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Die Ukraine im Umbruch: Andrej Kurkow erzählt aus dem Herzen der Revolution Auf den Majdan! Als sich im November 2013 die Menschen auf dem Kiewer Majdan Nesaleschnosti, dem Platz der Unabhängigkeit, versammeln, ist die Ukraine – trotz ihrer geografischen Nähe auch zu Österreich und Deutschland – für viele eine große Unbekannte: Wie sieht der Alltag der Menschen dort aus? Vor welchen Herausforderungen stehen sie? Wovon träumen sie? Warum protestieren sie? Und was möchten sie damit erreichen? – Es sind die Stimmen der Menschen vor Ort, die Stimmen ukrainischer Schriftsteller*innen, die genau davon erzählen. Einer davon ist Andrej Kurkow. "Ich lebe mit meiner Familie im Zentrum von Kiew, 500 Meter vom Majdan entfernt. Vom Balkon unserer Wohnung aus sahen wir den Rauch der brennenden Barrikaden, hörten die Explosionen der Granaten und die Schüsse. All diese Zeit ging das Leben weiter, blieb kein einziges Mal stehen. Ich weiß nicht, wie das alles enden wird. Ich kann nur auf das Beste hoffen. Ich reise nicht aus. Verstecke mich nicht vor der Realität. Ich lebe jeden Tag darin." Die Ukraine in den Tagen des Umbruchs: Wie wird es weitergehen? Andrej Kurkow zählt zu den bekanntesten Autor*innen der Ukraine und ist Kolumnist internationaler Zeitungen. Rund zehn Jahre nach der Orangen Revolution demonstrieren die Menschen wochenlang. Im März 2014 annektiert Russland die Krim, der Krieg im Osten des Landes beginnt. – In seinem "Ukrainischen Tagebuch" beleuchtet Andrej Kurkow die wechselvolle Geschichte der Ukraine und porträtiert handelnde Personen, zentrale Schauplätze und Ereignisse. Vor allem aber ist es eine sehr persönliche Chronik: über ein Leben während der Revolution, ein Leben in Erwartung eines Krieges, der sehr nah erscheint, über den Wert eines gelebten Tages, einer jeden gelebten Stunde. Aus dem Russischen von Steffen Beilich
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Seitenzahl: 346
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Andrej Kurkow
Ukrainisches Tagebuch
Aufzeichnungen aus dem Herzen des Protests
Aus dem Russischen von Steffen Beilich
Wenn jemandem und seinem Land nichts Besonderes widerfährt, erscheint ihm das Leben endlos und beständig. Dieser Lebenszustand, in dem sich die Zeit nach Momenten des beruflichen Aufstiegs, dem Kauf eines neuen Hauses oder Autos, nach Familienfeiern, Hochzeiten und Scheidungen bemisst, bedeutet ja im Grunde gerade Stabilität. Jemandem, der an einem »Brennpunkt«, wenn auch nur in der Nähe eines aktiven Vulkans lebt, wird die Zeit niemals endlos erscheinen. Der Wert eines gelebten Tages, einer jeden gelebten Stunde ist hier unendlich viel größer als der Wert einer ganzen Woche im Zustand der Stabilität. Für jemanden, der neben einem Vulkan lebt, einem echten oder metaphorischen, ist ein Tag mit so vielen Ereignissen angefüllt, dass es gar nicht möglich ist, sie alle im Gedächtnis zu behalten. Diese Ereignisse finden gewiss irgendwann Eingang in die Geschichtsbücher, manchmal mit zwei, drei Zeilen, manchmal auch mit ein, zwei Seiten – doch was dann davon bleibt, sind allenfalls Daten und die Namen der handelnden Personen.
Ich verstehe inzwischen viel besser, warum ich in meiner Schulzeit nicht so gern Geschichtslehrbücher gelesen, sondern Tagebücher von Schriftstellern und Politikern bevorzugt habe, die im Zentrum historischer Ereignisse standen. Bis heute erinnere ich mich an das Tagebuch des großen russischen Dichters Alexander Blok aus den Jahren 1917 und 1918, ich erinnere mich auch gut an Franz Kafkas Tagebuch, und besonders ist mir die ungekürzte Fassung des Tagebuchs von Olexandr Dowschenko im Gedächtnis geblieben, dem großen ukrainischen Filmregisseur. Vor kurzem erst habe ich es wieder gelesen, und für alle Fälle preist er darin Stalin in regelmäßigen Abständen und für alle Fälle schimpft er auf Juden und Ukrainer, um sich, sollte er verhaftet werden und der KGB sein privates Tagebuch lesen, als Beleg für seine Loyalität gegenüber dem sowjetischen System darauf berufen zu können.
Ich schreibe seit über 30 Jahren Tagebücher. Mehrmals haben meine ukrainischen Verleger mich schon gebeten, zumindest Auszüge daraus zu veröffentlichen, doch damals konnte ich mich einfach nicht dazu aufraffen, aus meinen persönlichen Tagebüchern das auszuwählen, woran ich auch meine Leser teilhaben lassen würde.
Und nun bin ich, der ich nicht zum ersten Mal mitten in einem »historischen Tornado« stehe, erneut Zeuge dramatischer Ereignisse geworden, die im November 2013 in der Ukraine ihren Ausgang nahmen und bis heute andauern. Ich weiß nicht, wie das alles enden wird, ich weiß nicht, was mich und meine Familie in der nächsten Zukunft erwartet. Ich kann nur auf das Beste hoffen. Ich reise nicht aus. Verstecke mich nicht vor der Realität. Ich lebe jeden Tag darin. Wir alle – meine Frau Elizabeth, unsere Kinder Gabriela, Theo, Anton und ich – leben nach wie vor zu fünft in unserer Wohnung im Zentrum von Kiew, 500 Meter vom Majdan* entfernt, einer Wohnung in der dritten Etage, von deren Balkon aus wir den Rauch der brennenden Barrikaden sahen, die Explosionen der Granaten und die Schüsse hörten, einer Wohnung, die wir regelmäßig verließen, um zur Arbeit, zum Majdan oder anderswohin zu gehen. All diese Zeit ging das Leben weiter, blieb kein einziges Mal stehen. Und dieses Leben habe ich beinah täglich beschrieben, um nun zu versuchen, Ihnen ausführlich, im Detail, davon zu berichten. Ein Leben während der Revolution, ein Leben in Erwartung eines Krieges, der auch jetzt, da ich diese Zeilen schreibe, sehr nah erscheint, viel näher als selbst vor einer Woche noch.
Heute, kurz nach Mitternacht, gegen halb eins, stürzte ein Meteorit über Sewastopol* ab. Warum gerade Sewastopol? Wahrscheinlich reiner Zufall. Und dennoch: sich als Absturzort ausgerechnet die russischste aller ukrainischen Städte auszusuchen, in deren malerischen Buchten die russische Schwarzmeerflotte stationiert ist? Eigentlich hätte ich dem Meteoriten wohl keine Bedeutung beigemessen, wenn nicht just an diesem Tag Premierminister Mykola Asarow die Erklärung abgegeben hätte, man werde die Vorbereitungen zur Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der Europäischen Union aussetzen. In meiner Romantrilogie »Geografie eines einzelnen Schusses«* beschreibe ich eine geheime Fabrik zur Produktion künstlicher Meteoriten, irgendwo versteckt im Ural. Auf einem Testgelände gleich neben der Fabrik wird der Abschuss der Meteoriten erprobt. Und die sowjetische Militärführung träumt davon, die USA mit künstlichen Meteoriten zu bombardieren, die für echt gehalten werden sollen. Also dachte ich: Ob das nicht so ein künstlicher Meteorit gewesen sein könnte, mit dem Russland der »russischsten Stadt der Ukraine« zu verstehen geben wollte, dass die Verhandlungen zwischen Janukowytsch und Putin über ein Ende der ukrainischen Europaintegration (für Putin) erfolgreich abgeschlossen worden waren? Die Eurointegration fällt aus. Wir haben Russland jetzt wieder lieb. Europa ist offenbar schockiert. Ich bin es auch. Da musste Janukowytsch ein halbes Jahr lang immer wieder verkünden: »Wir gehen nach Europa«, da musste er die Parlamentsfraktion seiner Partei der Regionen in der Kiewer Parteizentrale zusammentrommeln, um von allen und jedem zu verlangen, in Reih und Glied, im Gleichschritt gemeinsam mit ihm den Weg nach Europa zu beschreiten, während er jenen, die sich ihm auf diesem Weg nicht anschlossen, nahelegte, Fraktion und Partei zu verlassen! Wo nur soll man die Partei der Regionen, die ihrem Präsidenten so hörig ist, jetzt »in Reih und Glied« hinschicken?
Die Reaktion der Bevölkerung auf Asarows Erklärung ließ nicht lange auf sich warten. Gegen Abend versammelten sich die ersten Menschen auf dem Unabhängigkeitsplatz, dem Majdan. Zur Hauptnachricht, die Vorbereitungen für die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens würden ausgesetzt, kam eine weitere hinzu. Das ukrainische Außenministerium teilte freudig mit, Ukrainer könnten nun wieder gefahrlos in ägyptische Urlaubsorte reisen. Mit anderen Worten: All jene, die ihr nach Europa wolltet, fliegt ruhig nach Ägypten, sollen euch doch die einheimischen islamischen oder sonstigen »Revolutionäre« dort umlegen – aus Versehen oder auch mit Absicht. Ekel kommt mich an. Ich muss nämlich just nach Vilnius fliegen, wo ich über die europäische Zukunft der Ukraine und ein Leben nach der Unterzeichnung des Abkommens sprechen soll.
Die Zeitregie ist übrigens ausgesprochen traditionell: Dass das Abkommen nicht unterzeichnet werden soll, verkündet Asarow, während Janukowytsch außer Landes ist. Janukowytsch hält sich derweil in Österreich auf und beruhigt gleich von dort aus die europäischen Gemüter, nach dem Motto: Wir werden das mit Europa schon noch unterschreiben, aber nicht jetzt. Und fügt gleich hinzu, dass er nicht vorhat, Tymoschenko* freizulassen. Wäre Janukowytsch ein dreiköpfiger Drache, wäre derzeit jeder Kopf allein unterwegs, müsste aber synchron mit den anderen Köpfen sprechen. Wenn nun allerdings einer seiner drei Köpfe in Moskau wäre, würde dieser »Moskauer« Kopf einen gänzlich anderen Text vorbringen und über Europa kein einziges Wort verlieren.
Ich wollte rausgehen, irgendwohin. Also begab ich mich, ohne das neue Kapitel meines »Litauischen Romans« beendet zu haben, ins Café Jaroslawna, nahm einen Kaffee und gab dann, rund fünf Minuten später, noch 50 Gramm Cognac – Marke Zakarpatskyj – dazu. Leichter wurde mir trotzdem nicht. Heute waren keine Bekannten da. Einige Gäste kamen mit düsteren Mienen herein, und ich gab mich dem Gedanken hin, auch sie wüssten nun, dass die Ukraine auf Europa nicht mehr zu hoffen braucht. Vielleicht waren es aber ganz andere, kleinere private Probleme, die ihnen Sorgen bereiteten?
Als ich wieder zu Hause bin, gehe ich auf facebook. Aufrufe, zum Majdan zu kommen, um die Unterzeichnung des Abkommens einzufordern, machen die Runde. Aufrufe, warme Sachen, Isomatten, Thermoskannen mit heißem Tee und Proviant für die Nacht mitzubringen. Ich habe einfach nicht die Kraft, loszugehen und dort zu stehen. Und kein Verlangen danach, keinerlei Verlangen. Im Fernsehen war zu allem Übel Putin zu sehen, mit munterem, breitem Grinsen, und der Nachrichtensprecher sagte in einem merkwürdigen Tonfall, Russland freue sich sehr, die Zusammenarbeit mit der Ukraine weiter auszubauen. Welche Zusammenarbeit? Drei Jahre Handelskriege, mal ein Exportverbot für Käse, mal für Fleisch und Wurst aus der Ukraine, dann wieder für ukrainisches Bier und so weiter und so fort bis hin zur gemeinsamen Produktion von Antonow-Flugzeugen, die immer noch nicht angelaufen ist!
Gegen Abend erinnerte ich mich, nun schon wehmütig, an den einzigen Anlass zu einem Lächeln, den der heutige Tag gebracht hat. Der Clown Mychajlo Dobkin, seines Zeichens Gouverneur des Gebiets Charkiw, ehemaliger Bürgermeister von Charkiw und davor Milizionär, hat ein Gedicht über einen anderen Clown, eine Clownin vielmehr, verfasst: Iryna Farion, die Durchgeknallteste in der nationalistischen Partei Swoboda. Vor kurzem stellte sich heraus, dass sie zu einem Zeitpunkt Mitglied der Kommunistischen Partei der Sowjetunion wurde, als alle anderen gerade die Partei verließen, Ende der achtziger Jahre. Später leugnete sie, jemals Mitglied der KPdSU gewesen zu sein, bis irgendwann ihre Akte aus den Archiven ausgegraben wurde, die beweist, dass sie nie aus der Partei ausgetreten ist. Petro Symonenko, der oberste Kommunist der Ukraine, teilte mit, Farion sei bis heute noch Mitglied der KP, beim nächsten Parteitag werde man sie auf jeden Fall ausschließen, weil sie 25 Jahre lang ihre Mitgliedsbeiträge nicht gezahlt habe!! Und nun also Dobkins Gedicht über Farion: »Vom Kommunismus zum Nazismus / ist für Irynka nur ein Schritt, nicht mehr. / Doch wenn man tiefer gräbt, dann sieht man:/ der Weg war schwer, sehr schwer. // Und selbst im finst’ren Mittelalter, / das sieht man dann auch schon / saß sie behaglich und gemütlich / an den Feuern der Inquisition.« Ja, wäre er lieber nur Dichter geworden! Dann hätte ich heute allerdings auch nichts zu lachen gehabt. Lyrik zeitgenössischer Dichter lese ich nämlich kaum.
Überhaupt ist die Welt an diesem Tag wahnsinnig geworden. In Altschewsk kam heute blaues Wasser aus den Hähnen, und in Georgien ist ein Schweizer Tourist auf einem Kamel eingereist, der sich schon seit 30 Jahren nicht von seinem Tier trennt. Er heißt Roland Verdon und bekam in Tiflis eine Urkunde für den »originellsten Reisenden« überreicht. Ob sein tüchtiges Kamel auch etwas bekommen hat? In Frankreich hat es unterdessen heftig geschneit, Teile des Landes sitzen im Dunkeln.
Bei uns ist alles viel simpler und trauriger. Wir haben wieder einmal keine Zukunft.
Vilnius. Hier ist es genauso unwinterlich warm wie in Kiew. Die Konferenz zur Ukraine und ihren Europaperspektiven wurde trotz der gestrigen Erklärung des ukrainischen Premierministers nicht abgesagt. Ihre Teilnahme abgesagt haben allerdings der polnische Präsident Komorowski, die litauische Präsidentin Grybauskaitė und einige andere hochrangige europäische Politiker.Am Abend gab es ein Galadinner im Hotel Kempinski, was an der gedrückten Stimmung der Teilnehmer aus der Ukraine aber nichts zu ändern vermochte. Am benachbarten runden Tisch saßen der litauische Präsident Vytautas Landsbergis, der ehemalige ukrainische Präsident Wiktor Juschtschenko*, dessen Bruder und der ehemalige Parlamentsabgeordnete Petr sowie zwei weitere Personen, die ich aber nicht kannte. Beide Präsidenten hielten eine Rede. Während Landsbergis über europäische Werte sprach, kritisierte Juschtschenko in seiner Ansprache wieder einmal Julija Tymoschenko. Anschließend schenkte er allen Tischnachbarn ein Glas Honig.
In Kiew kam es zur selben Zeit auf dem verregneten Unabhängigkeitsplatz spontan zu einer Kundgebung. Irgendwer hatte Wachstuchbahnen mitgebracht, als Regenschutz für die Protestierenden. Doch die Miliz war sofort zur Stelle und nahm den Demonstranten das Wachstuch ab. Ein Mann in Zivil tauchte auf und verlas einen Gerichtsbeschluss, der die Aufstellung von Zelten, Kiosken und sonstigen »kleinen Architekturformen« auf dem Majdan vom 22. November bis 7. Januar untersagt. Gleichzeitig erklärte ein Vertreter der städtischen Polizei, man werde die Protestkundgebung nicht auflösen. Wiktor Janukowytsch will immer noch hierher nach Vilnius zum EU-Gipfel kommen. Politiker aus Polen und Litauen, die zur Konferenz angereist sind, äußern die vorsichtige Vermutung, er werde das Assoziierungsabkommen vielleicht doch noch unterschreiben. Der Grund für die öffentliche Erklärung des ukrainischen Premiers, meinen sie, sei der übermäßige Druck der Europäischen Union in der Tymoschenko-Frage gewesen. Das sehe ich allerdings auch so. Für Janukowytsch ist Julija Tymoschenko der größte und gefährlichste Feind. Ließe man sie frei, stiegen ihre Beliebtheitswerte abermals steil an und sie würde erneut zur zentralen Führungsfigur der Opposition, während den »drei Recken« von heute – Oleh Tjahnybok, Witalij Klitschko und Arsenij Jazenjuk – nur zweitrangige Rollen übrigblieben. Jazenjuk musste seine eigene Partei, die Front Smin (»Front der Veränderungen«), praktisch erst auflösen, um Chef von Julija Tymoschenkos Partei Batkiwschtschyna (»Vaterland«) werden zu können. Offiziell schlossen sich die Mitglieder der Front Smin der Batkiwschtschyna an, tatsächlich waren viele Parteimitglieder jedoch nicht bereit, der Tymoschenko-Partei beizutreten. Wenn Julija Tymoschenko freikommt und ins politische Leben zurückkehrt, wird Arsenij Jazenjuk ihr Stellvertreter werden müssen. Genauer gesagt, einer ihrer Stellvertreter. Witalij Klitschko, der so viel Unterstützung, wie er bei den letzten Parlamentswahlen erhielt, selbst nicht erwartet hatte, wird ebenfalls »ein Stückchen rücken« müssen. Für seine Partei UDAR (»Ukrainische demokratische Allianz für Reformen«) stimmten ziemlich viele ehemalige Anhänger der Batkiwschtschyna, die sich, sollte Julija Tymoschenko auf die politische Bühne zurückkehren, erneut auf ihre Seite schlagen könnten. Die Wähler von Oleh Tjahnybok, die seine Swoboda, eine Partei von radikalen Nationalisten, unterstützen, hegen keinerlei Sympathien für Tymoschenko. Aber sie sind nicht allzu zahlreich, die Swoboda-Wähler, daher würde sich durch Tymoschenkos Rückkehr in die Politik für Oleh Tjahnybok und seine Partei ohnehin nichts ändern.
Premier Mykola Asarow hat sich heute erneut zu Wort gemeldet. Dieses Mal mit der »beruhigenden« Erklärung, dass die Weigerung, das Assoziierungsabkommen zu unterzeichnen, nicht etwa zu bedeuten habe, dass man stattdessen einen Vertrag mit Russland über den Beitritt zur Zollunion unterzeichnen werde. Die meisten Ukrainer wissen eigentlich nichts über diese beiden nicht unterzeichneten Verträge, meinen aber, das Assoziierungsabkommen mit der EU führe die Ukraine nach Europa, während der Vertrag über die Zollunion sie zurück in den wirtschaftlichen und politischen Schoß der Russischen Föderation holen würde.
Heute hat in Kiew der zweite Europacup im Messerkampf begonnen, an dem Mannschaften aus Russland, der Ukraine, Lettland und Italien teilnehmen. Ich wusste nicht einmal, dass es Messerkampf als Sportart überhaupt gibt!
Vilnius. 1.40 Uhr. Regen. Der Taxifahrer meinte, laut Wetterbericht müsste es gegen drei Uhr zu schneien anfangen. Die europäischen Diplomaten fragten nach Mitternacht: »Was sollen wir jetzt mit Ihrer Ukraine machen?« Ich darauf: »Mit meiner? Nehmt sie euch nur. Zusammen mit mir und den übrigen Einwohnern.« Die Ukraine hat schließlich nicht zum ersten Mal neue Herren. Hauptsache, die neuen Regeln sind nachvollziehbar und leicht einzuhalten. Das ist es, was alle wollen. Und dass diese Regeln, jede einzelne von ihnen, in jeweils eine Zeile, in einen einfachen Satz passen. Wie die biblischen Gebote: Du sollst nicht töten, du sollst nicht stehlen usw. Dann sind alle begeistert und sagen: »Wie einfach das ist! Wie einfach es ist, zivilisiert zu leben!« Und fragen für alle Fälle: »Aber wird sich auch der Milizionär in unserem Wohngebiet daran halten?«
Wenn alle die Regeln anerkennen, bleibt auch dem armen Milizionär nichts anderes übrig. Werden die Regeln nicht anerkannt, hat der Milizionär auch weiterhin das »Recht«, sich das Eis für seine Kinder kostenlos vom Kiosk des Kleinunternehmers zu holen. Und dann wachsen die Kinder des Kleinunternehmers heran mit dem Hass auf die Kinder des »kleinen« Milizionärs.
Na dann, gute Nacht allen Milizionären, Unternehmern oder einfach nur Lebensteilnehmern!
Gestern, am Sonntag, gab es die bislang größte Demonstration auf dem Majdan. Der Zug von Anhängern der Europaintegration begann zu Mittag beim Taras-Schewtschenko-Denkmal und endete auf dem Europaplatz. Die Miliz zählte zwanzigtausend Teilnehmer, in den russischen Nachrichtensendungen war von »einigen Tausend« die Rede, während die Opposition bekannt gab, dass sich über 100.000 Menschen auf dem Majdan versammelt hätten, um gegen die Regierung und den Präsidenten zu demonstrieren. Die Redner riefen zu einem Amtsenthebungsverfahren gegen den Präsidenten auf und forderten die Ablösung der Regierung. Nach zwei Stunden Ansprachen schlug ein Redner vor, den Worten nun Taten folgen zu lassen und vor das Ministerkabinett zu ziehen. Unterwegs teilten sich die Protestierenden in drei Gruppen. Die größte begab sich zum Gebäude des Ministerkabinetts, die anderen zogen zum Parlament und zur Präsidialverwaltung. Vor dem Ministerkabinett kam es sofort zu Zusammenstößen mit Tituschki*, die gemeinsam mit Berkut*-Einheiten einen Verteidigungsring um das Gebäude gebildet hatten. Mitglieder der Swoboda und radikal gesinnte Jugendliche, die, nachdem sie die Schranke vor dem Gebäude demontiert hatten, dazu übergingen, Lücken in die Verteidigungslinie zu reißen, bildeten die kämpfende Vorhut der Protestierenden. Gummiknüppel und Fahnenstangen kamen zum Einsatz. Die Berkut warf erste Lärmgranaten. Die Swoboda-Leute brüllten von Zeit zu Zeit ihre nationalistischen Parolen, die mit dem Hintergrund der Proteste nichts zu tun hatten. Jurij Luzenko, einstiger Innenminister in der Regierung von Wiktor Juschtschenko, versuchte, die Schlägerei zu stoppen, und rief dazu auf, zum Majdan zurückzukehren und erst am Tag darauf wieder vor das Ministerkabinett zu ziehen. Schließlich willigten die Swoboda-Leute ein, wieder auf den Europaplatz zu gehen, wo Mitglieder ihrer Partei begonnen hatten, Zelte für ein Protestcamp aufzustellen.
Die Partei der Regionen schläft indes nicht. In der Nacht von Samstag auf Sonntag haben ihre Anhänger auf dem Michaelsplatz eine Bühne für Kundgebungen und mehrere Komposttoiletten aufgestellt. Offenbar haben sie vor, den Michaelsplatz in ein Basislager für ihre Anhänger zu verwandeln.
In der Nacht zum Sonntag haben Studenten im Zentrum von Lwiw zehn Zelte aufgestellt und darüber die Fahne der Europäischen Union gehisst. In Tscherkassy verhinderte die Miliz, dass Zelte aufgeschlagen wurden. Auf vielen zentralen Plätzen ukrainischer Städte ist die Miliz in Bereitschaft. Einer der Oppositionspolitiker hat die Protestierenden aufgerufen, bis zum 29. November auszuharren – bis zum Ende des EU-Gipfels in Vilnius.
Wegen der Proteste ist der Gedenktag für die Opfer des Holodomor* unbemerkt verstrichen. Plötzlich aber erinnert sich sogar Andrij Schyschazkyj, Gouverneur des Gebiets Donezk, daran. In einer kurzen Ansprache räumt er ein, die Hungersnot sei künstlich von der Sowjetmacht herbeigeführt worden; in den Gebieten der Ukraine, die seinerzeit zu Rumänien und Polen gehörten, habe es schließlich keinen Hunger gegeben. Würde mich mal interessieren, ob die Partei der Regionen ihn jetzt abstraft. Schließlich leugnet sie, dass Stalin und die Kommunistische Partei eine Schuld an der Hungersnot tragen, die drei bis fünf Millionen Menschen in der Ukraine das Leben kostete.
Dienstag. Heute Nacht um zwei Uhr hat das Bezirksverwaltungsgericht Odessa entschieden, Kundgebungen und Demonstrationen in Odessa auf 25 Plätzen und Straßen und in »daran angrenzenden Gebieten« zu untersagen. Für die Protestler wurde Odessa damit komplett dichtgemacht! Und um fünf Uhr früh erschienen Gerichtsvollzieher mit diesem Beschluss beim Duc-de-Richelieu-Denkmal und fingen an, die Euromajdan-Zelte einzureißen und die Protestler vom Platz zu jagen. 24 Personen hatten sich in den Zelten aufgehalten. Drei davon, darunter der Leiter des Odessaer Euromajdan, Oleksij Tschornyj, wurden wegen »minderschweren Rowdytums« und »Widerstands gegen Mitarbeiter der Miliz« zu fünf Tagen Haft verurteilt. Journalisten waren zu dem Prozess, der Tschornyj seine fünf Tage einbrachte, nicht zugelassen, das Verfahren lief »unter Ausschluss der Öffentlichkeit«.
Ich gelange immer mehr zu der Überzeugung, dass das gesamte ukrainische Gerichtswesen zunehmend in einen Zustand der »Umnachtung« gerät. Immer mehr Gerichtsbeschlüsse werden über Nacht gefasst, wenn das Land eigentlich schlafen sollte. Wenn die Richter, die nachts arbeiten, dafür nun tagsüber schlafen, braucht man sich um ihre geistigen Fähigkeiten freilich keine Sorgen zu machen. Falls sie aber rund um die Uhr arbeiten müssen, werden sie sich kaum entsinnen können, was sie noch vor einer Stunde beschlossen haben. Im Übrigen wird den Richtern, wie Journalisten schon mehrfach bewiesen haben, oft ein vorab und ohne ihr Zutun gefälltes, bereits ausgedrucktes und unterschriebenes Urteil in die Hand gedrückt. Jedenfalls sehen so die Urteile aus, die gegen Vertreter der Opposition und gegen jene gesprochen werden, die schlichtweg mit den Machthabenden unzufrieden sind und daraus kein Hehl machen.
In Charkiw kamen heute rund zweihundert Leute auf den Majdan. Gestern waren sie mit Mullbinden vor dem Mund erschienen. Die kommunalen Behörden haben auch hier Kundgebungen und Massenveranstaltungen untersagt – unter Verweis auf eine mögliche Grippeepidemie oder andere ansteckende Masseninfektionen. Die Stadt ist ganz offenbar krank, schließlich waren die Charkiwer 2004, während der Orangen Revolution, viel aktiver. Putin gibt, wie es aussieht, im Stunden- bis Anderthalbstundentakt Erklärungen zur Ukraine ab. Zuletzt verkündete er, die Ukraine stünde bei Russland mit 30 Milliarden in der Kreide. Vor einer Woche war, glaube ich, noch von 18 Milliarden die Rede.
In Kiew riefen Studenten heute einen landesweiten Streik aus. Die Studenten der Kiewer Universität versammelten sich beim Schewtschenko-Denkmal und zogen von dort zum Majdan. Rund 2.000 weitere Studenten schlossen sich auf dem Majdan der Kundgebung an.
Gestern wurden, wie sich herausstellt, auf dem Europaplatz drei Abgeordnete der Opposition von Berkut-Leuten zusammengeschlagen und mit Tränengas besprüht, obwohl die Parlamentarier ihre Ausweise gezeigt hatten. Anscheinend hat die Miliz den Abgeordneten bereits ihre verfassungsmäßig garantierte Immunität entzogen. Zumindest den Abgeordneten der Opposition hilft ihre parlamentarische »Schutzschicht« nicht mehr! Aus Lwiw angereiste Teilnehmer der gestrigen Kundgebung auf dem Majdan haben sich im Internet beschwert, bei der Demo habe es zu wenig europäische Symbole und Fahnen gegeben. Auch ukrainische Fahnen waren nicht viele zu sehen. Dafür deutlich mehr Fahnen der Oppositionsparteien. Solange Journalisten und Schriftsteller auf der Tribüne sprachen, hörten die Menschen aufmerksam zu. Als dann aber die Oppositionspolitiker an der Reihe waren, die sich offensichtlich nicht auf ein gemeinsames Programm und eine gemeinsame Botschaft verständigt hatten, erinnerte die Kundgebung eher an einen Schönheitswettbewerb für die nächsten Präsidentschaftswahlen. Den Worten von Jurij Luzenko freilich, dem ehemaligen Innenminister, der auf Geheiß von Janukowytsch über ein Jahr im Gefängnis gesessen hatte, lauschten die Menschen mit Neugier und Interesse. Er sprach allerdings in seinem eigenen Namen, nicht im Namen einer Partei. Irgendwann rief Julija Tymoschenkos Stellvertreter Turtschynow die Demonstranten auf, im Marschschritt vor das Ministerkabinett zu ziehen. Was dazu führte, dass jene, die seinem radikalen Aufruf folgten, mit der Miliz, die das Gebäude des Ministerkabinetts umstellt hatte, zusammenstießen und deren Gummiknüppel an sich erproben lassen durften. Falls es bei dem Marsch auf das Ministerkabinett eben darum gegangen ist, weiß ich allerdings nicht, wozu man dann noch dorthin hätte gehen sollen!
In Dnipropetrowsk haben die Tituschki vergangene Nacht die Zelte der Protestierenden verwüstet, die dort auf dem Europaplatz standen. Wer sich gerade in einem der Zelte befand, wurde zusammengeschlagen. Der Leiter des Dnipropetrowsker Euromajdan wurde mit einer Gehirnerschütterung und vielfachen Prellungen vom Notarztwagen abgeholt. In Donezk und Luhansk passiert anscheinend gar nichts. Auf der Krim ist ebenfalls alles still, es herrscht Friedhofsruhe. In Dnipropetrowsk hat die Leitung des Euromajdan übrigens verboten, Parteifahnen zu den Kundgebungen mitzubringen, nur Europafahnen sind erlaubt.
Im Internet werden jetzt »Sets für Kundgebungsteilnehmer« verkauft. Eine der Annoncen lautet: »Verkaufe fertiges Set für Kundgebungsteilnehmer. Das Set enthält alles, was jemand benötigt, der vorhat, in der kalten Jahreszeit über einen längeren Zeitraum seine Interessen und Ansichten zu behaupten.« Zum Set gehören eine Thermosflasche (1,5 Liter), eine Kühltasche, ein Regenschirm, eine Isomatte, ein Regenmantel, ein Schlafsack, ein mobiles Handyladegerät, eine Feldflasche, ein Gaskocher, verschiedene Lebensmittel für drei Tage, thermochemische Heizpackungen (vier Stück) sowie ein Merkblatt für Kundgebungsteilnehmer mit Hinweisen zu Gesetzen und Paragraphen für den Fall eines Konflikts mit der Miliz. Preis: etwa 1.000 Hrywnja. Ich glaube, die Merkblätter für den Konfliktfall kann man sich auch im Internet herunterladen, sogar kostenlos. Vor einiger Zeit waren Anweisungen für Autofahrer sehr populär: Wie man sich richtig gegenüber der Verkehrspolizei verhält. Dort gab es ebenfalls Hinweise auf viele Gesetze und Paragraphen, gegen die Verkehrspolizisten oft verstoßen, wenn sie Autofahrer unterwegs anhalten.
Das Wetter weht heute den ganzen Tag über Traurigkeit heran. Kein einziger Sonnenstrahl. Mal Regen, mal feuchter Schnee. Die größte Freude in dieser Jahreszeit ist die Sauna. In deren Genuss ich vielleicht morgen schon wieder komme, wenn alles nach Plan läuft.
Es ist eiskalt. Gestern habe ich endlich Winterreifen aufgezogen. Ich fuhr zu meiner Mutter ins Krankenhaus, bei den Usbeken in der Bäckerei nebenan kaufte ich ein Stück Fleischkuchen. Eine halbe Stunde saß ich bei Mutter im Zimmer. Sie zeigte mir Fotos von Katze Murka, die zu Hause bei Vater geblieben ist. Mutter hat vergessen, dass ich es war, der extra zu ihnen kam, um Murka zu fotografieren, die sie jetzt so vermisst. Als ich wieder daheim war, bereitete ich das Abendessen zu: Kürbissuppe mit Fleisch. Putin wartet auf den Zusammenbruch der Ukraine. Janukowytsch redet davon, er werde das Land nicht von seinem Weg zum europäischen Traum abbringen, gleichzeitig verspricht er, sich um die defekten Straßen in den Gemeinden zu kümmern. Plötzlich erklärt er, die Straßen in den Ortschaften seien den Ukrainern wichtiger als die Schnellstraßen außerhalb. Er meint wohl, die Reparatur der Straßen in den Gemeinden sei wichtiger als die Annäherung an Europa. Im Prinzip auch logisch: Auf schlechten Straßen kommt man nicht nach Europa. Das Auto ginge einfach kaputt.
Julija Tymoschenko hat von ihrem Gefängniskrankenhaus aus alle Parteien dazu aufgerufen, sich im Kampf gegen Janukowytsch zu verbünden. Unterdessen werden all jene Politiker von den Plätzen vertrieben, die dort mit Fahnen von Parteien auftauchen. In Lwiw haben protestierende Studenten Jurij Mychaltschyschyn, einen Swoboda-Abgeordneten, von der Bühne gejagt. Dieser hatte dazu aufgerufen, sich der Schlacht von Kruty während des Bürgerkriegs zu entsinnen und für die »ukrainischen Ideale« mutig in den Tod zu ziehen. Als ihm klar wurde, dass die Studenten ihn gar nicht hören wollen, verkündete er, die Proteste seien von Janukowytschs Präsidialadministration organisiert. Wieso können sich Politiker nur so schwer vorstellen, dass es Menschen gibt, die freiwillig protestieren gehen, wenn ihnen etwas im Staat grundlegend missfällt? Dabei sehen doch alle, dass sich diese »Majdane« spontan gebildet haben und von keiner der politischen Parteien organisiert wurden. Und nun versucht mal die eine, mal die andere Partei, sich an die Spitze der Majdan-Bewegung zu setzen. Parteilose Euromajdane sind allerdings tatsächlich etwas Neues.
Das Bezirksverwaltungsgericht Kiew hat völlig unerwartet entschieden, dass die Aussetzung der Europaintegration unwirksam ist. Wahrscheinlich fand dieser Prozess tagsüber statt und nicht in der Nacht. Allerdings steht in dem Gerichtsbeschluss auch, dass »nur der Präsident oder derjenige, der vom Präsidenten damit beauftragt wurde, internationale Verhandlungen absagen oder aufnehmen kann«. Wenn also Janukowytsch Asarow offiziell beauftragt hat, die Vorbereitungen auf die Unterzeichnung einzustellen, kann man da wohl nichts machen. Falls aber Asarow formal unabhängig von Janukowytsch vorgegangen ist, und genau das, scheint mir, will Janukowytsch allen weismachen, dann gibt es auch nichts, was Janukowytsch daran hindert, Asarow zum Teufel zu schicken und morgen in Vilnius das Assoziierungsabkommen zu unterzeichnen. Zumal die Präsidialadministration bestätigt hat, dass Janukowytsch doch zum Gipfel reisen wird. Und warum sollte er fahren, wenn er gar nicht vorhat, das Abkommen zu unterschreiben? Nur, um sich zum Gespött der Leute zu machen?
In Charkiw fand heute eine besondere Festivität statt: Julija Tymoschenkos Geburtstag. Sie ist, wie sich herausstellt, schon 53. Das Tor zu dem Krankenhaus, in dem sie behandelt wird und gleichzeitig ihre Strafe verbüßt, ist mit Blumen, Losungen, Ukraine- und Europafahnen geschmückt. Tymoschenkos Anhänger hatten direkt neben dem Tor eine Tribüne aufgestellt und gratulierten per Lautsprecher. Rund 500 Leute hatten sich versammelt, und ein riesiges Herz aus roten Rosen, aufgebaut auf einer mit europäischen Symbolen geschmückten Holzplattform, wurde ans Tor getragen. Statt der sonst üblichen Aufschrift »Freiheit für Julija!« stand diesmal auf den meisten Plakaten: »Freiheit für die Ukraine!« Die Miliz hat den Eingang zum Krankenhaus blockiert, und die Zufahrten zum Krankenhaustor werden von der Verkehrspolizei kontrolliert.
Eine Kolonne Studenten der Nationalen Technischen Universität zog heute über den Prospekt des Sieges zum Majdan. Gefolgt von einem Bus mit Berkut-Einheiten. Die Studenten verlangten, zur Teilnahme an Kundgebungen von ihren Seminaren und Vorlesungen freigestellt zu werden. In der Westukraine* haben in vielen Hochschulen bereits »politische Ferien« begonnen. In Kiew dürfen bislang aber nur die Studenten der Nationalen Universität und der Kiew-Mohyla-Akademie Demos statt Lehrveranstaltungen besuchen. Hinzu kommt, dass Bildungsminister Dmytro Tabatschnyk heute damit gedroht hat, Studenten, die zu Kundgebungen gehen, ihr Stipendium zu entziehen.
Die Studenten organisieren derweil das kulturelle Leben auf dem Kiewer Majdan. Es wurden Kinoabende und Konzerte mit jungen Musikern vereinbart, gleichzeitig wurde ein Bookcrossing-Kasten aufgestellt – für den Tausch von Büchern und Zeitschriften. Es sollen vor allem Bücher ukrainischer Schriftsteller mitgebracht und jedes Buch mit dem Schriftzug »Zur Erinnerung an den Euromajdan« versehen werden. Die Regel ist einfach: Wer sich ein Buch zum Lesen nimmt, legt ein eigenes in den Kasten.
Putin hat endlich erklärt, womit er Janukowytsch »gekauft« hat. Offenbar mit dem neuerlichen Versprechen, den Gaspreis auf 270 Dollar pro 1.000 Kubikmeter senken zu wollen, mit der Zusage für einen 15-Milliarden(-Dollar)-Kredit zu Vorzugskonditionen, irgendwelchen wirtschaftlichen Begünstigungen und – mit der gemeinsamen Produktion von Antonow-Flugzeugen. Irgendwo habe ich das doch schon mal gehört!
Donnerstagabend. Präsident Janukowytsch ist nach Vilnius geflogen; weshalb er überhaupt zum EU-Gipfel reist, bleibt vorerst unklar. Zumal seine Anhänger schon einen in die Fahne der Schwulen- und Lesbenbewegung gehüllten Sarg der Eurointegration durch Kiew getragen haben. Die Anti-Europa-Kampagne, organisiert von der fiktiven, oder eher virtuellen gesellschaftlichen Bewegung Ukrainische Wahl, habe ich gründlich satt. Im ganzen Land hängen Plakate und Werbetafeln mit Bildern, die vermitteln, dass nach der Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU alle Ukrainer schwul oder lesbisch werden müssen. Selbst in der Metro muss man jedes Mal auf der Rolltreppe an Dutzenden solcher Plakate vorbei. In Kiew lacht man über die Kampagne, aber ich fürchte, im Osten und in der Provinz könnten die Menschen in ihrer Treuherzigkeit glauben, es sei eine der Forderungen Europas an die Ukraine und Voraussetzung für die Unterzeichnung des Abkommens, dass alle schwul oder lesbisch werden. Putin hat heute daran erinnert, dass ukrainische Firmen und Banken russischen Banken über 30 Milliarden Dollar schulden. Darin sind die Staatsschulden noch nicht einmal eingerechnet. Russland setzt seinen Handelskrieg mit der Ukraine fort. Heute wurde der Import ukrainischen Porzellans verboten.
Am Tag schneite es nasse Flocken. Der Schnee fiel und schmolz fast gleich darauf. Eine Kolonne von 25.000 Studenten zog auf den Majdan. Gegen Abend kam der beliebte Rocksänger und Aktivist Slawa Wakartschuk auf die Bühne und bat die Menschen, nicht den Mut zu verlieren, nicht enttäuscht zu sein, auch wenn Janukowytsch das Assoziierungsabkommen in Vilnius morgen nicht unterzeichnen sollte. Nach seinem kurzen Auftritt wollte er die Bühne schon wieder verlassen, aber die Leute riefen »Singen! Singen!« Und er sang, ohne Begleitung, gemeinsam mit Tausenden von Menschen, die hier zur Kundgebung gekommen waren: »Steh auf, meine Liebe, steh auf!«
Vor dem Schlafengehen hätte ich gern einen Gin Tonic getrunken. Gin habe ich im Haus, Tonic nicht. »Aufstehen« wie damals gegen die Fälschungen der Wahlergebnisse bei den Präsidentschaftswahlen von 2004 wird das Land wohl kaum. Eine Wiederholung der Orangen Revolution ist das jedenfalls nicht. Es geht schlichtweg darum, dass der »europäische Traum« nicht begraben werden soll. Ein Traum, den es im Süden und Osten überhaupt nicht gibt. Für Donezk und Sewastopol ist Europa zu weit weg. Von Lwiw und Tscherniwzi aus gesehen ist Europa viel näher dran. Deshalb ist die Gesellschaft dort aufgewühlt, im Osten aber herrscht Stille.
Freitag. Die Ukraine hat verloren! Der Gipfel ging gut für Moldawien aus – und schlecht für uns. Janukowytsch hat doch nicht unterschrieben. Wozu ist er dann überhaupt nach Vilnius geflogen? Um sich mit Angela Merkel fotografieren zu lassen?! Die Westukraine und Kiew werden nun in eine Depression verfallen.
Und in Kiew findet wieder eine Kundgebung statt, oder vielmehr eine Anti-Kundgebung der Partei der Regionen. Dutzende Busse parken am Platz des Ruhmes und anderswo. Die Leute, die aus der Ostukraine, aber nicht nur von dort, hierhergebracht wurden, hauptsächlich Staatsbedienstete, ziehen mit ihren ukrainischen Fahnen bergab zum Europaplatz, wo schon eine Bühne steht, in den Lieblingsfarben der Partei der Macht geschmückt – Weiß und Blau. Die Kundgebung läuft unter dem Motto »Für ein Europa in der Ukraine«. Also die zwei wichtigsten Wörter des Tages in einem Satz. Während der Majdan für eine Ukraine in Europa steht, ist es hier genau umgekehrt. Die Redner sagen, für die Ukraine sei es noch zu früh, um nach Europa zu gehen, sie sei noch zu klein, zu schwach und zu arm. Wenn sie irgendwann größer und reicher wird, um mit Russland und Europa auf Augenhöhe zu verhandeln, ja, dann würde sie auch nach Europa gehen. Der Chef der parlamentarischen Fraktion der Partei der Regionen, Olexandr Jefremow, erklärt, dass alles noch möglich sei, dass die Ukraine den Vertrag mit Europa noch unterschreiben könne, sogar noch nächstes Jahr, sogar noch im Mai … Die Redner berichten, sie hätten in Luhansk, Donezk, Charkiw und Saporischschja enormen Druck aus Russland zu spüren bekommen, deshalb müsse man schleunigst innehalten, nachdenken und eine Auszeit bei der Europaintegration verkünden.
Die Kundgebung ging fließend in ein Konzert über, während Tee in Plastikbechern ausgeschenkt wurde.
Unterdessen nahmen weiter oben, beim Marienpalast, Tituschki Aufstellung: einige Tausend Leute in Trainingsanzügen. Zwei Journalisten des »Öffentlichen Fernsehens« machten sich mit ihrer Kamera auf den Weg, um zu sehen, was dort vor sich ging. Rund zwanzig Leute fielen über sie her, verprügelten sie, warfen sie zu Boden, zertrümmerten ihre Kamera, durchsuchten ihre Taschen und nahmen ihnen den Memorystick ab. Die Journalisten wollten die Miliz zu Hilfe holen. Aber die Milizionäre rieten ihnen, lieber »einen großen Bogen um die Tituschki zu machen«, einmischen wollten sie sich nicht. Wenig später, gegen halb sieben, griff eine Gruppe Tituschki die Kundgebungsteilnehmer auf dem Euromajdan an. Eine Schlägerei entbrannte. Irgendwer warf den Leuten Nebelpatronen vor die Füße. Die Miliz tauchte plötzlich auf und die Tituschki verschwanden. Milizionäre in Gasmasken stellten sich in einer Reihe auf und begannen, die Protestierenden zum Unabhängigkeitsdenkmal zu drängen. Eine zweite, fest geschlossene Front von Milizionären brachte sich auf der anderen Seite des Chreschtschatyk* in Stellung und teilte damit die Kundgebung in zwei Teile.
Am Abend zappte ich am Fernseher von einem Kanal zum anderen, ich wollte Nachrichten sehen. Es gab fast nichts über den Majdan. Dafür wurde über einen neuerlichen Mord an Inkassobeamten in Charkiw berichtet. Zum sechsten Mal innerhalb der letzten Jahre war ein gepanzerter Geldtransporter überfallen worden. Es gibt Tote, der Mörder wird gesucht, dürfte aber wohl, wie üblich, nicht gefunden werden. Immer öfter hört man, die Kriminellen, die die Geldtransporter in Charkiw überfallen haben, kämen aus Russland »zur Arbeit«, von Charkiw aus nicht einmal 40 Kilometer entfernt.
Im Geschichtsunterricht sowjetischer Schulen wurde früher der Blutsonntag* behandelt. Nun haben wir in der jüngsten Geschichte der Ukraine auch einen »Blutsamstag« dazubekommen. Am frühen Morgen, gegen vier, veranstalteten Sondereinheiten der Miliz eine Hetzjagd gegen den Euromajdan. Die Mobilfunkverbindungen wurden abgeschaltet. Auf dem Majdan waren mehrere Hundert Demonstranten versammelt. Übernächtigt, wie sie waren, begriffen sie nicht gleich, was da vor sich ging. Es wurde wahllos auf jeden eingeschlagen: auf Studenten ebenso wie auf ältere Menschen. Wer zu fliehen versuchte, wurde eingeholt, auf den Asphalt geworfen und weiter mit Knüppeln traktiert. Eine Gruppe von Studentinnen und Studenten wurde in eine Sackgasse getrieben und umzingelt. Da fingen sie an, die ukrainische Hymne zu singen. Sie sangen, während man auf sie einprügelte, danach wurden sie in die Gefangenenwagen gezerrt und auf die Polizeireviere gebracht. Ein Teil der Protestierenden flüchtete hoch zum Sophienplatz und zum Michaelsplatz und war schneller als die Berkut in ihren schweren »Ritterrüstungen«. Die Berkut-Leute setzten die Verfolgung trotzdem fort. Als die Protestierenden auf dem Michaelsplatz hielten, kam ein kleingewachsener Mönch auf sie zu und bat sie zu sich ins Kloster herein. Er sagte, das Tor stehe offen, der Klostervorsteher habe es erlaubt. Dort, im Michaelskloster, fanden dann über 100 Protestteilnehmer Zuflucht, hauptsächlich junge Leute. Sie verbarrikadierten das Tor. Am nächsten Morgen brachten ihnen die Kiewer warme Kleidung, Tee und Essen. Miliz-Offiziere tauchten auf und versuchten, auf das Klostergelände zu gelangen, wurden aber nicht eingelassen. Der Chef der Kiewer Polizei erklärte, der Befehl zum Sturm auf den Majdan sei deshalb gegeben worden, weil die Neujahrstanne wegen der Protestierenden nicht aufgestellt werden konnte. Das Ergebnis des »Blutsamstags«: 37 Verhaftete und 35 Verletzte in verschiedenen Krankenhäusern. Das ist aber wahrscheinlich noch nicht das gesamte »Ergebnis«. Jetzt werden Listen von Vermissten erstellt. Es gibt Gerüchte, dass es auf dem Majdan auch Tote gegeben habe, die von der Miliz mit unbekanntem Ziel von dort weggeschafft worden waren. Die Stimmung in der Stadt ist gedrückt. Auf den Straßen überall düstere Mienen. Im Fernsehen wird verkündet, die Proteste seien am neunten Tag von der Miliz aufgelöst worden. Die Leute im Michaelskloster erklären, sie hätten nicht die Absicht, einfach nach Hause zu gehen, nach diesem Samstag hätten sie jede Angst verloren.
Tagsüber vermeldete Ihor Myroschnytschenko, Parlamentsabgeordneter der Partei Swoboda, die Miliz habe den Majdan nur auflösen können, weil dort keine Politiker gewesen seien. Weil die Demonstranten erklärt hätten, ihre Proteste seien nicht politisch. Ja, neun Tage Proteste der Zivilgesellschaft ohne Beteiligung zumindest der Opposition – das ist wahrlich rekordverdächtig. Was tatsächlich vorgefallen ist, zeigt unter den großen, landesweiten Fernsehsendern nur »1+1« – dort war eine kurze Einblendung zu sehen, wie die protestierenden Studenten, die im Michaelskloster Zuflucht gefunden hatten, von Oppositionspolitikern Besuch bekamen. Die Studenten waren über das Treffen mit den Politikern nicht gerade höchst erfreut. Ein Student fragte die Politiker: »Und warum wart ihr letzte Nacht nicht auf dem Majdan?«
Europa und die USA haben das brutale Vorgehen der Miliz gegen die Demonstranten verurteilt. Es herrscht Gewitterstimmung. Viele sagen, sie seien gestern in der Ukraine eingeschlafen und heute früh in Belarus aufgewacht. Ein »Belarus« hat hier aber keine Chance! Die Ukraine ist einfach zu vielfältig und zu groß, um das Land in eine Diktatur zu verwandeln.
Abends. Es war noch nicht spät, als ich vom Majdan zurückkehrte, so gegen 23 Uhr. Heute Nacht wird er wohl geräumt. Zum Abend hin erstürmten die Majdaner die Bankowa-Straße. Man hatte einen Bulldozer in die Straße gebracht, voll besetzt mit Aktivisten, die ukrainische Fahnen schwenkten. Mit dem Bulldozer versuchten sie, die Busse der Miliz beiseite zu schieben, welche die Zufahrt zur Präsidialadministration versperrten. Die Berkut ging zum Gegenangriff über. Dann erschien Klitschko und forderte alle auf, zum Majdan zu gehen. Schreiend verkündete er, das sei eine Provokation, die es Janukowytsch erlauben würde, den Ausnahmezustand im Land zu verhängen. Niemand hörte auf ihn. Poroschenko, der ebenfalls versuchte, den Angriff auf die Präsidialadministration zu stoppen, wurde einfach weggeschubst. Schließlich fielen die Berkut-Leute über die Majdaner her und zertrümmerten das Haus des Schriftstellerverbandes, wohin sich einige Journalisten und Journalistinnen geflüchtet hatten. Sie zerschlugen Türen und Fenster im Erdgeschoss und schleppten die Journalisten auf die Straße hinaus, wo sie weiter auf sie eindroschen. Ukrainische, polnische, georgische Journalisten wurden dort von der Berkut verprügelt. Sie hielten ihnen ihre Presseausweise entgegen, in dem Glauben, das würde ihnen helfen. Doch die Berkut-Leute nahmen ihnen die Ausweise kurzerhand ab, fluchten laut und schlugen danach noch härter zu.
Auf der Instytutska-Straße laufen Dutzende blutüberströmte Aktivisten herum. Einige werden bergab zum Majdan geführt. Auf dem Majdan werden große Hauszelte aufgestellt. Aktivisten von Swoboda und Batkiwschtschyna, die die Bankowa herunter zum Platz gekommen sind, haben das Haus der Gewerkschaften eingenommen, die Türen dort herausgerissen und dazu aufgerufen, das Hauptquartier des Majdan in dem Gebäude einzurichten. Der Chef der Kiewer Polizei ist zurückgetreten. Armeegeneräle haben die Gewaltanwendung durch die Berkut verurteilt, Janukowytschs Pressedienst ist ebenfalls zurückgetreten. Es scheint, dass die Macht »zerbröselt«, und die Verhängung des Ausnahmezustands ist damit durchaus in greifbare Nähe gerückt.
Eine Kolonne, 70 Fahrzeuge mit Euromajdan-Aktivisten, hat sich auf den Weg zu Janukowytschs Residenz Meschyhirja gemacht, um das Anwesen zu blockieren, aber kurz davor hatte die Miliz den Weg abgeriegelt – mit der schon traditionellen »Busbarrikade«.
Gerade kam die Meldung, dass 40 Busse mit Offiziersschülern der Inneren Truppen* auf dem Weg von Charkiw nach Kiew seien, auch irgendwelche Technik dabei, einschließlich Wasserwerfern.
In den letzten Nachrichten berichtete das »Erste Nationale Fernsehen«, auf der Bankowa-Straße seien 100 Milizionäre verletzt worden. Merkwürdig, dass der von den Revolutionären erbeutete Bulldozer überhaupt bis zur Bankowa vordringen konnte. Journalisten, die vor Ort waren, sagen, die am Angriff auf die Präsidialadministration beteiligten Aktivisten hätten Losungen auf Ukrainisch gebrüllt, während sie sich untereinander auf Russisch verständigt hätten. Poroschenko hat ebenfalls erklärt, das sei eine Provokation. Luzenko verkündete den Ausbruch der Revolution. Eine Revolution während des Ausnahmezustands? Wohl kaum. Eher schon ein Partisanenkrieg gegen die Staatsmacht. Vom Partisanenkrieg ist immer öfter auch bei jenen die Rede, die nicht daran glauben, dass der Majdan den Machthabern irgendwelche Zugeständnisse abtrotzen kann.
Montag. Der Majdan steht noch. Die Räumung ist ausgeblieben. Um 14.30 Uhr traf ich mich mit Gabis Klassenlehrerin Halyna Petrowna. Wir tranken Tee in der Französischen Boulangerie in der Jaroslawiw-Wal-Straße. Seltsam, dass sie Gabriela in Schutz nimmt, die doch offensichtlich nicht lernen will und nach Gelegenheiten sucht, die Schule zu schwänzen. Halyna Petrowna bat mich, einen Blick auf den Ablaufplan für den Schulabend zum 200. Jubiläum von Taras Schewtschenko zu werfen. Sie bat mich auch, Gabi zu überreden, ebenfalls an dem Abend mitzuwirken und eine Heldin aus dem Privatleben des Dichters zu spielen.
Die Gerüchte über Massenaustritte von Abgeordneten aus der »Partei der Macht« haben sich nicht bewahrheitet. Inna Bohoslowska schreckt alle mit der These auf, Putin sei auf Krieg aus. Nach ihren skandalträchtigen Auftritten in politischen Talkshows fällt es schon sehr schwer, sie ernst zu nehmen. Es sieht so aus, als sei sie die Einzige, die jetzt aus der Partei der Regionen ausgetreten ist. Während ihr Mann in der Partei bleibt.
Für morgen hat das Parlament in Aussicht gestellt, einen möglichen Rücktritt des Ministerkabinetts zu debattieren; die Miliz hat indes die gestrige Erklärung von Premierminister Asarow, der Chef der Kiewer Polizei sei zurückgetreten, nicht bestätigt.
In Lwiw wurde Lessja Gongadse* zu Grabe getragen, die es nun doch nicht mehr erlebt hat, den im Jahr 2000 enthaupteten Leib ihres Sohnes beerdigen zu können. Und in Charkiw wurden die von Gangstern erschossenen Inkassobeamten beigesetzt. Janukowytsch hat zugegeben, die Berkut habe beim Verprügeln der Protestteilnehmer und Journalisten vor der Präsidialadministration »zu viel des Guten getan«. Das Bürgermeisteramt ließ erklären, man habe die Miliz nicht darum gebeten, beim Aufstellen der Neujahrstanne auf dem Unabhängigkeitsplatz zu helfen. In Donezk sollte heute eine Kundgebung zur Unterstützung von Janukowytsch stattfinden, die später jedoch abgesagt wurde. Entweder hat man nicht genug Staatsbedienstete zusammenbekommen, oder der wahre Herr des Donezbeckens, der Oligarch Rinat Achmetow, hat sich dazwischengeschaltet.
In Charkiw und Dnipropetrowsk haben Tituschki Euromajdan-Teilnehmer zusammengeschlagen. Und das Parlament der Krim hat sich an Janukowytsch gewandt und gefordert, den Ausnahmezustand zu verhängen.
Die Majdan-Aktivisten haben die im Zentrum wohnenden Kiewer gebeten, den Passwortschutz ihrer WLAN-Zugänge aufzuheben, damit auch zugereiste Aktivisten draußen das Internet nutzen können. Und tatsächlich zeigte mir der Computer in meiner Arbeitswohnung in der Wolodymyrska an, dass einige meiner Nachbarn den Zugang zu ihrem Internet öffentlich gemacht haben.
Gegen Abend versammelten sich rund 20.000 Menschen in Kiew auf dem Majdan. Und ich fahre mit dem Zug nach Kamjanez-Podilskyj. Begegnungen mit Studenten und Lesern in Kamjanez, Uschhorod und Lwiw stehen bevor.