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Andrej Kurkow findet Worte in einer Zeit, die uns sprachlos werden lässt: Aufzeichnungen aus der Ukraine im Krieg. Ein Land im Kampf um seine Freiheit Seit 2014 herrscht Krieg in der Ostukraine. Die Menschen dort taumelten Jahre zwischen Angst und Hoffnung, zwischen Trauer und Glaube an eine Zukunft in Freiheit. Mit dem Beginn des Angriffskrieges der Russländischen Truppen im Februar 2022 verwandelten sich die schlimmsten Befürchtungen in Realität: Das Land, und damit seine Bewohner*innen und seine Unabhängigkeit stehen unter Beschuss. – Was macht der Krieg mit den Menschen, über die er kommt? Wie verabschieden sie sich von Familie und Nachbar*innen, von Freund*innen und Geliebten, wenn es vielleicht für immer ist? Welches Vokabular eignen sie sich in Zeiten des Krieges an? Wie geht es Menschen, die Nächte in U-Bahn-Stationen verbringen, weil sie in ihren eigenen Wohnungen und Häusern nicht mehr sicher sind? Die Anatomie des Krieges: Andrej Kurkow berichtet aus der Ukraine Andrej Kurkow lebte bis vor dem Angriffskrieg auf die Ukraine in Kyjiw. Er gehört zu den im deutschsprachigen Raum beliebtesten Schriftsteller*innen aus der Ukraine und ist ein begnadeter Erzähler dessen, was uns und die Zeiten verbindet. In Tagen, an denen vielen von uns die Worte fehlen, bringt er zu Papier, was ein Krieg anrichtet: was er verändert und umdeutet. Mit welchem Blick er uns neu auf die Dinge schauen lässt. Auf alles, was nicht mehr so sein kann, nie mehr so schmecken wird, sich nie mehr so anfühlen wird wie davor. Schreiben gegen die Zerstörung Andrej Kurkow zeigt historische Kontinuitäten auf und macht den Kampf der Ukrainer*innen um Selbstbestimmung begreifbar. Er schreibt die Geschichten nieder, die keinen Platz in den Kurzmeldungen finden: Er erzählt von Brennpunkten und Schicksalen. Er erzählt von den Menschen. Andrej Kurkows "Tagebuch einer Invasion" enthält Aufzeichnungen aus dem Krieg, die sehr persönlich und dennoch an jemand anderen gerichtet sind: an die Welt, an uns alle. Um zu bezeugen, was war, was ist, wie es vielleicht sein wird – danach. Aus dem Englischen von Rebecca DeWald
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Seitenzahl: 410
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Andrej Kurkow
Tagebuch einer Invasion
Aus dem Englischen von Rebecca DeWald
Für die Soldatinnen und Soldaten der ukrainischen Armee
Am 24. Februar 2022 schrieb ich kaum etwas auf. Vom Geräusch russischer Raketenexplosionen aufgeweckt, stand ich etwa eine Stunde lang am Fenster meiner Wohnung in Kyjiw und schaute auf die leere Straße hinunter, in dem Bewusstsein, dass der Krieg ausgebrochen war, jedoch noch unfähig, diese neue Realität zu akzeptieren. Auch in den darauffolgenden Tagen schrieb ich nichts nieder. Endlose Staus machten die Autofahrt, zuerst nach Lwiw und dann weiter in die Karpaten, unvorstellbar lang. Eine Woge an Autos aus sämtlichen Regionen des Landes floss in den wenigen Straßen, die nach Westen führten, zu einem Strom zusammen. Alle versuchten zu entkommen, um ihre Familien vor diesem schändlichen Krieg in Sicherheit zu bringen.
Erst als wir Uschhorod erreicht hatten und im Haus unserer Freunde willkommen geheißen wurden, setzte ich mich an den Schreibtisch, der mir nicht gehörte, und klappte meinen Laptop auf – nicht um zu schreiben, sondern um mir die Notizen und Texte durchzulesen, die ich in den letzten zwei Monaten verfasst hatte. Ich versuchte, in ihnen die Vorahnung eines nahenden Krieges auszumachen. Stattdessen fand ich in meinen Aufzeichnungen viel mehr, als ich erwartet hatte.
Die Ukraine hat der Welt viele erstklassige Schachspieler geschenkt. Gute Spieler sehen mehrere Schachzüge voraus. Wegen der turbulenten Geschichte des Landes sowie der damit verbundenen Notwendigkeit, viele Jahre im Voraus zu planen, um die Zukunft ihres Landes und ihrer Familie zu sichern, haben Ukrainer diese Fähigkeit wahrscheinlich im Blut.
Ein einschneidendes Ereignis führt zu einer dramatischen Wahrnehmung der Zukunft. Aber ganz so, als hätte sich Gott einen Witz erlaubt, gibt es im Nationalcharakter der Ukrainer – im Gegensatz zum russischen – so etwas wie Fatalismus nicht. Ukrainer sind selten niedergeschlagen. Sie sind auf den Sieg hin programmiert, auf Glück, auf das Überleben unter schwierigen Bedingungen sowie auf die Lust am Leben.
Haben Sie jemals probiert, während einer Katastrophe oder Tragödie, während blutiger Militäreinsätze, optimistisch zu bleiben? Ich habe es versucht und werde mir auch weiterhin Mühe geben. Ich bin ethnischer Russe und lebe seit jeher in Kyjiw. In meiner Weltanschauung, in meinem Verhalten und meiner Einstellung zum Leben spiegelt sich die Denkweise und das Auftreten der ukrainischen Kosaken des 16. Jahrhunderts wider, zu einer Zeit, als die Ukraine noch nicht Teil des Russischen Kaiserreichs geworden war, und als die Freiheit der Ukrainer mehr wert war als Gold. Wir leben nun wieder in einer solchen Epoche und Ukrainern ist ihre Freiheit erneut wichtiger als Gold.
Durch diesen Krieg wurde ich zusammen mit meiner Familie aus unserem Haus verdrängt. Ich bin zu einem von Millionen ukrainischer Vertriebener geworden. Aber dieser Krieg hat mir gleichzeitig Gelegenheit gegeben, die Ukraine und meine ukrainischen Landsleute besser zu verstehen. Ich habe Hunderte von Menschen getroffen, Hunderte von Geschichten gehört. Ich habe Einblicke in Umstände der Ukraine bekommen, die ich vorher so nicht verstanden hatte. In diesen leidgeprüften Monaten haben die Ukrainer viel über ihre Heimat und über sich selbst gelernt und begriffen. Krieg ist zwar nicht der beste Umstand für solche Erkenntnisse, aber ohne ihn wären sie nicht zutage getreten.
Dieses Tagebuch besteht zunächst aus Texten, die ich in den zwei Monaten vor Kriegsbeginn geschrieben habe, gefolgt von meinen Aufzeichnungen und Essays aus der Kriegszeit. Es ist sowohl ein persönliches Tagebuch als auch mein eigenes Erleben dieses Krieges. Dies hier ist meine Geschichte, die Geschichten meiner Freunde, meiner Bekannten und Fremder – es ist die Geschichte meines Landes. Zusammengefasst ist dieses Buch nicht nur eine Chronik des Angriffs von Russland auf die Ukraine, sondern auch eine Chronik darüber, wie der von Russland angezettelte Krieg – sowie der Versuch Russlands, die Ukraine als unabhängigen Staat zu zerstören – zur Stärkung der nationalen Identität der Ukraine beigetragen hat. Dieser Krieg hat die Ukraine der Welt verständlicher gemacht – die Welt versteht die Ukraine nun besser und erkennt sie eher als einen europäischen Staat an.
Auf Nimmerwiedersehen, Delta! Willkommen, Omikron! So könnte die Stimmung in der Ukraine vor Silvester beschrieben werden, womit wir den gleichen Kurs einschlagen wie Europa und der Rest der Welt. Geteilte Werte und gemeinsame Feinde sind das beste Mittel gegen geopolitische Vereinsamung! Doch die Ukraine wäre nicht die Ukraine, wenn die Silvesterstimmung ihrer Bürger nicht noch zusätzlich durch ein paar geistreiche und chaotische politische Entscheidungen aufgeheizt werden würde. Das „Orchester“ der Staatsgewalt – das Ministerkabinett – hatte zündende Ideen für neue Gesetzesvorschläge, als wären es Silvesterknaller, und die Zuschauer können dem erstaunlichen Spektakel nur mit offenem Mund zusehen.
Ukrainer finden immer ein Gesprächsthema, das sie ausdiskutieren können oder das Anstoß für Meinungsverschiedenheiten gibt. Als das Verteidigungsministerium beschloss, sämtliche Frauen im Alter zwischen achtzehn und sechzig zum Wehrdienst zu verpflichten, flammte das Thema eines möglichen Krieges mit Russland wieder voll auf und wurde sogar um den Küchentisch herum diskutiert! Nur so konnte die Angst der Ukrainer vor einem Krieg scheinbar wieder geschürt werden: Die Menschen waren es einfach müde geworden, in ständiger Angst zu leben.
Als die Staatsduma der Russischen Föderation 2014 bei der Annexion der Krim dafür stimmte, Russlands Truppen auf einem anderen Staatsgebiet kämpfen zu lassen, hatten wir alle große Angst. Seither herrscht im Donbass praktisch der Russisch-Ukrainische Krieg.
Einen weiteren Beleg für die Militärpräsenz Russlands im Donbass lieferte ein Kämpfer aus der Region, der unter Drogen in einen ukrainischen Militärposten taumelte. Während seines SBU-Verhörs beschwerte er sich darüber, von den russischen Kommandeuren schikaniert zu werden.
Natürlich bereitet die Ankündigung des Verteidigungsministeriums, die Wehrpflicht auf Frauen ausdehnen zu wollen, auch ukrainischen Männern Sorge. Und den Frauen gefällt dieser Vorschlag nun auch gar nicht, zumal klarstellend hinzugefügt wurde, dass sowohl Schwangere als auch Mütter von Kleinkindern bis Ende 2022 als wehrpflichtig gemeldet werden sollen. Darüber hinaus müssen Frauen, die sich nicht bis Ende 2022 gemeldet haben, mit hohen Geldstrafen rechnen! Kurzum, dieser neue Gesetzesentwurf hat die ukrainische Bevölkerung bei Weitem nicht, wie beabsichtigt, gegenüber ihren Feinden geeint, sondern eine heftige Debatte über die Eignung der militärischen Führung des Landes hervorgerufen.
Ein weiterer, neutralerer Gesetzesentwurf wurde wahrscheinlich nur von oberster Stelle vorgelegt, um diese Auseinandersetzung zu entschärfen und die Bürger weiter zu verwirren! Er kam vom Umweltministerium und zielt darauf ab, die Geldstrafen zu erhöhen, die für Schäden an natürlichen, unter Umweltschutz stehenden Ressourcen verhängt werden. Die Verordnung führt die Höhe der Geldstrafen für jedwede Art von Beschädigung akribisch auf, darunter das Töten eines herkömmlichen Frosches (14 Hrywnja pro Frosch), das unerlaubte Pflücken eines Pilzes (75 Hrywnja pro Pilz) und das illegale Sammeln wild wachsender Nüsse (1.154 Hrywnja pro Kilogramm).
Verfechter des Beschlusses zur Wehrpflicht für Frauen stützen sich auf das Beispiel Israels, wo Frauen gleichberechtigt mit Männern Wehrdienst leisten müssen. Es ist ein Jammer, dass die Beschützer von Fröschen, Pilzen und Nüssen, die unter Naturschutz stehen, nicht dieselbe Strategie angewendet haben. Sie hätten sich beispielsweise auf die Schweizer „Pilzpolizei“ berufen können, die das Recht hat, die Ernte eines Pilzsammlers noch im Wald zu wiegen und ein Bußgeld zu verhängen, wenn der Ertrag die laut Schweizer Recht zulässige Obergrenze überschreitet.
Mir wäre es allgemein lieber, die Ukraine würde Schweizer anstatt israelischem Vorbild folgen. Das wünsche ich mir zumindest für mein Land im neuen Jahr!
Bis dahin blicke ich zurück und überlege mir, was ich vom Jahr 2021 ins Jahr 2022 mitnehmen möchte. Natürlich würde ich gerne die alten Gas- und Strompreise beibehalten! Aus Erfahrung weiß ich aber, dass das neue Jahr stets neue Preise für alles mit sich bringt! Um also realistisch zu bleiben, wünsche ich mir, dass die Qualität des Kaffees in den Cafés von Kyjiw erhalten bleibt!
Obgleich ich nicht will, dass die Auswahl an französischen, italienischen und spanischen Weinen abnimmt, wäre es doch schön, wenn uns im neuen Jahr noch mehr ukrainische Weine aus Bessarabien und Transkarpatien mit ihrem Geschmack und ihrer Qualität betören könnten. Ich wünsche mir auch mehr Erfolg für ukrainische Käsereien sowie für sämtliche kleinen Handwerksbetriebe, die leckere Gaumenfreuden produzieren. Ukrainern ist der Geschmack des Essens überaus wichtig. Gutes Essen hilft uns dabei, uns mit der politischen Lage abzufinden. So entspricht es unserer Geschichte und unserer Mentalität.
Als Schriftsteller komme ich nicht umhin, eine weitere, separate Neujahrsfreude zu teilen. Eine kleine, aber überaus bekannte „Buch-Lobby“ hat die Regierung dazu bewegen können, Bücher auf die Liste der Waren und Dienstleistungen aufzunehmen, die mit der 1.000-Hrywnja-Geldprämie gekauft werden können, die jeder vollständig geimpfte Bürger der Ukraine bekommt. Acht Millionen virtuelle Scheckkarten mit einem „Corona-Tausender“ wurden bereits ausgestellt und geimpfte Ukrainer sind in Online-Buchhandlungen geströmt, um ihre Belohnung gegen Literatur einzutauschen. Dadurch konnte die Hälfte der ukrainischen Verlage vor dem Bankrott bewahrt werden und manche Verlagshäuser sehen sich nun einem neuen, angenehmeren Problem gegenüber: Sie müssen dringend ausverkaufte Bücher neu auflegen lassen. Das Problem dabei sind nun aber die Papierknappheit und ein Mangel an Druckereien. Beide sind jedoch Problem und Ansporn zugleich. Zudem wurden weitere 18 Milliarden Hrywnja für „Corona-Tausender“ an geimpfte Ukrainer in den Staatshaushalt 2022 gepumpt. Bald können wir also mit Gewissheit sagen, dass geimpfte Ukrainer mehr lesen als ungeimpfte!
Die Geldprämie für Geimpfte wird es also auch 2022 geben, ebenso wie das Tragen von Mundschutzmasken, den Kampf gegen ausgewählte Oligarchen, das Versprechen, Auslandsinvestitionen zu schützen, und QR-Codes, die unsere Bewegungsfreiheit im internationalen Luftraum und in Restaurants ermöglichen.
Lassen Sie uns das Jahr 2022 also in vollen Zügen genießen und möge Gott uns alle schützen!
An jedem 31. Dezember, etwa zehn bis fünfzehn Minuten bevor das neue Jahr eingeläutet wird, beglückwünscht der Präsident die ukrainischen Bürger in einer Fernsehansprache. Diese sowjetische Tradition hat leicht in der Ukraine Fuß gefasst, so wie zahlreiche weitere sowjetische Bräuche und Rituale. Bis 2015 hatten sich viele Ukrainer noch erst die Glückwünsche des russischen Präsidenten Wladimir Putin an sein Volk um 22.50 Uhr angehört, um dann eine Stunde später dem ukrainischen Präsidenten zu lauschen. Nach Ausbruch des Krieges im Donbass und der Annexion der Krim wurden die russischen Fernsehkanäle in der Ukraine allerdings abgeschaltet und mit ihnen Putins Neujahrsansprache. Seither hält nur noch der ukrainische Präsident eine Rede am Silvesterabend. Und vielleicht erinnern Sie sich noch, dass 2018 auf einem der beliebtesten Fernsehkanäle, der Ihor Kolomojskyj gehört, einem der wichtigsten Oligarchen der Ukraine, nicht der damalige Präsident Poroschenko eine Rede an die ukrainische Nation richtete, sondern der Komiker Wolodymyr Selenskyj, der gleichzeitig bekannt gab, dass er für die Präsidentschaft kandidieren würde.
Dieses Mal, vor dem Start ins Jahr 2022, beglückwünschte Petro Poroschenko die Ukrainer auf dem Sender, der einmal dem fünften Präsidenten der Ukraine – Petro Poroschenko – gehörte und nun im Besitz der Journalisten selbst ist, und Wolodymyr Selenskyjs Ansprache wird kurz nach Mitternacht ausgestrahlt.
Selenskyjs Fernsehansprache dauerte ganze 21 Minuten. Im Bewusstsein, dass nicht jeder genügend Geduld aufbringen würde, sich die ganze Rede anzuhören, veröffentlichte das Präsidialamt den gesamten Text auf seiner Website. Sie war vielmehr ein Statusbericht über die Leistungen und bestehenden Probleme und zählte die wichtigsten Berufe im Land auf: das Militär, Ärzte, Lehrer, Sportler, Bergarbeiter usw. Mit deutlichem Verweis auf Russland sprach der Präsident den Wunsch aus, „Nachbarn mögen mit einer Flasche (Wodka) und Fleischsülze zu Besuch kommen und nicht mit Waffen einfallen“. Er erwähnte den Krieg nur an dieser einen Stelle. Er ließ aus, dass Russland an der Grenze zur Ukraine ein riesiges Angriffsheer aufgestellt hatte, einschließlich Logistik, Feldlazaretten und mobiler Tankanlagen für Panzer und Rüstungsgerätschaften. Doch das ist ohnehin gemeinhin bekannt und eine mögliche russische Militäroffensive gegen die Ukraine ist wohl kaum ein beliebtes Gesprächsthema an den Festtagen.
Trotz ihrer Rekordlänge lässt sich Selenskyjs Neujahrsansprache nicht in einzelne anschauliche und einprägsame Zitate zerlegen. Einen Satz möchte ich jedoch herausgreifen, mit dem ich mich auseinandersetzen bzw. dem ich widersprechen möchte: „Wir warten nicht darauf, dass die Welt unsere Probleme löst.“
Boris Jelzin, der fest davon überzeugt war, dass Russland und die Ukraine nur gemeinsam bestehen könnten, sagte einmal den berühmten Satz: „Ich wachte morgens auf und fragte mich: Was hast du für die Ukraine getan?“ Mir scheint es ganz so, als ob Präsident Biden und die Oberhäupter vieler europäischer Staaten nun morgens mit demselben Gedanken aufwachen. Präsident Biden hat nun schon zum zweiten Mal binnen zwei Wochen mit Putin telefoniert. Jedes Mal nach einer solchen Unterhaltung erlaubt er sich mehrere Tage Bedenkzeit, ehe er den Präsidenten der Ukraine anruft, um über den Inhalt und die Ergebnisse des Telefonats zu sprechen. Derweil hat Kroatien eine Erklärung zur EU-Beitrittsperspektive der Ukraine unterzeichnet und der estnische Präsident hat versichert, der Ukraine mit Waffenlieferungen auszuhelfen. Nur Deutschland hat sich offiziell gegen Waffenlieferungen an die Ukraine ausgesprochen. Laut dem deutschen Außenministerium würde der Verkauf von Waffen an die Ukraine das Risiko eines Krieges erhöhen. Tatsächlich aber würde ein möglicher Krieg zwischen Russland und der Ukraine die Inbetriebnahme der deutsch-russischen Gaspipeline Nord Stream 2 verzögern, und Deutschland – und wahrscheinlich noch ein paar andere westeuropäische Länder – will das unbedingt vermeiden.
Die Ukraine ist natürlich nicht eingeladen worden, der NATO beizutreten, doch Waffen aus NATO-Mitgliedstaaten – sowohl Javelins (britische Luftabwehrraketen) als auch türkische Angriffsdrohnen – sind bereits in der Ukraine und werden schon jetzt an der Front eingesetzt. Sowohl die Türkei als auch die USA sind bereit, der Ukraine Waffen zu verkaufen. Die Türkei ist sogar am Bau einer Kampfdrohnenfabrik bei Kyjiw beteiligt. Russland verfügt nicht über derartige Drohnen. Umgehend nach dem ersten Einsatz türkischer Angriffsdrohnen vom Typ „Bayraktar“ gegen Separatisten im Donbass – als Antwort auf die Bombardierung der Ukraine mit verbotenen Waffen – verkündete Russland, die Ukraine plane, die von den Separatisten besetzten Teile des Donezbeckens zurückzuerobern, und zwar mithilfe des Militärs und von Waffen aus dem Westen. Unter diesem Vorwand begann Russland dann damit, Panzerdivisionen aus seinem gesamten Staatsgebiet abzuziehen und entlang der ukrainischen Grenze zu stationieren. Der nicht anerkannte Präsident von Belarus, Alexander Lukaschenko, ließ umgehend verlauten, dass seine Armee im Falle eines Krieges zwischen Russland und der Ukraine an der Seite Russlands kämpfen würde. Das würde bedeuten, dass die Front entlang der gesamten nordöstlichen Landesgrenze der Ukraine verlaufen könnte und demnach über 3.000 km lang wäre – und das ohne die über Hunderte von Kilometern reichende Seegrenze entlang des Asowschen Meeres miteinzurechnen, von wo aus russische Kriegsschiffe Truppen an Land bringen könnten. Die derzeitige Frontlinie im Donbass ist etwa 450 km lang.
Alle 5.000 Bombenkeller in Kyjiw sind bereits gewartet worden, ebenso wie die städtische Beschallungsanlage für Alarmsirenen und offizielle Ansagen. Keine dieser Handlungen und Maßnahmen löste unter der Bevölkerung auch nur einen Anflug von Panik aus. „Wir sind nun schon im achten Jahr des Krieges mit Russland!“, sagen manche. „Putin blufft nur und erpresst den Westen!“, meinen andere. Beide haben recht. Es stimmt aber auch, dass Russland sich weigert, dem Westen zu versichern, die Ukraine nicht anzugreifen.
Kyjiw zeigt sich indessen gelassen. Die Cafés und Restaurants sind voll. Pizza- und Sushi-Kuriere schwirren auf Fahrrädern, Motor- und Elektrorollern die Straßen entlang und sind teilweise sogar zu Fuß unterwegs. Die Kyjiwer haben es eilig, in Feierlaune zu kommen. Das „Goldene Tor“ – der Stadtteil Kyjiws, in dem ich lebe – hat es unter die hundert coolsten Stadtteile der Welt geschafft, und zwar auf Platz 16. Eine Freundin meiner Tochter ist aus London eingeflogen, um in Kyjiw Silvester zu feiern, und ihr hat es hier und in der Altstadt richtig gut gefallen. In meiner kurzen Straße gibt es vier Barber Shops, in denen man(n) sich den Schnurr- und Vollbart frisieren und an einem Whisky nippen kann, dazu drei Weinlokale, sechs Cafés, einen kleinen Gastronomiebereich mit Untergeschoss und man kann sogar gemütlich einen Milchkaffee in einem ehemaligen Schwimmbad schlürfen. In dem Gebäude, in dem ich wohne, gibt es eine Kneipe, eine Kunstgalerie mit Café, ein Geschäft für Künstlerbedarf und ein Näh- und Schneideratelier. In den letzten zehn Tagen des alten Jahres wurde mit Geldern der Stadtverwaltung der nette, kleine Park auf der gegenüberliegenden Straßenseite mit seinen Sitzgelegenheiten in einen coolen – um nicht zu sagen, kalten – betonierten Gedenkpark für Pawel Scheremet verwandelt. Scheremet war ein belarussischer Journalist, der von Moskau in die Ukraine geflohen war und in einer Straße im Viertel lebte, bis er am 20. Juli 2016 auf ebendieser Straße umgebracht wurde. Man hatte einfach eine Bombe am Boden seines Autos montiert. Er fuhr von seinem Haus weg und das Auto explodierte.
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Meine Frau und ich haben die Explosion gehört. Es war frühmorgens im Sommer im dritten Jahr des Krieges im Donbass, der in der Ukraine der Russisch-Ukrainische Krieg genannt wird, aber diese Explosion war die einzige, die ich je in meinem Leben in Kyjiw gehört habe.
Die übrig gebliebenen Bewohner der Kleinstadt Stanyzja Luhanska, die zu Beginn des Krieges teilweise vom Artilleriefeuer der Separatisten zerstört worden war, leben seit 2015 mehr oder weniger friedlich dort, obwohl die ganze Stadt, die vor dem Krieg 12.000 Einwohner hatte, genau auf der Demarkationslinie mit dem von Separatisten kontrollierten Teil der Oblast Luhansk liegt. Diesen Herbst fielen zum ersten Mal seit sechs Jahren wieder Bomben auf die Dächer von Zivilisten in Stanyzja Luhanska. Dies geschah noch ehe Russland die erste Staffelformation an Panzern und Geschützen ins Donezbecken und an die Grenze zur Ukraine geschickt hatte.
Eine Verschärfung der Lage und regional begrenzte Eskalationen der bewaffneten Auseinandersetzungen sind im Donbass an der Tagesordnung. Normalerweise hat die Artillerie der Separatisten unter russischem Kommando aber ukrainische Militärposten im Visier, nicht die Wohnhäuser der Zivilbevölkerung.
Die Menschen in den Grenzregionen an der Front haben eine andere Einstellung zu einem möglichen Krieg als die Bewohner Kyjiws. Sie kennen sich mit dem Krieg besser aus und haben deshalb echte Angst vor ihm. Bei den Präsidentschaftswahlen 2019 hat die dortige Bevölkerung gezielt für Wolodymyr Selenskyj gestimmt, der versprach, den Krieg mit Russland binnen eines Jahres zu beenden und wieder Stabilität und Wohlstand in der Ukraine einkehren zu lassen. Im dritten Jahr von Selenskyjs Präsidentschaft scheint ein „großer Krieg“ wahrscheinlich denn je.
Aber man meint fast, die meisten Ukrainer hätten kaum Angst vor irgendetwas, weder vor Russland noch vor Corona (weniger als die Hälfte der Erwachsenen ist geimpft, obwohl Impfstoffe seit dem Sommer allgemein verfügbar sind). Meinungsumfragen zufolge haben die ukrainischen Bürger hauptsächlich Sorge vor der Armut. Deshalb ist über eine Million von ihnen zum Arbeiten nach Polen gezogen, weitere Hunderttausende leben und arbeiten in Tschechien, Spanien, Portugal und Italien. Fleißige Ukrainer haben sich sogar bis nach Dänemark aufgemacht, wo nun Tausende von ihnen auf dänischen Bauernhöfen schuften. Millionen von Ukrainern leben im Ausland und überweisen regelmäßig ihr Einkommen an die Zuhausegebliebenen. Selenskyjs Regierung hat schon mehrmals angekündigt, diese Zuwendungen zu besteuern. Es geht immerhin um Milliarden von Euro! Die halbe Westukraine lebt von dem Geld, das Verwandte aus dem Ausland schicken. Und dort lebt es sich scheinbar so gut (und so weit entfernt von täglichen Bombardierungen), dass die Ostukrainer, die traditionell zum Arbeiten nach Russland gegangen sind, jetzt in die Westukraine kommen. In Russland gibt es nun sehr viel weniger ukrainische Gastarbeiter als zuvor. Und wenn sich die Ostukraine – eine Hochburg pro-russischer Ansichten und Werte – langsam dem Westen zuwendet, dann hat Russland einen weiteren Grund zur Sorge.
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Wladimir Putin hat einmal gesagt, die Deutschen hätten die Ukraine 1918 erfunden, um das Russische Kaiserreich zu spalten. Ende letzten Jahres hat er aber seine Meinung geändert und meint nun, die Ukraine sei von Wladimir Lenin geschaffen worden. Anscheinend wollte er damit sagen, dass Russland mehr Ansprüche auf die Ukraine geltend machen kann als Europa. Für Russlands Präsidenten ist die Ukraine eine fixe Idee, die ihn nachts nicht schlafen lässt und ihn den ganzen Tag lang beschäftigt. Seine politischen Waffenbrüder im russischen Fernsehen empfehlen tagtäglich abwechselnd Kyjiw zu bombardieren, die Ukraine in drei Staaten aufzuteilen, das ganze Staatsgebiet (mit Ausnahme der Westukraine) zu besetzen oder das Küstengebiet von der Stadt Odessa bis nach Transnistrien einzunehmen. Der tschetschenische Präsident Ramsan Kadyrow schlug vor, die Ukraine selbst zu besetzen und sie Tschetschenien zuzuschlagen. Zugegebenermaßen stellte er später klar, dass das natürlich nur auf Anweisung Putins hin geschehen würde.
Wird Putin seine Truppen anweisen, in die Offensive zu gehen? Das wird sich bis Anfang Februar zeigen. So lautet zumindest der Zeitrahmen, den Fachleute vom Militär und der Politik veranschlagen. Bis dahin werden sich die Amerikaner und die Russen dreimal getroffen haben, um die Lage zu besprechen, die Zukunft ihrer Zusammenarbeit und die der Ukraine. Sämtliche Treffen werden wieder ohne ukrainische Beteiligung stattfinden.
„Wir warten nicht darauf, dass die Welt unsere Probleme löst“, hatte Präsident Selenskyj in seiner Neujahrsansprache gesagt.
Ich persönlich warte aber darauf und rechne sogar damit.
Dieses Jahr haben wir keine „weiße“ Weihnacht! Es ist eher grau und mancherorts sogar grün, zumindest um den Ort Brusyliw herum, in der Oblast Schytomyr, wo der Winterweizen schon auf den Feldern sprießt.
Die Stimmung in der Ukraine ist aber weiterhin verschneit fröhlich. Da gehen die Kinder meist Schlitten fahren und machen Schneeballschlachten. In den Dörfern sieht man nach Einbruch der Dunkelheit, in welchen Häusern Familien mit kleinen Kindern wohnen. Dreißig bis fünfzig Meter lange elektrische Lichterketten „Made in China“ sind mittlerweile sehr beliebt und erhellen die Häuserfassaden in den ansonsten dunklen Straßen. In den Höfen vieler Häuser stehen geschmückte Tannenbäume, und dort, wo es keine Nadelbäume gibt, wurde Weihnachtsschmuck in die Apfel- und Birnbäume gehängt.
Die Weihnachtszeit dauert in der Ukraine vier Wochen: vom Nikolaustag am 19. Dezember bis zu Dreikönig am 19. Januar. Um einen ganzen Monat lang feiern zu können, braucht man schon eine beneidenswert gute Konstitution. Wer in weniger robuster Verfassung ist, der verkürzt die Feiertage auf nur zwei Wochen: vom „europäischen“ Heiligabend bis zum ukrainischen Weihnachtstag, also vom 24. Dezember bis zum 7. Januar. Für Gläubige gehört zur Vorbereitung des orthodoxen Weihnachtsfestes natürlich auch eine vierzigtägige Fastenzeit. Also muss man erst einmal tapfer mehr als einen Monat ohne Fleisch und Alkohol überstehen. Dann darf man am Heiligabend (6. Januar) zwölf fleischlose Speisen auf den Tisch stellen und auf das Aufgehen des ersten Sterns am Abendhimmel warten. Ukrainer lassen sich nicht gerne etwas vorschreiben, egal, wer die Regeln macht – ob Kirche oder Staat. Wer soll denn bitte an Silvester fasten? Was wird denn dann aus Sülze, Salat Olivier und Sekt?! Also kann man getrost sagen, dass Weihnachten zwar ein sehr hoher Gipfel im Gebirgszug der festlichen Jahreszeit ist, nicht aber der Haupt- oder gar einzige Festtag im Winter.
An Weihnachten darf man nicht putzen, man darf niemandem Hilfe abschlagen, der darum bittet, und man darf auch nicht jagen oder angeln gehen. Traditionellerweise sorgen die Hausfrauen dafür, dass diese Regeln eingehalten werden, von denen ihre Männer keinen Schimmer haben. Und wenn eine ansonsten strenge Hausfrau ihrem Mann großzügigerweise beim Weihnachtsessen ein Gläschen Wodka oder Wein gestattet, heißt das noch lange nicht, dass sie ihm erlaubt, sich an Weihnachten zu betrinken! Sie stellt damit bloß sicher, dass er gar nicht erst auf die Idee käme, angeln oder auf die Jagd zu gehen.
Zwischen Weihnachts- und Silvesterfeiern herrscht seit jeher ein meilenweiter Unterschied. Silvester ist ein lautes Fest für die Massen, mit Feuerwerk und Sekt. Weihnachten ist das traute Fest im Kreise der Familie. Beide Feiertage sind jedoch von der Politik unterdrückt worden. 1915 verbot Zar Nikolaus II. Silvesterfeiern, die einem „schlechten deutschen Einfluss“ geschuldet waren. Die Bolschewiki ließen, nachdem sie den Zar abgesetzt hatten, das „Fest des Weihnachtsbaumes“ wieder zu und gaben ihm sogar einen neuen Namen: „Krasnaja Jolka“ – „Roter Neujahrsbaum“. In der Tat war Wladimir Lenin gerade auf dem Weg von Moskau zum „Krasnaja Jolka“-Fest bei den Dorfkindern von Sokolniki, als er und seine Wachen am 6. Januar 1919 von dem damals berüchtigten Moskauer Banditen Jakow Koschelkow überfallen wurden. Lenin stand plötzlich ohne seine Browning-Pistole, Geld oder ein Auto da, schaffte es aber doch noch rechtzeitig zu den Kindern von Sokolniki. Für arme Bauernkinder war dieses Neujahrsfest damals etwas durch und durch Fremdartiges. Weihnachten kannte man schon eher. Und wenn Sie genau aufgepasst haben, haben Sie bestimmt gemerkt, dass Lenin sich nicht am 31. Dezember, sondern am 6. Januar, also an Heiligabend, auf zu den Kindern machte. Man durchschaut leicht, dass die Bolschewiki Weihnachten durch Neujahr ersetzen wollten.
Obgleich die Bolschewiki mit ihrem Krieg gegen Weihnachten und religiöse Feiertage in Russland allgemein mehr oder weniger erfolgreich waren, so gaben die Revolution von 1917 und das Ende des Ersten Weltkrieges der nationalen Befreiungsbewegung in der Ukraine dagegen frischen Wind. Die Hoffnung auf einen unabhängigen ukrainischen Staat spornte viele an, Volksbräuche wie Weihnachten wieder aufleben zu lassen. Der ukrainische Komponist und Dozent an der Kyjiwer Universität, Mykola Leontowytsch, arbeitete zwanzig Jahre lang an seinem Arrangement des alten ukrainischen Weihnachtsliedes „Schtschedryk“. Im Januar 1919 wurde in Kyjiw, auf Gesuch der Regierung der Ukrainischen Volksrepublik hin, der Chor „Ukrainische Republikanische Kapelle“ gegründet, um Europa und der Welt die Musik und Kultur der Ukraine nahezubringen. „Schtschedryk“ wurde zum größten Hit des Chors. Im März 1919 ging er auf Tournee durch Europa. Im September 1922 reisten der Chorleiter und -gründer Oleksandr Koschyz und ein paar Sänger von Polen aus zu einer Tournee in die USA, von der sie nicht mehr heimkehren sollten.
Am 5. Oktober 1922 wurde das ukrainische Weihnachtslied „Schtschedryk“ zum ersten Mal in Amerika in der Carnegie Hall in New York aufgeführt. Die englische Fassung „Carol of the Bells“ wurde im März 1936 erstmals im Madison Square Garden in New York zur Aufführung gebracht, gesungen von einem Chor unter der Leitung von Petro Wilhousky, einem amerikanischen Dirigenten mit ukrainischen Wurzeln. Wilhousky war es auch, der den englischen Text des Weihnachtsliedes verfasste. Und so wurde das ukrainische Volkslied zu einem weltweiten Weihnachtshit. Die Geschichte dieses Liedes sowie die der unendlichen USA-Tournee des ukrainischen Chores unter der Leitung von Oleksandr Koschyz wird gerade von der Forscherin und Schriftstellerin Tina Peresunko recherchiert und zu einem Buch zusammengetragen. Sie ist das Thema ihrer Fulbright-Gastdozentur. Ich freue mich schon sehr darauf, das Buch zu lesen, das bestimmt das perfekte Geschenk zu Weihnachten 2023 wird!
Bis das Buch veröffentlicht wird, möchte ich Ihnen nahelegen, auf YouTube oder einer ähnlichen Website nach „Schtschedryk“ zu suchen und es sich auf Ukrainisch oder Englisch anzuhören. Es schafft die perfekte Weihnachtsstimmung.
Der höchste Berg der Ukraine liegt in den Karpaten und heißt Howerla. Er ist 2.061 m hoch. Doch der wichtigste Berg, der Petschersk Hügel, liegt in Kyjiw und misst gerade einmal 195 m. Der Kyjiwer Rajon Petschersk, der auf dem gleichnamigen Hügel liegt, ist das politische Zentrum der Ukraine. Hier, in einem Umkreis von ein oder zwei Häuserblocks, befinden sich das Ministerkabinett, das Parlament, das Präsidialamt und viele weitere wichtige Regierungsgebäude. Neben all diesen Ministerien und Staatsämtern genießt vor allem das Amtsgericht von Petschersk seit mehr als zwanzig Jahren einen besonders schlechten Ruf. Der Richter hier, Rodion Kirejew, verurteilte im Oktober 2011, auf direkten Befehl der Verwaltung von Präsident Wiktor Janukowytsch hin, Julija Tymoschenko zu sieben Jahren Haft und einem Bußgeld von 150 Mio. Euro dafür, dass sie durch die Unterzeichnung eines Gasabkommens mit Russland der Ukraine Schaden zugefügt habe. Der ehemalige ukrainische Präsident Janukowytsch empfand zweierlei ausgeprägte Gefühle für Julija Tymoschenko: Angst und Hass. Nach dem Erfolg der Euromajdan-Proteste floh Richter Kirejew aus der Ukraine nach Moskau, wo er seither als Anwalt tätig ist. Gleichzeitig flüchtete sich auch Janukowytsch nach Moskau, zusammen mit seinem Haus-und-Heim-Staatsanwalt Wiktor Pschonka sowie mehreren hundert Staatsbeamten, Richtern und Rangobersten des Militärs. Aber das Amtsgericht Petschersk blieb bestehen und unterhält weiterhin Verbindungen mit dem Büro eines anderen Präsidenten, Wolodymir Selenskyj.
Am 6. Januar, an Heiligabend, als Präsident Selenskyj in den Karpaten beim Skifahren war, beschlagnahmte das Amtsgericht Petschersk das Eigentum und die Vermögenswerte des fünften Präsidenten der Ukraine, Petro Poroschenko. Der Krieg zwischen dem sechsten und dem fünften Präsidenten hat seinen Höhepunkt erreicht. Außerdem wurde ein Haftbefehl gegen Poroschenko erlassen. Natürlich war, um den Befehl nicht selbst unterschreiben zu müssen, die Generalstaatsanwältin der Ukraine, Iryna Wenediktowa, an diesem Tag gerade im Urlaub. Stattdessen wurde der Haftbefehl für Poroschenko an jenem Tag von ihrem Stellvertreter unterzeichnet, der sich in Zukunft für seine Unterschrift rechtfertigen müssen wird. Poroschenko ist weiterhin in Polen, verspricht aber, in der zweiten Januarhälfte zurückzukommen. Als erfahrener Politiker versteht er, dass nicht zurückzukehren einem Schuldeingeständnis gleichkäme. Poroschenko ist bis heute Oppositionsführer und Fraktionsvorsitzender der zweitstärksten Partei, Europäische Solidarität. Deshalb besteht seine Aufgabe nun darin, bei seiner Rückkehr in die Ukraine Eindruck zu schinden und aus seiner möglichen Festnahme Nutzen für seinen politischen Machtkampf zu schlagen. Offiziell wird Poroschenko des Hochverrats beschuldigt, genauer gesagt, der Finanzierung von Terrorismus. Diese Anschuldigung beruht darauf, dass er zur Befeuerung ukrainischer Stromkraftwerke dem Kauf von Kohle direkt von Separatisten im Donbass zugestimmt hatte. Dies tat er zu einer Zeit, als Kraftwerke akuten Kohlemangel hatten. Nach der Annexion der Krim und dem Kriegsausbruch im Donbass befanden sich plötzlich fast alle ukrainischen Kohlebergwerke in von Separatisten besetzten Gebieten. Die Kohle der Separatisten wurde per Zug durch russische Gebiete transportiert, während die Gefechte an der Front andauerten.
Die Sache mit dem Haftbefehl gegen Poroschenko erinnert an die Geschichte mit dem Verfahren und der Verhaftung Tymoschenkos. Es gibt da aber einen kleinen Unterschied. 2011 verspürte Janukowytsch allein Angst vor und Hass auf Tymoschenko, während Poroschenko nun gleich drei hochrangige Feinde hat: Wolodymyr Selenskyj, den Oligarchen Ihor Kolomojskyj und den Präsidenten der Russischen Föderation, Wladimir Putin, der ein Telefonat oder gar ein Treffen mit Poroschenko kategorisch ablehnt.
Der ehemalige ukrainische Botschafter in den USA, Walerij Tschalyj (2015–2019), legte in einem Interview nahe, Poroschenkos Verhaftung könne eine Bedingung des Kremls für ein Treffen zwischen Putin und Selenskyj sein. Bislang war Präsident Selenskyj mit seinen Bemühungen, wenigstens ein Telefonat, wenn nicht sogar ein Treffen mit Putin zu vereinbaren, erfolglos geblieben. Aber Poroschenko ist noch nicht verhaftet worden. Jedenfalls wird bald eine neue Folge der Serie „Die Verfolgung des fünften Präsidenten“ auf sämtlichen ukrainischen Fernsehsendern laufen.
In der Zwischenzeit beobachten die Ukrainer aufmerksam die Ereignisse in Kasachstan und diskutieren die Entwicklungen eifrig. Die Proteste in Kasachstan haben den revolutionären Geist der Ukraine erweckt und die radikalsten unter den Sofa-Politologen sagen bereits einen kasachischen Euromajdan vorher, einschließlich einer zunehmenden Demokratisierung und dem erfolgreichen Kampf gegen die Korruption. Russlands sofortiger Gegenschlag erstickte aber sämtliches Gerede eines Sieges und einer glänzenden Zukunft für den zentralasiatischen Staat im Keim. Auf Bitte des Präsidenten Kasachstans hin marschierten die „Friedenstruppen“ der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit, zu welcher Russland, Belarus, Kasachstan, Armenien, Kirgisistan und Tadschikistan gehören, in Kasachstan ein, wodurch sich alle nun noch mehr Gedanken darüber machen, was da gerade in Almaty und Nur-Sultan vor sich geht. Bei den ukrainischen Behörden in Kyjiw sind bereits zahlreiche Beschwerden eingegangen, warum die Ukraine bislang noch keine offizielle Unterstützungsbekundung der kasachischen Revolution abgegeben hat. Zumal weder Präsident Selenskyj noch Vertreter der Staatsführung die Ereignisse kommentiert haben. Andererseits reiste Jewhenij Schewtschenko, ein Abgeordneter, der außerhalb der Ukraine kaum bekannt ist, sofort in die kasachische Hauptstadt, von wo aus er verkündete, er warte auf die Ankunft russischer Truppen, da er Präsident Toqajew nicht zutraue, die Situation unter Kontrolle zu bekommen. Schewtschenko schaffte nicht nur den Einzug ins Parlament mit Wolodymir Selenskyjs Partei Sluha narodu („Diener des Volkes“), sondern war während der Wahl 2019 auch ein enger Vertrauter des Präsidentschaftskandidaten Selenskyj. Um seine pro-russischen und antiamerikanischen Ansichten hat er nie einen Hehl gemacht. Letztes Jahr erlangte er in der Ukraine Berühmtheit, als er während der belarussischen Proteste nach Minsk reiste und an die Bevölkerung appellierte, Alexander Lukaschenko seine Sünden zu vergeben. Dort traf er sich im Minsker Präsidentenpalast mit Lukaschenko und drückte ihm seine Unterstützung aus, was viele Ukrainer und Belarussen verblüffte. Die ukrainische Gesellschaft hatte dazu einige pointierte Fragen: „Wer hat ihn zu Lukaschenko geschickt?“ und „Wessen Unterstützung hat er ihm gegeben: die des Parlaments oder die des Präsidenten?“ Schewtschenko wurde prompt aus der parlamentarischen Fraktion der Sluha narodu ausgeschlossen und die Partei erklärte deutlich, dass er das Treffen mit Lukaschenko auf eigene Initiative hin organisiert habe. Er ist jetzt ein parteiunabhängiger Abgeordneter und, wie sich herausstellt, zudem Leiter einer Gruppe mit interparlamentarischen Beziehungen zu Kasachstan.
In der Ukraine gibt es mehr als genug solcher pro-russischer James-Bond-Verschnitte. Es ist kein Verbrechen, pro-russische oder antiamerikanische Ansichten zu vertreten – schließlich leben wir in einem demokratischen Land. Diese Ansichten jedoch nach der Annexion der Krim und dem Ausbruch des Krieges im Donbass öffentlich kundzutun, das gehört sich einfach nicht. Laut jüngster Umfragen sind bis zu 20 % der Wähler weiterhin bereit, für pro-russische Parteien in der Ukraine zu stimmen. Und das während Russlands Truppenaufmarsch an den ukrainischen Grenzen!
Der Aufmarsch russischer Streitkräfte in Kasachstan wurde übrigens von einigen Ukrainern mit Erleichterung wahrgenommen. Sie glaubten, Russland würde aufgrund der Situation in Kasachstan die Ukraine zumindest vorerst in Ruhe lassen. Geopolitische Leichtgläubigkeit ist ein weiterer unglücklicher Umstand der ukrainischen Gesellschaft. Am selben Tag, als die Überstellung russischer Fallschirmjäger nach Kasachstan begann, legte die Kommunistische Partei der Russischen Föderation der Staatsduma einen Gesetzentwurf über die Anerkennung der „Volksrepublik Donezk“ und der „Volksrepublik Lugansk“ vor. Kasbek Tajsajew, ein Abgeordneter der Staatsduma und Mitglied des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation, drückte seine Zuversicht aus, dass die Gesetzesvorlage verabschiedet würde. Außerdem ist er der Ansicht, dass die besetzten Gebiete im ukrainischen Donbass bald zu den offiziell von Russland kontrollierten Gebieten gehören würden, so wie Südossetien und Abchasien auch.
Die ukrainischen Massenmedien reagierten kaum auf die Nachricht über den Beschluss der russischen Duma. Traditionell dauern die Neujahrs- und Weihnachtsfeiertage in der Ukraine von Mitte Dezember bis Mitte Januar. In diesem Monat besuchen Ukrainer, wie Russen auch, Freunde und Familie, veranstalten fröhliche Feste und schauen fern. Dieses Jahr wurden sowohl Ukrainer als auch Russen vom Studio Kvartal 95 unterhalten und belustigt, das 2003 vom damals Noch-nicht-Präsidenten Wolodymir Selenskyj gegründet worden war. Die Fernsehzuschauer auf beiden Seiten der russisch-ukrainischen Front freuten sich über die siebte Staffel der außergewöhnlich populären TV-Komödie „Svati“ („Heiratsvermittler“), in der berühmte ukrainische und russische Schauspieler mitspielen. 2017 wurde diese Serie in der Ukraine verboten, als der Hauptdarsteller der Serie, Fjodor Dobronrawow, seine Zustimmung zur Annexion der Krim kundtat. Dobronrawow selbst sowie zwei weiteren Schauspielern der Serie wurde die Einreise in die Ukraine untersagt. Selenskyj war damals der Produzent der Serie und kritisierte diese Verbote sowie die Entscheidungen des Sicherheitsdienstes der Ukraine. Nachdem Selenskyj im Mai 2019 die Präsidentschaftswahl gewann, wurde das Einreiseverbot für Dobronrawow aufgehoben, ebenso wie das Verbot, die Serie auf ukrainischen Fernsehsendern auszustrahlen.
Die siebte Staffel von „Svati“ wurde auf „neutralem Boden“ gedreht – in Belarus. In Russland wird sie auf dem Fernsehsender Rossija 1 gezeigt, der in der Ukraine wegen antiukrainischer Propaganda verboten ist. In der Ukraine kommt die Serie auf Kanal 1+1, der dem Oligarchen Ihor Kolomojskyj gehört. Der russische Sender kaufte die Rechte zur Ausstrahlung der ukrainischen Serie von einem ausländischen Unterhändler. Der direkte Handel von TV-Inhalten mit Russland ist in der Ukraine verboten.
Während das ukrainische und russische Fernsehpublikum vor den Bildschirmen saß und lachte, fanden die ersten Gespräche über die Ukraine zwischen den USA und Russland in Genf statt. Die Parteien bestätigten erneut ihre zuvor angekündigten Stellungnahmen. Nur wenige glauben daran, dass die USA oder Russland einander Zugeständnisse machen werden. Durch die drei geplanten Treffen zwischen der NATO und der Russischen Föderation wird schlicht die „Zeit für Diplomatie“ ausgedehnt und ein möglicher militärischer Angriff vertagt.
Die ukrainische Führung sorgt sich indessen erneut darüber, dass ukrainische Vertreter bei den Verhandlungen über die Ukraine fehlen. Der Leiter des Präsidialamts der Ukraine, Andrij Jermak, sagte, er werde in naher Zukunft mit dem wichtigsten russischen Unterhändler, dem stellvertretenden Leiter der Präsidialadministration Russlands, Dmitrij Kosak, zusammentreffen. Außerdem erwähnte er ein mögliches Treffen zwischen Wladimir Putin und Wolodymir Selenskyj bei den Olympischen Winterspielen in Peking. Diese jüngsten Nachrichten sorgten bei zahlreichen ukrainischen Politikwissenschaftlern für Besorgnis. Schließlich haben die USA und einige europäische Länder einen politischen Boykott der Olympischen Spiele in Peking erklärt, was bedeutet, dass mögliche Treffen zwischen dem russischen und dem ukrainischen Präsidenten gemäß russischem Schema ablaufen würden, insbesondere wenn diese in Abwesenheit von Vertretern aus Deutschland, Frankreich oder den USA stattfänden. Ohne deren Beteiligung sind Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine über die Ukraine viel gefährlicher als Verhandlungen zwischen Russland und unseren westlichen Verbündeten unter Ausschluss der Ukraine.
Sicherlich denkt auch der Präsident der Ukraine darüber nach, während er in den Karpaten in Bukowel, im besten Wintersportgebiet der Ukraine, 30 km vom Howerla, dem höchsten Gipfel der Ukraine, entfernt im Ski- und Snowboardurlaub ist.
Dieser Tage fegte ein Sturm über die Ukraine hinweg, mit Windstärken von bis zu 70 km pro Stunde. Starke Windböen führen meist zu einem Wetterumschwung und lassen den Strom ausfallen, denn sie zerstören die Leitungen. Gekappte Stromleitungen bedeuten oft auch, dass die Kommunikation mit der Außenwelt eingestellt wird: WLAN, Fernsehen und die Möglichkeit, das Handy aufzuladen, sind dahin. Alles, was einem dann noch bleibt, sind eine Kerze und ein Buch, wie vor 200 Jahren. Dabei ist die Kerze, wie damals schon, wichtiger als das Buch – und billiger!
Als also der Strom in Hunderten von Dörfern wegen des Sturms ausfiel, durchstöberten Zehn-, wenn nicht Hunderttausende Ukrainer ihre Tischschubladen und Anrichten nach Kerzen. Und die Welt eines jeden Einzelnen wurde auf den Bereich reduziert, den eine Kerze erhellen kann. Erzwungene Romantik setzte sich gegen die zivilisierte Hightech-Welt durch.
Die Dunkelheit, die der Wind mit sich brachte, erwischte mich beim Besuch bei Freunden im Rajon Obuchiw, in dem seit dem 11. Jahrhundert urkundlich erwähnten historischen Dorf Hermaniwka, 65 km von Kyjiw entfernt. Wir saßen gerade am Tisch, tranken Wein und redeten über Bücher. Ich habe immer mehr den Eindruck, dass Bücher nicht zum Lesen da sind, sondern um besprochen zu werden. Natürlich wird häufiger über Fernsehserien gesprochen, aber Bücher sind doch ein netteres Gesprächsthema. Bücher haben einfach mehr Gefühl als das Fernsehen! Und man kann sie eben auch ohne Strom lesen. Außer es sind E-Books.
Diesmal drehte sich unsere Unterhaltung um ein Buch, das diejenigen, die noch in der UdSSR geboren wurden, in der Schule unter der Rubrik „russische Literatur“ behandelten, und das Schulkinder, die in der unabhängigen Ukraine zur Welt kamen, bis heute in der Sparte „ausländische Literatur“ lesen: der Roman in Versen „Eugen Onegin“ des russischen Dichters und Schriftstellers Alexander Puschkin (1799–1837).
Mit uns am kerzenerleuchteten Tisch saßen zwei nette junge Frauen – Dascha und Katja, zwei Geflüchtete aus Donezk – und unsere Gastgeber Julietta und Arie. Die Frau des Hauses, Julietta, ist Afro-Ukrainerin. Ihr Vater stammte aus Afrika und kam als Student in die UdSSR. Nach seinem Abschluss kehrte er in seine Heimat zurück und ließ seine Tochter und ihre Mutter in Kyjiw zurück. Juliettas Ehemann, der Niederländer Arie van der Ent, ist ein bekannter Slawist, Verleger und Übersetzer. Vor einigen Jahren ist er zu Julietta in die Ukraine gezogen. Er war es, dieser Übersetzer zahlreicher russischer und ukrainischer Dichter – darunter die Werke der Grande Dame ukrainischer Literatur, Lina Kostenko –, der das Tischgespräch auf „Eugen Onegin“ und Puschkin lenkte.
Tatsächlich hat er erst vor Kurzem über einen Verlag Fördermittel aus Russland bekommen, um eine neue niederländische Übersetzung des Romans anzufertigen. Russland scheut bei der Förderung klassischer Werke weder Kosten noch Mühen – in Anbetracht seines außergewöhnlich negativen und aggressiven politischen Images ist das beeindruckende kulturelle Renommee Russlands das beste Gegenargument. In den Niederlanden ist der Ruf Russlands um einiges schlechter als in den Nachbarländern Deutschland und Frankreich. Nach mehrjährigen Ermittlungen wurde im März 2020 die andauernde Verhandlung zum Abschuss des Malaysia-Airlines-Flugs 17 (von Amsterdam nach Kuala Lumpur) über dem Donezbecken durch eine Buk-Rakete aus Russland eröffnet.
Sämtliche Gedichte Alexander Puschkins sind bereits ins Niederländische übersetzt worden. Die jüngsten Übersetzungen von „Eugen Onegin“, „Der eherne Reiter“ und weiterer Werke wurde von einem der bekanntesten Russisten Hollands verfasst, Hans Boland, der Jahre damit zubrachte, das fast vollständige poetische Gesamtwerk Puschkins ins Niederländische zu übertragen. Bei der Veröffentlichung von Bolands Übersetzungen 2013 kommentierte der niederländische Außenminister Frans Timmermans: „Dies ist ein unglaubliches Geschenk für die niederländische Leserschaft. Und ein unglaubliches Geschenk für die niederländische Sprache.“ Im August 2014 lehnte Boland dann die „Puschkin-Medaille“ ab, die staatliche Auszeichnung Russlands für seine Hilfe dabei, russische Literatur einer breiten Masse zugänglich zu machen, und rechtfertigte seine Absage mit den Worten: „Ich hätte diese mir erbrachte Ehre mit äußerster Dankbarkeit angenommen, wäre da nicht Ihr Präsident, dessen Verhalten und Denkweise ich verachte. Er stellt eine große Gefahr für den Frieden und die Freiheit auf unserem Planeten dar. Gebe Gott, dass seine ‚Ideale‘ in naher Zukunft komplett zunichtegemacht werden. Eine jegliche Verbindung zwischen mir und ihm, zwischen seinem Namen und dem Puschkins, empfinde ich als widerwärtig und unerträglich.“1
Zu seinen Lebzeiten war Alexander Puschkin, wie auch der berühmte ukrainische Dichter Taras Schewtschenko, nach heutigem Begriff ein Regimekritiker und politischer Gefangener. Für seine satirischen antimonarchistischen Gedichte ließ ihn der Zar nach Odessa und Chișinău ins Exil schicken, um dort eine Heuschreckenplage zu bekämpfen. In Chișinău begann Puschkin mit der Arbeit an seinem Roman „Eugen Onegin“, die er in Odessa fortsetzte. So scheint die Ukraine also logischerweise der ideale Ort, um an einer neuen niederländischen Übersetzung zu arbeiten.
Und so kommt es also, dass die Arbeit an einer neuen Übersetzung von „Eugen Onegin“ ins Niederländische nun in einem gemütlichen Häuschen in der Taras-Schewtschenko-Straße in dem alten Dorf Hermaniwka in vollem Gange ist. Auch die Arbeit an Übersetzungen ukrainischer Lyrik ins Niederländische findet hier statt, die sich Arie van der Ent völlig ohne Zuwendungen oder Fördermittel des ukrainischen Staates macht, aus reiner Leidenschaft. Ich bin sicher, dass auch Arie die „Puschkin-Medaille“ ablehnen würde, wenn der russische Staat ihm eine solche Auszeichnung anböte. Genauso wie Boland auch liebt er Puschkin, kann Putin aber nicht ausstehen. Außerdem liebt er seine Frau Julietta und die Ukraine sehr – so sehr, dass er seine Wohnung in Rotterdam verkaufte und sich ein Haus in einem ukrainischen Dorf zulegte!
Mir gefällt diese paradoxe Konstellation, bei der Alexander Puschkin die weitere Verbreitung ukrainischer Gedichte in den Niederlanden und Europa quasi fördert.
Wir setzten unser Tischgespräch über Bücher bei einem Gläschen auch dann fort, als die Stromversorgung wieder hergestellt war und das Licht im Haus wieder brannte. Zur Sicherheit ließen wir die Kerzen weiterbrennen, damit wir später nicht wieder nach Streichhölzern suchen müssten.
Seit Kurzem trauen sich die ukrainischen Massenmedien nicht mehr, Bücher zu besprechen. Schlimmer noch: Die TSN-Website (des Fernsehsenders 1+1) empfahl in einem Artikel über Silvestergeschenke der Leserschaft, Freunden und der Familie keine Bücher zu schenken. Die Leser wurden zudem vor den fürchterlichen Folgen solcher Geschenke gewarnt: „Wenn Sie Streitigkeiten und Missverständnisse in der Familie vermeiden wollen, ist es besser, Ihrem Gatten so etwas wie ein Buch lieber nicht zu schenken. Und Ihrer Frau zu Neujahr ein Buch zu schenken, könnte sie zum Fremdgehen verleiten!“ Fairerweise muss ich hinzufügen, dass dieser Abschnitt nach einer hitzigen Debatte der Tipps auf Facebook schließlich aus dem Artikel über Neujahrsgeschenke entfernt wurde. Nun werden unter den Geschenketipps Bücher mit keiner Silbe erwähnt.
Zu guter Letzt möchte ich Ihr Augenmerk auf das Dorf Hermaniwka lenken. Hier finden sich überaus interessante Beispiele der Architektur des 19. Jahrhunderts, eine Kunstgalerie und ein historisches Museum voller erstaunlicher Exponate. Bis 1919 erlebte die große jüdische Gemeinde hier ein stürmisches Dasein, das in zwei blutigen Pogromen gipfelte. Die Grenze zwischen Polen und dem Russischen Kaiserreich verlief ehemals nahe diesem Dorf. Im 11. Jahrhundert gab es hier eine befestigte Siedlung, die von ukrainischen Archäologen Ende der 1990er-Jahre entdeckt wurde, und 1663 wurde hier die „Tschorna Rada“ – der „Schwarze Rat“ – einberufen: ein Treffen mit dem Ziel, zwischen den rivalisierenden Kosakenstämmen – dem von Hetman Iwan Wyhowskyj und dem von Hetman Jurij Chmelnyzkyj – zu vermitteln. Iwan Wyhowskyj galt als pro-polnischer Politiker und Staatsmann, Jurij Chmelnyzkyj hingegen als pro-russisch. Das Treffen endete mit Blutvergießen und läutete eine Periode der ukrainischen Geschichte ein, die offiziell in den Schulbüchern als „Die Ruine“ bezeichnet wird. Der Begriff beschreibt die Epoche der Vernichtungskriege, die den Einfluss Moskaus auf das Staatsgebiet der heutigen Ukraine nur stärkte.
Gegen Mitternacht des Tages, an dem wir unsere guten Freunde Julietta und Arie besucht hatten, machten sich Dascha und Katja, die zwei Frauen aus Donezk, bereit für ihren Heimweg nach Kyjiw. Ich war überrascht: „Bekommt man hier so spät nachts noch ein Taxi?“ Wie sich herausstellte, war das tatsächlich möglich. Julietta rief mehrere private Taxiunternehmen in der nahegelegenen Stadt Obuchiw an und ein Fahrer stimmte in der Tat zu, ihre Gäste für 1.000 Hrywnja (ca. 33 Euro) nach Kyjiw zu fahren. Ziemlich billig für eine Stunde Fahrt, möchte man meinen. Aber man muss bedenken, dass die Mindestrente in der Ukraine 2.500 Hrywnja (etwa 80 Euro) beträgt und der Mindestlohn bei 6.500 Hrywnja (etwa 210 Euro) liegt. Ein Taxifahrer, dem etwa 250 Hrywnja für Benzin draufgehen, verdient somit also sehr gutes Geld, auch wenn man bedenkt, dass er die Rückfahrt ohne Passagiere antreten muss!
Am folgenden Samstagmorgen versuchten Windböen immer noch, unser Taxi auf dem Weg nach Hause von der Straße zu fegen. Wir hatten unsere Freunde in einem Haus zurückgelassen, das wieder einmal keinen Strom hatte. Auf der Rückfahrt nach Kyjiw lief das Radio. Der Radiomoderator machte sich über ein aktuelles Interview mit Selenskyj lustig, in dem der Präsident sagte: „Die Sowjetunion hatte ihre Vor- und Nachteile.“
Dann lief ein Bericht über einen hochrangigen Polizisten, der betrunken am Steuer erwischt worden war. Seine Unterhaltung mit dem Verkehrsbeamten, der ihn festgenommen hatte, war aufgezeichnet worden und wir hörten die lallende Stimme des Straffälligen, der dem Beamten erklärte: „Kollegen müssen sich gegenseitig unter die Arme greifen, wo kämen wir denn da sonst hin?“ Wenn meine Frau und ich jemanden mit dem Auto besuchen, nehmen wir uns immer vor, über Nacht zu bleiben. Worin liegt der Sinn und Zweck eines Besuchs, wenn man dabei keinen guten Wein trinken kann? Leider kann ich nicht behaupten, dass alle Fahrer so denken. Auf ukrainischen Straßen gibt es immer noch viel zu viele betrunkene Autofahrer, unter ihnen sogar Polizisten.
Die nächste Nachricht handelte von Hackern, die am Vortag den umfassendsten Angriff der letzten vier Jahre auf die Websites des Ministerkabinetts der Ukraine und der meisten anderen Regierungsbehörden ausgeübt hatten. Russland erklärte sofort, es habe nichts damit zu tun, und ging sogar so weit, auf Antrag der USA hin vierzehn russische Hacker zu verhaften, denen Angriffe auf Unternehmen in den Vereinigten Staaten vorgeworfen werden.
Wieder in Kyjiw besuchte ich meinen Bekannten aus Charkiw, einer Stadt mit einer Million Einwohnern, 30 km von der Grenze zu Russland entfernt.
„Was meinst du”, fragte er, „wird es zum Krieg kommen?“
„Ich hoffe nicht“, antwortete ich.
„Ich fürchte, es wird einen geben“, entgegnete er niedergeschlagen, „aber sie werden nicht bis nach Charkiw kommen. Es wird keine Angriffe auf Charkiw geben!“
Er erklärte weiter, dass sich russische Soldaten bereits in der Nähe von Rostow am Don versammelt hatten und zusammen mit den Separatisten aus dem Donbass planten, die Stadt Mariupol einzunehmen und möglicherweise einen Landkorridor zur Krim zu schaffen. Die in der Nähe von Woronesch stationierten Truppen hätten es auch auf den Donbass und den östlichen Teil der Oblast Charkiw abgesehen, während das in der Nähe von Brjansk zusammengekommene Heer Tschernihiw und Sumy im Visier hat, die beide in Reichweite von Kyjiw sind.
Der Kaffee in diesem Café ist in der Regel ausgezeichnet, aber diese Unterhaltung ließ ihn mir wirklich bitter aufstoßen.
Ich ging nach Hause und wollte mich vom Krieg ablenken lassen, indem ich auf Facebook ging. Ukrainische Nutzer posten seit jeher mehr Beiträge über Katzen als über Kriege. Meine Erwartungen wurden bestätigt und trotzdem geriet ich in eine hitzige Diskussion über Schulmahlzeiten. Wie sich herausstellte, wurde am 1. Januar 2022 eine radikale Reform des Schulessens in der Ukraine eingeführt. Süßes Gebäck, Würste, Torten, Zucker und Salz wurden neben einer langen Liste an weiteren Leckereien verboten. Der Urheber dieser Reform ist der überaus populäre Fernsehkoch Jewhen Klopotenko. Die moralische Unterstützung für die schwierige Aufgabe, das Schulessen zu reformieren, leistete dabei die Ehefrau des Präsidenten, Olena Selenska, die als Drehbuchautorin für das von ihrem Ehemann gegründete Comedy-Studio Kvartal 95 arbeitet.