Die Welt des Herrn Bickford - Andrej Kurkow - E-Book

Die Welt des Herrn Bickford E-Book

Andrej Kurkow

4,8

Beschreibung

Vor dem großen Knall: die letzte Satire der Sowjetunion. Skurril, skurriler, Sowjetunion: Andrej Kurkows Blick durch die satirische Brille In der Nachkriegs-Sowjetunion wandert der junge Matrose Charitonow mit einer endlos langen Bickford-Zündschnur in der Tasche westwärts durch die Taiga – am anderen Ende der Schnur: ein gestrandeter Kahn voller Dynamit. Als wäre dieses Abenteuer nicht schon surreal genug, trifft er auf seinem Weg nach Leningrad auf ein Land im Ausnahmezustand: Menschen, die sich in einem ewigen Krieg und vom Feind umzingelt glauben; Orchestermusiker, die wegen angeblich schief gespielter Töne in einem "Muslag" gefangen gehalten werden; eine namenlose und auf Karten nicht auffindbare Stadt, in der ausschließlich Zwangsjacken hergestellt werden. Der gutgläubige Charitonow sucht die Nähe der Menschen, doch stößt er bald an die Mauern der "sowjetischen Mentalität" … Grotesk-düsteres Leben in der Endlosschleife: die Seele des "homo sovieticus" Charitonow wird mit einer Reihe von bizarren Charakteren konfrontiert, die das unwirtliche Riesenreich der Sowjetunion und sein totalitäres System hervorgebracht haben. In einer Welt zwischen Stalin und "Tauwetter", zwischen Terror und erstickten Hoffnungen auf Reformen kommen dem Matrosen Zweifel: an seinem Vorhaben, an der Richtigkeit des Systems, das er und seine Mitmenschen am Laufen halten. Kann er in so einer Welt der Menschheit überhaupt Nutzen bringen? Charitonow bewegt sich immer weiter Richtung Westen, und in ihm keimt langsam der Gedanke, ob er nicht einfach alles in die Luft sprengen sollte. – In "Die Welt des Herrn Bickford" erkundet der ukrainische Bestsellerautor Andrej Kurkow auf einer märchenhaft-melancholischen Reise durch die Taiga die "sowjetische Mentalität". Aus dem Russischen von Claudia Dathe

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Andrej Kurkow

Die Welt des Herrn Bickford

Roman

Aus dem Russischen von Claudia Dathe

Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
Vorwort
1
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Glossar
AUTOR
Zum Autor
Impressum
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Vorwort

Liebe Leserinnen und Leser!

Es gibt Länder mit einer großen und komplizierten Geschichte, Länder, die blutige und tragische Ereignisse durchlebt haben, Länder, die so an ihrer Geschichte hängen, dass ihnen die Zukunft, ja sogar eine normale Gegenwart verwehrt bleibt. Auf Russland trifft dies alles heute zu. Unter Boris Jelzin hat das Land versucht, den scheinbar vorprogrammierten Teufelskreis der eigenen Geschichte zu durchbrechen und einen Weg in eine neue und moderne Welt zu finden. Resolut und ganz in russischer Manier hat sich Jelzin – auf rigorose und brutale Art und Weise – daran gemacht, Russland seiner sowjetischen Vergangenheit zu entreißen. Und ist gescheitert. Ich würde gern Folgendes wissen: Ob Jelzin insgeheim seine Politik mit der Nikita Chruschtschows, Stalins Nachfolger, verglichen hat? Vielleicht nicht, aber viele seiner Handlungen ähnelten Chruschtschows Vorgehensweise und waren ebenso kompromisslos. Wie Jelzin, so richtete auch Nikita Chruschtschow sein Handeln nicht an Gesetzen, sondern an seinen politischen Zielen aus. Chruschtschow träumte von einer modernisierten Sowjetunion, Jelzin von einem zivilisierten, demokratischen Russland. Das Ergebnis war in beiden Fällen das gleiche: ein Rückfall in die Vergangenheit.

Als ich den Roman Die Welt des Herrn Bickford schrieb, war Jelzin gerade dabei, erste Gedanken zu fassen, Chruschtschow war längst vergangene Geschichte. Und dennoch war diese längst vergangene Geschichte für mich immer noch wichtig. Ich versuchte zu verstehen, was in der Gesellschaft, was in den normalen Sowjetmenschen vor sich ging, über deren Köpfe hinweg im Kreml die wichtigen Fragen entschieden wurden, die das Schicksal des Landes, das Schicksal von über 200 Millionen Menschen bestimmten. Menschen, die das Land im Zweiten Weltkrieg verteidigt, mit flotten Liedern die zerstörte Industrie wieder aufgebaut hatten, die schweigend aus den Gefangenenlagern zurückgekehrt waren und nun schweigend ein schweres Dasein fristeten. Ich versuchte zu verstehen, wie sie die Nachkriegsjahre unter Chruschtschow wahrgenommen hatten. Versuchte zu verstehen, was die sowjetische Gesellschaft und die politische Elite daran gehindert hatte, Chruschtschows Tauwetter zu einem Wendepunkt und Neubeginn in der sowjetischen Geschichte werden zu lassen. Und im Schreiben des Romans fand ich eine Antwort: Der „Sowjetmensch“ bremste Chruschtschow in seinen Modernisierungsversuchen. Und der „Sowjetmensch“ war es auch, der Jelzin scheitern ließ. Der „Sowjetmensch“ ist es, der Wladimir Putin heute in seinem gesamten Vorgehen unterstützt, weil er glaubt, Russlands gegenwärtiger Präsident gebe dem Land die mystische Vergangenheit zurück, auf die man ihn eingeschworen hat und die er mehr verehrt als Gott, den Herrn.

In meinem Roman geht es um den „Sowjetmenschen“. Weder um den guten noch um den schlechten, sondern um den „Sowjetmenschen“ an sich. Um seine Psychologie, seine Gedanken, seine Mentalität. Und um sein Land. Die Welt des Herrn Bickford ist der erste von drei Romanen, die ich der Evolutionsgeschichte der utopischen Mentalität des Sowjetmenschen gewidmet habe. An dem Buch habe ich vier Jahre gearbeitet, für mich ist es das wichtigste und wertvollste Werk. Es war nicht einfach, den Roman zu schreiben, und ihn zu lesen, ist sicher auch schwierig. Aber ich glaube, dass Sie, wenn Sie sich ernsthaft vertiefen und in den Roman eintauchen, keine vier Jahre brauchen werden, um den Figuren aus Der Welt des Herrn Bickford auf ihren Wegen zu folgen, mit ihnen gemeinsam die schwierige und interessante, reale und phantastische Zeit zu durchleben, die vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zur von der Kubakrise 1962 eingeleiteten, letzten Phase von Chruschtschows Karriere reicht.

Andrej Kurkow

Wer lebt … in Russland?

Nikolai Nekrassow

1

Die Stadt hatte einen leisen Schlaf. Sie träumte von einem Fisch. Von einer großen, flachen Scholle, die den ganzen Himmel verdeckte. Dass sie den Himmel verdeckte, hieß, sie meinte es gut mit der Stadt. Das Gute sehnte die Stadt seit Langem herbei. Die einwändigen Wackelhäuser hatten panische Angst vor dem Wind, die Menschen hatten Angst vor den Wackelhäusern und machten einen Bogen um sie. Die Häuser, die nur noch aus einer Wand bestanden, sahen aus wie hochkant aufgestellte Dominosteine. Die Menschen glaubten, wenn ein solcher Stein umfiele, würden nacheinander auch alle anderen mit Staub und Krach umfallen.

Aber es wehte kein Wind. Und so standen die Wackelhäuser reglos.

Die Stadt schlief.

Sie träumte von einem Fisch.

Nachts um halb drei wurde die Stadt aus ihrem leisen Schlaf gerissen. In einem halbverfallenen Innenhof startete jemand den Motor eines großen schwarzen Fahrzeugs. Die Scheinwerfer gingen an, und das Fahrzeug rollte auf die Straße. Die Stadt knipste ein Licht an und sah dem Gefährt nach. Sie kannte es. Es wollte der Stadt nichts Böses.

Die Stadt schlief weiter.

Mit heulendem Motor hielt das Fahrzeug am Kontrollpunkt. Ein Uniformierter trat heraus, leuchtete mit einer Taschenlampe ins Fahrerhaus, nickte schweigend und öffnete die Schranke.

„Wen hast du durchgelassen?“, fragte sein Kompagnon, der auf einer Stuhlreihe an der Wand lag.

„Die Leute mit dem Suchscheinwerfer.“ Der Diensthabende gähnte und setzte sich an den Tisch, den eine elektrische Lampe erhellte, und starrte weiter in das aufgeschlagene Buch. Er war so müde, dass er nicht lesen konnte, fixierte nur die längsten und kürzesten Wörter, ohne sie aufzunehmen.

Allmählich, mit den Scheinwerfern die unbefestigte Straße abtastend, entfernte sich das Fahrzeug von der Stadt.

Im Fahrerhaus saßen zwei Personen.

„Ich glaube, sie wird nach Osten hin schmaler“, sagte der Beifahrer und schaute auf seine brennende Zigarette.

„Kann ich mir nicht vorstellen“, antwortete der Fahrer ruhig und konzentrierte sich aufs Fahren.

„Und warum steigen die Luftschiffe dann nicht auf?“

Der Fahrer musste lachen.

Da schlug etwas scheppernd gegen die Motorhaube.

„Schon wieder!“ Der Fahrer bremste und seufzte.

„Kein Wunder“, sagte der Beifahrer gleichgültig. „Das ist nur ein zusätzlicher Beweis.“

Sie stiegen aus. Der Fahrer befühlte die kleine Delle an der Motorhaube und schaute besorgt zum schwarzen Himmel hinauf.

„Was ist, fahren wir weiter?“, fragte der Beifahrer. Es klang wie Frage und Vorschlag zugleich.

Der Fahrer zögerte. Nachdenklich biss er sich auf die Unterlippe und schwieg. Dann stieg er wortlos ein und ließ den Motor an. Der Beifahrer kletterte auf seinen Platz und schaute seinen Kollegen fragend an.

„Was soll’s“, brummte der, und sie fuhren los.

„Blöd, dass sie Gorytsch plattgemacht haben“, sagte der Beifahrer nach einer Weile und riss ein Streichholz an, um sich die nächste Zigarette anzuzünden.

„Belomor?“, fragte der Fahrer.

Der Beifahrer hielt ihm eine Zigarette hin.

„Wir sind selbst schuld“, sagte der Fahrer nach einem tiefen Zug missmutig. „Wir hätten nicht nach seiner Pfeife tanzen sollen. Dann könnten wir jetzt immer noch zu dritt unterwegs sein.“

„Stimmt.“ Der Beifahrer nickte.

„Bist du sicher, dass sie ihn erschossen haben?“

„‚Nach Kriegsrecht‘“, wiederholte der Beifahrer den auf Aushängen in der Stadt formulierten Ausdruck.

„Was soll’s. Uns werden sie auch abknallen, auch nach Kriegsrecht. Dann gesellen wir uns zu Gorytsch.“ Der Fahrer blies den Zigarettenrauch aus und schaltete die Scheibenwischer ein.

„Wozu das?“, wunderte sich der Beifahrer.

„Der Motor ist so leise“, erklärte der Fahrer. „Die Stille zur Tarnung steht mir bis hier!“, sagte er und fuhr sich mit dem Zeigefinger über den Hals.

Der Beifahrer zuckte mit den Schultern.

Die unbefestigte Straße führte in eine hügelige Landschaft hinein. Der Laster fuhr langsam, immer in den Spurrinnen. Das Scheinwerferlicht erfasste einen Holzpilz am Fahrbahnrand. Eine Bushaltestelle aus der Zeit vor Kriegsbeginn. Auf der Erde unter dem Pilz saß, an den „Pilzstiel“ gelehnt, ein Mann. Als er das Fahrzeug sah, sprang er mit einer Maschinenpistole in der Hand auf. Er trat unter dem Pilz hervor, gab eine Salve ab und zwang den Laster anzuhalten.

„Jetzt sind wir dran!“, sagte der Fahrer mit müder Stimme und bremste.

„Und wenn du einfach Gas gibst und ihn zum Teufel jagst?“, schlug der Beifahrer vor.

„Das ist doch kein Kleinwagen! Schon allein die Motorhaube, und drunter hast du noch mal eine Tonne!“

In der Zwischenzeit war der Mann an die Fahrerseite herangetreten und hatte die Fahrertür aufgerissen, er ging beiseite und rief: „Raustreten zum Erschießen!“

Der Fahrer blinzelte und versuchte das Gesicht des Angreifers zu identifizieren, konnte aber nur die Uniform erkennen. Es war dieselbe, die auch sie trugen. Die Stimme des Fremden kam ihm verdächtig bekannt vor.

„Mach das Licht aus!“, flüsterte der Beifahrer.

Der Fahrer freute sich. Wieso war ihm der Gedanke nicht gleich gekommen? Er schaltete die Scheinwerfer aus, und sofort erfasste die Dunkelheit den lichtleeren Raum.

Fahrer und Beifahrer saßen reglos da und hatten schreckliche Angst, sich auch nur durch das kleinste Rascheln zu verraten.

„So ein Quatsch, Leute!“

„Das ist doch …“, flüsterte der Beifahrer verdutzt. „Das ist doch Gorytsch!“

„Woher? Aus dem Jenseits?“, widersprach der Fahrer.

„Na endlich!“, kam es aus dem Dunkeln. „Aber ich habe euch zuerst erkannt!“

Der Fahrer schaltete die Scheinwerfer und das Licht im Fahrerhaus ein. In der Türöffnung erschien das vertraute stoppelbärtige Gesicht.

„Dann haben sie dich also …?“, fragte der Fahrer mit einem entgeisterten Blick.

„Was haben sie? Abknallen wollten die mich, sind aber zu spät gekommen. Ich hab dem Begleitposten eine reingehauen, mir die MP geschnappt – und ab in die Nacht!“

„Dann wirst du also gesucht“, sagte der Beifahrer nickend.

„Ja. Ich kann jetzt eigentlich nur noch dahin“, erwiderte Gorytsch und zeigte Richtung Himmel.

„Den Weg musst du erst mal finden!“, rief der Fahrer lächelnd. „Kriech auf die Ladefläche unter die Plane.“

„Und wo wollt ihr jetzt hin?“

„Richtung Osten“, antwortete der Beifahrer. „Kontrollen machen.“

Der Wagen setzte seine Fahrt durch die Hügel fort.

„Gut, dass er das Gewehr hat!“, sagte der Beifahrer. „Schlecht, dass die Schulterstücke an seiner Uniformjacke fehlen. Bei der ersten Kontrolle kriegen sie uns dran ‚nach Kriegsrecht‘.“

„Na, dann lass uns auch die Schulterstücke abreißen“, schlug der Fahrer vor. „Entlastet auch die Schultern …“

„Geht nicht, schließlich haben wir einen Auftrag.“

„Dass ich nicht lache“, sagte der Fahrer grinsend.

Von der Rückwand kam ein energisches Klopfen. Der Fahrer bremste und öffnete die Tür.

„Was gibt’s?“

„Wir sind da!“, antwortete Gorytsch.

„Bist du sicher?“

„Ich glaube, ich habe es gesehen.“

Die Insassen wechselten einen spöttischen Blick und stiegen aus.

„Schlag die Plane zurück!“, befahl der Fahrer.

Gorytsch raschelte mit der Plane und keuchte vor Anstrengung.

Der Fahrer und der Beifahrer kletterten auf die Ladefläche, um ihm zu helfen. Mit ein paar Handgriffen, die sich über viele Jahre eingeschliffen hatten, zogen sie die Plane von der riesigen Scheinwerfertrommel und legten sie in einer Ecke der Ladefläche ab.

Behutsam polierte Gorytsch mit einem Lappen die gläserne Oberfläche.

„In Gottes Namen!“, sagte der Beifahrer fast flüsternd.

Der Fahrer beugte sich vor und betätigte den Schalter. Im Scheinwerfer flammte ein kleiner Punkt auf und breitete sich allmählich über die Reflektorwand aus.

„Vielleicht stellst du ihn besser senkrecht?“, schlug Gorytsch vor.

Der Fahrer war einverstanden. Sie lockerten die Halterung und richteten den Scheinwerfer so aus, dass der Strahl senkrecht zur Erde stand, dann zogen sie die Halterung wieder fest.

Langsam kam Leben in den Scheinwerfer. Zuerst stieg ein kaum wahrnehmbarer Strahl diffusen Lichts in den Himmel, fünf Minuten später war ein gebündelter und intensiver Strahl entstanden. Die Lichtsäule stieg immer höher. Gespannt schauten Gorytsch, der Fahrer und der Beifahrer ihr nach, die Köpfe in den Nacken gelegt.

„Braucht ganz schön lange, bis er sich erwärmt hat.“ Gorytsch wiegte den Kopf.

„Altes Aggregat“, sagte der Fahrer nickend.

„Und bis es abgekühlt ist, dauert es noch länger“, seufzte der Beifahrer. „Mit dem Ding kannst du nicht mal eben schnell im Dunkeln verschwinden! Dann schon besser wegrennen.“

Sie entfernten sich zwanzig Meter vom Fahrzeug.

Allmählich stieg der Strahl in die Höhe. Plötzlich stoppte er, als wäre er auf ein nicht zu durchdringendes Hindernis gestoßen.

„Ich hab’s doch gewusst!“, rief der Beifahrer erfreut.

Die beiden anderen schwiegen. Dem Fahrer tat der Hals weh vom Verrenken. Er senkte den Kopf und massierte seinen Nacken. „Und wenn du recht hast, was bringt das?“, fragte er den Beifahrer unvermittelt.

Der Beifahrer hörte auf zu lächeln und schaute den Fahrer wütend an. „Wie? Das ist doch der einzige Ausweg!“, setzte er zu einer Erklärung an.

„Sehe ich“, sagte Gorytsch knapp und laut.

Triumphierend sah der Beifahrer den Fahrer an.

Der Fahrer schaute nach oben. „Ja, sieht so aus, als hättest du recht“, murmelte er. „Und was weiter?“

Von der Stadt her war eine Kanonensalve zu hören, einen Augenblick später durchschlug das Geschoss wie ein Insekt, das von einer brennenden Kerze angezogen wird, die Lichtsäule des Scheinwerfers und explodierte auf der Landstraße. Erdklumpen und Splitter wurden über die Erde und das Fahrzeug geschleudert. Die Scheinwerfermannschaft warf sich zu Boden und presste sich gegen die starre, leblose Erde, die nicht einmal mit einfachem Gras bedeckt war.

Ein Geschoss nach dem anderen schlug ein. Der blindwütige Kommandeur der Artillerieeinheit hatte die Lichtsäule als Signal gedeutet, das Feuer zu eröffnen. Die erhöhte Gefechtsbereitschaft dauerte nun schon drei Jahre, ohne dass es die kleinste Kampfhandlung gegeben hatte. Da fiel es schwer, einen klaren Kopf zu behalten.

Gorytsch sprang auf und rannte, so schnell er konnte, zum Wagen. Der Fahrer hatte sich aufgestützt und schaute ihm nach, der Beifahrer verbarg sein Gesicht für die lichte Zukunft. Beherzt sprang Gorytsch auf die Ladefläche und betätigte den Schalter.

Die Lichtsäule senkte sich und löste sich auf, verschmolz mit der Dunkelheit.

Ungeschickt schwang sich Gorytsch über die Seitenwand und sprang hinunter.

Das nächste Geschoss riss mehrere Kubikmeter lehmige Erde in die Luft und schleuderte sie nach allen Seiten. Ein Klumpen von der Größe einer ordentlichen südukrainischen Melone traf den Beifahrer an der Wirbelsäule im Schulterbereich. Er schrie auf und erstarrte. Eine sofortige Lähmung schien all seine Gliedmaßen erfasst zu haben, und obwohl er fühlte, dass er noch bei Bewusstsein war, konnte er nichts mehr ausrichten.

Der Beifahrer starrte in die Nacht, die Erde hieß. Mit der Nasenspitze spürte er ihre gleichgültige Kälte, aber seine Augen konnten nichts erkennen. Er wollte vor aufkommender Verzweiflung die Zähne aufeinander schlagen, aber auch das gelang ihm nicht. Nur die Augen gehorchten ihm noch, sie konnte er öffnen und schließen. Diese eingeschränkte Freiheit widerte ihn an: Ob er die Augen nun schloss oder öffnete, das Bild war immer dasselbe. Denken konnte er noch, aber nur boshafte Dinge. Da er aber ein gütiger Mensch war, wollte er so nicht denken und schloss die Augen.

Der Fahrer und Gorytsch kamen sofort zum Beifahrer, als sie bemerkt hatten, dass der Beschuss aus der Stadt aufgehört hatte. Sie drehten ihn auf den Rücken.

„Er atmet noch!“, sagte der Fahrer erleichtert.

„Er ist gelähmt.“ Gorytsch zündete ein Streichholz an und hielt es dem Beifahrer vor die Augen.

Unwillig blinzelten die Augen und schlossen sich.

„Los, auf den Wagen mit ihm!“, befahl der Fahrer.

So vorsichtig wie möglich schafften sie den Freund ins Fahrerhaus. Sie öffneten die Tür und wollten ihn auf den gepolsterten Sitz lehnen. Als sie versuchten, ihn aufzusetzen, schrie der Beifahrer schmerzerfüllt auf und erschlaffte. Der Fahrer und Gorytsch legten ihn zurück auf den Boden.

„Die Wirbelsäule“, seufzte der Fahrer.

„Wir müssen ihn auf die Ladefläche legen.“

Unter größter Anstrengung stemmten die Freunde den Beifahrer hinauf, schlugen mehrere Lagen Plane übereinander und betteten den Verletzten darauf. Dann deckten sie ihn mit einer weiteren Plane zu.

Der Scheinwerfer verströmte eine ungeheure Wärme. Das Metall hatte sich stark erhitzt, es würde mindestens eine Stunde dauern, bis er abgekühlt war.

Gorytsch und der Fahrer stiegen ins Fahrerhaus. Den Fahrer überkam ein Zittern. Zögernd tastete er nach dem Lenkrad und schaltete die Hilfsleuchte ein. Das kleine Lämpchen, das sich an der der Innenseite der Frontscheibe spiegelte, teilte die Dunkelheit in zwei Farben: Grau und Schwarz. Aber selbst bei dieser minimalen Beleuchtung musste der Fahrer die Augen zusammenkneifen und hielt sie eine Zeitlang geschlossen.

Als er die Augen schließlich öffnete, traf ihn Gorytschs wehmütiger Blick. „Wir müssen fahren“, sagte er bestimmt, als würde er widersprechen.

„Wohin?“, presste der Fahrer hervor.

Gorytschs Blick wies Richtung Frontscheibe. „Vorwärts und ohne Licht“, erklärte er nach einer kurzen Pause.

„Ganz ohne Licht?“ Der Fahrer war schockiert.

„Willst du die Artillerie in der Stadt etwa noch mal reizen?“

„Schon gut“, lenkte der Fahrer ein. „Aber wir sollten uns vorher voneinander und von ihm verabschieden. Sonst ist es vielleicht zu spät. Das kommt mir hier vor wie eine Fahrt durchs Minenfeld.“

„Mir kommt mein ganzes Leben vor wie eine Fahrt durchs Minenfeld, aber ich habe mich noch von niemandem im Voraus verabschiedet“, sagte Gorytsch und lächelte traurig. „Dann schon lieber ohne große Abschiedsworte …“

Der Abschied vom Beifahrer fiel kurz aus. Er lag mit geschlossenen Augen auf der Plane. Für ihn gab es keinen Unterschied mehr zwischen Wachsein und Schlaf. Der Fahrer und Gorytsch ergriffen die neben dem Körper liegende Hand und rauchten hockend eine Belomor. Als sie aufgeraucht hatten, kehrten sie ins Fahrerhaus zurück.

Der Motor heulte auf. Langsam kroch das blinde Auto vorwärts.

2

Auf dem glatten Meer schaukelte willenlos ein Frachtkahn. Wegen der Flaute hing die Flagge der Seestreitkräfte schlaff an einem Sendemast, an Deck saßen zwei Matrosen. Der eine war rothaarig, hatte Sommersprossen und trug einen Bart. Der zweite – man sah sofort, dass er es mit allen Regeln ganz genau nahm – war peinlich glattrasiert, hatte sich stellenweise kahl geschoren und saß noch dazu so kerzengerade, als hätte man ihm das Kommando „Haltung annehmen!“ erteilt, aber nicht gestattet aufzustehen. Sein Gesicht, das selbst während einer Unterhaltung oder eines Streits nicht die kleinste Regung oder Emotion zeigte, sah aus wie die gängigen Fotos in offiziellen Dokumenten, die ein Recht gewähren oder eine Handlungsbefugnis erteilen.

„Charitonow! Wenn wir zurück sind, reiche ich eine Beschwerde gegen dich ein“, sagte der regelfreudige Matrose völlig gleichgültig, aber in einem makellosen Russisch. „In den letzten zwei Monaten hast du keinen meiner Befehle ausgeführt!“

„Ach, komm“, seufzte der Rothaarige matt. „Ist doch niemand da! Der Motor hat den Geist aufgegeben. Wenn ich mich die letzten zwei Monate für den Morgenappell rasiert hätte, dann wären wir …“

„Was wären wir dann?“, unterbrach ihn der Regelfreund teilnahmslos.

Der Rothaarige winkte ab, drehte sich um, und der andere hatte plötzlich einen strubbeligen Hinterkopf vor der Nase.

„Untermatrose Charitonow!“

„Hier“, meldete sich der Rothaarige, ohne sich umzudrehen.

„Flagge einholen!“

Charitonow drehte sich um und schaute dem Obermatrosen erstaunt in die nachdenklich zusammengekniffenen Augen.

„Die feindliche Artillerie kann uns wegen der Flagge entdecken“, rief der Regelfreund monoton.

„Das stimmt.“ Der Rothaarige stand auf und ging zum Sendemast. „Seit zwei Monaten kein einziger Feind in Sicht. Und von den eigenen Leuten auch keiner. So kann es ja nicht weitergehen.“

„Weniger philosophieren, Charitonow. Hast du die Flagge eingeholt?“

„Ja. Und wohin jetzt damit?“

„Wickle sie ein und trag sie immer am Mann!“

„Du“, sagte der Rothaarige freundlich, „willst du mir nicht endlich mal sagen, was los ist? Wir sind zusammen groß geworden, haben zusammen gearbeitet, und als uns die Schweine überfallen haben, haben wir uns zusammen zur Marine gemeldet. Wir wollten zusammen auf ein Schiff. Jetzt sitzen wir hier auf dieser klapprigen Kiste, der Krieg geht schon fünf Jahre, und wir erfüllen unsere Aufgabe. Und du benimmst dich seit fünf Jahren wie ein Holzgötze …“

„Hör auf, Charitonow“, unterbrach ihn der Regelfreund. „Ich bin älter und trage die Verantwortung für Kahn und Ladung. Du bist meine Mannschaft, deswegen hast du meine Befehle auszuführen. Kapiert?“

Charitonow fuhr sich mit den Fingern durch den Bart. ‚Nicht gerade ein imposanter Vollbart!‘, dachte er, ‚eher ein kümmerlicher Zottelbart! Als ob der Kahn kentert, wenn ich mich nicht rasiere!‘

Über dem Schiff schrien Möwen. Gewöhnlich flogen sie den Schiffen nach und fingen das Futter auf, das ihnen zugeworfen wurde. Aber dieses Schiff fuhr nicht. Die Möwen kreisten und flogen immer tiefer hinunter. Ein Vogel setzte sich auf den Sendemast.

„Charitonow!“, rief der Regelfreund und warf einen vielsagenden Blick auf die kreischenden Vögel.

Charitonow hatte begriffen, seufzte, holte seine MP vom Deck und ballerte ziellos in den Schwarm. Erschrocken schrien die Möwen auf und stiegen in den wolkenlosen Himmel.

„Wieder vorbei“, bemerkte der Obermatrose grämlich. „Wie viele Patronen haben wir noch?“

„Drei Magazine“, antwortete Charitonow.

„Nicht gerade üppig … Na gut. Geh in den Laderaum runter und überprüf die Fracht.“

Träge stand der Rothaarige auf. Er blinzelte in die Sonne, ließ sein sommersprossiges bärtiges Gesicht von ihr bescheinen und rührte sich nicht vom Fleck.

„Geh mir aus den Augen!“, bat der Obermatrose erschöpft.

„Zu Befehl …“, flüsterte Charitonow sich selbst zu und trottete zum Vorderdeck.

Mehr als zwei Monate war es her, dass sie zum letzten Mal Land gesehen hatten. Sie hatten eine weitere Ladung Dynamit und Zündschnur – die solide Bickford-Schnur – an Bord genommen, spät in der Nacht vom stellenweise überspülten Kai abgelegt und dann Kurs auf den Teil der Küste genommen, den sie nach vier Jahren aus dem Effeff kannten und wo ihre Kameraden im feindlichen Hinterland ihre alltäglichen Sabotageakte verübten. Wie viel Zeug sie während all ihrer Touren auf dem motorisierten Kahn an die Ihren geliefert hatten, war nicht zu zählen. Zählen konnte man nur die erstaunlicherweise spärlichen Angriffe der feindlichen Luftwaffe, die wenigen Kreuzer unbekannter Herkunft, die sie am Horizont entdeckt hatten, und ein paar Dutzend Stürme. Der letzte war auch daran schuld, dass sie nun schon seit mehr als zwei Monaten manövrierunfähig über Wasser und Wellen trieben. Zuerst hatte eine blinde Klippe die Schiffsschraube gekappt, und dann hatte der Motor ausgesetzt. Ohne Schiffsschraube hätte er allerdings auch nichts genützt!

Charitonow plagte seit vier Jahren ein- und dieselbe Frage: Er versuchte sich zu erklären, wieso und weshalb Fjodor Grizak, Fedka, mit dem er aufgewachsen und mit dem er am Latschasee angeln gewesen war, sich so verändert hatte, wie sich einst Charitonows Großvater verändert hatte, als er erfuhr, dass Gott Opium fürs Volk war und die Winterkirche nicht mehr als ein Ziegelvorrat für den Bau von Fischeröfen. Gott und Kirche waren Themen für die Tribüne. Aber wer hatte Grizak von welcher Tribüne aus verkündet, dass sich Charitonow, der Maschinenführer der Nikitin, des einzigen Dampfschiffes auf dem Latschasee, kurz nach der Mobilmachung, vorsichtig formuliert, als Halbtrottel erweisen würde? Ihm war nichts dergleichen zu Ohren gekommen. Und er zweifelte ehrlich gesagt daran, dass es sich jemand herausnehmen würde, so über ihn zu sprechen, und sei es nur Fedka Gri­zak gegenüber. Charitonow hegte sowieso allerlei Zweifel. Er zweifelte nicht deshalb, weil ihm das Vertrauen in das richtige Verständnis für Ereignisse fehlte, sondern weil er ständig seine Sicht auf die Dinge mit der Sicht anderer Leute verglich. Schon das fünfte Jahr bot sich ihm keinerlei Gelegenheit zu solchen Vergleichen, doch dadurch entfaltete sich seine Fähigkeit, zu zweifeln und aus den eigenen Zweifeln Schlüsse zu ziehen, erst recht. Als Kind, als er zum ersten Mal eine Zeitung in der Hand gehalten hatte, jedoch noch nicht gut genug lesen konnte, leckte er mit der Zunge über das unverständliche, fett gedruckte Wort, um vom Geschmack auf die Bedeutung zu schließen. Und obwohl der Geschmack des Bleidrucks nicht das gewünschte Ergebnis brachte, festigte sich bei Charitonow die Gewohnheit, sich im kurz darauf beginnenden, erwachsenen und zum Teil bewussten Leben die Dinge selbst zu erschließen.

Er ging in den Mannschaftsraum hinunter, der für zehn Personen ausgelegt war, und legte sich auf seine obere Koje. Irgendwo da draußen war Krieg, für sie indessen hielt der Zwangsfrieden schon drei Monate an. So hatte es das mechanische Verhältnis von Stein, Eisen und Meer entschieden. Die Entscheidung hätte auch anders ausfallen können, dann würde ihr mit Dynamit und Bickford-Schnur beladenes Stück Eisen schon längst auf dem steinigen Grund des Japanischen Meeres schlummern.

Charitonow wollte schlafen, aber bevor er einschlief, versuchte er jedes Mal, sich an einen sehr wichtigen Gedanken zu erinnern, den er sich für spätere Überlegungen und Gedankenspiele aufhob. Von der physischen und geistigen Unterforderung war sein Kopf schier aufgedunsen, die Vielzahl aller möglichen Gedanken und die brodelnde Überfülle ließen ihn oft in einen unruhigen Schlaf fallen.

3

Dutzende Kilometer in völliger Dunkelheit lagen hinter ihnen. Und womöglich nicht nur hinter, sondern auch noch vor ihnen. Der Wagen fuhr im Dunkeln, durchs Dunkel, ins Dunkel. Der Fahrer lenkte intuitiv, versuchte, Tuchfühlung zur Straße zu halten. Schon schien es ihm, als er könnte er sie sehen, die Straße. Aber es schien ihm nur so, in Wahrheit sah er nicht einmal Gorytsch, obwohl der direkt neben ihm saß. Er hörte nur sein Husten und Ruckeln. Die Hilfsleuchte im Fahrerhaus hatten sie gelöscht, um die Batterie zu schonen, die nur noch wenig Strom lieferte. Die beiden schauten nur geradeaus und schwiegen, denn ein Gespräch im Dunkeln war wie ein Telefonat, bei dem zwei Personen sprachen und unzählige lauschten.

Der Fahrer leckte sich die spröden Lippen und hielt die Augen einen Spalt breit geöffnet. Er fühlte sich wie ein einsamer erschöpfter Wanderer. Müdigkeit überkam ihn.

Wieder hustete Gorytsch.

Der Fahrer strengte sich an, um den Schlaf abzuschütteln, hinzu kam eine unbewusste Unruhe, die ihn munter werden ließ. Weil er nicht wusste, was ihn da in Angst versetzte, schaltete er die Hilfsleuchte ein. Lauschte. Er hörte die hölzernen Seitenwände der Ladefläche quietschen.

Das war es, was ihn erstaunt und erschreckt hatte! Dieses Quietschen hatte er noch nie gehört. Nicht etwa, weil die Seitenwände nicht gequietscht hätten – der Motorlärm hatte immer alle Nebengeräusche übertönt –, aber plötzlich war kein Motor mehr zu hören.

Der Fahrer zog die Handbremse an.

„Ach, Straßen, Kälte, Nebel“, brummte Gorytsch im Schlaf.

„Wach auf!“ Der Fahrer rüttelte ihn an der Schulter. „Es geht nicht weiter.“

Der andere rieb sich die Augen.

„Eine Stille ist das.“

„Ja“, sagte der Fahrer und nickte. „Lauter wird’s nicht mehr. Das Benzin ist alle.“

„Dann ist unsere Fahrt zu Ende?“

„Wieso das? Wir fahren schon seit zwei Stunden ohne Motor. Wahrscheinlich geht’s bergab. Solange es bergab geht, fahren wir weiter.“

„Bergab?“ Gorytsch geriet ins Nachdenken. „Na, geb’s Gott, dass der Berg weitergeht.“

Ohne sich abgestimmt zu haben, stiegen beide aus. Der Fahrer trampelte mit seinen Stiefeln auf der Erde herum und wunderte sich, wie hart sie war und dass sie nicht nachgab.

„Ich habe Hunger …“, gestand Gorytsch.

„Im Werkzeugkasten ist Zwieback“, sagte der Fahrer und wollte zur Ladefläche.

„Kannst du dich noch erinnern, wo genau der Kleine Wagen steht?“

Der Fahrer wusste es nicht. Er erinnerte sich an die Sterne, in der Zeit vor dem Krieg hatte er sie oft beobachtet, aber seit all das losgegangen war, hatte er nicht nur die Sterne, sondern auch alle anderen Himmelskörper nach und nach vergessen.

„Wirf mal die Streichhölzer rüber“, rief er Gorytsch zu.

Die Schachtel fiel auf die Plane, unter der der verletzte Beifahrer lag. Unter dem aufflammenden Streichholz zog der Fahrer die Plane zur Seite und leuchtete dem Beifahrer ins Gesicht. Das brennende Streichholz zitterte in der Hand über dem gelblichen Gesicht. Der Fahrer warf es hinunter. „Er ist tot“, sagte er.

Gorytsch trat schweigend von einem Bein aufs andere. Dann rang er sich ein: „Die Erde ist sehr hart“ ab. ­„Komisch“, fuhr er fort, „ich hatte ihn schon vergessen. Ich dachte, wir wären zu zweit unterwegs …“

„Ich auch“, gab der Fahrer zu. „Ich mache das Licht an.“ Er legte den Schalter um und wartete. Hinter der Scheibe erschien ein kleiner Funke und verdrängte das Dunkel. Der Fahrer schaute direkt ins Licht. Die Augen taten ihm weh und tränten, aber er fixierte weiter das langsam wachsende Licht.

Nach etwa fünfzehn Minuten war der Scheinwerfer warm, und die Lichtsäule begann aufzusteigen.

Die Dunkelheit wich, die Fahrzeugumrisse traten hervor. Gorytsch sah die Erde unter seinen Füßen und hockte sich hin. Er betastete den Boden, führte die Hand an die Augen, blies … Dann schaute er zur Silhouette des Fahrers, die vom Scheinwerfer angestrahlt wurde.

„Eine Stille ist das!“, wiederholte Gorytsch.

„Komm, wir nehmen ihn runter!“, flüsterte der Fahrer.

Gorytsch stieg auf das Rad und schwang sich auf die Ladefläche. Er zog dem Beifahrer die Plane vom Gesicht und schauderte, als er in die offenen Augen blickte. „Wollte er von sich aus mit?“ Gorytsch drehte sich zum Fahrer um.

„Ja.“

„Dabei hat er doch gar nicht dran geglaubt … Früher zumindest nicht.“

„Später schon“, antwortete der Fahrer. „Es war sehr dunkel. Da musste man einfach an etwas glauben.“

„Schon gut“, seufzte Gorytsch, als hätte er sich mit irgendeinem unangenehmen Gedanken abgefunden.

Sie klappten die Rückwand herunter und ließen den Toten hinab. Im Fahrzeug lag nur eine Schaufel. Die trockene Erde sträubte sich, als habe sie etwas zu verbergen. Zuerst schaufelte der Fahrer, dann löste ihn Gorytsch ab. Das Grab geriet ellenbogentief, sie legten den Beifahrer mit dem Gesicht nach unten hinein.

„So ist es besser“, sagte der Fahrer. „Wenn die Vögel kommen, hacken sie ihm nicht die Augen aus.“

Gorytsch war einverstanden. Sie bedeckten den Toten mit Erde, aber seine Schultern ragten trotzdem heraus.

„Und wie hat er geheißen?“, wollte Gorytsch wissen.

Der Fahrer zuckte mit den Schultern und lachte bitter. „Ich kenn nicht mal deinen Namen.“

Gorytsch nickte.

„Irgendwann ist das alles vorbei, auch wenn die Suche umsonst sein sollte …“, sagte er, richtete sich auf und starrte den Lichtstrahl an.

„Hier ist nichts. Du kannst abschalten.“

Der Fahrer kletterte auf die Ladefläche und schaltete den Scheinwerfer aus. Als die Wagentüren zugeschlagen und die Handbremse gelöst waren, fuhr das Vehikel gemächlich an und trug den verlöschenden Strahl in ungewisser Richtung davon. Die Ellenbogen aufs Lenkrad gestützt, gewöhnte sich der Fahrer langsam an das neue Geräusch – das Quietschen der hölzernen Seitenwände.

Gorytsch döste.

4

Was für eine Nacht! Das Meer spiegelglatt, die Wasseroberfläche still. Hineinspringen müsste man, in einem schwarzen Jackett mit Stehkragen über dem Matrosenhemd, hineinspringen und davonziehen, Kreise statt Spuren hinterlassen, die sich ausbreiten und langsam auflösen wie bei einem Schwimmer, wenn ein Fisch anbeißt. Ich muss bloß an das Buch denken, ohne das Buch kann ich den Autor nicht finden. Das Gespräch mit ihm wird sicher schwierig, schließlich ist er klug … Und kluge Menschen sind manchmal nicht gerade gesprächig. Ich muss ihn überreden, ein weiteres Buch zu schreiben. Das erste hieß Luftschiffe und ihre militärische Nutzung. Er soll aber noch Luftschiffe und ihre zivile Nutzung schreiben. Wenigstens. Nacht hin oder her, sie dauert ja nicht ewig, Hauptsache, es gibt keinen Sturm. Ein See ist besser als ein Meer. Da hat man es nicht so weit bis nach Hause. Die Nacht ist ja wirklich die gefährlichste Zeit! Gleich kommt ein weißes Luftschiff angeflogen … Nein, kein weißes, das wird ja sofort abgeschossen. Ein schwarzes Luftschiff kommt, nicht einmal ich werde es bemerken. Langsam, mit ausgeschaltetem Motor fliegt es mit der Kraft des Windes über unseren Frachtkahn hinweg, fort ins Irgendwo. Wenn man ihm nur einen Brief mitgeben könnte …

„Sehr geehrter Genosse Autor P. Ionow!

Mit Interesse und Neugier habe ich an die zehn Mal Ihr Buch gelesen und muss sagen, dass ich Ihnen nicht zustimme. Natürlich hat ein Luftschiff in Kriegszeiten ausschließlich militärische Aufgaben, aber wir alle hoffen doch auf friedliche Zeiten, und unter diesem Blickwinkel denke ich, dass Sie unrecht haben. Ich würde Ihnen keine Vorwürfe machen, wenn Sie das Buch in diesem oder im vergangenen Jahr geschrieben hätten. Aber das Buch stammt aus dem Jahr 1933! Was hat es denn damals für einen Krieg gegeben? Das war die Zeit der Kollektivierung! Damals hätten alle ein anderes Buch gebraucht, das Sie aber nicht geschrieben haben! Und da Sie es nicht geschrieben haben, brauchen wir davon auch kein Aufhebens zu machen. Und jetzt vergleichen Sie mal: ein Luftschiff, das über einer nächtlichen Stadt schwebt und über den schlafenden Häusern Bomben abwirft, mit einem Luftschiff, das Weizensamen auf einem riesigen Feld ausbringt. Warum haben Sie nur über die Bomben geschrieben, über die militärische Aufklärung? Ich möchte Sie eindringlich bitten, ein zweites Buch zu schreiben. Sie sind doch Schriftsteller, also wird man sich nach Ihrem Buch richten. Wenn Sie das Buch fertig haben, schicken Sie es mir doch bitte zu, wenn der Krieg zu Ende ist, und zwar an folgende Adresse: Gebiet Archangelsk, Kargopol, Kai, Dampfer Nikitin, Herrn Charitonow.

Mit den besten Grüßen und Wünschen.“

So ist das Leben im Krieg: Eile mit Weile, ein klarer Horizont, die Funkverbindung wurde schon vor der ersten Tour abgeschaltet, nur der Sendemast steht noch. Dort war die Flagge aufgezogen, die ich eingeholt habe, jetzt bin ich der Fahnenträger.

Nach drei Tagen ohne Schlaf dämmerte Charitonow weg. Der Obermatrose Grizak, mochte Gott ihm keine Gnade erweisen, konnte seinem Landsmann die Aufkündigung der Gefolgschaft und die Befehlsverweigerung nicht verzeihen. Irgendwie hatte Grizak sogar Recht: Wo hatte man je einen Soldaten mit einem roten Bart oder überhaupt mit einem Bart gesehen? Grizak hatte ihn jeden Tag vor Augen, und das hatte ihn dermaßen aus dem inneren Gleichgewicht gebracht, dass er sich nicht mehr als Kommandeur fühlte. Um seine Autorität zurückzugewinnen, musste er den Untermatrosen bestrafen. Und so hetzte er ihn Tag und Nacht hin und her, damit der ja kein unnötiges Päuschen einlegte – er selbst versuchte immer dabei zu sein. Er saß am Heck neben Charitonow und schaute auf den morgendlichen Horizont. Ab und zu nickte Fjodor ein. Als ihm die Augen gerade wieder einmal zufallen wollten, entdeckte er am Horizont einen schwarzen Punkt. Grizak riss sich zusammen, öffnete die Augen, holte das Fernglas aus seiner Feldtasche und hob es an die müden Augen.

Der Punkt war ein Schiff, auf dem es von Hitler-­Faschisten nur so wimmelte.

„Charitonow!“, schrie Grizak aus Leibeskräften. „Hol eine Kiste mit Granaten aus der Kajüte.“

Schwankend verschwand der Rothaarige unter Deck. Er brachte die Kiste und fragte: „Wozu?“

„Ein feindlicher Angriff! Zieh die Flagge am Sendemast auf! Halt! Zieh sie nicht auf! Oder doch!“

Charitonow hörte sich geduldig alles bis zum Ende an und führte den Befehl aus. Jetzt sah auch er die kleine Schaluppe mit einem Dutzend deutscher Matrosen, die mühsam rudernd auf sie zuhielten. Wie ein feindlicher Angriff sah das nicht aus, zumal sie, als sie auf etwa dreihundert Meter herangekommen waren, etwas riefen und mit den Armen fuchtelten.

„Ich glaube, sie ergeben sich!“, sagte der Obermatrose frohlockend.

Die Deutschen ruderten weiter, einer hielt ein Sturmgewehr hoch, an dessen Lauf ein weißer Lappen hing.

„Eins, zwei, drei“, Grizak zählte die Deutschen. „Acht Ratten und kein einziger Offizier …“

„Wir kapitulieren!“, rief ein Deutscher heiser.

„Das ist gut …“, sagte der Obermatrose und nickte.

Als die Deutschen bis auf zehn Meter herangekommen waren, ließen sie die Ruder sinken und schauten die zwei sowjetischen Matrosen in gespannter Erwartung an. Der eine schien ihnen weder Kultur noch Moral zu besitzen, während sie der zweite, der glatt rasiert war und eine MP am Riemen hielt, nicht weiter beunruhigte. Die Deutschen beratschlagten halblaut und warfen vor den Augen von Grizak und Charitonow ihre Sturmgewehre ins Wasser.

Grizak hockte sich vor die Kiste mit den Granaten und beobachtete mit zusammengekniffenen Augen die Feinde, die unbedingt gefangen genommen werden wollten.

„Wir müssen was zurückrufen.“ Charitonow drehte sich zu seinem Kommandeur um.

„Nicht nötig“, unterbrach ihn Grizak. „Ihre Heimat wird es uns danken.“

Er tastete nach einer Granate, riss routiniert den Abziehring ab und warf sie direkt in das andere Boot.

„Leg dich hin!“, rief er und warf sich aufs Deck.

Charitonow ließ sich mit dem Gesicht zu Boden fallen. Die Detonation schleuderte Wasser, Holz und Menschen in die Luft. Neben Charitonows Kopf klirrte ein Splitter, der auf das Metalldeck schlug. Charitonow öffnete die Augen und sah, dass es kein Splitter war: Vor ihm lag ein von der Explosion abgetrennter Finger mit einem Ehering. Der Rothaarige kniff die Augen zusammen und spürte gleich darauf einen bitteren Geschmack in der Kehle – es würgte ihn. Er versuchte sich zusammenzureißen, schaffte es aber nicht. Als es Charitonow etwas besser ging, setzte er sich auf und schaute sich um. Auf dem rosa Wasser schwammen die Trümmer des Kutters. Grizak saß gelassen an Deck und schaute gähnend auf seinen Untergebenen.

„Schon gut. Hol dich der Teufel. Geh schlafen“, sagte er.

„Und warum hast du sie …?“, fragte Charitonow stockend, ohne Grizak anzusehen.

„Wegen der Gerechtigkeit. Wenn wir uns nicht ergeben dürfen, warum dürfen sie das dann? Und außerdem waren sie acht und wir zwei … Wenn sie rausgekriegt hätten, dass wir keine Schiffsschraube haben und nur zu zweit sind, wären wir erledigt gewesen. Was hätten wir denn mit ihnen machen sollen auf offenem Meer? Überleg doch mal! Geh schlafen! Halt!“

Grizak stand auf, streckte seinen Rücken und lief mit aufmerksamem Blick auf dem Deck hin und her.

„Also“, sagte der Obermatrose mit einer ungewöhnlich sanften Stimme, „hol die Flagge ein und geh schlafen!“

In dieser Nacht tauchte ein schwarzes Luftschiff am Himmel auf und schwebte langsam, mit abgestelltem Motor, den Rückenwind nutzend, über den Frachtkahn hinweg ins Irgendwo…

Die Flaute hielt auch am nächsten Tag an. Charitonow schlief schon den zweiten Tag in Folge im Mannschaftsdeck, aber Obermatrose Grizak wollte ihn nicht wecken. Er wanderte auf dem Deck auf und ab und murmelte vor sich hin. Viel Platz zum Spazieren gab es nicht, dafür konnte er sich mit Fug und Recht als Hausherr und Kapitän fühlen.

Grizak blieb am Rand stehen, ließ seinen Kapitänsblick bis zum Horizont schweifen, schaute nach unten und verzog die Lippen, als er den abgerissenen Finger entdeckte, dann holte er mit dem rechten Bein aus, und das Stückchen Mensch flog ins Wasser und funkelte zum Abschied mit seinem Ehering.

„Ich habe meinen Beitrag zum Sieg geleistet!“ Der Obermatrose versuchte, seiner Aussage einen möglichst sicheren Ton zu geben.

Es klang ziemlich überzeugend. Grizak gewann seine Fassung zurück und fuhr sich mit der Hand über die Wange, um zu prüfen, ob es nicht Zeit für eine Rasur wäre. Prompt meldete sich der unangenehme Gedanke, der gegen Charitonows roten Bart protestierte. Grizak verscheuchte ihn, obwohl er ihn vollkommen richtig fand, musste sich aber die eigene Ohnmacht eingestehen. Er stellte sich vor, wann genau Charitonows Bart ihm Scherereien bereiten würde. Das konnte höchstens dann passieren, wenn plötzlich irgendein Schiff aus der eigenen Flotte auf ihren manövrierunfähigen Kahn zuhalten und der Offizier, nachdem er an Deck gegangen war, ihm, Grizak, eine saftige Strafe aufbrummen würde, weil er sich nicht an die Regeln und die vorgeschriebene Disziplin gehalten hatte. Es wäre gut, wenn sie das Schiff zeitig entdeckten, damit Charitonow es noch schaffte, seinen Zottelbart abzurasieren, wie er ihn selbst nannte. Es gab nichts Schlimmeres, als das Kommando über Landsleute zu führen, vor allem wenn man mit ihnen zusammen aufgewachsen war. Sie kapierten es einfach nicht, dass du der Kommandeur bist und dass Lob und Tadel, ja ihr ganzes Schicksal in deiner Hand lagen. Sobald jemand von den eigenen Leuten den Kahn gefunden hätte, würde Grizak Meldung machen und ersuchen, seinen Matrosen auszutauschen. Sollten sie ihm sonst wen schicken, und wenn’s ein Jakute wäre, der nicht schwimmen kann, Hauptsache, Grizak hat ihn nie zuvor gesehen.

5

In dieser Nacht tauchte ein schwarzes Luftschiff am Himmel auf. Es hatte den Motor abgestellt und schwebte über dem Meer ins Irgendwo. Seine Gondel war leer, in ihrer Mitte stand allerdings ein Hocker, auf dem Boden lag etwas Müll herum und in einer Ecke stand ein großer Pappkarton mit mehr als tausend Zigarettenschachteln der Marke Drug.

Die Nacht war ungewöhnlich ruhig. Die elektrisierte Meeresoberfläche erinnerte an eine massive Startbahn. Nur hoch am Himmel, dort, wo vor dem Gewitter die Luftschiffe fuhren, wehte ein leichter Wind. Er war harmlos und führte nichts als Ströme warmer Luft mit sich.

Die Natur erholte sich, keiner glaubte, dass ihre Ruhepause lange andauern würde, keiner glaubte, dass die Menschen ein Leben in Ruhe und Frieden nicht satt bekamen.

Aber in Wirklichkeit gab es für sie nie Frieden und Ruhe. Was sich die Natur leistete, leisteten sich die Menschen nicht.

Und in dieser Nacht gab es nur deshalb Ruhe und Frieden, weil keine Menschen da waren. Selbst die Schöpfung des Menschen, die keinen Schöpfer mehr hatte, sah aus, als hätte die Evolution der Vögel sie hervorgebracht. Es war nicht verwunderlich, dass die Schöpfung des Menschen von sich aus, ohne ihren Schöpfer, höher hinauskam als der Mensch. Und sich wie ein Vogel oder eine Wolke am Himmel einlebte.

Grizak öffnete eine Büchse Schmalzfleisch aus dem Ami-Vorrat, mit dem die ganze Kombüse vollgestellt war, pulte die Fleischstücke heraus und warf sie den über dem Kahn kreisenden Möwen zu. Zwei Möwen stürzten sich pfeilschnell auf das Futter, stießen zusammen, zankten sich, und das Fleisch, das sich in der Zwischenzeit von den dämlichen Vögeln verabschiedet hatte, ging unter und wurde zu Fischfutter.

Grinsend warf Grizak den Möwen noch mehr Fleisch zu. Dieses Mal fing ein Vogel, der den anderen zuvorgekommen war, das Fleisch auf, schlug, nunmehr satt, träge mit den Flügeln und stieg wieder in die Luft, um weiter spiralförmig über dem Kahn zu kreisen, der nicht fuhr.

Der Obermatrose hob den Kopf und schleuderte den Vögeln, die er nicht ausstehen konnte, weitere Fleischstücke entgegen. Nach mehr als zwei Monaten konnte er kein Schmalzfleisch mehr sehen. Er schleuderte es heraus, blindlings, ohne an die Vögel oder irgendetwas anderes zu denken.

Auf einmal bekam er schlechte Laune, lief auf dem Deck auf und ab, nahm die Waffe zur Hand und ballerte in die kreisenden Vögel hinein. Ein Vogel plumpste hilflos ins Wasser. Grizak, der den Absturz wohlwollend verfolgte, legte die MP zur Seite und setzte sich.

Vom Krachen der Gewehrsalve war Charitonow im Mannschaftsdeck erwacht. Er räkelte sich auf seiner oberen Liege, kam endgültig zu sich, holte unter seinem Kopfkissen das schon vielmals gelesene Buch von Ionow hervor und schlug es in der Mitte auf. Er kannte den Text beinahe auswendig und fand ihn nicht besonders toll, wovon er den Autor in etlichen, hier auf dem Kahn verfassten Briefen in Kenntnis gesetzt hatte. Die Briefe an Ionow lagen separat aufgestapelt in Charitonows Nachtschränkchen. Würde man sie drucken, käme ein Buch heraus, das sogar dicker war als das von Ionow und das vor allem inhaltlich mehr zu bieten hatte. Das fand zumindest Charitonow.

Ein kalter Wind kam auf. Grizak schaute auf den sich verfinsternden Horizont und verzog unzufrieden die Lippen. Noch eine halbe Stunde, und das Meer würde brodeln wie Wasser in einem Teekessel. Ob der Kahn das neuerliche Aufbäumen der Natur überstand, war ungewiss.

Die Möwen flogen davon. Grizak zog die Maschinenpistole zu sich heran und bedauerte es, dass er dieses widerliche Unwetter mit seinen ganzen Launen nicht einfach abschießen konnte.

Der Sturm dauerte einen Tag, eine Nacht und noch einen Tag. Zu guter Letzt trieb er den Kahn zwischen zwei massive Felsen und rüttelte an ihm, sodass er knirschend auf einer Sandbank aufsetzte, dann flaute der Sturm ab. Bald darauf sank das Wasser und gab den rissigen Grund frei. Nach dem Willen des Mondes war nun Ebbe.

Grizak atmete erleichtert auf. Er hatte Grund, sich zu freuen und dem Sturm dankbar zu sein. In einem anderen Moment hätte er alle Unwetter und Winde verflucht, aber jetzt lag das Ufer vor ihm: Sand, Felsen und das im Nebel verschwimmende Grün von Bäumen. Vor ihm lag nicht einfach die Erde, vor ihm, gebeutelt von Stürmen und Gewittern, gegerbt von Süd- und Nordwinden, lag sein Leben und dessen Fortsetzung. Was konnte es Wichtigeres geben für einen Menschen, der gefasst und kleinmütig seinem Tod entgegengesehen hatte?

Endlich vorbei. Die Quälerei auf dem Meer war zu Ende. Wem es bestimmt ist, in den Tiefen des Wassers den Tod zu finden, der entgeht ihm nicht, wie sich an den deutschen Matrosen gezeigt hatte.

Charitonow, entkräftet vom Sturm, mit tiefen Augenringen, stützte sich auf die Unterarme und wollte nicht glauben, dass der Sturm nachgelassen hatte. Immer wieder ließ er sich zurückfallen. Das Schaukeln hielt bei ihm immer eine ganze Woche an, in seinen Ohren klang immer noch das Quietschen des Metalls, das Poltern der im Laderaum hin und her rutschenden Dynamitkisten, das Tosen der Wellen, die krachend gegen die Schiffsplanken schlugen.

Grizak kam ins Mannschaftsdeck, seine Augen suchten Charitonow, seine Lippen verzogen sich feindselig. „Wir sind an Land“, sagte er und ging hinaus.

Der Rothaarige drehte sich nach dem Obermatrosen um, setzte die Füße auf den Boden, versuchte sich zu halten, als dauerte der Sturm noch immer an, und klammerte sich an die obere Liege. So stand er eine Minute oder zwei, ließ die Arme sinken und begab sich unsicheren Schrittes zur Tür des Mannschaftsdecks.

„Du kannst liegen bleiben“, sagte Grizak halblaut und ohne Kommandoton, schulterte seine MP und sprang in den Sand. „Ich gehe auf Erkundung.“

Charitonow blieb kopfschüttelnd an Deck stehen und schickte seinem Kommandeur einen müden Blick nach. Der kletterte behände das felsige Ufer hinauf und war schon außer Sichtweite.

Bald brach der Abend herein. Die flachen Wellen, die ans Ufer schlugen, rauschten.

Charitonow besann sich, holte Schere, Rasierer und Spiegel hervor und machte sich gemächlich daran, seinen üppigen roten Bart abzunehmen.

Warum hatte sich Grizak nur so aufgeregt? Als wäre Charitonow ein gewissenloser Rebell! Als würde er nicht begreifen, wann etwas zu tun oder zu lassen war. Jetzt musste er sich wirklich ein annehmbares Äußeres verpassen. Womöglich käme Fedka mit einem Infanteristen zurück, der lauter Sterne auf den Schulterklappen trug, dann konnte Charitonow wegen des Bartes mir nichts dir nichts ins Arbeitslager wandern. Aber ehe Grizak zurück war, hatte er sich schon in einen tadellos rasierten, vorbildlichen Matrosen verwandelt. Komisch, dass der Kommandeur so ganz unmilitärisch aufgebrochen war und ihm keine Aufgaben übertragen hatte. Wahrscheinlich bedeutete das, dass er Charitonow für Manns genug hielt, zu wissen, was zu tun war. Bei dieser Fracht bedeutete das, ohne Pause Wache zu halten, bis Grizak zurückkam. Wache halten hieß, alle Richtungen im Blick zu behalten und den eigenen Gedanken nachzuhängen, in Erinnerungen an zu Hause, an den Latschasee zu schwelgen, dem die Onega entsprang, von der Friedenszeit zu träumen, die irgendwann kommen musste. Er, der Matrose Charitonow, würde dann endlich seiner Lieblingsbeschäftigung nachgehen, die er bislang noch nicht ausgeübt hatte: Er würde Menschen finden, für die Luftschiffe das Wichtigste im Leben waren, er würde sie finden und sich mit ihnen zusammentun. Ein Stück Brot und ein Becher Milch pro Tag würden ihm als Lohn genügen. Und endlich würde er all seine Briefe an P. Ionow abschicken, sich mit ihm treffen und ihn überreden, ein zweites Buch zu schreiben, eins über zivile Luftschiffe …

Unter dem Rauschen der Wellen wurde die Abendwache zur Nachtwache. Die schwarze Wasseroberfläche schaukelte die Spiegelbilder der fernen Sterne hin und her, und der gelbe Mond, der aussah, als hätte man ihn aus guter Wologda-Butter geformt, schaute hin und wieder neugierig in den nächtlichen Ozeanspiegel, um sich gleich darauf hinter unreifen Gewitterwolken zu verstecken.

‚Bin ich denn wirklich so undiszipliniert?‘, überlegte Charitonow und hielt am Himmel nach dem verborgenen Mond Ausschau. ‚Habe ich denn nicht alle sinnvollen Befehle ausgeführt? Alles, was ich zum großen Sieg beitragen kann, tue ich! Aber kann mir vielleicht irgendein General erklären, wie die tägliche Rasur zur Vernichtung des Feindes beiträgt? Grizak hat befohlen, dass ich auf einer oberen Liege schlafen soll, obwohl es im Mannschaftsdeck genügend untere gibt. Ich habe den Befehl ausgeführt und schlafe oben, ich kann sogar verstehen, warum Grizak unten schläft und ich hoch muss. Weil er der Kommandeur ist und ich in jeglicher Hinsicht spüren soll, dass ich ihm unterstellt bin.‘

Nachdem Charitonow drei Tage ununterbrochen Wache gehalten hatte, geriet sein Durchhaltevermögen ins Wanken, und er beschloss, sich für ein Stündchen hinzulegen. Müde kletterte er nach oben, als wäre ihm Grizaks Befehl schon in Fleisch und Blut übergegangen, denn unten schlief es sich natürlich bequemer, er legte sich auf den Rücken und schloss die Lider.

Wie eine gewaltige Sturmböe überrollte ihn der Schlaf, fesselte ihn an die Liege und raubte ihm alle Kraft. Er spürte gerade noch, wie sein Körper erschlaffte, wie seine Arme und Beine erlahmten. Das war eine Haft, aus der er sich mit bloßer Willenskraft nicht befreien konnte. Der Körper ergab sich.

Die Flut koste den Boden des gestrandeten Kahns, die Möwen, die sonst immer kreischten, kreisten stumm und warfen gleichgültige Blicke auf den rötlichen Sonnenaufgang, der gerade anbrach.

Der Schlaf flößte Charitonow neue Kraft ein. Er kam zu sich, spürte seine Eigenständigkeit und Integrität, sein Körper gehorchte ihm. Im Traum lief der Matrose irgendwohin, stieg auf einen Berg, schaute sich um, entblößte freudig die Zähne und ließ seinen Blick auf dem schwarzen Luftschiff ruhen, das über dem Wald schwebte. Die Freude über das Gesehene weckte in ihm den Wunsch, seinem Traum, dessen schwarze Farbe das imaginierte Luftschiff vor nächtlichem Flakfeuer schützte, einen frischen und unauffälligen Anstrich zu geben. Aber dafür brauchte man Farbe, und das Luftschiff musste in der Nähe sein. Das Gefährt war ja völlig ungebunden, konnte man denn einen Traum frisch anstreichen wie einen Zaun oder eine Pforte? Nein, sollte es ruhig vorerst dunkel bleiben, und wenn häufig die Sonne schien, würde es von selbst heller werden, und der Anstrich würde sich erübrigen.

Charitonow lag auf einer Lichtung und schaute noch einmal zu seinem Traum hinauf, er wollte weiterschlummern, aber ein starkes fremdes Etwas fuhr ihm mit einer warmen Hand an die Kehle und drückte zu. Der Matrose war starr vor Schreck – sein Körper wurde taub, jemandes Nägel gruben sich immer tiefer in seinen Hals. Er begriff, dass sein letztes Stündlein geschlagen hatte, dass das Ende seines elenden Erdendaseins gekommen war und damit auch sein reiches imaginiertes Leben versiegen würde. Das Herz schlug langsamer, die Lungen wurden enger. Mit einer gewaltigen Kraftanstrengung öffnete er seine mehrere Tonnen schweren Lider, aber der Horror ging weiter, und sein Körper gehorchte ihm nicht.

‚Ist das etwa kein Traum?‘ Charitonow schielte nach links und erkannte im Dunkeln die Wände des Mannschaftsdecks. Er wollte den Kopf drehen, den Arm heben oder die Finger bewegen, wollte das Luftschiff auf dem Latschasee landen lassen … Lauter unrealistische Wünsche. So rollte der langsame, der erwartete Tod heran, der viel schlimmer war als irgendein schneller Tod.

Der Rothaarige versuchte noch einmal, seinen Arm anzuspannen und ihn zu beugen. Immerhin gab es jetzt eine schwache Verbindung zwischen seinem Wunsch und der Armbewegung. Als würde der Arm ihm einen Gefallen tun, bewegte er sich, Charitonow spürte ihn, besser gesagt spürte er seinen Unterarm, in den ein Krampf gefahren war, er fühlte die Taubheit in den Fingern und konnte den kontrahierenden Arm sogar anheben. Jetzt musste er so schnell wie möglich seinen Hals befreien, sonst würde er ersticken, was jeden weiteren Überlebenskampf überflüssig machte. Er führte den widerspenstigen Arm zum Hals und spürte fremde Wärme. Charitonow stieß einen unsichtbaren feindlichen Arm vom Hals. Es quietschte, und eine Ratte, die es sich an seinem Hals gemütlich gemacht hatte, flog zu Boden. Sie knallte auf den Holzboden und rannte in trommelnden Trippelschritten in die hinterste Ecke des Mannschaftsdecks, wo sie Unterschlupf fand.

Dem Wahnsinn nahe, schloss Charitonow die Augen. Langsam, aber sicher kamen seine Kräfte zurück, nicht im Traum, sondern in der Wirklichkeit. Sein Atem wurde gleichmäßiger, die Lungen weiteten sehnsüchtig die Brust und genossen die zurückeroberte Atemfreiheit.

Charitonow stand auf. Ein Tropfen Blut quoll aus seinem Zeigefinger, der Matrose entdeckte einen tiefen Kratzer – die Rattenkrallen hatten Spuren hinterlassen. Es wollte Charitonow im Traum nicht einleuchten, wo diese Ratte hergekommen war und wie sie es auf die oberste Liege geschafft hatte.

Er trat hinaus aufs Deck – die Sonne stand hoch am Himmel, es war Mittagszeit. Komisch, dachte er, gerade war doch noch Nacht … Um diese Zeit kamen gewöhnlich die Fischer vom Latschasee nach Kargopol zurück. Aber was war mit Grizak passiert? Wo war er abgeblieben? War er verschollen? Umgekommen? Hatte man ihn womöglich sofort festgenommen und Ermittlungen eingeleitet? Und wenn er überhaupt nicht mehr zurückkam? Was dann? Auf dem Kahn sitzen, bis die eiserne Ration aufgebraucht war, und sich dann mit der Fracht in die Luft jagen? Sich selbst und das andere Lebewesen gleich mit.

Seine Gedanken gewannen nur für kurze Zeit Abstand zu dem Alptraum, der in die Wirklichkeit hineinreichte. Er glaubte nicht an vieldeutige Zufälle. Irgendetwas hatte diese Ratte zu bedeuten. Vielleicht hieß es, dass Grizak nicht zurückkäme? Das war nicht abwegig – womöglich hatte die Ratte Charitonows derzeitige und zukünftige Einsamkeit gespürt und war zu ihm gekommen, um ihm zu zeigen, dass er nicht allein war. Als Zeichen Gottes war sie gekommen und wollte ihn dazu bewegen zu leben und um das Leben zu kämpfen, an das Gute zu denken und das Unbegreifliche zu verstehen.

Grizak würde nicht zurückkommen. Das stand für Charitonow nun fest.

Die Ratte hatte sich nie zuvor gezeigt und sich nie bemerkbar gemacht. Das war seltsam.

Grizak würde auf keinen Fall zurückkommen. Auf ihn zu warten und den Kahn weiter zu bewachen, hatte keinen Sinn, aber er konnte das Dynamit auch nicht einfach im Stich lassen und sich auf die Suche nach einem Leben machen, dem er sich anschließen konnte. Er musste einen triftigen Grund für seinen Weggang finden oder sich irgendetwas, irgendeine Handlung überlegen, die ihm die Last der Verantwortung abnehmen und dennoch niemandem das Recht geben würde, ihn als Verräter oder Deserteur zu bezeichnen. Jetzt war ihm klar, was er wollte: Er wollte diesen Ort so verlassen, dass er sich von dem Sprengstoff, den die Partisanen und Sabotagegruppen womöglich noch benötigten, nicht zu trennen brauchte. Weggehen würde er auf jeden Fall, aber die Verbindung zwischen ihm und dem Boot musste erhalten bleiben.

Charitonow kletterte in den Laderaum und machte sich an die Arbeit. Er band mehrere Rollen Zündschnur zu einem langen Faden zusammen und befestigte das eine Ende an einem großen Dynamitblock, der tausende andere Blöcke im Lagerraum anstecken konnte. Das zweite Ende nahm er mit an Deck und schließlich mit ans Ufer. Er zog die Schnur zu sich heran – sie gab bereitwillig nach.

Es klappte. Jetzt würde er seinen Tornister packen und sich – in Ermangelung eines Koffers – darauf setzen und kurz innehalten. Und dann losziehen …

Der Matrose umschloss die Schnur mit der Hand und beugte sich nach vorn, um das Gleichgewicht zu halten – der Tornister mit dem Ami-Schmalzfleisch und dem Dauerbrot wog einiges –, und kletterte dann das sanft ansteigende felsige Ufer hinauf. Hinter dem Ufer ragte ein Hügel in die Höhe, der fast keine Vegetation aufwies. Auf dem Gipfel angelangt, blieb Charitonow stehen und verschnaufte.

Sein weiterer Plan war denkbar einfach: Ganz gleich, wie weit der Weg sein würde, über kurz oder lang würde er auf Menschen treffen. Wären es die eigenen Leute, würde er ihnen die Schnur übergeben, und sie könnten mühelos den Kahn finden. Würde er auf Feinde stoßen, müsste er unbemerkt die Schnur anzünden und in die andere Richtung davonlaufen, und dann würde seine Seele, über dem Krieg schwebend, am Ufer des Japanischen Meeres eine riesige Explosion sehen …

Als er den Hang auf der anderen Seite hinabstieg, sah Charitonow hohe bewaldete Bergkuppen. Vor ihm lag die Taiga, die Herrin dieser Gefilde. Ihr ungebändigter Wille entschied über das Schicksal von Menschen und Tieren, die ihr anheimfielen. Manchmal verwob sie die Schicksale miteinander und stellte so eine gegenseitige Abhängigkeit her. Es musste Grizak gewesen sein, der erzählte hatte, dass Partisanen in Ufernähe zwei ineinander verschlungene Skelette gefunden hatten: ein Menschen- und ein Wolfsskelett.

Charitonow hatte noch nicht einmal die Hälfte der Strecke bis zur ersten Bergkuppe zurückgelegt, als er Rast machte. Um die Hand zu entlasten, band er die Schnur mit einem dreifachen Knoten am Riemen seines Tornisters fest. Die Schnur lief leicht und unbemerkt mit. Er setzte sich unter eine Zeder, verschnaufte und schaute sich um. Hoch oben rauschte der Wind und zauste die Baumkronen, unten war es still. Der Boden war von braunen, vorjährigen Nadeln und von grellgrünen Halmen bedeckt, die das Frühlingsende ankündigten.

Genug gesessen. Es war Zeit, weiterzulaufen und die Schnur weiterzuziehen. Auf dem Gipfel würde er gewiss jemanden treffen. Entweder die eigenen Leute oder Feinde. Fünfzig zu fünfzig. Im Krieg hieß jeder Hügel – und war er auch noch so mickrig – Höhe, und unbesetzte Höhen gab es nicht. Der erste Hügel direkt am Ufer war allerdings nicht besetzt gewesen.

6

Der Scheinwerferstrahl quälte sich von unten nach oben durch die dicht klumpende Dunkelheit. Er quälte sich und blieb doch stecken, ohne den Klumpen aufgelöst zu haben, ohne zum Licht vorgedrungen zu sein.

Der Fahrer und Gorytsch saßen neben dem Wagen auf der trockenen Erde.

Beobachteten den Strahl.

Schwiegen.

„Weißt du noch, wie in der Stadt das Theater abgebrannt ist?“, fragte Gorytsch.

„Und?“, nickte sein Mitstreiter.

„Nachts war das, und das Feuer hat den ganzen Hauptplatz erleuchtet.“

„Hab ich nicht gesehen“, sagte der Fahrer. „Ich war gerade auf Dienstreise. Habe die Herstellung von Holzspielzeug angeleiert.“

Gorytsch lächelte. „Was hattest du denn mit Spielzeug zu tun?“

„War ein Auftrag. In dem Gebiet war gerade Wald gerodet worden, und man hat nicht gewusst, wohin mit dem Holz. Da ist jemand auf die Idee gekommen, Spielzeug draus zu machen.“

„Das Theater war auch aus Holz …“ Gorytsch schloss die Augen. „Das Licht blendet …“, klagte er.

„Na, dann schalten wir es doch ab!“, schlug der Fahrer vor.

„Warte, ich gehe mal kurz weg.“ Gorytsch stand auf und lief in die Dunkelheit.

Die Zeit kannte keinen Wechsel von Tag und Nacht, keinen Wind. Zwei Menschen hatten Macht über die Stille. Sie entschieden, ob sie andauern oder unterbrochen werden sollte.

Die beiden Menschen wiederum waren der Dunkelheit ausgeliefert, und obwohl sie den Scheinwerfer einschalten konnten, verströmte sein Strahl Kälte. Wenn er leuchtete, rückte die Dunkelheit dicht heran. Die zwei fühlten sich so verletzlich, dass sie Scheinwerfer und Fahrzeug am liebsten stehengelassen hätten und geflohen wären.

Dem anderen gegenüber gestanden sie sich ihre Angst nicht ein. Vielleicht nicht einmal sich selbst gegenüber. Und nur ein einziger Wunsch half ihnen, ihre Angst, ihre permanente Verletzlichkeit zu vergessen: der Wunsch, den Scheinwerfer einzuschalten und zu beobachten, wie der Strahl nach oben stieg. Der Strahl war ihre letzte Hoffnung darauf, irgendwann wieder ein normales Leben mit Wind, Gras, Sonnenaufgang und Sonnenuntergang zu führen. Solange der Strahl leuchtete, lebte ihre Hoffnung.

Gorytsch entfernte sich immer weiter. Schließlich blieb er stehen und drehte sich zum Strahl um. Aus der Ferne sah er unbeschreiblich schön aus. Eine üppige grellgelbe Lichtsäule. Die Finsternis schimmerte bläulich. Das Fahrzeug war nicht zu sehen. Nichts als der Strahl, der den Himmel wie eine Säule zu stützen schien. Schade, dass es keinen Himmel gab. Der Himmel, das waren Wolken und Sterne. Hier jedoch gab es keinen Himmel.

„He!“, schrie Gorytsch aus Leibeskräften und wunderte sich, wie leise seine Stimme klang. „He, komm her!“

‚Vielleicht liegt das daran, dass ich lange nicht mehr geschrien haben?‘, dachte er. ‚Weil ich so lange geflüstert habe …‘

Als Gorytsch die Silhouette des Fahrers vor dem Lichtstrahl sah, die ihm entgegenkam, beruhigte er sich. ‚Er läuft auf mich zu, dann hat er mich auch gehört. Die Entfernung ist ja nicht gerade klein.‘ Gorytsch kniff die Augen zusammen.

Wieder stand ihm das brennende Theater vor Augen: Eine mondhelle Nacht. Er hatte den Abend mit Irina verbracht, sie waren durch die Stadt gebummelt. Waren im Park gewesen und Boot gefahren, dann hatten sie lange auf einer Bank gesessen. Das Theater war vor langer Zeit errichtet worden, zu der Zeit allerdings geschlossen. Von den alten Künstlern war keiner mehr da: Manche waren gestorben, andere verschwunden, die neue Generation war noch nicht nachgerückt. Aber damals hieß es, das Theater würde bald wieder eröffnet werden. Mit einer Premiere. Und einem Imbissstand in der Pause. Irina und er wollten dann jede Woche ins Theater gehen. Ins Theater gehen und das wirkliche Leben sehen. Es hieß, im Theater würden nur Stücke von Gorki auf dem Spielplan stehen. Aber kurz vor der angekündigten Eröffnung war das Theater abgebrannt. Es brannte lange. So lange, dass hunderte Stadtbewohner aufwachten, aufstanden und zum Theaterplatz pilgerten, wo sie bis zum Morgen ausharrten, bis von dem Theater nichts übrig war als ein schwarzer Haufen verkohlter Balken und Bretter. Erst dann gingen die Menschen auseinander. Viele hatten Tränen in den Augen. Auch Irina weinte und fragte immerzu: „Warum hat keiner gelöscht?“ Gorytsch wusste es nicht und hatte deswegen geschwiegen. Alle hatten gesehen, dass keiner das Feuer löschte, und alle hatten geschwiegen, obwohl sich jeder diese Frage stellte. Wahrscheinlich hatte keiner gelöscht, weil es nicht ging. Gorytsch war sich sicher, dass es ernsthafte Gründe gegeben haben musste, das Theater nicht zu löschen. Sonst hätte man es doch kaum brennen lassen, vor allem da die Feuerwehr ganz in der Nähe war. Wenn sie das Feuer nicht löschte, musste es Gründe geben.

Gorytsch fühlte, wie seine Augen tränten. Das hatten sie auch damals getan. Das Feuer hatte ja viele Stunden gedauert, und die ganze Zeit über hatten sie in die Flammen geschaut.

„He, Fahrer!“, schrie er wieder.

„Ich bin hier!“, antwortete die vertraute Stimme aus der Dunkelheit.

„Hast du den Scheinwerfer von hier gesehen?“

„Ja. Sieht schön aus …“

„Weißt du, was ich denke?“ Gorytsch blinzelte kurz. „Wenn der Strahl leuchtet, ist er so eine Art Mitte, und egal, wohin wir gehen, wir können immer zurückkehren …“

„Wohin sollten wir denn gehen?“, fragte der Fahrer. „Und warum, wenn es ringsum nichts weiter gibt als nackte Erde und Dunkel? Und einen Abhang, der nie endet …“