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Zusammen mit seinem Kollegen Cholodnij soll Samson wegen illegaler Fleischverkäufe ermitteln. Doch kaum haben die beiden mit ihrer Arbeit begonnen, wird Samsons Freundin Nadjeschda von streikenden Eisenbahnern gefangen genommen. Sofort macht sich Samson daran, sie zu befreien. Nur, was hat es mit den Eisenbahnern auf sich? Und warum wurde der undurchsichtige Tschekist Abjasow zur Miliz abkommandiert? Fragen, die Samson klären muss, wenn er seinen Fall lösen und Nadjeschda retten will.
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Seitenzahl: 457
Andrej Kurkow
roman
Aus dem Russischen von Johanna Marx und Claudia Zecher
Mit Illustrationen von Juri Nikitin
Diogenes
Der Autor ist Juri Lysenko und Paul Lequesne für ihre Hinweise und Ratschläge aufrichtig dankbar, wie auch Tatjana Makarowa und Alexander Makarow, die den Autor davon überzeugt haben, sich mit den Ereignissen in Kiew und der Ukraine in den Jahren 1919 und 1920 eingehend auseinanderzusetzen.
Der frühe Aprilabend war von den leisen Stimmen der Passanten erfüllt. Wort- und Satzfetzen vermischten sich mit einer sanften Brise zu einer angenehmen und harmonischen Melange. Wie jede Musik, egal, ob aus der Natur oder vom Menschen, konnte man sie nur mit den Ohren »trinken«, es war eine wohltuende Labung.
Samson wandte seinem Kollegen beim Gehen die linke Seite zu. Die nackte Ohröffnung auf seiner Rechten nahm alle Geräusche der Welt in sich auf. Manchmal fiel Samson auf, dass er gewisse Töne, die von rechts herangeflogen kamen, mit dem linken Ohr überhaupt nicht wahrnahm. Das betrübte ihn aber gar nicht. Es war eher umgekehrt – es half ihm beim Einordnen der Geräusche, und ließ ihn dem mehr vertrauen, was er links hörte.
»Bei uns in der Wohnung herrscht jetzt so ein Durcheinander, dass unser neuer Wohnungsgenosse Safronin bei mir zur Tür reinpoltert, wenn er betrunken ist«, hörte Samson mit dem linken Ohr, als Cholodny und er zwei junge Frauen überholten, die ihrem Tempo nach zu urteilen ohne Ziel herumspazierten. Die Stimme erschien Samson angenehm, so schaute er sich zur Brünetten mit dem glatt gekämmten Haar um und bemerkte, wie in ihrem Mund ein Goldzahn aufblitzte.
Samson und Cholodny eilten nach dem Dienst einem Bier entgegen. Dieser Donnerstag neigte sich dem Ende zu, und in Erinnerung bleiben würde er vielleicht nur dadurch, dass Najden Samson schon zum fünften oder sechsten Mal aufgefordert hatte, die Schneiderpuppe mit Jakobsons Anzug aus dem Dienstzimmer zu entfernen. Er behauptete, die Puppe nehme Feuchtigkeit auf und verursache dadurch bei allen anderen in der Wache Husten. Najden hustete tatsächlich, Samson jedoch, der nur eine Armlänge von der Puppe entfernt saß, war immer noch gesund. Wenn ihm etwas wehtat, dann lediglich die verheilenden Wunden von den beiden Kugeln aus der »Damenpistole«, aber auch sie reagierten praktisch nicht auf die von Najden ausgemachte Feuchtigkeit. Und das, obwohl Wera Ignatjewna Gedroitz, die Fürstin und gestrenge Chirurgin, Samson am Krankenhaustor zum Abschied mitgegeben hatte: »Meiden Sie Feuchtigkeit! Halten Sie Ihren Körper trocken und warm!« Wie man es auch drehte und wendete, die Puppe mit dem Anzug war jetzt Eigentum des Staates, schließlich war dafür bezahlt worden. Doch der schnauzbärtige Wassyl mit der spitzen Nase, der oberste Wächter über die Asservate, weigerte sich beharrlich, die Puppe in seine Kammer zu lassen. »Der Fall ist abgeschlossen, und ich kann sie hier nicht brauchen«, sagte er. »Abdampfen hilft gegen die Flöhe, und dann kann sie Ihnen zu Hause den Kleiderständer ersetzen.«
»Mir gefällt die Idee mit dem Judas-Denkmal nicht.« Cholodny schüttelte den Kopf, wandte sich im Gehen zu seinem Begleiter und wartete auf dessen Reaktion.
»Ja, das ist schon seltsam«, stimmte Samson zu. »Ein Denkmal für einen Selbstmörder? Denkmäler werden für persönlichen Einsatz und Heldentaten errichtet. Was war die Heldentat von Judas Iskariot?« Samson zuckte mit den Schultern.
»Die Silberlinge hat er den Hohepriestern immerhin zurückgegeben«, erwiderte Sergi Cholodny.
»Später hat er sich erhängt«, fügte Samson hinzu. »Er hat ihn verraten, dann bereut und sich selbst umgebracht … Er hat also weder eine Heldentat vollbracht, noch ist er für eine Idee gestorben …«
In diesem Augenblick dröhnte ganz in der Nähe eine forsche und heisere Männerstimme gleich einer Maschinengewehrsalve: »Mistvieh, halt ihn! Wanjucha, schieß!« Dann krachten fünf oder sechs Gewehrschüsse, deren Echo sich im Getrampel der auseinanderstiebenden Passanten verlor. An Samson und Cholodny, die mitten im Gespräch stehen geblieben waren, rollte das Echo der Schüsse vorbei wie ein Rad, das sich von einem Fuhrwerk gelöst hatte. Dem fast sichtbaren Echo hinterher sprang ein seltsam hinkender Hund vor ihnen auf die Straße, der etwas Weißes, vielleicht einen Knochen, in der Schnauze hielt. Plötzlich überschlug er sich und blieb auf der Seite liegen. In diesem Moment holten ihn zwei Rotarmisten mit Gewehren ein. Der eine stieß laut fluchend sein Bajonett in den bereits leblosen Hund, der andere blieb einfach daneben stehen und atmete schwer, als wäre er einen Kilometer gerannt. Der erste zog das Bajonett aus der Flanke des Tieres und stieß es in das Speckstück, das im Maul des Hundes feststeckte.
Cholodny und Samson sahen dem Geschehen reglos zu. Andere Passanten, die sich vorher verängstigt an die Hauswände gedrückt hatten, kamen nun näher. Sie begriffen, dass dieser Abend sich mit dem Leben eines Hundes von den Bolschewiken freigekauft hatte. Der Rotarmist versuchte immer noch erfolglos, mit dem Bajonett den Speck aus dem Maul des Hundes zu ziehen.
»So ein Mistvieh!«, brüllte er und drehte sich zu seinem Kameraden. »Jetzt hilf mir doch, was stehst du so rum!«
Der Kamerad setzte das Bajonett an der schmalsten Stelle des Hundemauls an und sah dann zu Cholodny hinüber.
»He du, stell deinen Fuß auf die Schnauze!«, befahl er.
Cholodny machte einen Schritt nach vorne und presste die Hundeschnauze mit seinem Stiefel gegen das Straßenpflaster. Dann drückte der zweite Rotarmist das Gewehr wie den Hebel einer Eisenbahnweiche abrupt nach unten, bis es laut krachte. Triumphierend spießte der erste Rotarmist mit dem Bajonett den aus dem Hundegebiss befreiten Speck auf. Die Einstichstelle färbte sich rot vom Hundeblut.
»Komm, gehen wir!«, sagte der zweite Rotarmist zum ersten, wobei er sich wachsam nach allen Seiten umsah, weil er sich offenbar wegen der neugierigen Menschenmenge unwohl fühlte.
Der erste schaute ebenfalls vorsichtig zu Samson und Cholodny hinüber, die ihre Lederjacken trugen. Ohne den Speck vom Bajonett zu nehmen, schulterte er das Gewehr. Schnellen Schritts gingen sie zurück, in die Richtung, aus der sie während der Verfolgung des nun toten Hundes gekommen waren.
»Ich verstehe auch nicht, wozu«, knüpfte Samson an ihr unterbrochenes Gespräch an. »Er ist doch gewissermaßen ein Verräter. ›Der, den ich küssen werde, der ist es; nehmt ihn fest.‹«
»Ja natürlich ist er ein Verräter«, stimmte Cholodny bereitwillig zu. »Aber Genosse Trotzki hält ihn, warum auch immer, für einen Revolutionär und Rebellen, der sich gegen das religiöse Diktat aufgelehnt hat.«
»Also ist Genosse Trotzki der Ansicht, dass Revolutionäre Verräter sind?«
»Verräter an der vergangenen Welt.« Cholodny nickte. »Das ist wohl auch richtig. Um eine neue Welt zu schaffen, muss man die alte verraten … Mit anderen Worten: Ohne die Hilfe von Verrätern kannst du die Welt nicht zum Besseren verändern!«
»Aber wie man es auch dreht und wendet, zuerst ist er Jesus doch gefolgt, nicht? Aus seelischer Blindheit?«
»Er war auf der Suche nach jemandem, dem er folgen konnte. Er verspürte den Durst nach Revolution. Er hat vielleicht geglaubt, dass Jesus selbst ein Revolutionär und Kämpfer war«, philosophierte Cholodny weiter. »Als er aber sah, dass der Herr die falsche Richtung eingeschlagen hatte, hielt er ihn auf. Hier verkörpert Judas also einen Vertreter des betrogenen Volkes, einen Vertreter der betrogenen Klasse. Oder?« Cholodny biss sich auf die Unterlippe, ganz in Gedanken, denn vollkommen sicher war er sich seiner eigenen Schlussfolgerungen nicht.
»Die Mutter ist schuld«, sagte Samson plötzlich, als habe er etwas Wichtiges begriffen. »Im Althebräischen bedeutet Judas ›der Gott Lobpreisende‹. Seine Mutter nannte ihn bereits so, bevor Jesus aufgetaucht war, deshalb ist Judas ihm auch gefolgt! Dann aber hat er sich von Jesus losgesagt und auch von sich selbst. Selbstmord bedeutet doch nichts anderes, als sich aus freien Stücken vom Weiterleben loszusagen.«
Cholodny nickte bedeutungsvoll. »Woher kannst du eigentlich Althebräisch?«
»Kann ich gar nicht. Aber im Gymnasium haben wir biblische Namen durchgenommen.«
In der Bierstube bestellten sie jeweils ein Glas dunkles Bier und setzten sich an einen schmutzigen Tisch. Saubere Tische gab es bereits keine mehr.
Samson nahm einen Schluck und schmeckte den süßlichen Beigeschmack von Blut auf seiner Zunge, wie in der Kindheit, wenn ihm jemand beim Raufen die Lippe blutig geschlagen hatte. Er nahm noch einen Schluck, und der Beigeschmack verschwand. Genau so sollte es sein: Ein angenehm bitterer Geschmack im Mund und ein wenig benebelt im Kopf – doch ihm war bewusst, dass er sich Letzteres nur einbildete. Um tatsächlich benebelt zu sein, musste er drei Gläser Bier trinken. Vor der Revolution war das dunkle Bier noch leicht gewesen, nicht so wie heute. Jetzt wurde es auf andere, auf neue Art gebraut.
»Anstelle von Passetschny hat man uns einen Tschekisten als Verstärkung geschickt«, sagte Cholodny langsam und schleckte sich seine breiten Lippen ab. »Er heißt Abjasow, ist ein schmächtiger junger Kerl mit messerscharf geschnittenem Gesicht, richtig unsympathisch!«
»Kann er gut schießen?«, erkundigte sich Samson.
»Wahrscheinlich«, mutmaßte Cholodny. »Es heißt, die Tschekisten trainieren Augen und Hände an lebenden Zielen. Najden hat heute mit ihm etwa zwei Stunden gesprochen. Wassyl musste ihnen Akten von einigen Fällen bringen. Warten wir es ab.«
Vor dem Fenster brannten die Laternen auf dem Kreschtschatik. Manchmal war das Klappern von Pferdehufen zu hören, von den Droschken und Fuhrwerken, oder es ratterte eine Straßenbahn wie ein grelles umhergeisterndes Irrlicht vorbei.
»Mir knurrt der Magen«, brummte Cholodny und sah auf sein leeres Bierglas. Er hob den Kopf, dann die Hand und winkte: »Noch ein Dunkles!«, rief er.
Als der Kellner das Bier brachte, fragte Cholodny nach dem Essen.
»Belegte Brote haben wir. Mit Speck, mit Salzgurken oder mit Hering«, antwortete der Kellner.
»Zwei mit Hering und zwei mit Salzgurken«, bestellte Cholodny. »Mit Speck lieber keines!«
»Ist der Speck blutig?«, erkundigte sich Samson.
»Warum denn blutig?«, fragte der Kellner verwundert. »Wir haben Rückenspeck und Bauchspeck, bestrichen werden die Brote mit grobem Senf!«
»Für mich zwei mit Bauchspeck!«, bestellte Samson.
»Dann für mich auch zwei mit Bauchspeck«, schloss sich Cholodny seinem Kollegen an und warf ihm einen nachdenklichen Blick zu.
»Weißt du«, knüpfte er ans Gespräch wieder an, als der Kellner weg war, »ich hätte früher nie gedacht, dass man die Welt so einfach in Trümmer legen kann und die Trümmer der vergangenen Welt auch noch weiterleben und weiterkämpfen.«
»Das kommt wahrscheinlich daher, dass die Welt nicht kaputt gemacht, sondern verändert worden ist. Das Kaputte hätte nicht funktioniert. Eine kaputte Uhr zeigt ja auch nicht die Zeit an.«
Cholodny zog eine Uhr an einer Kette aus der Tasche, öffnete den Deckel und blickte auf die Zeiger.
»Genau«, sagte er. »Der Uhrmacher hat sie mir gerade gestern repariert. Ich habe sie aus Versehen fallen lassen, und sie ist stehengeblieben. Er hat sie repariert, aber kein Geld dafür verlangt. Wichtiger als Geld war ihm, dass ich ihm vertraue!«
»Da hat er recht.« Samson seufzte und trank sein Bier aus. »Vertrauen ist wichtiger als Geld.«
»Nein, er hat nicht recht!«, widersprach Cholodny. »Vertrauen ist eine Sache des Glaubens, und alles, was mit dem Glauben zu tun hat, führt zum Irrtum! Wenn der Uhrmacher gestern nicht genug fürs Essen verdient hat, dann hat er mir das bestimmt angekreidet und mich verflucht. In der Früh glaubte er bestimmt, dass er genug verdienen wird. Ich habe nichts Gutes für ihn getan, er aber sehr wohl für mich, sozusagen auf seine eigenen Kosten. Judas glaubte an Jesus und vertraute ihm, obwohl Jesus nichts Gutes für ihn getan hatte. Darüber hinaus litt Judas unter Schmerzen am Leib. Die alte Bedeutung von Leib wiederum lautet ›Leben‹ – ihn schmerzte also das Leben. Für die Heilung seiner Seele nahm er die dreißig Silberlinge. Er wurde zum Verräter. Dann jedoch bereute er seine Tat und beging Selbstmord, wie du sagst. Hätte er selbst einen Mord begangen, wäre er zum Revolutionär geworden. So aber hat er nur sich selbst ermordet und ist keiner geworden. Du hast recht, Samson, für Denkmäler ist er nicht der Richtige!«
Ein großer Holzteller mit belegten Broten wurde auf den Tisch gestellt. Auf den dicken Schwarzbrotscheiben lagen der ausgiebig mit Senf bestrichene Speck, in Scheiben geschnittene dunkelgrüne Gurken und nass-glänzende Heringe aus dem Fass.
Gerade wollte Nadjeschda die Tür ihres Schlafzimmers hinter sich schließen, als sie noch einmal einen Blick auf Samson warf, der eben erst übermüdet nach Hause gekommen war und nach eingelegtem Hering und Bier roch. Sie musterte ihn kritisch, wie eine Ehefrau ihren Herumtreiber von Mann, aber sogleich veränderte sich ihr Gesichtsausdruck – sie erinnerte sich offenbar daran, dass sie nicht seine Frau, sondern nur bei ihm einquartiert war, und beschloss daher, ihr Anliegen nicht bis zum Morgen aufzuschieben.
»Ist bei uns viel Holz im Keller?«, fragte sie vorsichtig.
»Genügend«, antwortete Samson, der sich gar nicht über die Frage wunderte und Nadjeschda ziemlich schuldbewusst in die Augen sah. »Ist dir kalt? Soll ich welches holen und einheizen?«
»Nein, wo denkst du hin! Es geht um etwas anderes. Marusja hat Kleider mit in die Arbeit gebracht, um sie zu tauschen. Es ist ein schönes, einfaches Sommerkleid dabei, grün mit gelben Blümchen. Sie will drei Säcke Brennholz dafür. Da habe ich mir gedacht …«
»Hast du es anprobiert? Steht es dir?«
»Ja, es passt mir wie angegossen. Genau das Richtige für den Sommer! Und der steht ja vor der Tür …«
»Dann machen wir das natürlich. Wir können es eintauschen«, versicherte ihr Samson. »Holt jemand das Holz ab?«
»Nein, wir müssen es bei Marusja vorbeibringen. Sie ist hier ganz in der Nähe einquartiert.«
»Vorbeibringen?«, dachte Samson laut nach. »Drei Säcke? Besser wir fahren. Ich nehme ein Fuhrwerk und bringe sie ihr. Wie lautet die Adresse?«
»Die gebe ich dir morgen«, versprach Nadjeschda, lächelte, küsste ihn auf die Wange und verschwand hinter der Tür ihres Schlafzimmers.
Nachts schlich Samson auf Zehenspitzen ins ehemalige Schlafzimmer seiner Eltern und schob die Bonbondose unter das zweite, unbenützte Kissen. Zurück in seinem Zimmer, musste er sich gar nicht mehr anstrengen, um Nadjeschdas süßen Atem zu hören, und er stellte sich vor, wie er auf Knien um ihr Herz und ihre Hand anhalten würde. Wahrscheinlich war sie dazu bereit und wartete darauf, sicherlich wunderte sie sich, warum er ihr noch kein gemeinsames Eheleben vorgeschlagen hatte. Sie hatte ihn ja gefragt, ob viel Holz im Keller war, »bei uns« hatte sie gesagt. Nicht bei ihm oder den Bewohnern des Hauses, sondern »bei uns«.
Die süßen Gedanken beim Dahindösen wurden vom Schlaf abgelöst, der tief war wie ein Flussbett. Und wie ein riesiger Wels im Todeskampf einen gierigen Angler in die Tiefe ziehen kann, zog auch der Schlaf Samson auf seinen Grund. Über alldem schwebte der gleichmäßige warme Atem von Nadjeschda, dem Samson mit seinem abgetrennten Ohr in der Dose unter dem Kissen lauschte.
Nikanor Abjasow sah wegen seiner schmächtigen Statur von hinten wie ein Fünfzehnjähriger aus. Er war klein, etwas gebückt und reagierte in Gesprächen und in allem, was er tat, zurückhaltend. Vielleicht war er von Natur aus vorsichtig, vielleicht rührte diese Besonderheit aber auch von einer im Krieg erlittenen Verletzung her.
Als Samson in Najdens Dienstzimmer Abjasow kennenlernte und ihm die Hand entgegenstreckte, zögerte der so merklich, dass eine Pause entstand, in der Samson Najden einen fragenden Blick zuwarf. Aber sein Vorgesetzter war in diesem Moment so in sich gekehrt, dass er Samsons fragenden Blick nicht bemerkte. Letzten Endes drückte Abjasow die ihm hingestreckte Hand und nuschelte eine Frage.
»Was?« Samson hatte ihn nicht verstanden.
»Haben Sie Kampferfahrung?«, wiederholte Abjasow deutlicher.
»Ich habe nur Erfahrung von hier, aus dem Dienst. Im Krieg war ich nicht.«
»Aha.« Der ›zur Verstärkung‹ auf die Wache abkommandierte Tschekist nickte und ließ Samsons Hand los. »Nun gut, wir werden schon miteinander auskommen«, fügte er entschlossen hinzu und wollte das Dienstzimmer bereits verlassen, aber die Tür öffnete sich, noch bevor seine Hand die Klinke berührte.
»Sie haben ihre Anzeigen wieder auf uns abgewälzt. Ein Soldatenkurier ist gekommen und hat sie dagelassen, als ob das so sein müsste!« Der erboste Wassyl schrie beinahe im Hereinkommen und wedelte mit einem Packen handgeschriebener Papiere.
Er drückte den Packen Najden in die Hand.
»Gestatten Sie, dass ich mich entferne?«, fragte Abjasow wie beim Militär.
»Einen Augenblick!«, hielt Najden ihn auf, ohne die erhaltenen Papiere aus dem Blick zu lassen.
Auch Samson blieb noch. Er musterte Wassyls erbostes Gesicht. Der war selten schlechter Stimmung, und derart wütend sah Samson ihn das erste Mal.
»Also hier sind lauter Lappalien, für die wir keine Zeit verschwenden werden«, sagte Najden, während er die Papiere durchsah. »Nur das müssen wir überprüfen!« Er zog ein Blatt aus dem Packen, schaute zu Samson und Abjasow und streckte es dann Samson entgegen. »Geht zu zweit hin, und macht euch ein Bild.«
»Wer von uns hat das Kommando?«, fragte Abjasow trocken.
Najden ließ erneut seinen prüfenden Blick über die Gesichter seiner Untergebenen schweifen, dann seufzte er und deutete mit dem rechten Zeigefinger auf Abjasow. Der lächelte starr, ohne seine schmalen, blassen Lippen zu bewegen. Mit einem Blick forderte er von Samson das beschriebene Blatt.
»Ihr könnt abtreten!«, komplimentierte Najden die beiden aus seinem Dienstzimmer hinaus, offenbar wollte er etwas mit Wassyl besprechen.
»Haben Sie das für sich nähen lassen?« Abjasow ging zur Schneiderpuppe und berührte den Stoff des Jacketts.
»Nein, das war ein Beweisstück in einem Fall. Also, um was geht es da?« Samson deutete mit dem Kopf auf das Papier, das er nicht geschafft hatte zu lesen.
Abjasow setzte sich in einen Sessel, seine schmalen Lippen bewegten sich lautlos, und sein Blick glitt über die Buchstaben des Dokuments.
»Mord! Ein Verbrechen«, sagte er nach einer Minute verächtlich, so als interessierte ihn diese Art von Delikt nicht sonderlich. »Aber hinfahren müssen wir, der Vorgesetzte hat es befohlen!«
»Und wohin?«
»Nach Puschtscha-Wodiza. In die Nekrassowskaja Nummer 60, zu einem Schuppen.«
»Zu einem Schuppen?«, wunderte sich Samson. »Der Mord wurde in einem Schuppen begangen?«
»Das muss erst untersucht werden.« Abjasow war offenbar zu faul, den Inhalt des Dokuments nachzuerzählen, also streckte er es Samson hin. Er selbst starrte wieder die in das Jackett gekleidete Schneiderpuppe an.
Samsons Blick konzentrierte sich auf die Anzeige des Verbrechens. Die ordentliche Handschrift ließ sich leicht lesen. Ein gewisser N.W. Elkin erklärte, dass er auf dem Grundstück der Datscha an der Adresse Nekrassowskaja Nummer 60 vor einem der Schuppen eine frische Blutspur bemerkt habe, was ihn sogleich einen konkreten Verdacht habe schöpfen lassen.
Die Tür flog auf und knarzte dabei heftig, was Samson von dem Dokument ablenkte, noch bevor er es zu Ende gelesen hatte. Najden sah ins Zimmer herein, zuerst warf er einen sarkastischen Blick auf die Puppe, aber dieses Mal hatte er offenbar beschlossen, seinem Untergebenen nicht die Hölle heißzumachen, er reichte Abjasow lediglich zwei Papiere mit dem Stempel der Wache.
»Für die Droschke!«, sagte er. »Und richtet den dämlichen Kutschern aus, dass Wassyl ihnen bei Vorlage dieser Coupons die Fahrtkosten auf der Wache auszahlt und sie sie nicht den Händlern auf dem Markt andrehen sollen!«
»Und Wassyl zahlt sie auch wirklich aus?«, brachte Samson seine Zweifel laut zum Ausdruck.
»Und ob! Das tut er schon länger. Früher gab es kein Geld, nur die Coupons. Jetzt gibt es sowohl Geld als auch Coupons.« Najden kniff die Augen ein wenig zusammen, sein Blick streifte Jakobsons Anzug: »Gib diese verfluchte Vogelscheuche Wassyl, er wird einen Platz für sie in der Asservatenkammer finden. Die Feuchtigkeit hier bei dir reicht ja für zwei Tuberkulosen!«
Samson nickte automatisch. Als Najden gegangen war, seufzte er tief.
»Kommst du mit ihm nicht gut aus?«, erkundigte sich Abjasow.
»Wieso nicht? Doch, das tue ich schon!«, versicherte ihm Samson. »Er hat eine empfindliche Nase, beim geringsten Anlass bekommt er schon Schnupfen. Daher wittert er überall Feuchtigkeit.«
Der Kutscher, der sie nach Puschtscha-Wodiza gebracht hatte, weigerte sich kategorisch, den Kupon mit dem Stempel anzunehmen, und forderte richtiges Geld: Zaren-Rubel, Kerenski-Rubel oder neues sowjetisches Geld.
»Hättet ihr vorher gesagt, dass ihr mit wertlosen Fetzen bezahlen wollt, nicht mit Geld, dann hätte ich euch nicht gefahren, das kann ich euch sagen!«
»Ich gebe Ihnen mein Wort!«, versuchte ihn Samson zu überreden. »Es gibt Geld für den Coupon. Selbst die Tarife für die verschiedenen Routen sind festgelegt.«
»Wo steht das?«
»Auf der Wache. Und wenn Sie warten – wir werden hier nicht lange brauchen –, dann fahren wir bald auch wieder zurück, und Sie bekommen Ihr Geld für beide Wege. In meiner Anwesenheit.«
Der Kutscher starrte Samson wie einen kleinen Jungen an, während er sich gleichzeitig den Bart auf der rechten Wange kratzte, wodurch sein Blick noch herablassender wirkte. Doch als er sich zu Abjasow umdrehte, ließ er die Hand sinken, und Samson begriff, dass der Kutscher diesen schweigsamen Tschekisten mehr respektierte.
»Was sagen Sie dazu, Bürger Vorgesetzter?«
Abjasow schmeichelte offenbar, dass dem Kutscher sofort klar gewesen war, wer von ihnen das Sagen hatte.
»Es ist die Wahrheit. Du wartest, wir fahren mit dir zurück und bezahlen dich.« Abjasow grinste trocken.
Der Kutscher zog seinen Mantel zurecht und alles, was ihn darunter wärmte, dann schnallte er seinen Gürtel enger.
»Na gut«, sagte er. »Ich warte.«
Das Gartentor war nicht abgesperrt. Abjasow stieß es auf, und sie gingen hindurch. Das Holzhaus mit geöffneten Fensterläden befand sich etwas weiter hinten, aber links standen drei Schuppen, deren Rückwände aus Brettern in Richtung Zaun und Straße zeigten.
Samson beobachtete Abjasow und lauschte. Irgendwo in der Nähe rief ein Kuckuck. Der Wind ließ die Wipfel der Kiefern schwanken, und dieses Rauschen erfüllte die Luft. Abjasow beugte sich vor und inspizierte den Boden vor den ersten beiden Schuppen, dann ging er zum dritten, wo der Boden vor dem Eingang mit gelbem Sand bedeckt war. Mit der Stiefelspitze wischte er den Sand beiseite, beugte sich für einen Augenblick vor und blickte zu Samson. In seinen Augen leuchtete der Tatendrang. Er richtete sich wieder auf und zog seine Lederjacke zurecht.
»Da ist es«, sagte er und zeigte mit der Hand auf einen dunklen Fleck, der zuvor unter dem Sand verborgen gewesen war.
Abjasow griff nach dem Vorhängeschloss, zog daran und prüfte, ob er genug Kraft hatte, um das Schloss mitsamt den Ösen einfach herauszureißen. Offenbar begriff er, dass seine Kraft nicht ausreichte, also wandte er sich zum Haus.
Zwei Holzstufen führten zur ziegelrot gestrichenen Eingangstür.
»Klopf an!«, befahl Abjasow.
Samson hämmerte dreimal mit der Faust dagegen.
»Das machst du gut«, lobte ihn Abjasow. »So muss es sein. Man muss den Verdächtigen erst einmal Angst einjagen. Wenn sie Angst haben, werden sie gleich gesprächiger.«
Im Haus waren Schritte zu hören, zwei eiserne Türriegel knirschten, und die Tür öffnete sich. Beim Anblick der Bewaffneten in Lederjacke blieb der Mann mit Brille, kurzem keilförmigen Bärtchen und dem Gesicht eines Lehrers wie angewurzelt stehen. Seine schwarze Hose war ungebügelt, und die zugeknöpfte wattierte Steppjacke verriet, dass im Haus nicht geheizt wurde. Draußen war keine Spur von Kohle zu sehen, und es gab auch keinen gut ausgetretenen Weg zwischen dem Haus und einem der Schuppen, in dem Brennholz hätte lagern können.
»Ihr Name?«, forderte Abjasow unverzüglich eine Antwort.
»Schpakjewitsch, aber was ist passiert?«
»Gegen Sie gibt es eine Anzeige wegen Mordes!«, sagte der Tschekist zu dessen völliger Verblüffung.
»Wer hat das angezeigt? Was für ein Mord?« Die Stimme des Hausherrn zitterte. Er drehte sich um und rief ins Haus: »Katja, komm raus! Sie sagen, hier hat es einen Mord gegeben!«
Hinter seinem Rücken erschien ein Frauenkopf mit Locken, breitem Gesicht und etwas hervorquellenden Augen, die mit Leichtigkeit Blitze hätten schleudern können.
»Wer sind die?«, fragte sie mit lauter Stimme.
»Die sowjetische Arbeiter- und Bauernmiliz«, antwortete Abjasow, wobei er jedes einzelne Wort deutlich aussprach. »Kommen Sie heraus! Schließen Sie den Schuppen auf!«
»Was denn für einen Schuppen?«, erkundigte sich die Frau giftig und stellte sich vor ihren Mann.
»Den, vor dem Blutspuren sind«, erklärte Abjasow ruhig.
Samson mochte die Rolle des stummen Zeugen nicht, aber vor Abjasow fühlte er sich unwohl. Genauer gesagt in seiner Anwesenheit. Abjasow umgab eine regelrechte Aura der Autorität. Nicht umsonst hatte Najden dem Tschekisten das Kommando erteilt.
»Ich mache schon auf.« Die Frau zog einen langen grauen Mantel an, nahm im Flur einen Schlüsselbund von einem Nagel an der Wand und kam aus dem Haus. Beim dritten Schuppen blieb sie stehen und blickte auf den dunklen Fleck am Boden neben dem beiseitegeschobenen Sand. Mit ihrem Schuh verteilte sie den Sand, damit er wieder bedeckte, was Abjasow so ins Auge gestochen war.
Das Schloss quietschte, der Bügel sprang auf, die Frau zog ihn aus den Ösen und öffnete die Holztür.
»Gehen Sie hinein, suchen Sie Ihren Mord!«, rief sie herausfordernd.
Abjasow betrat den Schuppen als Erster. Samson folgte ihm. Drinnen war es leer, das Licht fiel durch die Tür auf den Boden, was ausreichte, um weitere dunkle Flecken erkennen zu können, die dürftig mit Sand bedeckt waren.
»Woher stammt das Blut?« Abjasow deutete mit der Hand auf die Flecken.
»Haben Sie schon einmal ein Schwein gesehen, das beim Schlachten kein Blut verloren hätte?«, fragte die Frau.
Samson seufzte erleichtert. Offenbar hatte es hier keinen Mord gegeben. Sie konnten also umkehren und zum Kutscher gehen, der auf der Straße auf sie wartete.
»Sie haben ein Schwein geschlachtet?« Abjasow sprach langsam. »Ihr Schwein?«
»Nein, woher sollen wir denn ein Schwein haben? Vom Nachbarn. Er hat uns darum gebeten.«
»Was haben Sie mit dem Fleisch gemacht?«, fragte Abjasow weiter nach.
»Er hat es mitgenommen.«
»Hat er Sie bezahlt?«
»Ja natürlich. Warum sollten wir denn unsere Arbeit kostenlos anbieten?«
»Wie viel hat er gezahlt?«
»Er hat mit Salz bezahlt. Es waren vier Kilo.«
»Vielleicht fahren wir jetzt zurück?«, schaltete Samson sich ins Gespräch ein, der obendrein auf die Toilette musste.
»Wenn wir zurückfahren, dann müssen wir einen von den beiden mitnehmen. Für weitere Ermittlungen!«, antwortete Abjasow.
»Ermittlungen zu was?«, fragte die Frau.
»Zum illegalen Schlachten eines Tieres und zum Verstoß gegen den Erlass der OprodgubKom bezüglich des Verbots jeglichen privaten Handels mit Fleisch«, ratterte Abjasow herunter.
»Davon habe ich noch nichts gehört!« In der Stimme der Frau waren zum ersten Mal Zweifel zu erkennen, das machte die Stimme aber nicht weniger beißend und unangenehm. »Wir haben ja gar nicht gehandelt!«, erklärte sie aufgebracht.
»Das werden wir untersuchen. Machen Sie sich fertig, Sie fahren mit uns und erzählen alles auf der Wache!«, befahl Abjasow. »Oder fährt vielleicht Ihr Mann mit? Um alles ohne Gezeter zu klären?«
»Ja, mein Mann fährt!«, sagte die Frau wie aus der Pistole geschossen und presste ihre geschminkten Lippen unzufrieden zusammen. Sie eilte zum Haus und rief hinein: »Wanja, komm her, du fährst mit ihnen.«
Der Mann sah aus dem Haus, sein Gesicht wirkte verängstigt, die Brille saß schief auf der Nase – offenbar hatte er sie im Gehen aufgesetzt.
»Wohin soll ich fahren?«
»In die Stadt, zu ihnen. Sie bringen ihn doch wieder zurück?« Die Frau stand in der Tür und wandte sich zu den Vertretern der Miliz um.
»Wer weiß das schon.« Abjasow zuckte mit den Schultern. »Das hängt davon ab, was er uns erzählt.«
Nachdem sie den fast zu Tode verängstigten Verhafteten auf der Bank der Droschke zwischen sich gezwängt hatten, wurden Samson und Abjasow bei der Fahrt über das Straßenpflaster durchgeschüttelt.
»Du verhörst ihn und schreibst alles auf!«, befahl Abjasow Samson, während er sich vorbeugte. »Ich habe noch etwas zu erledigen.«
Samson beugte sich ebenfalls vor, sah den Tschekisten an und nickte.
Seltsame Gedanken gingen ihm durch den Kopf. Vom Verbot des privaten Handels mit Fleisch hatte er selbst noch nichts gehört, und hier war auch nicht gehandelt, sondern nur ein Schwein geschlachtet worden.
»Und was soll ich fragen? Er hat ja nicht gehandelt, sondern das Schwein nur geschlachtet.«
»Wo ein Schwein geschlachtet wird, wird sicher auch mit Fleisch gehandelt«, antwortete Abjasow. »Oder hast du schon einmal gesehen, dass jemand kostenlos Fleisch abgegeben hätte? Du musst nur herausfinden, wer gehandelt hat, zu welchem Preis und wem er es verkauft hat. Er wird dir selbst alles erzählen.« Abjasow wandte seinen boshaften Blick dem bleichen Verhafteten zu, der nur so tat, als döste er, doch die Anspannung in seinem Gesicht und die gespitzten Ohren verrieten seine Furcht.
Das Vernehmungsprotokoll des verängstigten Iwan Schpakjewitsch war lediglich eine halbe Seite lang. Schpakjewitsch gab die Adresse des Bürgers Briskin an, der das Vieh zum Schlachten angeliefert hatte, weiter gestand er, dass er auf Briskins Bitte hin bereits vier Schweine geschlachtet und dafür etwa zwanzig Kilo Salz als Bezahlung erhalten habe. Das Salz habe er in der Folge auf dem Jüdischen Markt gegen Hirse und Mehl eingetauscht. Darüber hinaus habe er von jedem geschlachteten Schwein zwei Kilo Speck zurückbehalten, wovon aber seiner Aussage nach bereits nichts mehr übrig war. Einen Teil des Specks hätten er und seine Frau gegessen, den Rest gegen ein Stück Wollstoff eingetauscht, aus dem ein warmes Kleid für seine Frau genäht werden sollte.
Nach dem Verhör musste Schpakjewitsch eine Verpflichtungserklärung unterschreiben, Kiew nicht zu verlassen, dann ließ Samson ihn frei und ging mit dem Protokoll zu Najden.
»Ein Bagatelldelikt«, sagte er und hielt seinem Vorgesetzten das Protokoll hin. »Den Fall können wir abschließen und zu den Akten legen. Was soll das denn für ein Verbrechen sein, das Schwein des Nachbarn zu schlachten?«
Najden nahm das Protokoll und las es aufmerksam.
»Abjasow hat mir bereits detailliert Bericht erstattet«, antwortete er, woraufhin er den Kopf schüttelte und nachdenklich die Lippen verzog. »Der Fall kann nicht so einfach abgeschlossen werden … Es handelt sich um einen Verstoß gegen den Erlass der OprodgubKom.«
»Was ist das für eine Kommission, die OprodgubKom? Wir haben doch von dort gar keine Dokumente bekommen.«
»Du hast keine bekommen, weil du hier nicht der Vorgesetzte bist! Ich habe sehr wohl welche bekommen! Ich habe mich nur nicht rechtzeitig damit vertraut gemacht. Die OprodgubKom ist die Gouvernementssonderkommission für Lebensmittelfragen«, erklärte Najden. »Verstehst du? Sonderkommission! Das ist wie ein Ministerium für Essen. Wir leben in hungrigen Zeiten. Die Armee muss ernährt werden, die Werktätigen ebenfalls. Ein Tschekist wie Abjasow wittert sofort, ob es sich um einen wichtigen Fall handelt oder nicht.«
Samson hörte aus der Intonation heraus, dass sein Vorgesetzter Abjasow nicht sonderlich schätzte, ihm gegenüber aber ganz offensichtlich vorsichtig war.
»Und was jetzt? Soll ich diesen Briskin holen?«, fragte Samson, auch wenn es ihm widerstrebte.
Najden schwieg und starrte Samson erschöpft an.
»Ja«, seufzte er letztendlich. »Fahr hin, und verhafte ihn wegen illegalem Handel mit Fleisch. Dann sehen wir weiter.«
»Darf ich Cholodny mitnehmen?«
Najden nickte.
Derselbe Kutscher, der sie am Morgen nach Puschtscha-Wodiza gebracht hatte, stand nun wieder vor der Wache, als hätte er gewusst, dass ihm eine weitere Fahrt bevorstand. Wassyl hatte ihn schweren Herzens bis auf die letzte Kopeke bezahlt. So hatte zumindest ein Droschkenbesitzer Vertrauen zur Arbeiter- und Bauernmiliz gefasst.
Cholodny war froh, durch die halbe Stadt chauffiert zu werden, noch dazu mit Samson, dem er sich wirklich freundschaftlich verbunden fühlte.
»Na, was hältst du von ihm?«, fragte er nach Abjasow und blickte sich langsam um, während die Räder der Droschke über das Kopfsteinpflaster rumpelten und die Häuser auf dem Bibikow-Boulevard langsam an ihnen vorüberzogen.
»Er ist gefühllos und kaltschnäuzig«, antwortete Samson.
Plötzlich lenkte ihn etwas ab, er drehte sich um und erblickte den am Straßenrand marschierenden Schpakjewitsch, den er vor kaum einer Stunde freigelassen hatte.
»Halt an!«, befahl Samson dem Kutscher. Dann stieg er auf das rechte Trittbrett, und die Droschke neigte sich ein wenig in seine Richtung. »Kommen Sie her!«, rief er Schpakjewitsch zu, der ihn bereits bemerkt hatte.
Der Mann lief zu ihnen, obwohl sein angsterfülltes Gesicht großes Befremden ausdrückte. Doch dieser Gesichtsausdruck mochte noch vom Verhör herrühren. Samson rückte zu Cholodny und machte für Schpakjewitsch auf der Seite Platz.
»Wir sind gerade nach Puschtscha unterwegs, da können wir Sie mitnehmen«, erklärte ihm Samson.
»Was wollen Sie in Puschtscha?« Schpakjewitsch wurde stutzig.
»Briskin verhaften.«
»Erzählen Sie ihm bloß nicht, dass Sie das alles von mir haben!«
»Wie stellen Sie sich das vor? Wo Sie doch in denselben Fall verwickelt sind.« Samson war ehrlich verwundert und wandte sich zu Cholodny:
»Hast du das gehört?«
Cholodny nickte mit einem Lächeln auf den Lippen.
»Deshalb denke ich«, setzte Samson das unterbrochene Gespräch fort »Abjasow wird noch …«
Cholodny schüttelte plötzlich energisch den Kopf und wies auf den unterwegs aufgelesenen Passagier. Samson verstand die Andeutung sofort: Dienstgespräche sind nichts für fremde Ohren.
»Bald wird es warm«, wechselte Cholodny nach kurzem Schweigen das Thema. »Sogar der schmutzige Schnee ist beinahe schon geschmolzen.« Er runzelte die Stirn, als wäre ihm plötzlich ein Zweifel gekommen. Da wandte er sich an den Passagier:
»Genosse, wie heißen Sie?«
»Ich?« Schpakjewitsch hob den Kopf. »Iwan Stepanytsch.«
»Was sind Sie von Beruf?«
»Ich war Chefgehilfe.«
»Bei einem Großgrundbesitzer?«
»Nein, in einem Laden. Aber in den letzten zwei Jahren ohne Anstellung. Seit sie den Laden angezündet haben, bin ich ohne Arbeit.«
»Und wie schlagen Sie sich durch?«, fragte Samson und blickte Schpakjewitsch in die Augen.
»Wie alle anderen.« Schpakjewitsch zuckte mit den Schultern. »Mit Ersparnissen und dem, was wir anbauen. Einen Gemüsegarten haben wir und noch ein paar Obstbäume dazu.«
»So ist das also«, beendete Cholodny dieses Thema. »Glauben Sie an Gott?«
»Und was, wenn? Manchmal ja, manchmal nein.«
»Was halten Sie von Judas?«
»Ein Schuft war das!«, fiel ihm Schpakjewitsch ins Wort. »Er hat doch Gott verraten!«
»Hörst du das?« Cholodny drehte sich zu Samson. »Und so denken alle. Alle! Aber die wollen für ihn Denkmäler aufstellen.«
»Für wen?«, fragte Schpakjewitsch mit weit aufgerissenen Augen.
»Für Judas.«
»Wer will das denn?«
»Genosse Trotzki!«, antwortete Cholodny.
Der ehemalige Chefgehilfe schüttelte den Kopf. Er wollte etwas sagen, aber die Worte schienen ihm im Hals stecken zu bleiben. Er räusperte sich.
»Vielleicht weiß er mehr über Judas?«, sagte er letzten Endes unsicher. »Ich urteile über Judas einzig und allein nach der Heiligen Schrift.«
»Er weiß mehr«, bestätigte Cholodny Schpakjewitschs Vermutung. »Aber das Volk muss erst einmal vorbereitet werden. Ohne Erklärung versteht das Volk das nicht.«
»Und wieso stellt man dann für die Zaren ohne Erklärung Denkmäler auf?«, erwiderte Schpakjewitsch.
»Hat man aufgestellt«, verbesserte ihn Cholodny. »Die Zaren haben für ihre Vorgänger Denkmäler errichtet. Jetzt wird es so etwas nicht mehr geben.«
Sie brachten Schpakjewitsch bis zum Gartentor. Samson erinnerte ihn daran, dass er Kiew nicht verlassen durfte.
»Sehe ich etwa wie ein Selbstmörder aus?«, erwiderte Schpakjewitsch. »Hier ist es schon gefährlich, aber weiter draußen wartet gleich der Tod!«
»Am besten, Sie gehen erst gar nicht aus dem Haus.« Cholodnys Bariton klang recht überzeugend. »Zumindest würde ich das an Ihrer Stelle nicht tun.«
»Da haben Sie recht«, sagte Schpakjewitsch und nickte.
Sie setzten ihren Weg fort, kamen ans Ende der Nekrassowskaja, bogen rechts ab und fuhren weiter, bis sie auf die Lermontowskaja gelangten. Bei der gesuchten Adresse hielten sie an.
Das Gartentor war verschlossen. Sofort setzte das lautstarke Bellen eines großen Hundes – einer Promenadenmischung – ein.
»He, ist da wer?«, rief Samson. Sein Blick fiel auf das große und imposante Holzhaus mit geöffneten, blau lackierten Fensterläden.
Kurze Zeit später öffnete sich die Haustür, und eine junge Frau in langem grauen Rock mit einer über die Schultern geworfenen Karakulpelzjacke erschien.
Der Hund drehte sich zu ihr um und verstummte. Die Stille wurde von der zarten und freundlichen Stimme der jungen Frau durchbrochen:
»Zu wem wollen Sie?«
»Ist Moissej Briskin zu Hause?«, fragte Samson.
»Vater ist in der Stadt. Er sollte bald wieder da sein.«
»Dürfen wir hereinkommen? Wir würden gerne im Haus auf ihn warten«, erklärte Cholodny.
»Besser, Sie warten draußen! Ich kann Druschok nicht zurückhalten, er beißt.«
Sie setzten sich in die Droschke und richteten sich zum Warten ein. Dem Kutscher war der Unmut ins Gesicht geschrieben, aber er sagte nichts. Er drehte sich nur ein paarmal zu den beiden um und schaute finster drein.
Die Zeit verging, und es begann zu dämmern. Menschen und Pferdefuhrwerke kamen vorbei. Die Leute kehrten nach Hause zurück, und auch Samson wollte nach Hause. Da hörte er lautes Rascheln von Stoff, als würde jemand ein Leintuch abziehen, dann ein dumpfes Poltern, als wäre etwas auf den Holzboden gefallen, gleich darauf folgten leises metallisches Quietschen und ein Schrei. Nadjeschdas Schrei.
Samson zuckte zusammen, fuhr hoch und sprang von der Droschke. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken, und er zitterte am ganzen Körper. Er hörte, dass Nadjeschda nun weinte. ›Was ist dort los?‹ Andere Stimmen und Geräusche hörte er nicht, dennoch wuchs seine Sorge. Er senkte den Blick auf seine zu Fäusten geballten Hände. Mit seiner Rechten schob er die Ledermütze beiseite und drückte die Handfläche gegen die Ohröffnung.
»Was ist mit dir?« Cholodny holte ihn wieder in die Realität zurück.
»Mir ist nicht gut«, antwortete Samson.
Hektisch ging er zum geschlossenen Gartentor, weshalb der Wachhund erneut in heftiges Gebell ausbrach. Samson wich ein paar Schritte zurück und geriet beinahe unter ein Fuhrwerk.
»Pass doch auf, wo du hinläufst, du Saufbold«, rief der grobschlächtige, bärtige Kutscher und schlug mit der Peitsche auf das Pferd ein. »Hüa, vorwärts, hüa!«
Cholodny stieg aus der Droschke und ging zu Samson.
»Bist du etwa krank?«, fragte er und blickte seinem Kollegen in die Augen. »Hast du dir vielleicht Typhus eingefangen?«, stellte er eine Vermutung an und ging gleich ein wenig auf Abstand.
»Nein, woher denn Typhus«, winkte Samson ab. »Das sind die Nerven. Und kalt ist mir auch.«
»Es ist schon Abend. Kaum ist die Sonne weg, kriecht einem die Kälte unter die Jacke.«
Reflexartig löste Samson den Riemen des Holsterdeckels. Als er jedoch den konsternierten Blick Cholodnys bemerkte, zog er den Riemen wieder über den kupfernen Knubbel.
Plötzlich war das Geräusch eines herannahenden Motors zu hören. Beide drehten sich verblüfft um, denn hier in Puschtscha-Wodiza hatten sie noch kein einziges Auto vorbeifahren sehen.
Ein eleganter schwarzer Ford T, der einer teuren pferdelosen Droschke glich, blieb vor Briskins Zaun stehen. Der Fahrer in Schutzbrille drehte sich zu seinem Passagier um, der daraufhin ausstieg. Die Autotür fiel mit einem schönen, klangvollen Klicken zu, der Ford T setzte zurück, fuhr um die Droschke herum, wendete und brauste davon.
Als Samson seinen Blick vom Auto abwandte, sah er, wie der soeben angekommene hagere Mann in schwarzem Mantel und schwarzer Hose seine Hand über das Gartentor streckte und es von innen öffnete. Er war sogar schon in den Garten gelangt, als Samson hinterherstürzte und rief:
»Stehen bleiben! Sind Sie Bürger Briskin?!«
Der Mann drehte sich um.
»Was wollen Sie?«, fragte er.
Der Wachhund kam angelaufen und blieb zwischen Herrchen und Gartentor stehen.
»Wir sind von der Miliz. Kommen Sie mit!«, rief Samson.
Cholodny trat ebenfalls ans Tor.
»Wohin denn mitkommen?«, fragte Briskin gereizt. »Ich habe noch nicht zu Abend gegessen!«
»Sollen wir Sie vielleicht gewaltsam abführen?«, fuhr ihn Cholodny an. »Wir warten hier schon zwei Stunden auf Sie!«
»Worum geht es denn?« Briskin machte einen Schritt vorwärts und blieb neben dem Hund stehen. »Was wollen Sie von mir?«
»Das erklären wir Ihnen auf der Wache«, sagte Samson.
»Damit handeln Sie sich Ärger ein«, erklärte Briskin ruhig. »Ihnen ist schon klar, dass einfache Leute nicht mit dem Auto nach Hause gebracht werden.«
»Kommen Sie vom Dienst?« In Cholodnys Stimme schwang Vorsicht mit. »Wo arbeiten Sie?«
»In der Futtermittelkommission.«
»Hat Bürger Schpakjewitsch Ihre Schweine geschlachtet?«, fragte Samson mit strenger Stimme und hörte von Neuem Nadjeschdas entferntes Weinen. Schmerzlich verzog er die Lippen, was ihm einen einigermaßen wütenden Ausdruck verlieh.
»Schpakjewitsch? Was denn für ein Schpakjewitsch?«, fragte Briskin zurück und machte einen Schritt in Richtung Türschwelle.
Der Hund sprang sofort auf und begann zu bellen, weil er offenbar einen Anflug von Angst in der Stimme seines Herrchens bemerkt hatte und begriff, dass die Gefahr noch nicht gebannt war.
»Nehmen Sie den Hund beiseite, und kommen Sie heraus!«, sagte Samson leise und schroff, während er den Riemen vom Deckel des hölzernen Holsters löste und den Nagant hervorzog.
»Ist ja schon gut.« Briskin winkte besänftigend mit erhobener Hand ab. »Druschok, aus!«, rief er dem Hund zu. »Ich hoffe, Ihr Vorgesetzter ist jetzt im Dienst? Er wird schnell begreifen, was Sache ist, und Sie werden mich wieder hierher zurückbringen.« Der letzte Satz klang wie eine Drohung. »Ich sage meiner Tochter nur noch schnell, dass ich mit Ihnen mitfahre, ja?«, bat er plötzlich höflich und eilte zur Tür, ohne auf eine Antwort zu warten.
»Und Ihrer Frau auch«, rief ihm Cholodny hinterher.
»Meine Frau liegt auf dem Friedhof«, erwiderte Briskin und drehte sich im Gehen um. »Der Typhus hat sie geholt.«
Er blieb etwa fünf Minuten im Haus. Samson und Cholodny wechselten ratlose Blicke. Der Hund spitzte seine Ohren und beobachtete sie aufmerksam vom Garten aus.
»Dann müssen wir den Hund erschießen«, murmelte Cholodny.
Da ging die Haustür auf. Briskin kaute auf etwas herum und kam zum Tor. Er roch nach Speck und Zwiebel.
»Ich kann doch nicht mit leerem Magen ins Gefängnis gehen!«, sagte er unwirsch, während er in die Droschke einstieg.
»Nicht ins Gefängnis, sondern auf die Wache«, antwortete ihm Samson. Mit seinem inneren Ohr nahm er wahr, wie sein eigener Magen unzufrieden knurrte, als wäre er neidisch auf den vollen von Briskin gewesen.
»Eine Hausdurchsuchung ist wichtiger als eine Verhaftung! Seid ihr denn Idioten?«, schrie Abjasow mit hysterischer hoher Stimme und ließ den scharfen Blick seiner kleinen Augen von Cholodny zu Samson wandern und wieder zurück.
»Es gab aber doch keinen Befehl«, rechtfertigte sich Samson müde.
»Ihr hattet auch keinen Haftbefehl. Und?«, antwortete Abjasow, nicht mehr ganz so erzürnt. »Wisst ihr etwa nicht, dass man solche Befehle auch rückwirkend ausstellen kann?«
Sie standen auf den Stufen zwischen Erdgeschoss und erstem Stock. Der wachhabende Rotarmist hatte Briskin bereits in eine der Zellen im Keller geführt, aber vermutlich war diese dienstliche Auseinandersetzung auch bis dorthin zu hören.
Cholodny gähnte. Auf dem Rückweg in der Dunkelheit, der mindestens eineinhalb Stunden gedauert hatte, waren sie gründlich durchgeschüttelt worden. Samson verspürte, abgesehen von allgemeiner Erschöpfung, ein Ziehen in den Hüften, außerdem waren seine Nerven wegen Nadjeschdas Schrei und ihres Weinens zum Zerreißen gespannt. Er stand da, biss sich auf die Unterlippe und sah Abjasow mit einer seltsamen Mischung aus Feindseligkeit und Mitleid an.
»Na gut.« Abjasow hatte letztendlich beschlossen, seiner Schimpftirade ein Ende zu setzen. »Ihr könnt abtreten. Morgen früh lasst ihr euch einen Haft- und einen Durchsuchungsbefehl ausstellen und fahrt sofort wieder hin. Und dass ihr mir dort alles auf den Kopf stellt!«
»Und was sollen wir suchen?«, fragte Samson müde.
Abjasow sah ihn besserwisserisch an, wie ein Oberlehrer seinen minderbemittelten Schüler.
»Fleisch! Ihr sollt Fleisch suchen. Und Geld oder Waren, die gegen das Fleisch eingetauscht worden sind.«
Als Samson auf die Tarassowskaja hinaustrat, spürte er ein Zittern in den Beinen. Die Straßenlaternen brannten nicht, und in der Luft lag eine beißende, eisige Feuchtigkeit. An der nackten Ohröffnung war es Samson besonders kalt, weshalb er die lederne Uniformmütze darüber zog und schnellen Schritts in Richtung seines Hauses ging.
In einigen Fenstern flackerte der Schein brennender Kerzen. Eine Einheit Rotarmisten tauchte plötzlich auf und kam ihm entgegen, die Eisenbeschläge an ihren Stiefeln schlugen Funken auf dem Straßenpflaster. Samson trat zur Seite und sah ihnen hinterher. Sie fegten an ihm vorüber wie ein schwerfälliger, träger Wirbelwind und zogen hinter sich einen Schweif aus Straßengeräuschen her, auch dann noch, als sie bereits verschwunden waren.
Samson verharrte einen Augenblick und lauschte. Es war undenkbar, dass die Rotarmisten ohne Anlass irgendwohin eilten. Die Zeiten wurden immer besorgniserregender. So besorgniserregend, dass niemand auch nur davon sprechen wollte. Daher schwiegen sowohl Najden als auch Cholodny darüber, was rund um Kiew passierte. Sie schwiegen, aber Gedanken machten sie sich trotzdem. Und Samson schwieg ebenfalls. Er schwieg und dachte nach. Nachrichten von Siegen der Roten Armee sorgten ein wenig für Entspannung, aber allein die Anzahl der Siege, die in der Zeitung Bolschewik erwähnt wurden, vermittelte eher das Bild einer endlosen Frontlinie als das eines vollständigen Siegs der Sowjetmacht. An allen Ecken und Enden des ehemaligen Russischen Imperiums herrschte Krieg, und manchmal war die Rote Armee nicht einmal beteiligt. In manchen Gebieten gab es auch Kämpfe zwischen anderen Kräften, die aber alle der Sowjetmacht feindselig gegenüberstanden.
Vor dem Haustor musste Samson nicht lange warten. Sobald die Hausmeisterwitwe seine Stimme hörte, schob sie die Riegel an der Tür zurück und trat zur Seite in der Annahme, Samson würde ihr wie üblich helfen, die beiden Riegel wieder vorzulegen. Doch Samson stürmte die Treppe hinauf, öffnete die Tür, rannte ins Wohnzimmer und erblickte Nadjeschda am Tisch vor dem dreiarmigen Kerzenleuchter. Sie saß reglos da wie eine Sphinx, hatte die Ellbogen auf den Tisch gestützt und das Gesicht in den Handflächen verborgen. Auf dem Boden lag die Bonbondose, der Deckel war etwas weiter weg. Die Puderschachtel, in der Samson sein abgeschlagenes Ohr aufbewahrte, lugte unter dem Stuhl hervor.
Samson hielt den Atem an, bückte sich, nahm die Schachtel, legte sie in die Dose, die er verschloss und mit Mühe in seine linke Jackentasche schob. Danach verharrte er für einen Augenblick und dachte nach. Er schüttelte den Kopf, schnallte den Gürtel mit dem Holster ab und brachte seine Jacke in den Flur. Dort zog er auch seine Stiefel aus und kam barfuß ins Wohnzimmer zurück, wobei er den Schweißgeruch seiner Füße wahrnahm, der immer aufstieg, wenn er seine Stiefel nicht mehr anhatte.
Nadjeschda, die bisher reglos dagesessen hatte, zuckte zusammen und begann zu weinen.
»Wie konntest du nur?« Sie sah Samson an. Die geschwollenen Augen ließen ihr Gesicht älter wirken. »Was habe ich dir getan? So viel Angst hat mir noch niemand eingejagt! Ich habe gedacht, du hast mir Bonbons unters Kissen gelegt. So gefreut habe ich mich und hatte plötzlich so eine Lust darauf. Ich habe die Schachtel sogar geschüttelt. Es hat geklungen, als wären Bonbons darin.« Sie schüttelte den Kopf. »Es waren aber zwei Kugeln und ein Ohr! Warum willst du mir Angst einjagen?«
Samson wäre am liebsten im Erdboden versunken.
»Verzeih, Nadja, bitte verzeih mir!«, flüsterte er, streckte seine Hände zu ihr aus, fasste ihre warmen Handgelenke, zog sie in seine Richtung, legte ihre Hände auf die Tischplatte und bedeckte dann ihre Handflächen mit den seinen. »Verzeih mir bitte. Ich werde dir alles erklären. Vielleicht nicht jetzt. Ich wollte dir keine Angst einjagen. Mit diesen Kugeln wollte man mich töten. Ich habe sie als Andenken aufgehoben. Genau wie das Ohr. Es ist ja meines.«
»Und wieso hast du es mir unters Kissen gelegt?«
Nadjeschda seufzte tief, hatte Mühe, ihre Hände unter den seinen hervorzuziehen, und ließ sie dann unter dem Tisch auf ihre Knie sinken. Traurig schüttelte sie den Kopf.
»Ich gehe jetzt schlafen«, sagte sie mit schon ruhigerer, aber doch deutlich kühler Stimme. »Ich habe den halben Tag geweint. Ich bin sehr müde … Ich bin ja früher von der Arbeit heimgekommen. Sie haben mich nach Hause geschickt, weil ich Kopfschmerzen hatte. Ich wollte mich hinlegen und etwas ausruhen und dir dann eine Suppe kochen. Also bin ich ins Bett gegangen, und wie es der Zufall so wollte, habe ich meine Hand unters Kissen gesteckt.«
Allein im Wohnzimmer, sah Samson lange in die Flammen der Kerzen auf dem dreiarmigen Leuchter. Die Sache war ihm unangenehm, schmerzte ihn sogar, so als habe sich eine Stecknadel irgendwo in seiner Kleidung versteckt, die ihn von Zeit zu Zeit stach. Er konnte nicht still sitzen. Sein aufgewühlter Zustand, vermischt mit dem Gefühl der Schuld, würde ihn bestimmt nicht in Morpheus’ Reich abtauchen lassen.
Ein plötzlich aufgetauchter Gedanke ließ ihm keine Ruhe mehr, er ging ins Erdgeschoss und klopfte bei der Hausmeisterwitwe.
»Was willst du?«, fragte sie nach dem Öffnen der Tür.
Ihrem Blick nach zu urteilen, war sie leicht beschwipst, was darauf hindeutete, dass sie noch nicht geschlafen hatte.
»Haben Sie vielleicht Bonbons?«, fragte Samson. »Ich würde welche kaufen. Ich brauche sie dringend.«
»Lutschbonbons meinst du?«, fragte die Witwe zurück. »Komm herein, und leiste mir etwas Gesellschaft!«
Sie brachte ihn in die Küche und setzte sich vor ihr geschliffenes Gläschen. Dann sah sie zu ihrem Gast, brachte ihm sofort auch ein Gläschen und schenkte Angesetzten ein.
»Was ist mit Nadjenka? Ich habe sie weinen gehört.«
»Sie fühlt sich nicht gut. Sie haben sie von der Arbeit nach Haus geschickt. Wahrscheinlich Migräne. Ich habe mir gedacht, ich könnte sie mit Bonbons verwöhnen, aber es ist bereits spät! Die Läden sind schon zu.«
»Soll ich ihr vielleicht etwas Zucker abbrechen? Ich habe welchen. Ich lutsche manchmal etwas davon, wenn ich starkes Sodbrennen habe. Das hilft!«
Samson schüttelte den Kopf, seufzte und leerte das Schnapsgläschen. Dann verzog er das Gesicht, auf dem die Qualen abzulesen waren, die er wegen der ungelösten wichtigen Aufgabe litt.
»Ist der Angesetzte scharf?«, fragte die Witwe mitfühlend.
»Nein, das kommt von meinen Gedanken.«
»Wegen der Bonbons?« Das beschwipste Glänzen in ihren Augen wurde von gutmütiger Neugier abgelöst. »Das heißt also, dass sie dir etwas bedeutet«, sagte sie verschmitzt und sah ihm noch eindringlicher ins Gesicht.
»Ja, das tut sie«, gestand er.
»Weißt du was? Ich werde dir helfen! Schließlich war ich es, die euch zusammengebracht hat.« Die Witwe ließ den Blick auf ihr Gläschen sinken. »Es gibt einen Ort, wo man auch nachts Bonbons kaufen kann. Kennst du die Synagoge neben dem Jüdischen Markt?«
Samson nickte. Er erinnerte sich sofort daran, wie er sich im Gymnasium mit seinen Freunden dort vor den Gendarmen versteckt hatte. Nicht in der Synagoge, sondern dahinter. Und er erinnerte sich auch daran, wie die Gendarmen vor dem jüdischen Gotteshaus wie angewurzelt stehen blieben, sich bekreuzigten, dann vor den Zaun spuckten und gingen. Sie wollten keine frechen Bengel auf jüdischem Territorium jagen. Offenbar hatten sie Angst vor dem jüdischen Gott.
»Das ist die dritte Straße links nach dem Galizischen Platz, nicht?«, fragte sie ihr Gedächtnis oder Samson. »Also die erste nach der Synagoge. Die gehst du entlang, bis der Weg endet, und dann steht gleich rechts, quer zu dir, ein langes Haus mit Souterrain. Dort klopfst du an die zweite Tür und sagst, dass Kajdan dich schickt. Hast du dir das gemerkt?«
»Mhm.« Samson nickte. »Und was dann?«
»Dann sagst du, warum du gekommen bist. Aber zieh dich ärmlich an. Und plappere um Gottes willen nicht aus, dass du bei der Miliz arbeitest. Hörst du?«
Wie beflügelt stöberte Samson im Schrank mit der Kleidung seiner Eltern. Er fand dort eine alte, sackartige graue Hose von seinem Vater. Sie war natürlich viel zu groß, denn sein Vater hatte gerne Bliny gegessen, und als Rechtfertigung dafür, dass sie ihm so schmeckten, erinnerte er immer an den guten alten Fabeldichter Iwan Krylow, der ebenfalls für seine Liebe zu den Bliny bekannt gewesen war und aufgrund von Verdauungsstörungen den Tod gefunden hatte. Samson schnürte die Hose mit einem Gürtel zusammen und sah gleich arm und unbeholfen aus. In der Abstellkammer fand er eine wattierte Jacke, in der seine Mutter in den harten Typhus-Zeiten auf den Markt gegangen war, um nicht aufzufallen. Die Jacke passte und saß gut, obwohl sie etwas kurz war. Ebenfalls in der Abstellkammer fand er in einem Sack Schuhe von seinem Vater, die zwar ausgetreten, aber noch tragbar waren. In dem Sack hatte seine Mutter Schuhe für das Haus der Barmherzigkeit gesammelt, aber nie dorthin gebracht. Samsons Füße schwammen etwas in den Schuhen, daher stopfte er zwischen Ferse und Schuh zusammengeknülltes Zeitungspapier.
Draußen wurde es immer dunkler. In der Schiljanskaja brannten gar keine Straßenlaternen, auf dem Galizischen Platz hingegen schon. Samson erfreute weniger das helle Licht der Laternen als die Tatsache, dass sie zahlreich und einträchtig dastanden. Auf der anderen, weiter entfernt liegenden Seite des Platzes beleuchteten allerdings nur vier Laternen die Frontseiten der nebeneinander aufgereihten Geschäfte, Getreidehandlungen und Verkaufsbuden. Alles war geschlossen, ausgestorben, nichts regte sich.
Die Reglosigkeit auf dem Markt verzauberte und faszinierte Samson. So stand er da und ließ sie von der anderen, am Bahnhof gelegenen Seite des Platzes auf sich wirken. Je länger er das tat, umso mehr Widersprüche fielen ihm auf zwischen der Realität und dem, was er sah. Er schmeckte Rauch von einem Feuer auf den Lippen. Und in der Ferne vernahm er unverständliche, irgendwie unterirdisch klingende Stimmen. Und zwar nicht von einem, sondern von mehreren Gesprächen. Dann stieg plötzlich jemand vor einem Geschäft aus der Erde empor und hustete. Das Husten strömte über den weitläufigen Platz in Samsons Richtung, der aus seiner Starre erwachte und sich beeilte, den Platz schnell hinter sich zu lassen. Er erreichte das andere Ende und bog in die richtige Straße ein, der er folgte. Plötzlich stieß er auf Gleise.
»Verdammt noch mal!«, fluchte Samson und machte kehrt. Er blieb vor einem langen, hohen, einstöckigen Gebäude stehen, dessen weiß getünchte Wände in der Dunkelheit grau erschienen.
In den dunklen Fenstern des Gebäudes war kein Leben zu erkennen. Samson erblickte einen Eingang mit Stufen und eine Tür. Etwa zwanzig Meter weiter war die nächste Tür, aber auch hier waren die Fenster dunkel und niemand zu sehen.
Samson ging die steinernen Stufen hinauf und klopfte vorsichtig und leise. Hinter der Tür herrschte Stille.
›Sie hat sich geirrt!‹, dachte er an die Worte der Witwe, machte ihr aber keinerlei Vorwurf. Vielleicht waren hier früher, vor dem Krieg und der Revolution, nachts Bonbons verkauft worden, aber jetzt hatte dieses Gebäude mit Bonbons eindeutig nichts mehr zu tun.
Samson kehrte zur Straße zurück und ging bis zum Bibikow-Boulevard, wo er an einem Zaun einen seltsam und unnatürlich daliegenden Körper in einem Militärmantel entdeckte. Etwas daran erinnerte ihn an die Leiche seines Vaters mit gespaltenem Schädel.
Er ging vor dem Körper in die Hocke – der Milizionär war plötzlich in ihm erwacht. Er wollte herausfinden, wen sie hier umgebracht hatten. Also fuhr er in die Innentasche des Militärmantels, wo Rotarmisten und auch alle anderen Leute ihre wichtigen Papiere, Fotografien und Dokumente mit sich trugen. Seine Hand fühlte ein Portemonnaie oder einen dicken Umschlag. Da zuckte der Körper zusammen und schrie so laut, dass man es in der ganzen Gegend hörte: »Ein Dieb! Mistkerl! Zu Hilfe! Ein Dieb!«
Samson sprang zur Seite und rannte erschrocken, ohne auf den Boden zu sehen, davon. Da flog auch noch das zusammengeknüllte Papier aus dem rechten Schuh, und Samson schwamm von da an derart im Schuh, dass er ihn beinahe verlor. Er rannte langsamer, ging vor dem nächsten Zaun in die Hocke, hustete und ließ die Hände auf den kalten, feuchten Boden sinken. Ihm schien, als hörte er in der Nähe Schritte, und es fiel ihm schwer, die Luft anzuhalten, noch ehe er zu Atem gekommen war. Aber er versuchte es.
Da setzte sich jemand neben ihm auf den Boden. In der Dunkelheit erkannte Samson nur, dass die Person klein und schmächtig war sowie eine spitze Nase hatte.
»Wolltest du etwa Koloda erleichtern?«, ertönte eine jugendliche Stimme.
Samson beugte sich zu dem neben ihm Sitzenden und begriff, dass er es mit einem Jungen von etwa fünfzehn Jahren zu tun hatte.
»Ich dachte, dass er tot ist«, antwortete er.
»Koloda ist immer wie tot. Aber dich kenne ich ja gar nicht.«
»Kennst du etwa alle?«, fragte Samson mutiger.
»Hier schon!«
»Wo, hier?«
»Im Jüdischen Marktviertel!«
»Ich bin aber nicht aus dem Jüdischen Marktviertel.«
»Dann schieb einen Kerenski rüber, sonst pfeife ich, und dann kannst du dich auf etwas gefasst machen.«
Samson wurde klar, dass er das Gespräch mit diesem Jugendlichen ernster hätte nehmen müssen. Er holte einen Zwanziger hervor und hielt ihm den Schein hin.
»Wenn du nicht aus dem Jüdischen Marktviertel bist, von wo bist du dann?«, fragte der Junge.
»Kajdan schickt mich.« Samson erinnerte sich, in wessen Namen er die Bonbons kaufen sollte.
»Wirklich?« Jetzt zitterte die Stimme des Jungen. Er streckte ihm den Zwanziger wieder hin. »Nimm! Was machst du hier mitten in der Nacht?«
»Ich wollte Bonbons kaufen, aber dort war niemand.«
»Dort?« Der Junge deutete mit der Hand in Richtung der Straße, an deren Ecke Samson auf den Körper gestoßen war, der sich als lebend herausgestellt hatte.
»Mhm.«
»Komm mit!« Der Junge sprang auf. »Ich zeige dir den Weg.«