Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
1835 erschien mit der "Rheinreise" der erste Reiseführer im Baedeker-Verlag. Es folgten die Bände "Belgien", "Holland", "Schweiz", "Paris und Umgebung" - das Reisehandbuch, aber auch eine neue Art des Reisens und des Sehens war geboren. Denn die Welt, die durch ein Reisehandbuch betrachtet wird, ist eine andere. Reisehandbücher, so Susanne Müller, sind in erster Linie touristische Sehhilfen: Sie erleichtern das Auffinden von Sehenswürdigkeiten und sorgen dafür, dass der Reisende die "richtigen" Dinge auch "richtig" sieht. Vornehmlich am Beispiel des populärsten europäischen Reiseführers erzählt Susanne Müller seine Geschichte von den Anfängen um 1830 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Sie ist eng verwoben mit der Aufklärung und dem Aufstieg des Bürgertums, der Entstehung von Dampfschifflinien, der Eisenbahn sowie der modernen Fotografie. 1945 endet die Darstellung, denn auch die "große Zeit" des Baedekers war vorbei. Der Mythos, er hätte den Deutschen bei den Bombenangriffen auf England als Zielhilfe gedient, ruinierte seinen Ruf. Ebenso hatte sich das klassische Zielpublikum gewandelt: Der moderne Massentourismus eroberte die Kontinente.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 563
Veröffentlichungsjahr: 2012
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Susanne Müller
Die Welt des Baedeker
Eine Medienkulturgeschichte des Reiseführers 1830–1945
Über das Buch
1835 erschien mit der »Rheinreise« der erste Reiseführer im Baedeker-Verlag. Es folgten die Bände »Belgien«, »Holland«, »Schweiz«, »Paris und Umgebung« – das Reisehandbuch, aber auch eine neue Art des Reisens und des Sehens war geboren. Denn die Welt, die durch ein Reisehandbuch betrachtet wird, ist eine andere. Reisehandbücher, so Susanne Müller, sind in erster Linie touristische Sehhilfen: Sie erleichtern das Auffinden von Sehenswürdigkeiten und sorgen dafür, dass der Reisende die »richtigen« Dinge auch »richtig« sieht.
Vornehmlich am Beispiel des populärsten europäischen Reiseführers erzählt Susanne Müller seine Geschichte von den Anfängen um 1830 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Sie ist eng verwoben mit der Aufklärung und dem Aufstieg des Bürgertums, der Entstehung von Dampfschifflinien, der Eisenbahn sowie der modernen Fotografie.
1945 endet die Darstellung, denn auch die »große Zeit« des Baedekers war vorbei. Der Mythos, er hätte den Deutschen bei den Bombenangriffen auf England als Zielhilfe gedient, ruinierte seinen Ruf. Ebenso hatte sich das klassische Zielpublikum gewandelt: Der moderne Massentourismus eroberte die Kontinente.
Über die Autorin
Susanne Müller, Dr. phil., lebt in Berlin und forscht als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Künste und Medien der Universität Potsdam. Neben der Kulturgeschichte des Reisens liegen ihre Forschungsschwerpunkte in der Mediengeschichte und Medienkultur des 19. und 20. Jahrhunderts.
Ich glaube, daß jeder Mensch in sich ein paar Landschaften trägt.
Und er sieht nur das, was er kennt […] Ich glaube, man reist
überhaupt nicht. Man erinnert sich nur und vergißt.
Béla Balázs, Die Geschichte von der Logodygasse
Jeder, der ein Schiff besteigt, hat etwas zu verbergen.
Felicitas Hoppe, Paradiese Übersee
Tam, tam, tam, tam. Vier harte Schläge, vier harte Akkorde.
So beginnt eines der populärsten Werke der Musikgeschichte,
Beethovens fünfte Sinfonie. Geschrieben hat er sie zwischen 1800 und 1808.
Schon Zeitgenossen sagten über diesen Einstieg,
er klinge wie das Pochen einer neuen Zeit an die Tür.
Doch das stimmte nicht. Die neue Zeit klopfte nicht an.
Sie trat die Tür ein.1
Es ist nur eine kurze Reise – von Mainz nach Köln; 180 Kilometer weit, 378 Buchseiten lang. Autor der 1828 im Koblenzer Verlagshaus Röhling erschienenen Rheinreise von Mainz bis Köln ist der Koblenzer Gymnasiallehrer Johann August Klein.2 Es ist unwahrscheinlich, dass die Menschheit gerade auf dieses Buch gewartet hat, denn im Wesentlichen unterscheidet es sich kaum von anderen zeitgenössischen Abhandlungen über das Rheinland. Es mag etwas handlicher sein als Aloys Schreibers Anleitung auf die nützlichste und genußvollste Art den Rhein […] zu bereisen, doch seine Aufmachung ist bei weitem nicht so spektakulär wie Friedrich Wilhelm Delkeskamps Rheinpanorama von 1825. Auch sind die beigefügten Ansichten vom Mittelrhein nicht so pittoresk und farbenfroh wie die 1822 erschienen Kupferstiche in den Rheingegenden von Mainz bis Cöln des Malers Christian Georg Schütz.3 Eine Besonderheit weist das Buch allerdings auf: Im Innenumschlag trägt es den Titelzusatz Ein Handbuch für Schnellreisende – eine eilige Reaktion des Röhling-Verlags auf den seit 1827 stattfindenden Linienverkehr der Preußisch-Rheinischen Dampfschifffahrtgesellschaft. Wie eigentlich jede Rheinbeschreibung dieser Zeit verkauft sich das Buch außerordentlich gut. Das entgeht auch dem jungen Buchhändler Karl Baedeker nicht, der das Buch in seiner Sortimentsbuchhandlung am Koblenzer Paradeplatz führt.4 Als der Röhling-Verlag Konkurs anmeldet, kauft Baedeker 1832 die Rechte an dem Buch des inzwischen verstorbenen Johann August Klein und überarbeitet es für eine Neuauflage. Diese erscheint 1835 und bildet den Ausgangspunkt für eine der größten verlegerischen Erfolgsgeschichten im deutschsprachigen Raum.5
Das Buch bildet gleichsam den Ausgangspunkt für diese Geschichte des Reiseführers, die man vieldeutig auch eine Reise nach Baedeker nennen kann. Natürlich handelt es sich bei der vorliegenden Studie um kein Reisehandbuch, dennoch beschreibt sie ein Unterwegssein – im Raum wie in der Zeit. Die Reise führt in die expandierenden europäischen Großstädte, in die Bergwelt der Alpen und durch vornehmlich deutsche Landschaften. Insbesondere durch die, wie es immer wieder heißt, schönste Landschaft von allen: das Rheinland. Gereist wird zu Fuß und mit der Pferdekutsche – vor allem aber mit den neuen Verkehrsmitteln des 19. Jahrhunderts, dem Dampfschiff und der Eisenbahn. Später werden Fahrräder und Automobile, ja sogar Luftschiffe und Flugzeuge bestiegen.
Gereist wird auch durch die Zeit. Die Reise beginnt am Vorabend des Tourismus und endet um 1945. Doch obwohl das Medium Reisehandbuch nach dem Zweiten Weltkrieg einen Aufschwung erlebt, ist die große Zeit des Baedekers, der für diese Mediengeschichte fast immer beispielgebend sein wird, nach 1945 abgelaufen. Der Mythos von der Unabhängigkeit und Unbestechlichkeit des Buches ist nicht mehr glaubwürdig, der klassische bürgerliche Reisende gehört der Vergangenheit an.
Die Reise nach Baedeker muss, wenn sie auf die entscheidenden Fragen zum Reisehandbuch eine Antwort finden will, auch eine Reise durch beinahe zwei Jahrhunderte Kulturgeschichte sein. Man kann die Geschichte eines Mediums nur erzählen, wenn man sich den Aspekten zuwendet, die seinen Erfolg bedingen und tragen. Das können soziale oder politische Umstände sein, aber auch technische Errungenschaften, andere Medien im weitesten Sinne und natürlich die Menschen, die das Reisehandbuch benutzen.
Somit handelt es sich auch um eine Reise zu den Wünschen und Träumen der Menschen; der Menschen nämlich, die den Baedeker lesen, um sich von der Welt ein Bild zu machen, die – von der Kulturkritik verhöhnt – von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit hetzen, aber auch derjenigen, die den Baedeker zu Hause lesen, auf dem Sofa sitzend, von der Ferne träumend, wohlwissend, dass sie die vertraute Heimat nie verlassen werden. So oder so: Die Reise nach Baedeker ist eine Geschichte der Sehnsucht und der Seh-Sucht. Am Ende steht das Ziel, einem Medium näher zu kommen, seine Entwicklung zu verfolgen, sein Wesen zu konturieren und die Gründe für seinen Erfolg zu finden.
Ein solches Vorhaben kann nur gelingen, wenn es sich einschränkt. Damit ist nicht nur die bereits erwähnte Tatsache gemeint, dass diese Reiseführergeschichte mit dem Zweiten Weltkrieg enden wird. Sie bezieht sich auch vornehmlich auf die Reisehandbücher aus dem Baedeker-Verlag. Der Grund für die Wahl liegt nicht nur im unbestreitbaren bibliophilen Wert der roten Bücher und der Tatsache, dass es sich wohl um die berühmtesten Reisehandbücher überhaupt handelt, sondern vor allem in der bis heute andauernden lückenlosen Erscheinungsweise. Zudem liegen dieser Studie einige methodische Besonderheiten zugrunde, die im Folgenden kurz umrissen werden.
»Die Republik Molwanîen«, heißt es in einem 2005 erschienen Reiseführer, »ist zwar eines der kleinsten Länder Europas, doch hat sie dem anspruchsvollen Touristen viel zu bieten«.6 Nach einer landeskundlichen Einführung, reisepraktischen Hinweisen und einigen wichtigen molwanîschen Vokabeln, wendet sich das Buch dem Verkehrs- und Hotelwesen zu, um dem Touristen schließlich Land und Leute näher zu bringen. Kaum eine Sehenswürdigkeit bleibt ungenannt, kaum ein Hotel oder Restaurant unkritisiert. Der Reiseführer ist bunt bebildert, zu jeder größeren Stadt gibt es einen Stadtplan und Zeitpläne für die Besichtigung. Kurz gesagt: Das Buch, das im Jahr 2006 den Sonderpreis für Reisehandbücher der Internationalen Fachmesse für Reise und Touristik in Berlin erhalten hat, hat alles, was ein Reiseführer braucht. Nur einen einzigen Makel weist es auf: Das Land namens Molwanîen gibt es gar nicht.
Es handelt sich um eine Satire, daran lässt schon der Titelzusatz Land des schadhaften Lächelns wenig Zweifel. Das Buch ist ein amüsantes Spiel mit schlechten Erfahrungen und Stereotypen, doch gleichzeitig auch ein Spiel mit unseren Erwartungen an ein Reisehandbuch. Und um ein solches handelt es sich, auch wenn das Reiseziel eine Fiktion bleibt. Warum das so ist, wäre nachfolgend zu klären. Ebenso stehen die Fragen im Raum, woran man ein Reisehandbuch erkennt und wie eine sinnvolle wissenschaftliche Annäherung an den Gegenstand möglich ist.
Zuvor muss jedoch auf eine grundlegende Besonderheit dieser Mediengeschichte hingewiesen werden, und die besteht darin, dass sie nicht schon längst erzählt worden ist. Zwar entstehen bereits um 1830 die ersten Reisehandbücher, doch bis heute gibt es nur wenig überzeugende Erklärungen, warum das so ist. Es gibt einige Texte zur Geschichte des Baedeker-Verlags, eine fundierte Bibliographie zu Baedekers Reisehandbüchern,7 einige quantitative Inhaltsanalysen8 sowie wissenschaftliche Aufsätze;9 Monografien sind eine Rarität.10 Somit kann von einem Forschungsstand zum Reisehandbuch nicht die Rede sein, zumal die vorhandene Literatur einigen Einschränkungen unterliegt.
So untersuchen viele Studien zu touristischen Medien, wie Cord Pagenstecher feststellt, »Strategien der Darstellung von Fremdheit, von Arbeit, Alltag oder Armut. Häufig werden dabei ›Merkmale des guten Reiseführers‹ gesammelt und die fehlerhafte, unvollständige oder oberflächliche Darstellung der Realität in den gängigen Büchern kritisiert. Diese oft berechtigte, nicht selten aber auch besserwisserische Kritik vernachlässigt meist den nichtwissenschaftlichen Charakter des touristischen Blicks, der Reiseführer prinzipiell von wissenschaftlichen Texten unterscheidet.«11 Eindringlich weist auch Christoph Hennig darauf hin, dass Touristen sich zwar für alles Mögliche interessieren, doch man findet sie eher in der Sixtinische Kapelle als auf einer Gewerkschaftsversammlung oder in der römischen Stadtverwaltung, wo sie – nebenbei bemerkt – auch nicht besonders willkommen wären.12 Reisehandbücher bilden nicht die ›Gesamtgesellschaft‹ ab und schon gar nicht die Summe dessen, was man Alltagskultur nennen kann. Zudem sind Touristen »keine Sozialforscher im Miniaturformat. Ihre Wahrnehmung nimmt Selektionen vor, die völlig anders sind als diejenigen von Wissenschaftlern. Besichtigungsreisen führen immer nur teilweise in die ›Realität‹ der fremden Länder.«13
Eine umfassende Kritik oder Wertung von Reiseführern enthält diese Studie daher ebenso wenig wie eine empirische Überprüfung der Inhalte auf ihre Korrektheit. Die im Reisehandbuch abgebildete Welt ist die Welt in einem zu einer bestimmten Zeit als objektiv betrachteten Wahrnehmungsmodus. Eine Kritik, die dem vermittelten ›falschen‹ Blick den eigenen ›richtigen‹, aber ebenso subjektiven und selektiven Blick gegenüberstellt, ist hinfällig.
Eine weitere häufig gewählte Annäherung an das Reisehandbuch besteht in der Beschäftigung mit sogenannten historischen Vorläufern. Auch darauf wird hier aus gutem Grund verzichtet. Sabine Gorsemann beschreibt in ihrer Schrift zum Reisehandbuch ausführlich die Historischen Vorläufer des heutigen Sachbuchs für die Reise und verweist ausdrücklich darauf, dass es bereits vor dem modernen Tourismus Reiseführer gab.14 Auch Burkhart Lauterbach beschäftigt sich mit medialen Vorgängern und kommt zu dem Fazit, dass es »sicher […] berechtigt [sei], jegliche Formen von Reiseanleitung oder Reiseberatungsangebot miteinander zu vergleichen, aber in annähernd direkter Nähe zu dem uns heute vertrauten Reiseführer à la Baedeker befindet sich lediglich die […] Apodemik«.15 Irene Kiefer stellt ihrer Dissertation zur Reisepublizistik und Ent-Privilegisierung des Reisens im 19. Jahrhundert eine so genannte Geschichte des Reisehandbuchs voran, die mit Pausanias »Baedeker der Alten Welt«16 beginnt und mit der Entstehung des Reisehandbuchs endet. Der Baedeker ist demnach »Konglomerat aus einigen der wichtigsten Formen dieser [von ihr beschriebenen] Reiseführer-Literatur«.17
Damit entsteht der Eindruck, die ›Vorgeschichte‹ des Reishandbuchs sei gleichsam und mit allen Konsequenzen seine Geschichte. Dabei liegt es auf der Hand, dass Erklärungsmodelle, in denen Altes einfach durch Neues abgelöst wird, nicht viel über die Spezifika eines Mediums verraten. Aus der bloßen Aufeinanderfolge von Ereignissen, so wusste Marshall McLuhan bereits 1964, ergibt sich kein Kausalitätsprinzip. Medien können noch etwas anderes tun, »als sich dem bereits Vorhandenen anzuschließen […] Daß etwas auf etwas anderes folgt, heißt noch gar nichts. Nichts folgt aus dem Aufeinanderfolgen außer eine Veränderung.«18 Den ›Vorgeschichten‹ liegt, wie der Literatur- und Medienwissenschaftler Gundolf S. Freyermuth anmerkt, eine Sicht zugrunde, die »nach dem Ersatz-Modell des naturwissenschaftlich-technischen Fortschritts funktioniert«. Das Kino versetzt in diesen Mediengeschichten »dem Roman und dem Theater den Todesstoß. Der Schallplattenspieler entzog Oper und Konzertkultur die Existenzgrundlage, das Radio tat dasselbe auch für die Schallplatte. Und das Fernsehen, das mächtigste Massenmedium der industriellen Epoche, gab so gut wie jeder anderen Kunstform den Rest.« Solche Genealogien ähneln »ein wenig den Schaubildern, die in Schulbüchern die Evolution des Homo sapiens illustrieren sollen – als aufwärtsgewandten Marsch des Fortschritts«.19 Nun liegt die Vermutung, dass Medien ›evolutionieren‹, ausgesprochen nahe, doch Evolution, ob nun in Biologie oder Mediengeschichte, funktioniert anders: Sie beruht nicht auf der Auslöschung von Arten, sondern auf Diversifikation und Adaption. Medien sterben ausgesprochen selten aus. Stattdessen passen sie sich an – und zwar nicht aus sich selbst heraus, sondern aufgrund äußerer Einflüsse. Dabei können vormals dominierende Formen an den Rand rücken.20
Reiseberichte und Pilgerführer gibt es, wenngleich sie an Bedeutung verloren haben, bis zum heutigen Tage. Apodemiken waren nie »die Bädeker früherer Zeiten, sondern sie sind ursprünglich der gelehrten Literatur zuzuordnen und waren lange Zeit ausschließlich in lateinischer Sprache abgefasst«. Allerdings werden die Apodemiken auch nicht einfach, wie es bei Uli Kutter heißt, »durch die modernen Reisehandbücher ersetzt, die meistens mit dem Namen Bädeker verbunden werden«.21 Vielmehr verlieren die gelehrten Ratgeber, die die Reisepraxis über zwei Jahrhunderte auf höchstem Niveau kodifiziert haben und – nebenbei bemerkt – oftmals beängstigende Ausmaße annahmen, ihr Publikum und deshalb ihre Bedeutung.22 Sie richten sich an den Bildungsreisenden im alten Stil, doch das aufstrebende Bürgertum des 19. Jahrhunderts reist nicht, um sich standesgemäß zu bilden, sondern um sich in vergleichsweise kurzer Zeit ein Bild von einer Region oder Landschaft zu machen. Dieser neue Reisetypus, den man später den Touristen nennen wird, verfügt nur über begrenzte finanzielle und zeitliche Ressourcen. Nicht am Baedeker geht die Apodemik zugrunde, sondern an ihrer Überfülle und dem Unvermögen, den Bedürfnissen eines modernen Publikums zu entsprechen.
Entscheidend ist somit weniger, was neue Medien von älteren Formen übernehmen. Vielmehr ist die strukturelle Andersartigkeit des Reisehandbuchs hervorzuheben. In der Reduktion auf Ähnlichkeiten mit ›Vorgängern‹ verschwimmen seine Charakteristika. Es gilt, was Theodor W. Adorno über die Kunst schreibt: »Durchs Schema ›Alles schon dagewesen‹ schlüpft ihr Spezifisches; sie wird auf eben das undialektische, sprunglose Kontinuum geruhiger Entwicklung nivelliert, das sie aufsprengt […]«.23 Das Reisehandbuch bezieht sich nicht auf ältere Reisehilfen, indem es sie fortsetzt oder ersetzt, sondern indem es den Bedürfnissen eines neuen Publikums entsprechend mit ihnen bricht.24 In diesem Sinne ist es am Beginn des 19. Jahrhunderts ohne Vorgänger.
Noch eine weitere, oft gestellte Grundfrage zum Reisehandbuch spielt nachfolgend keine Rolle: Nämlich die, ob es sich um Literatur handelt und, falls ja, um was für Literatur es sich handelt. Wenngleich dieser Frage nicht selten die Annahme zugrundliegt, »dass man unterscheiden kann, mehr noch dass man unterscheiden soll – zwischen Kunst und Nichtkunst, zwischen High und Low, zwischen Kanonischem und Randständigem – und dass folglich auch nur die Beschäftigung mit der einen, der ›richtigen‹ Seite dieser wertenden Differenzierungen die notwendige soziale Legitimation und die materiellen Zuwendungen sichern kann«,25 wird sie auch in jüngeren Arbeiten noch gestellt. So erarbeitet Sabine Gorsemann in ihrem Buch über Produktion, Aufbau und Funktion von Reiseführern aus dem Jahr 1995 vor dem eigentlichen Forschungsanliegen eine ausführliche Typologie, um zu dem Zwischenfazit zu kommen, dass Reiseführer »insofern Sach- und Gebrauchstexte [sind], als sie ihren Gegenstand der Realität entnehmen und ihn literarisch reproduzieren. Sie sind daher der nichtfiktiven Literatur zuzurechnen«.26
Nun haben literarische Typologien ihre Berechtigung, doch bei der Arbeit mit dem Reisehandbuch wäre – wenn überhaupt – eine Typologie hilfreich, die eine Verortung innerhalb anderer Gebrauchstexte vornimmt.27 Die Zurechnung des Reisehandbuchs zur nichtfiktiven Literatur ist dagegen schwerfällig. Ganz allgemein ist Fiktionalität »kein Prinzip, das dem jeweiligen Text von vorneherein inhärent wäre. Entdeckungsberichte lassen sich nicht allein zur Sachinformation lesen, sondern auch zur Erbauung oder gar als Fiktion; zum anderen kann auch fiktive Reiseliteratur als Tatsachenbericht verstanden werden«.28 Natürlich wäre es, wie Stephen Greenblatt anmerkt, »sowohl theoretisch wie praktisch betrachtet ein Fehler, den Unterschied zwischen Repräsentation und Wirklichkeit einzuebnen, aber gleichzeitig läßt sich das eine vom anderen nicht trennen«.29 Somit sind weder die Opposition zur Fiktionalität noch zur Literarizität dem Reisehandbuch wesentliche Merkmale. Dasselbe gilt für die Frage, ob eine zugrundeliegende Reise wirklich stattgefunden hat. Tatsächlich wird mit dem Massentourismus die Kategorie des ›Vorausreisenden‹ etabliert. Karl Baedekers Reisehandbücher basieren wie klassische Reiseberichte zum erheblichen Teil auf echten Reisen.
Anders als Gorsemann, die ihre Typologie des Reisehandbuchs mit dem Ergebnis schließt, dass Reisehandbücher durchaus in den Zuständigkeitsbereich der Literaturwissenschaft fallen, dabei aber »den Gegenstand ihrer Darstellung vom Anspruch der Realität her entnehmen und insofern diese Realität reproduzieren, anstatt, wie fiktive Texte, diese Realität selbst literarisch zu produzieren«30 geht Christoph Hennig weiter. Wie wäre es denn, fragt er in seiner bemerkenswerten Monografie über die Reiselust, »wenn das Besichtigen seinen Zweck nicht in der Erkenntnis der Fremde fände, sondern in der Entfaltung eines Raums der Imagination?«31 Man reist schließlich, um »die Ordnungsstruktur des Alltags zu verlassen und in andere Wirklichkeiten einzutreten«. Das geschieht »nicht in blinder Flucht, sondern als produktive menschliche Leistung«.32
Reiseführer können doch gar nichts anderes, als inszenierte Topographien abbilden. Sie schaffen konstruierte Erfahrungsräume, die manche Aspekte der Realität ausblenden und andere verstärken, dabei Realität aber niemals verdoppeln. Das bedeutet weder, dass die Abbildung einer unvollständigen Realität eine literarische Leistung ist, noch, dass auf diese Weise immer ein fiktiver Text entsteht. Vielmehr spielt es gar keine Rolle, ob es sich nun um (fiktive oder nichtfiktive) Literatur handelt oder nicht. Bedeutsamer ist der Umstand, dass Reisehandbücher die Grundlage für eine die Realität überlagernde Seh- und Raumordnung bilden. Kaum etwas könnte mehr an den Grundfesten der Wirklichkeit rütteln als ein Baedeker-Stern, denn für diesen gibt es keinen realen Gegenpart.
Touristen sind in aller Regel auch nicht auf der Suche nach sozialer Realität. »Schon immer ging es [beim touristischen Reisen] nur begrenzt um die Erkenntnis der Fremde. Vielmehr suchen Touristen die sinnliche Erfahrung imaginärer Welten, die Realität der Fiktion. Die Reiseerlebnisse werden zu diesem Zweck inszeniert und konstruiert, die Elemente der Wirklichkeit in neuen Verbindungen angeordnet. Das gilt für die bürgerlichen Reisenden früherer Jahrhunderte wie für heutige Kulturtouristen, für die Badereisenden des 19. Jahrhunderts und für heutige Mallorca-Urlauber.«33 Und in dem, was der Leser des Reisehandbuchs aus der Lektüre macht, ähnelt die touristische Erfahrung tatsächlich der Rezeption fiktionaler Darstellungsformen.34
Nicht zu vergessen ist außerdem, dass es schon immer einen tiefen Zusammenhang zwischen dem Reisehandbuch und der so genannten Hochkultur gab. Die Anglistin Barbara Schaff spricht in diesem Zusammenhang vom Literary Tourism in John Murray’s Handbooks und verweist auf zahlreiche literarische Referenzen in den frühen Reisehandbüchern aus dem Hause Murray.35 Von Anfang an sind Reisende literarischen Texten und Bildern gefolgt; seien es nun die romantischen Dichtungen von Lord Byron, Clemens Brentanos Loreley oder William Turners Studien vom Rhein. »Vor der Reiseerfahrung steht die Fiktion; daher hat das Wiedererkennen im Tourismus fundamentale Bedeutung.«36 Damit kommt Reisehilfen wie dem Baedeker, wie Schaff im Verweis auf Jan Palmowski konstatiert, eine grundlegende Mittlerfunktion zwischen Hochkultur und Populärkultur zu. Sie sind »mediator of high culture, a translator of Romantic notions of the sublime into middleclass awareness«.37
Auf ihre Art konturieren die bisher genannten Aspekte – zum Teil ex negativo – die Forschungsbrisanz dieses Buches. Dass bisher so viel Textarbeit geleistet wurde, dass es Gattungstypologien, kritische Quellenanalysen und qualitative Inhaltsstudien gibt, ist insofern nachvollziehbar, als dass gerade die frühen Reiseführer reine Textbücher waren. Doch tatsächlich leisten Bücher wie der Baedeker, auch wenn sie keine Abbildungen enthalten, Augenarbeit. Daher betritt Cord Pagenstecher Neuland, als er sich im Jahr 2003 touristischen Abbildungsmedien wie Ferienkatalogen, Reiseführern und Fotoalben zuwendet. Konsequent behandelt er seine Forschungsgegenstände als visuelle Medien, denn »wichtiger als die bloße Kategorisierung ist eine Analyse der Funktionsweise von Reiseführern«.38 Sabine Gorsemann spricht in ihrer Monographie über das Reisehandbuch zwar durchgehend von Gebrauchsliteratur, doch bereits der Untertitel der Arbeit – Bildungsgut und touristische Gebrauchsanweisung – offenbart, dass es sich zugleich um »Wahrnehmungsmanager«39 handelt. Die Idee, dass Reisehandbücher das touristische Sehen und die Reiseerfahrung strukturieren und präformieren, ist also nicht neu. Weitgehend unhinterfragt ist jedoch geblieben, wo die Reisehandbücher ihre Bilder und Sehmuster hernehmen und nach welchen Kriterien sie diese selektieren.
In einem wenig beachteten Aufsatz von 1977 stellt Günther Hess einen Zusammenhang zwischen Reisehandbüchern und anderen optischen Medien dar. Die Illusionsmedien des 19. Jahrhunderts prägen den Erwartungshorizont des Publikums und verändern die Reisegewohnheiten, die wiederum auf die Illusionsmedien zurückwirken.40 Gleichsam bezeichnet Hess die Einrichtung der Eisenbahn- und Dampfschifflinien als ein neues optisches Zeitalter.41 »Die Beschleunigung des transitorischen Elements in der Struktur des Panoramas erforderte geradezu die Entwicklung einer Bilderindustrie.«42 Indem er in einem Atemzug Illusionsmedien, Verkehrsmittel und optische Medien nennt, setzt Hess das Reisehandbuch früh in einen Zusammenhang, der nur medienkulturgeschichtlich genannt werden kann.
Um eine Medienkulturgeschichte handelt es sich auch bei der vorliegenden Geschichte des Reiseführers. Doch was bedeutet dieser rätselhafte Terminus?
Um eine ›klassische‹ Methode handelt es sich jedenfalls nicht. Und den einen grundlegenden, theoretischen Text,43 auf den praktischerweise verwiesen werden könnte, gibt es auch nicht. Ob es ihn jemals geben wird, ist fraglich, denn die Medienkulturgeschichte ist ein Verfahren, eine Geschichte eben, die sich am praktischen Beispiel erst konturiert. Somit hat auch dieser Erklärungsversuch zwar erhellenden Charakter, doch ohne seine Umsetzung, d.h. ohne die nachfolgenden Kapitel, bleibt er ein Fragment.
Es wäre an dieser Stelle unangebracht für die drei überstrapazierten Begriffe – Medien, Kultur, Geschichte – eine umfassende Perspektive darzulegen. Aus der Summe der Beschreibungen ergäbe sich noch nicht die Antwort auf die gestellte Frage. Dennoch arbeitet eine Medienkulturgeschichte mit und vor allem zwischen den drei Begriffen. Als historischer Verlauf betrachtet sie das Wesen und Werden eines Gegenstands, dem Medialität zugeschrieben werden kann, im Verlaufe der Kulturgeschichte. Doch weder lässt sich eine solche Mediengeschichte aus einer übergeordneten ›großen‹ Geschichte abgrenzen (stattdessen ist sie mit dieser verknüpft), noch ist sie eine Kulturgeschichte, die unter dem Paradigma einer quasi-ontologischen Mediatisierung steht. Stattdessen berichtet sie über Zusammenhänge zwischen medialen Innovationen und der sie umgebenden Alltagswelt. Somit ist eines der wichtigsten Ziele dieses Buches, das komplexe Spiel zwischen dem Reisehandbuch, der Medienkultur und der Kulturgeschichte nachvollziehbar zu machen. Durch den Abgleich mit zeitgenössischen Seh- und Wahrnehmungsstandards kann erklärt werden, warum das Reisehandbuch so aussieht, wie es aussieht, wie und warum es sich im Laufe der Zeit verändert hat und was es mit seinen Betrachtern und den abgebildeten Städten, Landschaften oder Kulturen macht. Kein Medium revolutioniert von sich aus das Leben der Zeitgenossen. Bevor das passiert, hat es sich sorgfältig auf seine Umgebung eingelassen und ist zahlreiche Konstellationen eingegangen. Innerhalb dieser Verbindungen wird es zum Gegenstand einer Medienkulturgeschichte.
Eine solche Geschichtsschreibung kann nur multiperspektivisch erfolgen, sie muss zahlreiche Schauplätze aufsuchen, von denen anzunehmen ist, dass sie den Forschungsgegenstand beeinflussen. Um einem Medium wirklich gerecht zu werden, muss über seine Grenzen hinausgeblickt werden. Macht man den Gegenstand selbst zur Ursache für einen kulturellen Umbruch, entstehen Tautologien. Das Medium wird zum blinden Fleck, bleibt Voraussetzendes und Undarstellbares zugleich.44 Nun sind Medientheorien ebenso virulent wie Medienbegriffe, doch ein Konsens scheint darin zu bestehen, dass sich Medien einer direkten Betrachtung entziehen. Man kann sie ansehen, doch ihr Wesen zeigt sich nicht. Das gilt auch für Reisehandbücher: Je mehr sich der Reisende dem Führungsgedanken unterwirft, desto weniger wird er sich dessen bewusst sein. Marshall McLuhan hat die Inhalte eines jeden Mediums mit einem »saftigen Stück Fleisch« verglichen, »das der Einbrecher mit sich führt, um die Aufmerksamkeit des Wachhundes abzulenken«.45 Er schlägt daher vor, die Botschaft eines Mediums, d.h. die »Veränderung des Maßstabs, Tempos oder Schemas, die es der Situation des Menschen bringt«46 zu hinterfragen. Im Sinne einer Medienkulturgeschichte kann das nur gelingen, indem nicht ausschließlich die Inhalte oder die medialen Oberflächen beleuchtet werden, sondern die Kultur als Hervorbringerin medialer Innovationen. Dabei unterliegt Kultur einer durchaus weiten Bedeutung. Sie ist nicht Hochkultur, schon gar nicht Leitkultur und sie beschränkt sich auch nicht auf eine anthropologische Perspektive. Kultur steht vielmehr für die Lebenswelt der Menschen, die darüber entscheiden, ob ein Medium Erfolg hat oder nicht.
Anzumerken wäre noch, dass solche Verfahren weder neu noch exklusiv sind. Eines der populärsten Beispiele dürfte Wolfgang Schivelbuschs Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert (1977) sein. Seit den achtziger Jahren sind zahlreiche weitere Veröffentlichungen dieser Art erfolgt; um nur einige zu nennen: Stephan Oettermann: Das Panorama. Die Geschichte eines Massenmediums (1980); Christoph Asendorf: Super Constellation – Flugzeug und Raumrevolution (1997); Hans-Joachim Neubauer: Fama. Eine Geschichte des Gerüchts (1998); Thomas Zeller: Straße, Bahn, Panorama. Verkehrswege und Landschaftsveränderung in Deutschland von 1930 bis 1990 (2002); Peter Borscheid: Das Tempo-Virus. Eine Kulturgeschichte der Beschleunigung (2004) oder eines der jüngsten Beispiele: Markus Krajewski: Der Diener. Mediengeschichte einer Figur zwischen König und Klient (2010).47
Ganz ähnliche Vorgehensweisen finden sich jedoch schon am Beginn des 20. Jahrhunderts, z.B. bei Walter Benjamin, Siegfried Kracauer und Béla Balázs. So unterschiedlich die Werke der genannten Autoren auch sind, gemein ist ihnen die Erkenntnis, dass Mediengeschichtsschreibung die Umwelt der Menschen mit einbeziehen muss. Die Fragmente zu Benjamins Passagenwerk, das nichts Geringeres als die Geschichtsphilosophie des 19. Jahrhunderts werden sollte, verdeutlichen seine Kritik an der »Geschichte, welche die Sache zeigte, ›wie sie eigentlich gewesen ist‹«. Das »war das stärkste Narkotikum des Jahrhunderts«.48 Nicht als Abstraktum politischer Zäsuren konstruiert Benjamin seine Geschichte, sondern konsequent unter der Metapher der Passage. »Die Rede ist von Straßen und Warenhäusern, von Panoramen, Weltausstellungen und Beleuchtungsarten, von Mode, Reklame und Prostitution, vom Sammler, vom Flaneur und vom Spieler, von der Langeweile.«49 Indem er die Alltagswelt in seine Betrachtungen mit einfließen lässt, durchbricht der Autor die Methoden der etablierten Disziplinen und schafft Querverbindungen. Bereits der fragmentarische Themenkatalog des Passagenwerks ist mehr als die Summe seiner Teile.
Auch Béla Balázs betont in seinen Schriften zum Film, dass Medien nur entstehen bzw. sich verändern können, wenn es ihre kulturelle Umgebung zulässt bzw. erzwingt. Es ist, wie Balázs nahelegt, von nachgeordneter Bedeutung, dass die Brüder Lumière im Dezember 1895 die erste öffentliche Filmvorführung in Paris organisieren. Die beiden ahnen nämlich gar nichts von der Wichtigkeit ihrer Erfindung, sondern gehen davon aus, dass der Erfolg binnen weniger Jahre versiegen wird. Die Frage, die man dem Film stellen muss, lautet daher, warum der Abend im Indischen Salon des Grand Café in die Geschichte eingeht und wie der Film zur Volkskunst des 20. Jahrhunderts avancieren kann, denn, so Balázs, »es kann sich nichts im Volke verbreiten, was dieses nicht von vornherein haben will«.50
Neben Siegfried Kracauers Arbeiten zur Fotografie- und Filmgeschichte, ist es vor allem sein letztes, ebenfalls unvollendet gebliebenes Buch Geschichte vor den letzten Dingen, das sich als Geschichtsphilosophie und Medientheorie zugleich lesen lässt. Anschließend an seine medientheoretischen Schriften etabliert Kracauer darin eine Kultur- und Mediengeschichte der Geschichtsschreibung selbst. Die von ihm konstatierte Analogie zwischen Geschichtsschreibung und Mediengeschichte, insbesondere der Fotografie, weist immer wieder charakteristische Wendepunkte auf, die auf die Historiografiegeschichte zurückwirken.51
Letztlich kann jedes Objekt, das Medialität besitzt, im Rahmen einer Medienkulturgeschichte beschrieben werden. Dass bestimmte, oftmals populäre Formen dominieren, liegt nicht an ihrer besseren Eignung, sondern daran, dass sie so lange ausgeschlossen waren.52 Es gibt wenig handfeste Konzepte für einen Umgang mit der Populärkultur. Sie erweist sich als sperrig und überschreitet fortwährend methodische und fachliche Horizonte. Genau hier kann die Medienkulturgeschichtsschreibung gewinnbringend eingesetzt werden. Man kann das eine Suchbewegung nennen oder – wie Béla Balázs – eine Kolumbusfahrt: Der vermeintlich kürzeste Weg, so Balázs, muss nicht immer der beste sein.53 Schließlich sei Kolumbus auch nicht bis nach Indien gelangt, sondern ist in Amerika steckengeblieben. »Aber die Erde ist trotzdem rund! […] Neue Theorie öffnet neue Perspektiven für neue Kolumbusfahrten.«54 In diesem Sinne mag die Medienkulturgeschichte ein Mittelweg ohne Geländer sein, dafür schafft sie Durchbrüche, Perspektiven und Sichtbarkeiten, wo zuvor blinde Flecken waren.
Zum Gegenstand seiner Medienkulturgeschichte wird das Reisehandbuch als mediales Format. Durch seine formalen Eigenschaften ist es abgrenzbar von anderen Darstellungsformen, auch von anderen literarischen Produkten oder von so genannten ›Vorgängern‹ und ›Nachfolgern‹. Die wahrscheinlich fundierteste Reflexion zum Format des Reisehandbuchs stammt von Karl-Friedrich Baedeker, dem Ur-Enkel Karl Baedekers, der sich in einem unveröffentlichten Manuskript aus dem Jahr 1937 eingehend Gedanken über die Aufgabe und Form des Reisehandbuches macht.55 Der damals 27-jährige schreibt in eine Zeit des Umbruchs hinein: Der klassische bürgerliche Reisende sieht sich zunehmend von modernen Touristen verdrängt, die aus dem Angestellten- oder gar Arbeitermilieu stammen; die Eisenbahn bekommt Konkurrenz durch den Individualverkehr der Automobilisten; die Sehenswürdigkeiten in den pulsierenden Großstädten laufen den beschaulichen Landschaften den Rang ab. Auch Sabine Gorsemann erarbeitet in ihren Beurteilungskriterien für Reiseführer formale Aspekte.56 Vor allem auf die Arbeiten von Baedeker und Gorsemann wird aufgebaut, wenn gleich das Format des Reisehandbuchs umrissen wird. Das Ziel dieser Überlegungen ist keine Definition, sondern eine knappe Formatstudie, die den historischen Betrachtungen vorausgeht.
Mit dem medialen Format werden Merkmale beschrieben, die in reinen Textanalysten unerwähnt bleiben müssen. Dabei sind Medien weit mehr als bloße ›Behälter‹, die Inhalte vom Sender zum Empfänger transportieren. Sie sind die »buchstäblichen ›Be-Dingungen‹, das ›Dispositiv‹, das seine Struktur Kultur und Gesellschaft auferlegt«.57 Und »nur soweit Medien überhaupt eine sinnmiterzeugende und nicht bloß eine sinntransportierende Kraft zugesprochen wird, entpuppen sie sich als interessante Gegenstände geistes- und kulturwissenschaftlicher Arbeit«.58 Wird die Form zugunsten des Inhalts vernachlässigt, nimmt man dem Medium sein Spezifisches. Es ist nur zu bezeichnend, so Marshall McLuhan, »wie der ›Inhalt‹ jedes Mediums der Wesensart des Mediums gegenüber blind macht«.59 Die Form eines jeden Mediums schreibt sich in die Botschaften ein, indem sie die mediale Praxis wie auch die Gebrauchs- und Rezeptionsbedingungen determiniert.60
Wie sehr sich Mediengeschichten, die von formalen Aspekten ausgehen, von denen unterscheiden, in denen eine Erfindung nebst ihrem Schöpfer im Mittelpunkt stehen, zeigen Roger Chartiers Überlegungen zur Revolution des elektronischen Texts. Nur einmal in der Geschichte der Menschheit hat es nach Chartier einen Medienumbruch gegeben, der ähnlich nachhaltig war, wie die so genannte digitale Revolution. Und dieser Umbruch fand nicht etwa statt, als Gutenberg die beweglichen Lettern entwickelt hat, sondern über ein Jahrtausend davor:
»Die begonnene Revolution ist vor allem eine Revolution der Träger und der Formen, die die Schrift übermitteln. Sie hat darin nur einen Vorläufer in der westlichen Welt: die Ersetzung des Volumen durch den Codex, des Buches in Form der Schriftrolle durch das Buch, das aus zusammengebundenen Heften besteht, in den ersten Jahrhunderten der christlichen Zeitrechnung.«61
Es sei schließlich nicht zu leugnen, »daß der Codex ein leichteres Auffinden und bequemere Handhabung des Textes erlaubt; er ermöglicht die Paginierung, die Herstellung von Indices und Konkordanzen, den Vergleich einer Stelle mit einer anderen oder auch, daß der Leser das Buch im ganzen ermißt, indem er es durchblättert.«62 Vor allem aber schafft die Codexform neue Freiheiten. »Der Leser kann Abstand nehmen, lesen und schreiben zugleich, nach seinem Belieben von einer Seite zu anderen blättern, von einem Buch zum anderen.«63 Das bedeutet, so Chartiers Fazit, dass »jede Form, jeder Träger, jede Übermittlungs- und Rezeptionsstruktur der Schrift ihren möglichen Gebrauch und ihre möglichen Interpretationen«64 affiziert.
Chartiers Mediengeschichte ist deshalb so einzigartig, weil sie ohne Schöpfungsgeschichte auskommt. Er beschreibt einen Formwandel oder anders gesagt: die Entwicklung eines frühen Standards. »Ereignis und Standard«, schreibt Stefan Heidenreich, stellen nämlich »zwei Seiten ein und derselben Geschichte der Technik dar.«65 Doch während das Ereignis von technischen Fortschritten berichtet, halten Standards Punkte der Irreversibilität fest. Im Standard stabilisiert sich die technische Basis, aus der heraus sich kulturelle Formationen, ökonomische Verhältnisse und mediale Formate – oder nach McLuhan: neue Maßstäbe, Tempi oder Schemata – erst entwickeln können.
So wie der Standard markiert auch das Format in seiner prinzipiellen Unumkehrbarkeit einen historischen Augenblick. Das schließt Varietäten und scheinbare Rückentwicklungen nicht aus. Formate sind immer in Bewegung, bis die Veränderungen (sehr häufig die der medialen Träger) an einem bestimmten Punkt so stark sind, dass es zur Bildung neuer Formate und Standards kommen kann. Frühere Formen müssen dabei nicht untergehen. So zeigen die aktuellen Entwicklungen auf dem Reiseführermarkt, dass z.B. Audioguides, die Informationen zu Sehenswürdigkeiten und Landeskunde nur noch als Tondokument zur Verfügung stellen, zwar ebenfalls aus etablierten Verlagen stammen, doch aufgrund hinreichender Unterscheidungsmerkmale nicht mehr ›Reisehandbuch‹ genannt werden können. Internetportale, auf denen Informationen von Reisenden für Reisende zusammengetragen werden, stellen ebenfalls eine andere Form dar. Auch Navigationssysteme, deren Informationsgehalt inzwischen weit über das reine Kartenmaterial hinausgeht, oder so genannte Reiseführer-Apps für Smartphones schließen zwar an den Grundgedanken des Reisehandbuchs an, gehen aber in vielerlei Hinsicht über seinen Zweck hinaus oder daran vorbei.
Das heißt, Reisehandbücher befinden sich, wie jedes andere Medium auch, in einem Modus der ständigen Ausdifferenzierung und Spezialisierung. Sie limitieren ihrem Wesen nach »das, was man mit ihnen anfangen kann«.66 Ihre formalen Bestandteile bilden einen Möglichkeitsraum, etwas, das bedingt und einschränkt zugleich. Innerhalb des Spielraums kann es zu einer Vielzahl von Varianten kommen; wobei es ohne Zweifel zwingende und weniger zwingende formale Kriterien gibt. So muss nicht jedes Reisehandbuch einen roten Einband mit Goldprägung haben, es sollte jedoch kleinformatig und nicht übermäßig schwer sein. Auch muss nicht jedes Reisehandbuch mit Sternchen auf besonders Sehenswertes hinweisen, eine Selektion und die damit verbundene Wertung sind dem Reisehandbuch jedoch wesentlich. Das impliziert auch, dass es Elemente gibt, die sich klar außerhalb des Möglichkeitsraums eines Reisehandbuchs befinden. Dazu zählen zum Beispiel das durchgehende Einhalten wissenschaftlicher Zitation, kulturhistorische oder politische Darstellungen auf wissenschaftlichem Niveau oder epische Literarizität. Mediale Formate sind flexibel, fortwährende Adaption sichert ihr Überleben. Das bedeutet, dass antiquierte Kriterien in Vergessenheit geraten können. Auch gibt es Umstände, wie die Etablierung neuer Verkehrsmittel, die vollkommen neue Kriterien in die Konzeption von Reisehandbüchern einfließen lassen. Dabei kann es zu Entwicklungen kommen, die – wenngleich sie gedanklich der Idee des Reisehandbuchs entstammen – zu stark davon abweichen. In solchen Momenten entsteht aus medialen Formaten etwas ganz Neues, wie zum Beispiel die ersten Autoatlanten aus Baedekers Autoführer Deutsches Reich (1938).
Daher besteht die wesentliche Leistung der frühen Reisehandbuchautoren nicht in der ›Erfindung‹ eines Mediums, sondern in der Etablierung des Reisehandbuchs als Standard oder als mediales Format: Sie haben einen Gegenstand erschaffen, der durch seine spezifischen Merkmale besonders gut den Bedürfnissen der Zeitgenossen entspricht. Baedeker hat somit nicht nur einen der ersten deutschen Markenartikel erschaffen, sondern einen machtvollen Rahmen, der sich bis heute weiterentwickelt. Nichts Unverrückbares, sondern etwas sehr Bewegliches: einen Spielraum, in dem Platz ist für Abweichungen und Unterschiede.
Dieser buchstäbliche Spielraum, dieser Möglichkeitsraum, den das mediale Format ›Reisehandbuch‹ eröffnet, bildet den Rahmen des vorliegenden Buches. Was also ist gemeint, wenn hier von Reiseführern die Rede ist?
Zunächst spricht das Reisehandbuch eine sehr bestimmte Zielgruppe an. Das Publikum am Beginn des 19. Jahrhunderts ist längst nicht so exklusiv wie die adligen Bildungsreisenden der Neuzeit, doch dafür gibt es nun so viele Reisende, dass man das Reisehandbuch schon in seiner Anfangszeit als ein Massenprodukt bezeichnen kann. Karl Baedeker nennt seine Bücher Handbüchlein für Reisende, die sich selbst leicht und schnell zurecht finden wollen. Gemeint sind damit die bürgerlichen, anfangs vornehmlich männlichen Reisenden, die nicht mehr ausschließlich zum Zwecke einer standesgemäßen Ausbildung reisen, sondern in einem begrenzten Zeitraum, mit begrenzten finanziellen Mitteln ausgestattet, möglichst viele Sehenswürdigkeiten erwandern und erfahren wollen. Später wird man diese Reisenden Touristen nennen, und erst am Beginn des 20. Jahrhunderts werden sich Reisehandbücher durchsetzen, die an andere Zielgruppen gerichtet sind.
Eingeschränkt zeigt sich auch der allgemeine Themenkatalog des Reisehandbuchs. Es enthält Informationen, die dem Leser das selbständige Bereisen eines Landes, einer Stadt oder einer Region erleichtern. In der Regel handelt es sich um drei Bestandteile, die nicht selten auch die Gliederung der Bücher mitbestimmen, nämlich Informationen zur Landeskunde, allgemeine reisepraktische Hinweise und die Beschreibung des Reiseziels (wobei auch ein Weg das Ziel sein kann). Diesem Schema folgen sowohl die alten Baedeker als auch moderne Reisehandbücher weitgehend.
Dem Reisehandbuch wesentlich ist außerdem eine starke Verknappung von Inhalt und Form. Die Texte streben Kürze an. Nicht durch Vollständigkeit, sondern durch Selektion wird das Reisehandbuch zu einem hilfreichen Reisebegleiter. Im Baedeker aus dem Jahr 1849 liest sich das so:
»Der Herausgeber hat sich bemüht, zwischen dem Zuviel und Zuwenig die rechte Mittelstraße zu finden. Er glaubt, den Fehler mancher Reisehandbücher vermieden zu haben, welche entweder nur ein Verzeichniß von Gebäuden, Anstalten und Einrichtungen darbieten, und es dem guten Glücke des Wanderers überlassen, nach manchen Enttäuschungen das Bemerkenswerthere selbst heraus zu finden, aber welche auf der anderen Seite sich in ausführlicher Schilderung unbedeutender geschichtlicher Einzelheiten verlieren.«67
Die so entstehende Ordnung ist notwendigerweise stereotyp und kann nur bedingt auf wissenschaftliche oder ästhetische Standards Rücksicht nehmen. Sie ist, wie Karl Friedrich Baedeker schreibt, »reisepraktisch gedacht und deshalb geeignet Unordnung in die geistige Gliederung des Landes zu bringen, welches sie darstellt«.68 Reisehandbücher gestalten den zu beschreibenden Raum um. Sie setzen den ›alten‹, natürlich gewachsenen Räumen alternative Konzepte entgegen. Theoretisch existieren zahlreiche Filterkriterien, z.B. verkehrstechnische, kulturelle, (geo-)politische oder alphabetische Strukturierungen. Praktisch wird vom Baedeker bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts eine Gliederung nach Verkehrswegen bevorzugt.
Am stärksten wirkt das Format des Reisehandbuchs jedoch in seinem Bestreben, einen schnellen Zugriff auf Informationen zu gewährleisten. Es darf weder zu dick noch zu schwer noch zu großformatig sein. Es muss robust und für den Gebrauch unterwegs geeignet sein. Enthaltene Karten, Stadtpläne oder Fahrpläne müssen als solche erkennbar sein, d.h. eine Benutzung muss auch nach oberflächlicher Lektüre möglich sein.69 Zur Steigerung des praktischen Gebrauchs sind z.B. beim klassischen Baedeker die Karten so eingeklebt, dass sie mühelos herausgetrennt werden können. Später werden die Bücher sogar so gebunden, dass die Leser einzelne, jeweils getrennt geheftete Abteilungen, die eine Reiseroute enthalten, herausnehmen bzw. herausschneiden können, ohne dass das Buch sofort zerfällt. Auch Sonderinformationen zu Weltausstellungen oder kleine Sprachlehren sind entnehmbar. Die klassischen Baedeker enthalten zudem eingebundene Stoffbändchen, die als Lesezeichen dienen.
Lexikalische Hilfen wie Inhaltsverzeichnisse, Verweise, Register oder verschiedene Farben helfen ebenso bei der Benutzung eines Reisehandbuchs wie typographische Hervorhebungen (z.B. gesperrter, fetter, kursiver Druck, Unterstreichungen oder ›Sternchen‹). Wesentlich ist außerdem der Fokus auf das Sehenswerte. Nicht zuletzt führen zahlreiche Abbildungen, Pläne oder Panoramen zu einer Darstellungsweise des Reisehandbuchs, die nur visuell genannt werden kann. Reisehandbücher sind Sehhilfen für den schnellen, präzisen und bisweilen oberflächlichen touristischen Blick, und zwar auch, wenn sie keine Abbildungen enthalten.
Innerhalb der hier aufgezählten Eckpunkte entfaltet das Reisehandbuch sein Format und kodifiziert so den Zugriff der Leser auf die abgebildeten Räume; unabhängig davon, ob es sich um kulturelle, geografische, politische oder infrastrukturelle Aspekte handelt. Damit grenzt es sich unter anderem von älteren Reisehilfen ab, die eben keine ›Reisehandbücher vergangener Zeiten‹ sind. Der anfangs erwähnte Reiseführer für das Land namens Molwanîen hingegen entspricht in jeder Hinsicht den formalen Ansprüchen an ein Reisehandbuch. Der komplette Katalog aller hier aufgezählten Aspekte spiegelt sich darin wider. Der Leser muss lediglich verkraften können, dass das vorgestellte Land ins Reich der Phantasie gehört. Man könnte das die Ironie des Schicksals nennen und annehmen, dass die Wissenschaft vor der Satire den Hut ziehen muss. Das stimmt so aber nicht. Lässt man die eigentlich bedeutungslose Frage, ob es Molwanîen nun gibt oder nicht, außer Acht, dann wird gerade dieses Reisehandbuch zu einer Formatstudie par excellence. Es ist der Beleg für die Existenz und den Wiedererkennungswert des Formats Reisehandbuch schlechthin. Nur ein fertig ausgebildetes Format, das auf hinreichend bekannten Standardisierungen beruht, kann zum Gegenstand einer Satire werden.
Kings and governments may err, but never Mr. Baedeker.1
Zum Reisen gehört in erster, zweiter und dritter Linie Geld.2
Karl Baedeker wird am 3. November 1801 als das älteste von elf Kindern geboren. Er entstammt einer Familie, deren Mitglieder seit dem 17. Jahrhundert im Druckergewerbe, Verlagswesen und Buchhandel tätig sind.3 Sein Vater Gottschalk Diederich Baedeker ist Inhaber einer Buchhandlung in Essen und Herausgeber der Essendischen Zeitung von Kriegs- und Staatssachen. Karl Baedeker, über dessen Kindheit und Jugend man nur wenig weiß, besucht Schulen in Essen und Hagen, um dann im väterlichen Betrieb den Buchhandel zu erlernen. Im Jahr 1817 geht er im Rahmen seiner Ausbildung nach Heidelberg in die Firma Mohr & Winter,4 wo er sich im April 1819 an der Universität einschreibt und Vorlesungen in Geschichte und Philosophie besucht.5 Im Jahr 1822 absolviert er in der zum preußischen Regierungsbezirk gehörenden Enklave der Stadt Wetzlar sein Freiwilligen-Dienstjahr. Zwischen 1823 und 1825 steht er in den Diensten des bekannten Buchhändlers Georg Andreas Reimer in Berlin und lebt »drei Jahre in regstem Verkehr mit Hufeland, Tieck, Chamisso, Amadeus Hoffmann, Fouqué, Barnhagen etc.«6 Reimers Verlagsprogramm ist vielfältig und umfasst alle damals üblichen Fachgebiete. Zudem gilt er als der Verleger der Romantik; er publiziert Schriften von E.T.A. Hoffmann, Heinrich von Kleist, Achim von Arnim, Ludwig Tieck, Jean Paul, August Wilhelm und Friedrich Schlegel, Novalis und den Brüdern Grimm.7 Aufgrund seiner Aktivitäten in den Befreiungskriegen und seiner liberalen Geisteshaltung gerät Reimer um 1820 in Konflikt mit der preußischen Zensur. Man untersagt ihm den Druck von Huttens deutschen Schriften, ähnlich ergeht es ihm mit den Mémoires de Napoléon.8
Für Baedeker, dem diese Auseinandersetzungen kaum entgangen sein können, dürften die Jahre in Berlin prägend gewesen sein. Als preußischer Leutnant der Reserve ist er zwar loyal, doch – nicht zuletzt durch seine Studien- und Wanderzeit – freisinnigen Gedanken nicht abgeneigt. Bis an sein Lebensende pflegt er Kontakte zu zahlreichen Persönlichkeiten, die das kulturelle und politische Zeitgeschehen mitbestimmen.9 Sein 1847 erschienenes Verzeichniss der Autographen-Sammlung von K. Baedeker dokumentiert Briefwechsel mit Zeitgenossen wie z.B. Ferdinand Freiligrath, Hoffmann von Fallersleben10, Emanuel Geibel, Ernst Wilhelm Hengstenberg, Levin Schücking, Wilhelm und Jacob Grimm, Georg Gottfried Gervinus, Annette von Droste-Hülshoff, Ernst Heinrich Carl von Dechen, Alexander von Humboldt11 und Cord von Oeynhausen.12
Im Anschluss an seine Berliner Jahre arbeitet Baedeker im Geschäft des Vaters und unternimmt längere Reisen durch Deutschland, die wohl auch der Suche nach einer geeigneten Niederlassungsmöglichkeit dienen. Der junge Mann hat nicht die Absicht, im provinziellen Essen, das am Beginn des 19. Jahrhunderts eine gerade 5.000 Einwohner fassende Landstadt ist, zu bleiben.13 Stattdessen lässt er sich von der Nachfolge im Stammhaus entbinden und entscheidet sich für den Ankauf einer Buchhandlung in Koblenz, das nicht nur die Hauptstadt der 1815 ins Königreich Preußen eingegliederten Rheinprovinz ist, sondern »außerdem eine Fremdenstadt, Brennpunkt des internationalen Reiseverkehrs, der seit dem Ende des 18. Jahrhunderts auf dem Rhein nach der Schweiz und Italien führte«.14 Mit der Gründung einer Sortiments- und Verlagsbuchhandlung legt er am 1. Juli 1827 den Grundstein für seinen späteren Erfolg.15
1836 wird Baedeker Mitglied des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels. Im selben Jahr gelingt ihm mit der ersten Auflage des Traveller’s Manual of Conversation der erste große verlegerische Wurf. Dieses Konversationslexikon,16 das sich in deutscher, englischer, italienischer und französischer Sprache an das bürgerliche Reisepublikum richtet, wird eines der erfolgreichsten Verlagsprodukte überhaupt. Im Vorwort des Buches wendet sich Baedeker explizit an die englischen Reisenden: »The publisher also takes this opportunity of informing the English tourists in the Rhine-provinces, that he is at all times ready to afford any Information to those travellers, who do him the honour to visit his establishment.«17
Abb. 1: Karl Baedeker. Zeitgenössische Abbildung.
Die Rheinreise von Mainz bis Köln von Johann August Klein, die im Jahr 1828 erstmals erscheint, reiht sich in eine Vielzahl weiterer Schriften über das Rheintal ein. Deren Anzahl vermehrt sich sprunghaft, als 1927 die Preußisch-Rheinische Dampfschifffahrtsgesellschaft den Linienverkehr zwischen Mainz und Köln aufnimmt. Dennoch gibt es wenigstens zwei wesentliche Merkmale, die Kleins Rheinreise von den meisten anderen Rheinreisebüchern unterscheidet: Das handliche Format und der Untertitel Handbuch für Schnellreisende.
Vom prachtvoll verzierten Titelbild abgesehen, kommt der Band recht schmucklos daher. Die 378 Seiten werden weder durch ein Inhaltsverzeichnis noch durch einen Index strukturiert. Erst im Anhang befinden sich Verzeichnisse mit empfehlenswerten Gasthäusern, Kunst- und Buchhandlungen sowie eine ausführliche Beschreibung der Dampfschifffahrt am Rhein. Die letzte Buchseite enthält kurz vor Drucklegung eingefügte Verbesserungen. Auf diese Aktualisierungen und auf die Authentizität seiner Beschreibung legt Klein besonderes Augenmerk:
»Seit Jahren mit geschichtlichen Studien beschäftigt, dabei Rheinländer und im Rheinlande wohnend, ergriff der Verfasser seinen Gegenstand mit Vorliebe. Voll Ehrfurcht gegen die Helden, welche einst in diesem Thale wandelten, […] war er abentheuerlichen Erzählungen ohne historischen Grund, Geistersagen und ähnlichen SpielenderLaune von jeher abhold. Daher trit auch nur das Gewisse, an den Quellen möglichst Nachgesehene hier als Thatsache hervor.«18
Klein sieht sich in der Tradition des romantischen Bildungsreisenden. Gleich im ersten Absatz des Buches heißt es: »Geschichtliche Merkwürdigkeit, alterthümlicheKunst und herrliche Natur sind es, welche den Fremden, der zum Vergnügen reis’t, in’s schöne Rheinthal ziehen, das so malerisch zwischen Mainz und Köln sich ausdehnt. Er durchwandert es, wie man Italien und Griechenland durchwandert.«19 Klein weist ausdrücklich darauf hin, dass die Schilderungen der ›Naturgemälde‹ von seiner Gattin Adelheit Klein stammen. »Er [der Verfasser] glaubte die lebhaftere Auffassung einer weiblichen Phantasie dazu in Anspruch nehmen zu müssen. Colorit und Wärme der Darstellung konnten nur gewinnen.« Doch das Buch soll nicht nur Reiseanleitung sein. »Nicht allein Geschichtliches, auch Topographisches, und selbst Geognostisches sind berücksichtigt, vorzüglich wurde […] der Schnellreisendeim Auge gehalten, der, nicht lange an Ort und Stelle weilend, mit einem Blick übersehen möge, was die Gegend Interessantes enthält.«20
Abb. 2: Johann August Klein, Rheinreise von Mainz bis Köln, 1828, Anfang.
Ausführlich beschreibt Klein die Städte und Landschaften im Rheintal zwischen Mainz und Köln. Mitten im Buch befinden sich Allgemeine Bemerkungen über das Rheinthal von Mainz bis Bingen, auch in naturhistorischer Hinsicht. In der Hauptsache wird die Route jedoch linear beschrieben. Die Landschaftsschilderungen können nur bildhaft genannt werden. Über das Rheintal heißt es beispielsweise: »So zeigt diese paradiesische Gegend, gleich einer Sammlung idyllischerSchweizergemälde, auf jedem Blatte, das man umschlägt, eine neue Naturschönheit mit veränderten Umrissen, anderer Ausmalung und verschiedenem Colorite.«21 Selbst Städte werden unter Kleins Blick zu gemalten Landschaften:
»Mit Bedauern, nicht länger weilen zu können, verläßt, oft zurückschauend, der Wanderer, den die Zeit drängt, Mainz, dessen Thurmspitzen über die lauen Wellen des Rheines weg, von der Sonne beglänzt, ihm noch weit hin nachblicken. Aber eine neue malerische Scene erwartet denselben. Links etwas vom Ufer abliegend, an Tannenhügeln, zwischen dichten Kirschbäumen, erhebt sich das vielbesuchte Mombach.«22
Nachdem der Röhling-Verlag Konkurs anmelden muss, kauft Baedeker um 1832 die Rechte an der Rheinreise des inzwischen verstorbenen Autors und beginnt mit der Überarbeitung für eine Neuauflage, die 1835 erscheint.23 Das Buch, um die Gebiete des Ober- und Unterrheins erweitert, ist gleichermaßen ein Klein, ein Baedeker und ein Lassaulx, denn der Verleger kann den Königlich Preußischen Bauinspektor Johann Claudius von Lassaulx als Co-Autor gewinnen. Um den ersten Baedeker handelt es sich bei dem Buch noch nicht. Baedeker hat zwar auf seinen Reisen die Notwendigkeit praktischerer Reisehilfen erkannt, doch in einer Anzeige im Börsenblatt nennt er als Kaufanreiz vor allem die Architektonisch-historischen Bemerkungen über die Bauwerke am Rhein des Bauinspektors Lassaulx und nicht das mögliche Interesse der Allgemeinheit, sich die Schönheiten des Rheinlands zu erwandern. Immerhin ist das Buch um eine Karte des Rheinlaufs erweitert. Da die exakte topographische Aufnahme des Rheinlandes erst 1828 abgeschlossen war, erfreuen sich solche Abbildungen großer Beliebtheit.
Auch die roten Handbooks des englischen Verlegers John Murray führt Baedeker in seiner Buchhandlung, und er muss feststellen, dass sie sich – im Gegensatz zur zweiten Auflage der Rheinreise, die sich zunehmend zum Ladenhüter entwickelt – geradezu unverschämt gut verkaufen. Dies dürfte Baedeker dazu veranlasst haben, Kleins Rheinreise ein weiteres Mal zu überarbeiten. Dieses Mal orientiert er sich maßgeblich an Murrays Büchern, in denen sich neben der eigentlichen Reiseroute immer auch zahlreiche praktische Hinweise zu Hotels, Verkehrsmitteln, Restaurants und Trinkgeldern befinden.
Auch das Verlagshaus Murray ist ein Familienunternehmen; gegründet 1768 von John Murray I als Buchladen in der Londoner Fleetstreet. Im Jahr 1795 tritt sein Sohn John Murray II in das Geschäft ein. Als er sich 1812 entschließt, die beiden ersten Gesänge von Lord Byrons Childe Harold zu veröffentlichen, wird nicht nur Byron über Nacht berühmt, sondern auch das Verlagshaus.24 Im Jahr 1829 unternimmt der Enkel des Verlagsgründers, John Murray III, eine Reise auf den europäischen Kontinent. »The more he travelled«, so H. W. Wind über das Werden der ersten Red Books, »the more acutely he realized that guidebooks which actually helped a traveler were all but non-existent, and so he ›set to work to collect […] all the facts, information, statistics, &c., which an English tourist would be likely to require or find useful‹.«25 Während seiner mehrjährigen Europareise sammelt Murray Informationen, um 1836 im Alter von 28 Jahren im väterlichen Verlag das Handbook for Travellers on the Continent26 zu publizieren. Das Buch entwickelt sich sofort zum Verkaufsschlager; in den folgenden Jahren verfasst Murray unter anderem die Reisehandbücher Southern Germany, Bavaria, Austria (1837), Switzerland and the Alps of Savoy & Piemont (1838), Northern Europe (1839), Travellers in the East (1840, umfasst u.a. Griechenland, Türkei, Zypern, Persien), Northern Italy (1842) und Central Italy (1843).27 Die Times schreibt später über den reisenden Engländer: »He trusts to his Murray as he would trust to his razor, because it is thoroughly English and reliable; and for his history, hotels, exchanges, scenery, for the clue to his route and his comfort by the way, the Red Handbook is his ›guide, philosopher, and friend‹.«28
Obwohl Murray und Baedeker Konkurrenten sind, pflegen sie eine freundschaftliche Geschäftsbeziehung, die vor allem auf der Vereinbarung beruht, das Hauptgeschäft des jeweils anderen nicht zu berühren. Die Verlage unterstützen sich als Vertriebspartner und stellen sich Reisenotizen und Neuauflagen zur Verfügung. Zwischen Murray und Baedeker findet ein reger Briefwechsel statt. Es ist gerade diese produktive Konkurrenz, die den Baedeker nachhaltig prägt. Abgesehen von der Rheinreise hat jeder frühe Baedeker einen Murray zum Vorgänger, der dasselbe Gebiet beschreibt.29 Auch der rote Leineneinband mit Goldprägung und die berühmten Baedeker-Sternesind eine ›Erfindung‹ Murrays. Erst 1846 erscheint mit der dritten Auflage von Deutschland und der Oesterreichische Kaiserstaat der erste rote Baedeker, der auch Murrays Sternsystem kopiert. Ab 1856 sind alle Reisehandbücher aus dem Baedeker-Verlag im einheitlichen Rot gehalten und vergeben Sterne an Gasthöfe, Sehenswürdigkeiten und Landschaften. Baedeker hat nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass er sich bei der Gestaltung seiner Bücher an den Red Books orientiert hat.
Einmal mehr wird deutlich, wie sehr Baedeker von Anfang an aufs Format gesetzt hat. Schon mit der ersten Überarbeitung der Kleinschen Rheinreise sucht er nach einem Modus, um dem Buch mehr Profil zu geben. Das Ziel sind übersichtliche, systematische, kurzweilige und informative Handbücher, die das Reisen tatsächlich erleichtern und auf die sich der Reisende hundertprozentig verlassen kann. Baedeker hat gewiss keine Markforschung betrieben, er verlässt sich vielmehr auf seine Erfahrung als Buchhändler und auf seine verlegerische Intuition. »Practische Brauchbarkeit war des Verfassers erstes Bestreben«, heißt es im Vorwort zahlreicher Baedeker. »Er weiß aus Erfahrung, wie die besten und gründlichsten Bücher dem Reisenden völlig nutzlos werden, wenn dieser sich selbst, aus einer Masse von Angaben das ihm Dienliche erst heraus suchen soll. Es gibt Bücher dieser Art, die für den Geographen und Statistiker von großem Werthe sein mögen, in welchen aber ein Reisender vor lauter Bäumen den Wald nicht zu erkennen vermag. Diese verwirrende Anhäufung von Material ist […] vermieden worden, ohne daß ein Reisender, der nicht besondere Zwecke verfolgt, irgend etwas Wesentliches vermissen wird.«30
Die entscheidende Inspiration zieht Baedeker aber aus Murrays Handbooks. Doch er kopiert eben nicht die Inhalte, sondern das Format. Denn, so resümiert der Autor u. a. 1844 im Handbuch Schweiz, »die Grundlage bildet wieder Murray’s berühmtes Reisehandbuch […]; es war der Rahmen, in welchen die meist eigenthümliche deutsche Arbeit eingefügt wurde«.31
In der Mitte des 19. Jahrhunderts lässt die Qualität von Murrays Handbooks nach. Der Verleger konzentriert sich verstärkt auf die erfolgreichen Werke von Lord Byron und anderen Autoren, worunter Qualität und Aktualität der Reisehandbücher leiden. »Mir scheint es nun«, schreibt Baedeker 1852 an Murray, »daß es für den Gebrauch Ihrer Bücher sehr vorteilhaft sein würde, wenn Sie bei Ihren sonstigen Arbeiten Zeit und Lust finden könnten, mit einer kritischen und barmherzigen Feder so viel als möglich abzukürzen.«32 Wenig später verschlechtert sich das Verhältnis: »Längst schon habe ich Ihnen mittheilen wollen, daß es Zeit ist, die Handbooks einer gründlichen Revision zu unterwerfen und sie von mancherlei Veraltetem, mancherlei Unrichtigkeiten und besonders von den vielerlei Gasthof-Irrthümern zu reinigen. Es thut mir ganz weh, wenn ich sehen muß, wie das Vertrauen zu den Handbooks abnimmt.«33
Während Karl Baedeker dennoch davon absieht, seine Bücher auch in englischer Sprache zu verlegen, gibt sein Sohn Ernst nach dem Tod des Vaters The Rhine from Switzerland to Holland (1861) heraus. 1862 veröffentlicht Karl Baedeker II den Band London und seine Umgebung in deutscher und 1866 in französischer Sprache, um Murray im eigenen Land Konkurrenz zu machen. Dieser bringt im Gegenzug einen deutschsprachigen Band Schweiz auf dem Markt. Die Zusammenarbeit endet. Künftig wird der Baedeker in England von Williams & Norgate vertrieben, einem Haus, das in Sachen Reiseführer keine Eigeninteressen vertritt.34 Das Verlagshaus Murray zieht sich derweil mehr und mehr aus dem Geschäft mit Reisehandbüchern zurück. Um 1900 verkauft John Murray IV die Rechte für die Reiseführer an den Londoner Landkartenverlag Edward Standford. Lediglich das Handbook for Travellers in India, Pakistan, Burma and Ceylon (1. Aufl. von 1859) bleibt im Verlagsprogramm und wird noch bis 1982 aktualisiert.
Die dritte Auflage der Rheinreise bringt im Jahr 1839 den Durchbruch für das Koblenzer Verlagshaus. Karl Baedeker hat sich, »obgleich von der zweiten Auflage noch einen Anzahl Exemplare vorhanden sind«35, zu einer Neuauflage entschlossen. Dieses Buch ist nun tatsächlich ein Handbuch für Schnellreisende. Auf dem Titelbild befinden sich neben zahlreichen Wappen Ausblicke auf die ›vier schönsten Punkte‹ am Rhein: Stolzenfels, Niederwald, Drachenfels und Ehrenbreitstein, den Buchrücken ziert die Stirnansicht eines Dampfschiffes. »Der Styl ist gefällig und angenehm, ohne daß er noch an jener allzuheftigen Ueberschwenglichkeit litte, welche die erste Ausgabe des Buches auszeichnet«, so eine zeitgenössische Rezension in den Rheinischen Provinzialblättern. »Ganz besonders zu rühmen ist, daß jedes Mal bei den Hauptorten über Gasthöfe, die man wählen kann, Lohnkutscherpreise, Kaffeehäuser, Bäder an Ort und Stelle, Eilwagen, Trinkgelder, Sehenswürdigkeiten in kleiner Schrift Alles das gegeben wird, wozu man sonst viele Fragen thun […] müßte.«36 Baedeker nimmt, wie das Vorwort der Rheinreise von 1839 verspricht, nun »ganz besondere Rücksicht auf den practischen Bedarf […] Der Reisende wird mancherlei Winke finden, welche ihm Mühe, Zeit und Geld zu ersparen geeignet sind«37. Sowohl Kleins apodemisch anmutende Aufzählungen als auch die romantischen Naturgemälde seiner Frau treten hinter der Pragmatik der Information zurück. Weichen muss auch die Abhandlung von Lassaulx. Diese, so Baedeker, »ist mehr eine geschichtliche Beschreibung des Rheinthals, als ein Führer für Reisende«.38 Die dritte Auflage zeigt, wie Friedrich Ratzel 1901 feststellt, »sehr klar den Übergang aus dem alten Reiseführer zum neuen Baedeker«.39 Die inhaltlichen und konzeptuellen Veränderungen sind so markant, dass dieses Buch als erster Baedeker gelten kann.
Noch im selben Jahr folgen Reisehandbücher für Belgien und Holland. Als Grundlage dient auch hier, wie Baedeker im Vorwort zu Belgien anmerkt, »das ausgezeichetste Reisehandbuch, welches je erschienen ist […], Murray’s ›Handbook für Travellers on the Continent‹«.40 Ein weiteres Kriterium für die Auswahl der Zielorte dürfte die günstige Verkehrsanbindung der beiden Länder sein. Belgien, das inzwischen zu einem einheitlichen Staat zusammengewachsen ist, verfügt über das modernste Eisenbahnsystem Europas. Holland ist durch die Dampfschifflinien auf dem Rhein gut erreichbar.41
1842 verlegt Baedeker mit Deutschland und der Oesterreichische Kaiserstaat das erste Reisehandbuch für ganz Deutschland, es folgt im Jahr 1844 das erste Reisehandbuch für die Schweiz. Hinzu kommen bereits seit 1832 Ausgaben auf Französisch (Voyage du Rhin de Mayence al Cologne). Bereits die vierte Auflage der Rheinreise von 1843 enthält acht sorgsam ausgearbeitete Stadtpläne der Firma E. Wagner in Darmstadt. Damit eilt Baedeker dem Handbook von Murray weit voraus, das erst ab 1854 Stadtpläne enthält. Ab der fünften Auflage der Rheinreise im Jahr 1846 nimmt Baedeker eine weitere maßgebliche Änderung vor, indem er die modernen Verkehrsmittel zum strukturierenden Element des Reisehandbuchs erklärt: Der Baedeker ist nun systematisch nach Eisenbahn- und Dampfschifflinien gegliedert. Ab der sechsten Auflage von 1849 wird der Herausgeber auch im Titel der Rheinreise als Autor aufgeführt. Formal und stilistisch liegt der Baedeker nun im Vollformat vor – das Reisehandbuch ist ein medialer Standard geworden; was sich noch verändert, ist lediglich das äußere Erscheinungsbild der Bücher. Die gelben Biedermeiereinbände werden nach und nach durch leuchtend rote Einbände mit Goldprägung ersetzt. Seit 1856 sind alle Baedeker in einheitlichem Rot gehalten. Über die frühen Auflagenzahlen lassen sich nur Mutmaßungen anstellen. Nach Hinrichsen betrugen sie einige Hundert oder höchstens Tausend Stück.42 Es existieren einige Zahlen zur Auflagenhöhe von Murrays Handbooks, die als Anhaltspunkt dienen können. So wird für das Jahr 1843 (zehn erschienene Bände) eine Durchschnittsauflage von 1.300 Stück pro Band angegeben, für das Jahr 1846 bei 13 Bänden einen Auflage von je 1.150 Stück.43
In seinen Reisehandbüchern führt Baedeker einen Feldzug gegen unnötige Ausgaben, hohe Trinkgelder und betrügerische Wirte. »Wer Teppiche, Goldspiegel und Pendulen, Mahagonystühle, Marmortische und Plüsch-Sopha’s nicht entbehren kann«, so das Vorwort der Rheinreise von 1849, »möge sich in die großen Gasthöfe begeben und über hohe Preise sich dann nicht beschweren; der einfache bescheidene Reisende wird aber mit diesem Buch in der Hand die guten Häuser altbürgerlicher Art bald herausfinden.«44 Baedeker warnt vor falschen Abrechnungen: »Es ist aber rathsam, um ›Irrtümer‹ zu vermeiden, Alles stets bei Empfang zu bezahlen.«45 Ferner mahnt er schlechte Speisen und Getränke an, beispielsweise den Tischwein in großen Schweizer Gasthöfen, der nur deshalb so schlechter Qualität sei, um »augenscheinlich […] den Gast zu nöthigen, einen bessern Wein nach der Karte zu fordern«.46
Abb. 3: »Zehn Gulden für die Nacht und Trinkgeld noch an Sieben – Da helfe Baedeker – dem wird sofort geschrieben!« Zeitgenössische Karikatur von Theodor Hosemann, 1870.
Trinkgelder hält Baedeker ohnehin für eine schlechte Sitte. Es sei unverständlich, »daß in Gasthöfen, nachdem Alles gehörig berechnet worden ist, auch noch die Bedienung, die doch vom Hausherrn besoldet wird, sich zu einem sogenannten Trinkgeld meldet, oder dasselbe doch erwartet«.47 Schließlich, und der Leser ahnt warum, warnt er vor der kostspieligen lebenden Konkurrenz, den Fremdenführern. Lapidar empfiehlt er »junge Burschen, welche für die Hälfte der Führertaxe und noch weniger den Weg zeigen«.48 In späteren Ausgaben kennt die Sparsamkeit jedoch eine Ausnahme: Mit merkantiler Klugheit weist der Verleger auf die jeweils aktuellen Auflagen der Reisehandbücher hin: »Der Verfasser verwahrt sich ausdrücklich gegen Beschwerden, wie sie ihm wohl vorgekommen, die auf ältereAusgaben fussen. Keine Art von Sparsamkeit ist auf einer Reise übler angebracht, als nach einem alten Reisehandbuch zu reisen. Eine einzige Angabe der neuen Auflage lohnt nicht selten reichlich den dafür bezahlten Betrag.«49 Ansonsten weiß man schon 1861, dass an einem Baedeker-Touristen wenig zu verdienen ist: »Erscheint ein Reisender mit dem rothen Bädeker in der Hand, so wissen die Lohndiener und Wirthe, daß er zu den Kluggewordenen gehört und so wenig zu betrügen ist, wie ein erfahrener Einheimischer.«50
Das letzte Reisehandbuch, das Karl Baedeker persönlich verfasst, ist der Band Paris und Umgebungen (1855). Er hat die Bearbeitung des Stoffes aufgrund seiner oft geäußerten Abneigung gegen Frankreich immer wieder verschoben. »Ich glaube nicht, daß ein solches Buch in Deutschland lohnenden Absatz finden würde«, schreibt er im Juni 1844 an John Murray. »Zudem fehlt es mir an aller Neigung zu einer solchen Arbeit. Ich liebe Frankreich nicht, ich bin selbst nicht in Paris gewesen, und es zieht mich auch durchaus nicht dorthin.«51 Das Reisehandbuch über Paris ist ein großer Erfolg, doch gleichzeitig wird klar, dass Karl Baedeker die Arbeit langsam über den Kopf wächst. In der Folge gibt es immer wieder Ankündigungen, die nicht eingehalten werden können.52 Als Karl Baedeker am 4. Oktober 1859 stirbt, können seine Erben auf ein beachtliches Lebenswerk blicken. Die Rheinreise liegt in nunmehr zehn Auflagen vor, Belgien und Holland erscheint in der sechsten, Deutschland (nun in mehreren Bänden) und Österreich jeweils in der achten Auflage.53
»A Century of Guide Book Travel«,54 so bringt es Alan Sillitoe in seinem Büchlein über den Baedeker auf den Punkt, sei das 19. Jahrhundert gewesen. Neben den Handbooks von Murray gelangen immer mehr Reisehandbücher in den Handel, die dem Baedeker verblüffend ähnlich sehen. Die Grenzen zum Plagiat sind dabei fließend. Insbesondere in der zweiten Jahrhunderthälfte expandiert der europäische Reisehandbuchmarkt mit einer nie gekannten Intensität. Der folgende Überblick kann daher nur exemplarisch sein. Zahlreiche Reiseführer, wie z.B. die Black Guides von Black, Adam & Charles, die Baddeley Thorough Guides, Fodor’s Travel Guides, Woerl’s Reisehandbücher oder die Michelin Guides bleiben unberücksichtigt. Auch die so genannten Illustrierten Reisebücher, mehr Bildbände als Reisehelfer, werden nicht erwähnt. Jedoch verdeutlicht die Aufzählung die Leistung des Koblenzer (später Leipziger) Verlagshauses. Der Maßstab, an dem die neuen Reisehandbücher gemessen werden, ist fast immer der Baedeker.
Als Baedekers Reisehandbücher noch in den Kinderschuhen stecken, begründet ein Franzose namens Adolphe Joanne die Serie der Guide Joanne.55 Er beginnt seine Reihe im Jahr 1841 mit einem Handbuch über die Schweiz. Es folgen Deutschland, Italien, Ägypten, Griechenland und viele weitere Reiseziele. Die Bücher sind bekannt für ihren Informationsgehalt und die wunderschönen Stahlstiche. Anders als Baedeker geht Joanne streng alphabetisch vor, alle praktischen Informationen zu Hotels, Restaurants und Verkehrsmitteln platziert er am Ende des Buches. Das Jahrbuch zum Conversations-Lexikon von Brockhaus aus dem Jahr 1857 lobt den Guide Joanne ausführlich. Es lasse »in Bezug auf den Inhalt wenig, in Bezug auf die Darstellung nichts zu wünschen« übrig und sei »ebenso reichhaltig und genau in [seinem] […] materiellen Inhalt wie musterhaft und geschmackvoll in Bezug auf Anordnung, Stil und Darstellung«.56 Die frühen Ausgaben des Guide Joanne