aus

„Fast zwei Drittel der Führungskräfte fühlen sich kraftlos … Ebenso viele würden Aufgaben gern abgeben. Schaffen es Deutschlands Topleute nicht mehr allein?“9 Das Erschöpfungssyndrom ist in der Chefetage angekommen (oder hat es dort seinen Ursprung?). Von 1000 befragten Führungskräften gaben 65 Prozent an, unter Erschöpfung zu leiden. Frauen sind etwas stärker betroffen als Männer, aber in der Altersgruppe der 30-bis 39 jährigen sind es sogar 72 Prozent, die sich erschöpft fühlen. Nun könnte man sagen, dass sich das Mitleid mit den Erschöpfungszuständen für den Bewohner einer Penthouse-Wohnung, der seinen Porsche in der Garage stehen hat, in Grenzen halten darf. Wenn der Schornsteinfeger (gerade gestern war das) sagt, dass er mit 47 aufhört, weil er nicht mehr kann und hofft, dass seine Frau genug verdient, dann alarmiert das mehr: Ohne Schornsteinfeger gibt es schließlich keine warme Wohnung. Und ich stelle mir die Frage, ob die Erschöpfung des Konzernchefs mit Maßanzug mich so anrührt wie die Lebenslage des Müllmanns mit Migrationshintergrund, der meine Restmülltonne leert. Für meinen Alltag ist der Müllmann zweifellos wichtiger. Aber wenn nun auch schon die Führungskräfte erschöpft sind, dann rückt dieses dunkle Geschehen die Vorstellung, dass da irgendwas zusammenbricht, in das helle Tageslicht. Ist der Druck wirklich überall größer geworden? Oder sind die Kräfte der Menschen vom Vorstandsvorsitzenden bis zum Müllentsorger geschrumpft? Gibt es eine Art Energielücke in der Gesellschaft, die alle ergreift, als wären ihre Batterien kaputt? In mir entsteht das Bild eines Vulkanausbruches, der mit dem 23. Mai 1949 (Gründung der Bundesrepublik) begonnen hat und glühende Energien ausschüttete. (Die Gründung der DDR fand am 7. Oktober 1949 statt und die Entwicklung lief bekanntlich etwas anders). Dieser Vulkanausbruch mündete in die Wohlstandsgesellschaft, getragen von begeisterter Leistungsbereitschaft und begleitet von Aufstieg, Wachstum, Konsum etc. Und nun, 75 Jahre später, ist dieser Lavastrom erkaltet. Die Menschen an ihrem Arbeitsplatz – ob am Mahagonitisch im Aufsichtsrat oder am Bereitschaftstisch im Krankenhaus – sind wie gelähmt. Und sie alle könnten in einen großen Erschöpfungschor einstimmen, der singt und summt: „Ich kann nicht mehr“. Oder: „Das ist so anstrengend“: Was passiert da? Die häufigste Diagnose von Psychotherapeuten lautet inzwischen: „Müdigkeit, Erschöpfung und Antriebslosigkeit … 53 Prozent der Deutschen fühlen sich erschöpft, und 40 Prozent denken, dass die Erschöpfung zunehmen wird.“10

Ist die Dienstleistungsgesellschaft krank?

Was ist los? Diagnose 1: Aus der drittstärksten Volkswirtschaft wird eine Jammergemeinschaft. Diagnose 2: Endlich befreien sich die Menschen aus ihrer bedrückenden Konsumhaltung und beginnen etwas, was die Nachkriegszeit endgültig zu ihrem Ende bringt. Die gewohnte Wohlstandsgesellschaft allerdings auch. Es ist an der Zeit, sich der Frage zu widmen, was da in der deutschen Gesellschaft passiert. Eins ist klar: Mit Verblüffung (und einer gewissen Erleichterung) muss man zur Kenntnis nehmen, dass die Disziplinierungsappelle nicht mehr verfangen. Wenn die „Wirtschaftsweise“ Ulrike Malmendier mahnt: „Es wird auf allen Ebenen der Gesellschaft zu wenig gearbeitet“, dann lacht sich so mancher ins Fäustchen.11 Ihre Beobachtung ist unfraglich richtig. Aber ob das eine „weise“ Bemerkung ist, darüber kann man streiten. Die Wirtschaftsexpertin Ulrike Malmendier ist offenbar in die Anbetung der zerstörerischen Wachstumsgesellschaft verliebt und sie ist darum außerstande zu sehen, dass sich ein Stimmungswandel ankündigt, der eben nicht kurzerhand mit dem Verweis auf mangelnde Disziplin aus der Welt geschafft werden kann. Die Erschöpfung, die die Republik ergriffen hat, die große Ratlosigkeit, die die Gesellschaft durchzieht, wird mit der Devise „Nun reißt Euch mal zusammen!“ nicht zu beenden sein. Die vielen, die nicht mehr mitmachen wollen oder nicht mehr mitmachen können, wird der Appell der ‚Wirtschaftsweisen‘ kalt lassen. Der scharfsinnige Beobachter dieser Entwicklung Franz Schandl schreibt: „Die Stimmung ist ungefähr so: Nichts geht mehr, weder das, was ist, noch das, was sein könnte. So wird weitergemacht. Wird schon. Irgendwie. Doch diese Realität sollte mehr Warnung sein als Sicherheit geben. Wenn wir nur zuschauen, wird uns das mehr zusetzen, als uns lieb sein kann. Zweifellos, wir sind recht hilflos, aber am hilflosesten sind wir, wenn wir uns ergeben. Anpassung ist die gemeinste Form verpassten Lebens.“12 Es ist, als würde sich ein Gewitter, vielleicht sogar ein Erdbeben ankündigen. Vielleicht haben die Leute es satt, ihr Leben den konsumistischen Narreteien zu opfern? Vielleicht wächst die Sehnsucht nach einem Tun, das dem gemeinschaftlichen Ganzen dient? „Auf der Tagesordnung steht ein großes Verlernen und Verschwinden. Angesagt ist ein Zeitalter der Abschaffungen“ (Franz Schandl). Und die Dienstleistungsgesellschaft, an die wir uns gewöhnt hatten, liegt plötzlich keuchend am Boden.

Vielleicht fängt der große Wandel gerade damit an, dass die Leute erst mal krank werden? Die Zahl der Jugendlichen und Jungen mit psychischen Störungen wächst wie gesagt. Die medizinische Devise: „Das machen wir weg!“, ist keine Antwort. Wir werden um die Frage nicht herumkommen, warum viele junge Menschen krank werden, warum die Zahl der Ausgebrannten wächst, warum viele „arbeitsunfähig“ sind oder sich arbeitsunfähig fühlen.

Wenn Krankheit nicht auf ein medizinisch-naturwissenschaftliches Verhängnis reduziert wird, sondern als etwas verstanden wird, was ‚mit mir‘ zu tun hat, dann sind die Nachrichten über ein kontinuierliches Ansteigen des Krankenstandes in Deutschland Nachrichten über ein tiefgreifendes, symbolträchtiges und beunruhigendes Phänomen. Man kann es spüren: Es ändert sich da etwas. Ich höre bei einem Besuch in der Technischen Hochschule Mittelhessen (16.000 Studierende) den Bericht einer Arbeitsgruppe, die sich der Situation von Menschen mit Behinderung widmet. Die engagierten Fachleute arbeiten an einem digitalen Blindenstock, der eine bessere Orientierung auf der Straße und in Gebäuden erlauben soll. Verblüffende Möglichkeiten eröffnen sich mit diesem digitalisierten Hilfsmittel. Ich horche aber auf, als jemand aus der Arbeitsgruppe berichtet, dass sich die Voraussetzungen für ihre Forschung gerade ändern. Zu der Zahl der Menschen mit körperlicher Behinderung an der Hochschule treten immer mehr Menschen mit psychischen Problemen hinzu. Künstliche Intelligenz, Automatisierung und technischer Fortschritt können die Lebensbedingungen von Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen verbessern. Gleichzeitig aber ballt sich in den Hinterzimmern der Gesellschaft (wie auch in der THM Mittelhessen) ein neues Elend, dem technisch nicht beizukommen ist. „Die Auswirkungen von Krisen wie der Coronaepidemie und des Krieges in der Ukraine auf die Psyche von Berufstätigen“ werden sichtbar, schreibt das Ärzteblatt. 2022 wird ein Plus von 16 Prozent bei Krankschreibungen und Fehltagen wegen seelischer Erkrankungen, Depressionen, chronischen Erschöpfungen und Angststörungen verzeichnet. Die Phänomene treten bei Frauen häufiger auf, aber auch die Zahl der Fehltage auf Grund von Depressionen bei Männern stieg stark an.13

Was passiert da gerade? Was bedeutet es, dass Unternehmen im Jahre 2023 so viele Krankmeldungen wie nie verzeichnen? Die Zahl der Krankentage sei – so heißt es im DAK-Gesundheitsreport – alarmierend angestiegen. 2023 fehlten Beschäftigte im Schnitt 20 Tage im Job. Der Krankenstand erreichte die Rekordhöhe von 5,5 Prozent – wie bereits 2022. „An jedem Tag des vergangenen Jahres waren also im Schnitt 55 von 1000 Beschäftigten krankgeschrieben.“ Die hohen Fehlzeiten beeinträchtigten die Arbeitsabläufe in vielen Betrieben und Behörden, heißt es in dem Bericht. Die Personaldecke ist ohnehin in vielen Bereichen durch den Fachkräftemangel dünn. Dabei seien, so heißt es, Langzeitfälle das größte Problem geworden. Seit 25 Jahren werden solche Analysen gemacht, noch nie aber sei der Krankenstand so hoch gewesen wie 2023. Die Gründe waren vor allem Atemwegserkrankungen (Erkältungen, Bronchitis, Grippe). Besonders betroffen vom Anstieg der Krankmeldungen seien die Bereiche Kindertagesstätten und Pflege gewesen. Es falle aber auch da besonders die starke Zunahme psychischer Erkrankungen ins Auge.

Mehr Management?

Der DAK-Gesundheitsreport kommt zu dem Schluss, es brauche eine „Offensive für das betriebliche Gesundheitsmanagement“.14 Das ist eine interessante Bemerkung: Die Menschen werden krank und wer soll helfen? Das Management! Wer indessen bereit ist, auf das zu hören, was sich um uns herum ereignet, kann nicht den Eindruck haben, dass das Gesundheitsmanagement die Antwort ist. Immer mehr Menschen haben offenbar das Gefühl, dem Alltag nicht mehr gewachsen zu sein. „Ich kann nicht mehr!“. “Alles wird mir zu viel!“ Erschöpfung wird zur Grundempfindung vieler Menschen – gerade auch jüngerer Menschen. Die Klage über das ‚Zuviel‘ wird zur Melodie des Alltags. Als wenn irgendein Magnet die Lebenskräfte abzieht oder ein schwarzes Loch die Stärke der Menschen verschlingt. Und genau dem entspricht auf irritierende Weise die spürbare Schwächung der Dienstleistungsgesellschaft. Es ist nicht klar, ob die kri