Die Welt, wie wir sie liebten - Elina Bo - E-Book

Die Welt, wie wir sie liebten E-Book

Elina Bo

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Beschreibung

Ihre Welten haben nicht zusammengepasst. Freyas Schicksalsschlag begleitet sie noch immer wie eine dunkle Wolke, doch als sie gerade wieder dabei ist laufen zu lernen, taucht Bobby in ihrem Leben auf. Bobby in Manhattan? San Francisco in Manhattan? Es ist nie gut, wenn sich die Geister der Vergangenheit zeigen. Und für Freya zeigen sich weit mehr als nur diese Geister der Vergangenheit. Sie wird mit ihrer Geschichte konfrontiert und lernt mehr über ihre Familie kennen, als sie bis hierhin überhaupt für nötig gehalten hatte. Sie hatte ihre Mutter nicht gekannt. Sie hatte ihre Mutter nie kennen wollen. Sie gerät in eine Welt, aus der es keinen Ausweg zu geben scheint. In eine Welt, in der sie nichts zu suchen hat. In eine verdammt gefährliche Welt. In die Welt, die einst ihr Schicksal besiegelt hat. Kann es noch schlimmer werden? Oh, glaub mir. Es kann immer noch schlimmer werden. Auch Bobby hat es nicht geschafft sich seiner größten Angst zu stellen. Seine Vergangenheit holt ihn wieder und wieder ein, bis das Pulverfass explodiert. Bis er den Menschen verletzt, den er nie verletzen wollte. Freya. Wie weit ist man bereit für die Liebe zu gehen? Sehr weit. Doch so weit, dass er sein Leben, das Leben seiner Kollegen, besten Freunde und Familie aufs Spiel setzt? Schicksal ist etwas, was man nicht verändern kann. Schicksal wird geschrieben und man muss damit leben. Doch was wäre, wenn man sich sein Schicksal erträumen könnte? Würde dann alles am Ende immer gut werden?

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2 – Bobby

Kapitel 3

Kapitel 4 - Bobby

Kapitel 5 – Bobby

Kapitel 6 – Bobby

Kapitel 7

Kapitel 8 - Bobby

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11 – Bobby

Kapitel 12

Kapitel 13 – Bobby

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16 – Jay

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19 – Bobby

Kapitel 20

Kapitel 21 – 1 Jahr später

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 1

Die tiefstehende Nachmittagssonne schien durch mein Fenster und tauchte mein Zimmer in ein warmes Orange. Die Holzbalken an den Wänden wirkten hell und in den Strahlen der Sonne konnte ich einzelne Staubflusen tanzen sehen.

Für einen kurzen Moment stand ich einfach nur da und betrachtete winzige Details, die man im Alltag gern übersah. Ich drehte mich zu meinem Spiegel um, der unbefestigt an der weißen Wand lehnte. Ich sah mich an.

Schwarzes, kurzes Kleid mit langen Ärmeln und einem leichten Ausschnitt unter den Brüsten. Schwarze, durchsichtige Strumpfhose und meine Doc Martens. Zugegeben sie passten vielleicht nicht hundertprozentig zu dem Stil des Kleides, doch ich fühlte mich wohl in ihnen. Als ich zu meinem Gesicht aufsah, strich ich mir vorsichtig durch meine braunen Locken und schob sie mir aus der Stirn. Ein paar Sekunden sah ich mir einfach selbst in die Augen. Vielleicht weil ich nicht realisieren konnte, dass ich gerade hier stand und meinen bestandenen Abschluss in der Tasche hatte. Vielleicht aber auch, weil ich noch immer nicht glauben konnte, was mein Schicksal für mich bereitgehalten hatte. Plötzlich lächelte ich, ganz ohne darüber nachdenken zu müssen. Der erste Moment seit langer Zeit, an dem ich unbewusst ein Lächeln an mir wahrnahm. Neun Monate war es her, seit mein Vater gestorben war. Sechs Monate war es nun schon her, dass ich San Francisco hinter mir gelassen hatte. Ich würde lügen, würde ich behaupten, dass es mich nicht mehr beschäftigte.

Ob ich zwischendurch noch daran dachte? Ja definitiv. Ob es mein Leben noch beeinflusste? Absolut.

Das dunkle Funkeln in den Augen des Mannes, der im Supermarkt in der Schlange an der Kasse hinter mir stand. Das Lächeln eines kleinen Jungen, der mich fragte, ob er Bowie streicheln könnte. Die angespannten Schultern meines Professors, wenn er beinahe wegen der Fragen der Studenten verzweifelte. In all dem erkannte ich Bobby.

Und meinen Vater? Den sah ich in jedem Polizisten der vorbeilief, in den Vätern vorbeilaufender Kinder und in jeder Person, die mir Freundlichkeit und Aufmerksamkeit entgegenbrachte. Ich vermisste ihn scheußlich. An manchen Tagen bemitleidete ich mich selbst. An anderen wusste ich, dass der Schmerz irgendwann verblassen würde. War ich tatsächlich von einer Träumerin zu einer Realistin geworden? Ich hatte es nie gewollt, denn damit einher ging das ‚Erwachsenwerden‘, das ‚auf eigenen Beinen stehen‘ und das ‚du musst einen anerkannten Job haben, um in der Gesellschaft gut anzukommen‘.

‚Ja, wer will das schon Freya? Aber es geschieht zwangsläufig. Bei dem einen früher, bei dem anderen eben etwas später. Letztendlich ist jeder Einzelne jedoch für den Verlauf seiner Geschichte verantwortlich. Das Schicksal kann für einen bereithalten was es will, du bist diejenige, die damit umgehen muss und verdammt nochmal… Mach das Beste draus‘, fing die kleine Freya auf meiner Schulter an.

Sie war wieder die Alte. Die, die mich stets aufbaute und an mich glaubte. Ich musste selbst an mich glauben, das hatte ich aus den letzten neun Monaten gelernt. Wer sonst war zu jeder Zeit für mich da?

„Freya, komm schon. Wir warten nur auf dich mit dem Wein“, rief Lynn genervt aus dem Wohnzimmer.

„Ich komme“, antwortete ich und sah mir selbst noch ein letztes Mal in die Augen.

Heute Abend sollte nicht ein Gedanke an die Vergangenheit verschwendet werden. Wir hatten alle drei unseren Abschluss bestanden. Aus diesem Grund wurde jährlich eine große Party auf dem College-Campus geschmissen. Diesmal waren wir dran und ich muss gestehen, dass ich dem Studentenleben schon jetzt hinterhertrauerte. Kati hatte vor, mit ihrem Freund eine gemeinsame Wohnung zu nehmen. Und Lynn und ich? Tja, das war ne gute Frage. Wie würden wir beiden wohl klarkommen?

Diese Wohnung, auch wenn sie uns jahrelang einen wahnsinnig tollen Rückzugsort geboten hatte, konnte wir uns zu zweit einfach nicht leisten. Eine weitere dritte Person kam gar nicht in Frage. Wer hätte Kati bitte ersetzen können? Niemand. Entweder alle oder keiner. Und genau das war der Grund für die Entscheidung von Lynn und mir gewesen, eine eigene Wohnung für jeden von uns zu suchen. Mit möglichst wenig Entfernung voneinander, aber dennoch etwas Eigenes.

Wir waren fündig geworden. Beide. Uns würden lediglich fünf Gehminuten voneinander trennen. In zwei Wochen stand der Umzug für alle von uns an und bis dahin gab es noch einiges an Renovierungsarbeiten zu erledigen. Aber trotz all den aufregenden Dingen, auf die ich mich beim Alleinleben freute, würde es furchtbar werden.

Wie viele Jahre hatten wir uns nun eine gemeinsame Wohnung geteilt? Von den gemeinsamen Weinabenden, Kleiderschränken, gekochtem Essen und Zahnbürsten mal ganz zu schweigen. Es waren mittlerweile fünf Jahre. Ich konnte mir ein Aufwachen ohne Lynns Meckereien nicht mehr vorstellen. Ich wollte es auch gar nicht. Es gehörte zu mir und es machte mich aus. Es half mir in gewisser Weise eine Konstante in meinem Leben zu haben. Ich versuchte an allem festzuhalten, was auch nur einen Funken Sicherheit ausstrahlte. Lynn war meine Sicherheit. Sie ist es schon immer gewesen, also warum sollte sich das ändern?

Als ich von meinem Zimmer zurück in unser geselliges Wohnzimmer kam, lief Lynn hektisch in der Küche umher und Kati saß, auf ihrem Handy tippend, am Wohnzimmertisch.

„Ach endlich! Du beehrst uns ja auch mal mit deiner Anwesenheit“, sagte Lynn, ohne mich anzusehen und ohne von ihrem Vorhaben abzulassen.

Was zum Teufel tat sie?

„Kann ich dir irgendwie helfen Lynn?“, fragte ich mit hochgezogenen Augenbrauen, etwas verblüfft über ihre schlechte Laune.

Lynn hatte selten schlechte Laune und wenn, dann galt sie für gewöhnlich nicht mir. Sie antwortete nicht, sah mich nicht einmal an. Ich stellte mich ihr in den Weg und stoppte sie abrupt an ihren schmalen Schultern.

„Lynn, was ist? Kann ich dir irgendwie helfen?“, fragte ich erneut fordernd, ihr tief in die Augen blickend.

Sie waren glasig. Obwohl sie größer war als ich, wirkte sie kleiner. Auch das war ungewöhnlich.

„Sag mir doch bitte was los ist“, gab ich mit Nachdruck hinterher.

Kati stand auf, verdrehte die Augen und sagte:

„Lynn ist etwas melancholisch.“

Ich sah Kati mit einem Blick an, der ihr sagen sollte ‚Jetzt sei du nicht auch noch so‘, doch sie zuckte nur mit den Achseln und sah dann wieder gleichgültig auf das Display ihres Handys.

Jetzt schluchzte Lynn, nahm mich in den Arm und sagte unter ihren laufenden Tränen hinweg:

„Freya, ich kann nicht alleine leben. Ich vermisse dich doch schon, wenn du nur eine Nacht nicht hier schläfst. Ich will gar nicht davon anfangen, wie furchtbar es für mich war, als du mal eine Woche in Texas warst. Verdammt es war nur eine Woche und ich hab in deinem Bett geschlafen, um ein bisschen Freya bei mir zu haben. Und die Zeit, die du in San Francisco warst… Die war mein Tod. Ich hab tagelang nichts essen können und…“

Ich unterbrach sie, eh sie sich noch weiter in dieses Thema hineinsteigern konnte:

„Lynn, hör mir mal zu. Ich denke doch genauso. Für mich ist ein Leben ohne dich nicht vorstellbar, aber hey, schau uns mal an. Wir müssen ja auch nicht ganz ohneeinander auskommen. Wir müssen lediglich mal ohneeinander Zähneputzen, abends einen Wein auf der Couch trinken oder auch mal alleine mit einem Sandwich einen Film ansehen. Unsere Wohnungen liegen zwei Straßen auseinander. Unsere Leben werden sich doch nicht trennen!“

Mir entwich unter meinen Worten ein verzweifeltes Lachen, was weder mir, noch Lynn Mut machte. Sie löste ihre Umarmung, sah mich wütend an und antwortete:

„Wehe du trinkst jemals einen Wein ohne mich auf der Couch.“

Ich musste lachen. Und zwar von ganzem Herzen. Lynn brauchte eine weitere Sekunde, eh sie in mein Lachen mit einfiel.

„Ihr seid furchtbar“, sagte Kati, die nun mit drei Weingläsern an uns vorbeilief.

„Solltet ihr beiden jemals einen Mann kennenlernen, wird der mit euch beiden zurechtkommen müssen und diese Wahrscheinlichkeit läuft geradewegs gegen null“, warf sie noch trocken hinterher und schenkte dann den gekühlten Weißwein in die Gläser ein.

„Ach Kati, du hast gut reden. Dein Traumprinz hat dich schließlich schon gefunden. Ich erörtere jetzt nicht den langen Weg, den wir gemeinsam bis hierher zurückgelegt haben… Ich habe dich lange nicht mehr betrunken gesehen Frey. Ich glaube heute ist es mal wieder so weit. Ich pass doch auch auf dich auf“, sagte Lynn schmunzelnd, nahm eines der gefüllten Weingläser und reichte es mir.

Im Vorbeigehen kniff sie Kati in den Po, was einen kleinen Aufschrei ihrerseits zur Folge hatte. Ich liebte die beiden. Das Einzige, das mir noch geblieben war. Und Bowie. Wie, als sei es sein Stichwort gewesen, trottete er aus meinem Zimmer hinaus, streckte sich und gesellte sich zu uns. So, wie wir hier waren, waren wir komplett. Und das sollte sich ändern? Jetzt war ich diejenige, die melancholisch wurde.

Gedankenverloren nahm ich das Glas entgegen und drehte die Musik auf. Unsere Playlist lief. Mühsam über die letzten Jahre zusammengestellt. Zu jedem Song gab es eine Geschichte, ein Gefühl oder einen Moment. Ich wünschte mir, man könnte sich sein Schicksal erträumen. Wie wunderbar würde das Leben sein?

Wir sahen definitiv erwachsener aus als wir es noch vor einigen Monaten taten. Die Zeit hatte bei jedem von uns Spuren hinterlassen und doch änderte es nichts an der Tatsache, wie wir uns gegenseitig wahrnahmen. Als Halt für jede noch so schlimme Zeit.

„Lasst uns anstoßen, wir müssen gleich los“, rief Lynn aufgeregt mit dem Glas Wein in der einen und dem Glätteisen für ihre Haare in der anderen Hand.

Kati und ich gingen auf sie zu und hielten unsere Gläser aneinander:

„Lasst uns anstoßen. Auf uns und das Leben.“

Als wir losgingen, war es bereits 18:00 Uhr. Wir waren spät dran. Katis Eltern waren von ihrem Hotel aus schon lange am Campusgelände angekommen und auch Lynns Familie musste bereits dort sein.

Warum genau konnten wir nochmal nie pünktlich sein? Ach ja, weil sich die Tatsachen, ein Badezimmer und drei Frauen in einem Haushalt einfach nicht vereinen ließen. Bei dem Gedanken daran musste ich schmunzeln und auch das würde etwas sein, was ich furchtbar vermissen würde.

Lynn und Kati trugen hohe schwarze Schuhe, weshalb wir die Treppen zur Straße nur langsam hinuntergehen konnten. Ausnahmsweise musste ich mir keine Sorgen um Lynns Sprunggelenke machen. Wenn sie es noch zwei weitere Wochen aushalten würde, hätten wir es geschafft, fünf Jahre in diesem Apartment zu leben, ohne dass sie sich die Knöchel verstaucht oder die Bänder gerissen hätte.

‚Es grenzt an ein Wunder‘, dachte ich und ließ mir die vielen Male durch den Kopf gehen, in denen sie nur um ein Haar um diesen Umstand herumgekommen war.

Draußen angekommen, kam uns eine warme Brise der Sommerluft, gemischt mit dem Geruch der Großstadt, entgegen. Wie so oft in letzter Zeit wünschte ich mir, ich könnte glücklicher sein und die kleinen Momente mehr genießen. Doch ganz gleich wie sehr ich mich darauf konzentrierte, der Gedanke an meinen Vater schwebte wie eine dunkle Wolke über mir.

Und der Gedanke an Bobby? Der ließ mein Herz schwer werden. Ich glaube, ich war zuvor noch nie verliebt gewesen. Und wenn ich es so betrachtete, wollte ich es auch nie mehr sein. Es macht abhängig. Das Gefühl betrügt einen. Man kann sich auf nichts mehr verlassen, nicht mal mehr auf sein Hungergefühl. Liebe war genauso, wie sie in unzähligen Büchern und Filmen beschrieben wurde. Für die einen mit Happy End, doch für die anderen endet sie mit einem gebrochenen Herzen.

„Freya du trödelst. Komm schon, meine Familie wartet sehnsüchtig auf uns“, rief Lynn, nahm meinen Arm und zog mich hinter sich her.

Sie war gerade glücklich, so viel konnte ich sagen und ich konnte nicht leugnen, dass mir dieser Umstand ebenso ein Lächeln ins Gesicht zauberte. Kati schüttelte wie immer, wenn sie uns beiden dabei zusah, wie wir miteinander umgingen, den Kopf und lief einige Meter vor. So gingen wir also ein weiteres Mal die Straßen von Manhattan entlang zum Campus des Marymount Manhattan College. Ein letztes Mal.

Als wir dort ankamen, dröhnten uns die sanften Bässe der Musik entgegen. Es war eine große Bühne auf dem Platz aufgebaut, auf der noch später am Abend eine Live-Band spielen würde. Die große Wiese auf dem Campus, auf der normalerweise Studenten saßen, lasen, redeten und an Hausarbeiten schrieben, war festlich geschmückt. Überall hing Schmuck mit der Aufschrift „Glückwunsch zum bestandenen Abschluss“ oder „Wir wünschen euch eine glorreiche Zukunft“. Bunte Lampions hingen an den Bäumen und zierten die Schotterwege, die sich durch die Wiese schlängelten. Noch war es hell genug, sodass man die Wirkung der Lichter nur erahnen konnte. Ich freute mich auf den Abend.

Wir liefen geradewegs auf Lynns Familie zu, die ihre leuchtenden Augen, als sie uns erblickte, nicht verbergen konnte.

„Okay Mädels, ich muss zu meinen Eltern, ihr wisst schon, ‚Wir sind extra für dich gekommen‘ und so...“, sagte Kati, die Augen verdrehend.

Warum tat sie das in letzter Zeit so häufig?

„Wir sehen uns nachdem der ganze Zeremonienkram vorbei ist“, rief ich ihr zwinkernd hinterher.

Sie drehte sich nochmal zu uns um, eh sie tänzelnd mit ihrem etwas zu kurzen Kleid davonlief.

Da stand ich nun. Bei Lynns Familie, weil ich keine eigene mehr hatte. Aber ich fühlte mich wohl hier. Ich kannte sie schließlich seit meiner Kindheit.

Mittlerweile verschwand die Sonne und die Lampions tauchten den Platz in bunte, warme Farben. Die Zeremonie war größtenteils vorbei. Lediglich die Ehrungen in der Kunst fehlten noch. Jeder, der seine Werke der letzten fünf Jahre eingereicht hatte, hatte die Möglichkeit, hier vor tausenden Leuten auf die Bühne gehen zu dürfen. Ob meine Fotografien hierfür gereicht hätten?

‚Wenn du etwas eingereicht hättest bestimmt. Dich hindern wie immer nur deine Versagensängste‘, hörte ich mich selbst denken und musste mir auch unweigerlich Recht geben.

Lynn kniff mir in die Seite und zwinkerte mir zu, als es zu den Ehrungen der Kunstprojekte kam. Warum war ich auf einmal aufgeregt? Ich blickte auf den Boden zu meinen Füßen und als ich wieder aufsah, erkannte ich eine Bildergalerie, die aneinandergereiht auf die Bühne getragen wurde. Es waren Bilder vom Meer. Wir standen nahe genug dran, dass man die Motive erkennen konnte. Auf einem war ein verregneter Strand aus einem etwas beschlagenen Schaufenster zu sehen. Auf dem anderen der gleiche Strand im Dunst der aufgehenden Morgensonne.

Und genau jetzt war es der Moment in dem ich realisierte, dass es San Francisco war. Es war der Strand, den ich drei Monate lang jeden Morgen von Bobbys Veranda aus betrachtet hatte. Es war der Ort, an dem ich unzählige Stunden mit Bowie gelaufen war. Der Ort, an dem ich meine Trauer versucht hatte hinter mir zu lassen. Es waren meine Bilder.

Ich konnte weder etwas sagen, noch auch nur einen Muskel zu einer Regung bewegen. Lynn nahm mich in den Arm und rief aufgeregt:

„Freya, du hast es geschafft. Du hast es geschafft. Siehst du? Du bist toll in dem, was du tust. Du musst den Menschen nur die Chance geben, dich und deine Arbeit zu lieben.“

„Du hast… du hast meine Bilder eingereicht? Lynn… ich kanns nicht glauben“, sagte ich, noch immer völlig überrumpelt, dass meine Fotografien dort vorne standen und die Menschen die Möglichkeit hatten, sie auf sich wirken zu lassen.

Als auch wir auf die Bühne gingen, sah ich, dass mein Name unter jedem Einzelnen von ihnen stand:

Freya Rosedale

Auch ich ließ sie zum ersten Mal auf mich wirken. Ich hatte sie mir nie wieder angesehen. Viel zu sehr hatte ich den Gedanken an San Francisco verdrängen wollen.

Die wärmenden Sonnenstrahlen in den Sommermonaten in San Francisco. Das Rauschen des Meeres an der endlos scheinenden Küste und das Prasseln des Regens auf die Fensterscheiben von Chris´ Café.

Es war für den Bruchteil einer Sekunde so, als wäre ich wieder dort. An dem Ort, der mich rückblickend zu einem anderen Menschen gemacht hatte. An dem ich viel über mich selbst gelernt hatte und doch hatte ich es nicht erwarten können, von ihm wegzukommen.

Eines der Bilder hatte ich von Bobbys Veranda aus gemacht und ich stellte mir vor, dass ich gerade jetzt dort mit meinem Kaffee in der Hand stehen würde, Bowie an meiner Seite und Bobby im Hintergrund in der Küche, wie er uns Toast zubereitet. Eine Vorstellung, die meine Augen wässrig werden ließ.

Eine Hand legte sich auf meine Schulter. Hätte es nicht Bobbys Hand sein können? Hätte ich nicht tatsächlich noch in San Francisco sein können und alles wäre anders gelaufen?

‚Vergiss es Fräulein. Aus so einem Schlamassel wollen wir dich nicht mehr rausholen müssen‘, meldete sich mein Gewissen zu Wort.

Ich musste lächeln und drehte mich zu einer älteren Dame um, dessen Hand auf meinem Arm ruhte. Sie trug kurzes blondiertes Haar und hatte viele feine Falten im Gesicht, die für ein erfülltes Leben sprachen. Sie kam mir bekannt vor. Als sie mich anlächelte wusste ich, wer sie war. Es war die alte Frau aus dem Flugzeug von San Francisco nach Manhattan. Sie hatte neben mir gesessen. Ich hatte sie zwar nie richtig betrachtet und dennoch war ich mir sicher, dass sie es sein musste.

„So schnell sieht man sich wieder junge Dame“, sagte sie mit einem Lächeln, das zwar ihre Mundwinkel umspielte, jedoch ihr gesamtes Gesicht erreichte.

„Sie hätte ich hier auch nicht wirklich erwartet“, antwortete ich freundlich und blickte wieder zurück zu meinen Bildern, die vor uns standen.

Warum kam sie mir so unglaublich vertraut vor?

„Du weißt also noch wer ich bin. Tja, Manhattan ist zwar groß, nicht jedoch so groß, dass nicht auch nur ein Funken Wahrscheinlichkeit besteht, sich noch ein zweites Mal über den Weg zu laufen. Manchmal bedeutet es was, weißt du. Wenn ich in meinem langen Leben eines gelernt hab, dann dass ich solche Zeichen des Schicksals nicht mehr übersehen darf.“

Es folgte eine kurze Pause, die ich jedoch nicht wagte zu unterbrechen, eh sie fortfuhr:

„Nicht so bescheiden. Du hättest mich ruhig an deinem Talent teilhaben lassen können. Die Bilder sind atemberaubend“, sagte sie begeistert und sah nun auch in Richtung der Bilderreihe.

Mehr als ein:

„Danke“, und ein kleines Lächeln bekam ich nicht raus.

Viel zu sehr überraschte mich ein solches Kompliment von einer Fremden.

„Freya, richtig?“, fragte sie eher rhetorisch und führte ihren Satz weiter, ohne eine Antwort von mir abzuwarten.

„Ich habe ein leerstehendes Studio-Apartment unweit der 5th Avenue am Central Park. Es würde sich hervorragend für ein Atelier eignen. Ich habe dafür keine Verwendung mehr. Wenn du magst, schaust du es dir die Tage mal an. Hier, ich schreib dir die Adresse auf. Du musst nicht, aber ich wette, es würde dir gefallen und außerdem würde es dir einen guten Start in dein Berufsleben bieten“, beendete sie ihren Satz.

Meine Augen weiteten sich und ich bekam noch weniger Worte heraus als zuvor.

‚Was bei 0 Worten ungefähr 0 wären du Mathegenie‘, machte sich meine innere Stimme augenrollend bemerkbar.

Ich schüttelte leicht meinen Kopf. Nicht als Absage, sondern vielmehr um sicherzugehen, dass ich nicht träumte.

„Überleg es dir“, erwähnte sie noch mit einem Zwinkern hinterher, drückte leicht meine Schulter und ging dann fort.

Ich musste noch etwas sagen, ich konnte sie nicht einfach fortgehen lassen.

„Ich überlege es mir. Danke…“, rief ich und jetzt wurde mir erst bewusst, dass ich ihren Namen nicht einmal kannte.

Sie war eine Fremde. Eine Fremde, die mir ein eigenes Atelier anbot. Es war unmöglich. Ich hätte es mir niemals selber leisten können. Womit hatte ich so eine Chance verdient? Ehe ich weiter darüber nachdenken konnte, erblickte ich Cole. Ich stand noch immer auf der Bühne und winkte ihm aufgeregt zu. Er lächelte nicht, schien in Gedanken zu sein und blickte der älteren Dame skeptisch hinterher. Oder wütend? Vielleicht hatte er einen schlechten Tag auf der Arbeit. Er trug noch seine Uniform, weshalb ich davon ausging, dass er noch immer im Dienst war und sich nur einige Minuten freigenommen hatte, um hier vorbeizuschauen. Bei meinem Abschluss. Als er bemerkte, dass ich ihm winkte und ihn ansah, löste sich sein zorniger Blick von der Richtung, in der die ältere Dame verschwunden war und er lächelte mich an.

„Glückwunsch Freya“, sagte er und nahm mich in den Arm.

„Lynns Eltern haben mir gerade erzählt, dass du als beste Fotografin geehrt wurdest. Wow, sind das deine Bilder?“, führte er das Gespräch fort.

Ich nickte, glücklich über den Umstand, dass er stolz zu sein schien. Er übernahm seit dem Tod meines Vaters mehr Aufgaben als er müsste. Er fühlte sich für mich verantwortlich, obwohl ich es nie verlangt hatte. Und ich schätze auch mein Vater hätte es nie von ihm verlangt.

„Dein Vater wäre stolz auf dich“, sagte er und damit hatte er meine volle Aufmerksamkeit, wie auch meine glasigen Augen für sich.

Wieder nickte ich, die Lippen aufeinandergepresst. Bloß nicht hier heulen vor all den Menschen.

„Ich wünschte, er könnte heute hier sein“, sagte ich leise, blickte meine Fotografien an und spürte Coles Arm auf meiner Schulter.

„Ich weiß“, sagte er darauf nur.

Mehr nicht. In Momenten wie diesem wog die Last auf mir noch schwerer und drohte beinahe mich zu erdrücken. Wir beide mussten nicht viel mehr sagen. Wir wussten, was der jeweils andere fühlte und wollten es nicht zerstören. Manche Gefühle mussten nun mal gespürt werden, um irgendwann verblassen zu können. Sie zu verdrängen oder gar zurückzuhalten macht es nur noch schlimmer.

Wir stießen noch gemeinsam an, wobei Cole bei einer Limo blieb, eh er wieder zurück in den Dienst ging und seine Schicht zu Ende bringen musste. Allmählich verabschiedeten sich die Familien und übrig blieben die College-Absolventen. Man konnte förmlich spüren, wie die Gemüter hemmungsloser und lustiger wurden. Der Alkohol entfaltete seine Wirkung und so hatten auch wir unseren Spaß. An unserem letzten Abend auf dem Campus des Marymount Manhattan College. Es war über die letzten fünf Jahre zu einem zweiten Zuhause geworden.

‚Doch die Dinge im Leben müssen sich ändern, anders kommt man niemals vorwärts‘, dachte ich an die Worte, die mein Vater einmal zu mir gesagt hatte.

Kapitel 2 – Bobby

„Go, go, go. Letzte Runde Jungs“, hörte ich Jays Stimme gedämpft hinter mir.

Ansonsten nahm ich nur meinen eigenen schweren Atem unter der Last der Uniform, der Ausrüstung und des Gewehrs wahr, während ich den Parcours ein letztes Mal in Angriff nahm. Die anderen befanden sich zwar hinter mir, doch es war ein Teamparcours. Gegenseitiges Helfen und gemeinsames Ankommen.

Eine Übung unter körperlicher Schwerstanstrengung, die uns zeigen sollte, dass wir aufeinander angewiesen waren. Jede Bewegung die ich tat, tat ich aus dem Muskelgedächtnis heraus. Zum Denken hatte ich keinen Sauerstoff und keine Kraft mehr. Körperliche Ertüchtigung war das Einzige, das mich in letzter Zeit aus dem Haus bekam.

Ach was heißt schon in letzter Zeit. Ein halbes Jahr war es nun schon her, dass Freya San Francisco verlassen hatte. Sie hatte sich nicht einmal verabschiedet. Ich hatte diese Art von Ohnmacht seit Jahren nicht mehr wahrgenommen. Genau genommen seit dem Tag, als ich ein letztes Mal meine Mutter vor meinem Vater verteidigt hatte. Der Tag, der mich verändert hatte. Der Tag, an dem ich das erste Mal stärker gewesen war als er. Seit diesem Tag bestimmte ich, wie mein Leben lief und ich hatte stets das Gefühl, alles unter Kontrolle zu haben. Bis zu dem Morgen, an dem ich aufgewacht war und nichts mehr von Freya dort war. Nicht einmal mehr ihre dreckigen Schuhe an der Verandatür. Das Einzige, was noch genau dort stand, wo es die letzten Monate gestanden hatte, war Bowies Napf. Es war sogar noch eine Pfütze Wasser drin gewesen, was mir auf seltsame Weise die Hoffnung gelassen hatte, dass sie nur auf einem ihrer langen Spaziergänge gewesen waren. Wie eben jeden Morgen.

„Sauber Männer“, empfing uns Jay am Ziel.

Er klopfte jedem von uns auf die Schulter, zu mehr waren wir auch nicht mehr fähig.

Noch immer konzentrierte ich mich auf meine gleichmäßige schwere Atmung, um meinen Puls schnellstmöglich wieder herunterzubekommen. Meine Muskeln pumpten noch, während ich die Ausrüstung ablegte und mir den Schweiß mit meinem Handrücken von der Stirn wischte. Leo hielt mir seine Faust mit einem erschöpften Lächeln hin. Ich drückte meine Faust gegen seine, doch ein Lächeln? Ich hatte keinen Grund zu lächeln. Es lief alles monoton ab. Ich stand morgens auf, trank meinen Kaffee, machte Sport, fuhr zur Arbeit, machte Sport, fuhr nach Hause, aß etwas, ging schlafen. Und immer so weiter. Jeden beschissenen Tag das Gleiche.

Ohne mich weiter den anderen zu widmen ging ich in die Umkleideräume, um eine heiße Dusche zu nehmen. Noch immer schmerzte mein ganzer Körper. Ich wusste, dass ich ihm mehr antat, als ihm zuzumuten war und ich wusste auch, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis er darunter zusammenbrach. Doch ich konnte nicht damit aufhören. Ich wollte mich nicht meinen eigenen Gedanken stellen. Und wenn das hier der Preis dafür sein sollte, dann würde ich den bezahlen.

Als ich fertig war, band ich mein Handtuch um die Hüfte und ging zurück, um mich umzuziehen.

„Bo?“

Diese väterliche Stimme. Jay wusste, wann es mir nicht gut ging, so sehr ich auch versuchte, niemanden daran teilhaben zu lassen. Mit dem Blick von ihm abgewandt, meine müden Augen auf meine vor Schmerzen zitternden Hände gerichtet, blieb ich stehen und atmete schwer aus.

„Bo, hör zu. Du warst seit Monaten nicht mehr dabei, wenn wir nach dem Dienst noch etwas gemeinsam unternommen haben. Du hast mich, Elise und die Zwillinge seit dem Tag, an dem Freya fortging nicht mehr besucht. Hast keine blöden Witze mehr gemacht. Du warst nicht bei der Auswahl der Neuen für unser Team dabei. Sonst bist du immer der Erste gewesen, der es sich nicht entgehen ließ, ihnen zu zeigen, wo hier der Hase langläuft. Sieh dich an, wie kaputt willst du deinen Körper noch machen? Du hast nicht mal mehr die Kraft, mir gescheit zuzuhören. Wo willst du hin Junge?“

Seine Worte trafen mich. Jedes davon schnitt sich messerscharf in mein Gedächtnis ein. Er hatte die Wunde getroffen, die ich versuchte zu ignorieren.

Ich saß mittlerweile auf der Bank vor meinem Spind und blickte ins Leere. Meinen Kopf in meine Hände vergraben. Jay stand direkt vor mir.

„Ich bekomm das in den Griff“, antwortete ich müde, blickte zu ihm auf und nickte ihm emotionslos zu.

„Darum geht es nicht Bobby. Du musst es nicht in den Griff bekommen. Du musst etwas dagegen unternehmen. Entweder du entscheidest dich selbst dazu, sechs Wochen Urlaub einzureichen und dir darüber klar zu werden, wie du etwas dagegen unternimmst, oder ich werde es für dich tun. Fakt ist aber…“, sagte er nun etwas lauter, doch ich unterbrach ihn:

„Das kannst du nicht machen Jay. Die Arbeit ist das Einzige, was mir bleibt.“

„Und genau da ist das Problem verdammt. Du sollst mehr haben, als nur diesen Job. Ich liebe ihn doch auch, aber jeder von uns braucht einen Grund, weshalb er um jeden Preis gesund nach Hause kommen will. Du hast diesen Grund nicht und das macht dich in Einsätzen für das Team momentan zu gefährlich. Bobby du bist der Beste, das musst du keinem beweisen und mir schonmal gar nicht. Du brauchst diese Auszeit. Glaub mir. Ich wollte diesen Schritt nicht gehen müssen. Ich hab dir sechs Monate Zeit gegeben, doch es ist kein Stück besser geworden. Ganz im Gegenteil. Ich erkenne dich nicht wieder und das macht mir verdammt nochmal eine scheiß Angst“, führte Jay seinen Satz zu Ende.

Ich sah ihm einfach nur in die Augen und für den Bruchteil einer Sekunde fühlte ich mich ihm vollständig ausgeliefert. Wer, wenn nicht Jay hätte meine Situation besser durchblicken können. Ich hatte keine Kraft mehr, meine Hände zu Fäusten zu ballen, also legte ich sie flach auf meine Oberschenkel ab. Jay sah mich mitleidig an. Gott, ich hasste Mitleid. Das hatte ich noch nie gewollt. Wie weit war es bitte gekommen?

„Okay, ich geh. Ich werde mir Zeit nehmen. Versprochen. Für dich, für mich, fürs Team Jay“, sagte ich, presste meine Lippen aufeinander und stand auf.

Als ich meine Tasche über die Schulter warf und gerade hinausgehen wollte, hielt Jay mich ein letztes Mal auf mit den Worten:

„Du bist nicht alleine. Das wirst du nie sein. Ich werde da sein. Immer!“

„Danke“, war das Letzte, was ich über die Lippen bekam, eh ich diese Arbeit das erste Mal in meiner Laufbahn für sechs Wochen nicht mehr sehen würde.

Ich hätte dem von alleine niemals zugestimmt, aber Jay hatte Recht. Ich hatte nicht mal mehr die Kraft ihm zu widersprechen. Es war besser so und es war definitiv notwendig. Ich musste einen Weg finden, um darüber hinweg zu kommen. Irgendwie damit zurechtkommen. Und zwar so, dass ich mich dabei nicht selbst kaputt machte.

Als ich zu Hause ankam, ließ ich das erste Mal seit sechs Monaten die Stille auf mich wirken. Und sie schmerzte. Ich machte keine Musik an, ich ging nicht auf direktem Weg in mein Schlafzimmer. Ich sah die Tassen an, die im warmen Licht der Abendsonne an der Wand hingen und musste daran denken, dass sie Freya gefallen hatten.

Sie hatte das Licht geliebt, in jeglichen Ausführungen. Für mich ist sie in gewisser Weise das Licht gewesen. Nur habe ich es mir nicht eingestehen wollen. Wollte ich es jetzt? Vielleicht, ja. Doch ich wollte es ihr nicht antun. Ich hatte eine scheiß Angst davor, wieder in alte Muster zu verfallen. Die Wut, die ich Frauen entgegengebracht hatte, ihr auch entgegenzubringen. Das wollte ich nicht und soweit durfte es auch nicht kommen. Niemals.

Je länger ich in dem Türbogen zu meinem Wohnzimmer und der offenen Küche stand, desto mehr fiel mir auf, dass ich nichts Persönliches in diesem Haus hatte. Keine Deko. Keine Fotos. Keine Dinge, die auf ein Leben außerhalb der Arbeit hindeuten würden. Jay hatte Recht gehabt. Ich war zu gefährlich. Ich war bereit mein Leben zu geben für alle aus dem Team und für nahezu jede Einsatzlage, in die wir hineingerieten. Und wenn ich nicht mehr nach Hause gekommen wäre? Dann wäre es eben so gewesen. Erst jetzt realisierte ich den Ernst der Lage. Warum bin ich so blind gewesen? Langsam ließ ich die Einsatztasche von meiner Schulter gleiten und atmete schwer aus. Ich musste hier weg und wenn es nur für ein paar Wochen sein würde. Ich musste wieder Perspektiven sehen, vielleicht würde mir das bei der Entscheidungsfindung helfen.

Kapitel 3

Ich stand vor dem leeren Studio in der East 68th Street, einer Querstraße zur 5th Avenue und nur einen Block von meinem neuen Apartment entfernt. Ich hatte eine ganze Woche gebraucht, um mich dafür zu entscheiden, es mir anzusehen. Warum ich so lange gebraucht hatte, konnte ich selber nicht sagen. Vielleicht weil ich nicht begreifen konnte, dass mir eine Tür in die Berufswelt als Künstlerin geöffnet wurde. Ein eigenes Studio? Eine eigene Galerie? Das war etwas, wovon jeder Fotograf, Maler oder Modellbauer nur träumen konnte. Es war völlig surreal. Und doch geschah es.

Die großen Schaufensterscheiben reichten bis zum Boden und die rote Kachelmauer zierte wild gewachsener Efeu. Die Scheiben wirkten matt, so als wären sie lange Zeit nicht geputzt worden. Die Tür war aus dunklem Mahagoni-Holz. Wenn man genau hinsah, konnte man noch eine verblasste Inschrift über dem Türbogen entziffern „M.ria´s At…“. War es mal ein Atelier gewesen? Wie lange es wohl schon her war? Verträumt biss ich auf meiner Lippe herum, bis mich die Stimme der älteren Dame aus den Träumen riss:

„Du hast dir ja wirklich Zeit gelassen. Was hat dich davon abgehalten, hierherzukommen?“

Ich sah ihr lächelnd in die Augen. Sie trug eine geblümte Bluse und eine locker sitzende, grüne Tuchhose.

‚Wieder einmal sehr elegant‘, dachte ich, eh ich ihr antwortete.

„Ich weiß es nicht, vielleicht der absurde Gedanke daran, dass Sie es ernst meinen könnten und ich damit nicht umgehen kann.“

Ich blickte wieder auf die dunkle Holztür, mit dem goldenen Knauf.

Sie nickte verständnisvoll und deutete dann auf das Gebäude. Ein Hauch von Traurigkeit war in ihren Gesichtszügen zu erkennen, doch ich wusste nicht, woher es so plötzlich rührte.

„Komm rein, ich zeig es dir“, sagte sie hoffnungsvoll.

Ich wollte so vieles über diesen Ort wissen, doch zunächst einmal war ich viel zu aufgeregt, die Stufen ins Innere zu betreten. Die Tür knarzte beim Öffnen und ein staubiger, alter Geruch kam uns entgegen.

„Ich bin lange nicht mehr hier gewesen. Verzeih, dass es ein wenig verkommen ist Freya“, sagte sie entschuldigend und deutete mir, dass ich eintreten durfte.

Ich nickte und atmete den Geruch eines alten Gemäuers ein, in dem in seiner besten Zeit einmal mehr Leben gewesen sein musste. Das konnte ich anhand der liebevoll gestalteten Wände und der Decke sehen. Es brauchte vielleicht mal einen neuen Anstrich und man musste definitiv einige Male mit einem Staubwedel durchgehen, doch es war perfekt. Auf seine ganz eigene Art und Weise war es perfekt.

Es war ein dreigeteiltes Studio, mit einer eigenen kleinen Küche hinaus zum Garten, einem WC und sogar einer kleinen Dusche. Alter Dielenboden und weiße Wände mit handverziertem Stuck. Durch die hohen Decken und tiefen Fenster erreichte das Licht sogar die hinterste Ecke des Raumes. Es wirkte freundlich. Einladend. Obwohl nicht zu verkennen war, dass hier seit Jahren niemand mehr gewesen war.

„Und was meinst du? Wäre es als ein Studio und Atelier geeignet für dich?“, fragte mich die ältere Dame, deren Namen ich noch immer nicht wusste.

Ich strich mir durch die Haare und musste mich anstrengen, keine Träne zu verlieren. Es war alles zu viel. Es war überwältigend. Ich nickte leicht und fiel ihr um den Hals mit den Worten:

„Ja. Ja. Ja. Es ist perfekt. Ich bin… ich weiß gar nicht was ich sagen soll. Ich meine… Schauen Sie es sich an.“

Ich deutete durch die Räume und stellte mir vor, wie liebevoll ich all das einrichten könnte und welcher Raum sich wohl am besten für ein Studio und welcher für das Atelier eignen würde. Als ich wieder zu ihr hinübersah, rollte auch ihr eine Träne die Wange hinunter.

„Ist etwas? Hab ich… was Falsches gesagt?“, fragte ich erschrocken.

„Nein, nein. Es ist nur… Jahrelang war es nicht mehr in Benutzung und es erwärmt mein Herz zu wissen, dass es nun jemanden gefunden hat, der sein ganzes Potential entfalten kann. Wirklich, mach dir keine Sorgen Freya, ich möchte es dir gerne schenken. Du hast es verdient, gesehen zu werden. Deine Kunst muss gesehen werden“, sagte sie.

Ich ließ ihre Worte einen Moment lang auf mich wirken.

„Wie ist ihr Name?“, fragte ich sie plötzlich.

„Erika“, sagte sie.

„Danke Erika. Danke von ganzem Herzen!“, brachte ich leise heraus.

„Was war hier drin, bevor es so lange leer stand?“, fragte ich noch hinterher.

Sie atmete tief ein, so als müsste sie Kraft für die Antwort sammeln.

„Es hat einmal meiner Tochter gehört“, fing sie bedacht an.

„Sie ist vor zehn Jahren gestorben… Drogen. Sie war auf die schiefe Bahn gelangt und die schiefe Bahn täuscht einem vor, für alles einen Ausweg zu haben. In gewisser Weise hatte sie das auch… Aber es stand schon lange vor ihrem Tod leer“, beendete sie ihren Satz leise und blickte traurig zu Boden.

Es schien mehr hinter dieser Geschichte zu stecken, doch ich wollte keine alten Wunden bei ihr aufreißen, also legte ich nur einen Arm auf ihre Schulter und sagte:

„Das tut mir leid. Schrecklich leid. Kein Elternteil sollte sein Kind überleben müssen.“

Sie blickte mich nicht an. Regte sich nicht. In gewisser Weise wirkte sie älter, als noch vor ein paar Minuten.

„Kein Kind sollte in einem solch jungen Alter seine Eltern verlieren müssen“, erwiderte sie daraufhin.

Erschrocken blickte ich sie an. Hatte ich mir das eingebildet, Satzfetzen zusammengefügt oder hatte sie es tatsächlich gesagt? Woher wusste sie das mit meinem Vater? Warum hatte sie von Eltern gesprochen? Ich wollte es hinterfragen, doch sie kam mir zuvor:

„Okay, ich muss wieder los. Ich bin auch im Rentenalter noch eine vielbeschäftigte Frau. Lass mich wissen, wenn du etwas brauchst. Ich wohne gleich um die Ecke.“

Ohne, dass ich noch etwas sagen konnte, legte sie mir den Schlüssel mit einem kleinen Zettel auf die Fensterbank, drehte sich um und verschwand durch die dunkle Mahagoni-Holztür. Sie ließ mich alleine mit dem Gedanken, dass sie vermutlich mehr über mich wusste, als ich gedacht hatte. Ich kannte gerade mal ihren Namen und dass sie mal eine Tochter gehabt hat.

War es ein Fehler gewesen hierhergekommen zu sein? Sollte ich ihr aus dem Weg gehen? Ich entschloss mich dazu, sie darauf anzusprechen, wenn ich sie das nächste Mal sehen würde. Es sollte mir wahrscheinlich merkwürdiger vorkommen und ich sollte vermutlich auch besorgter sein, doch ich war noch nie gut darin gewesen, Warnzeichen zu erkennen. Geschweige denn, gut auf mich Acht zu geben.

Das beklemmende Gefühl wurde von dem Glücksgefühl überschattet, das ich gerade jetzt verspürte, als ich den Schlüssel meines eigenen kleinen Ateliers im Herzen von Manhattan in die Hand nahm und gegen das Licht hielt. Ich atmete tief ein und ließ die letzten Monate Revue passieren. Ich musste meine Gedanken sortieren. Irgendwie Ordnung schaffen. Konnte ich das hier? War ich einer solchen Aufgabe überhaupt gewachsen? Was anderes würde mir nicht übrigbleiben. Nächste Woche stand der Umzug aus unserem Apartment an und dieses Atelier würde mir auch noch so einiges an Arbeit abverlangen.

Ich drückte den Schlüssel in meiner Hand und war zum ersten Mal seit langer Zeit wieder dankbar für das, was ich hatte. Für die simplen Dinge. Dankbar dafür, dass ich gleich nach Hause kommen würde und meine beiden besten Freundinnen auf mich warten würden. Dafür, dass ich trotz allem versuchte, das Schöne und Wunderbare in der Welt zu sehen. Die Freya war für eine lange Zeit verschwunden gewesen, doch so langsam fand ich sie wieder. Stück für Stück. Ich musste nur die Teile akribisch genau zusammensetzen. Es würde noch dauern, doch eines war ich mir bewusst – Es würde werden. Die Freya, die ich immer geliebt hatte, würde wiederkommen. Gezeichnet vom Leben, vielleicht viel zu jung. Aber dann würde ich wissen, ich habe es geschafft.

Kapitel 4 - Bobby

„Eine Hure bist du. Hast du es genossen, als er dich angesehen hat? Du hättest seinen Schwanz am liebsten gleich gelutscht, was?“, höre ich ihn schreien.

Es ist nicht so, als sei es das erste Mal, dass ich ihn schreien höre. Und schon gar nicht das erste Mal, dass er sie an ihren Haaren packt und zu Boden wirft. Ihr Kopf knallt gegen den Couchtisch. Sie blutet. Sie vergräbt ihr Gesicht hinter ihren Händen und macht sich so klein wie nur möglich. Sie will ihren Körper schützen. Vor Tritten. Vor Schlägen. Ich schätze, am liebsten würde sie aus ihrem Körper fliehen. Vielleicht tut sie das sogar. Wie sie da zusammengekauert auf dem Boden liegt. Erbärmlich. Es macht ihn nur noch wütender. Er hatte getrunken. Wie immer. Sie weint. So leise, dass es kaum wahrnehmbar ist, doch ich höre es von meiner Position aus. Ich hocke unter dem Esstisch. Meistens verstecke ich mich dort, wenn er nach Hause kommt. Sie waren bei Freunden eingeladen gewesen, weswegen ich gehofft hatte, dass sie heute nicht streiten würden. Hoffnung, die ich nach vielen Jahren noch immer nicht aufgegeben hatte. Ich halte mir die Ohren zu. Weinen kann ich nicht mehr. Es ist zur Normalität geworden. Alltag.

„Antworte mir. Sag es. Hure“, brüllt er ihr mit rotem Kopf und zu Fäusten geballten Händen entgegen.

Jetzt tritt er sie. In die Magengrube. In den Rücken. Gegen den Kopf.

„Ich fick dir gleich das Hirn raus. Mach dich auf was gefasst. Du wirst schon sehen, was du davon hast.“

Sex ist seine Rechtfertigung. Sex ist ihre Bestrafung. Sex ist seine Befriedigung. Sex ist ihr Leid.

Er soll aufhören. Ich weiß, dass wenn ich aufstehen würde, er mich wahrnehmen würde. Er hatte es schon so oft getan und ich hatte ihr damit geholfen. Immer wieder. Will ich das wieder? Und wieder? Und wieder? Ich nehme die Hände von meinen Ohren als er sich hinunterbeugt, erneut in ihre Haare greift und sie hochzieht. Sie schreit. Vor Angst und Schmerz. Dann schiebe ich den schweren Holzstuhl zur Seite und krieche aus meinem Versteck hinaus.

„Dad, lass sie in Ruhe“, sage ich leise.

Ich sehe ihn nur an. Er lässt von ihr ab. Er sieht mich auch an. Seine Lippen verziehen sich zu einem schelmischen Grinsen.

„Du kleiner Scheißer“, sagt er und kommt langsam auf mich zu.

Im Gehen kramt er in seiner Hosentasche nach seinen Zigaretten. Ich weiß was jetzt passiert. Ich sehe an ihm vorbei zu ihr hinüber, wie sie sich vom Boden aufsetzt. Angsterfüllte Augen. Blut läuft ihr die Stirn hinunter. Ihr Haar ist durcheinander. Ein Büschel ihrer braunen Haare hängt an dem Stoff ihres Kleides auf ihrer Schulter. Ich hasse sie in diesem Moment mehr als ihn. Sie ist schwach. Frauen sind schwach. Sehr schwach. Wut kommt hoch. Nicht auf ihn. Auf sie. Sie tut nichts, sieht tatenlos zu. Zusammengekauert in der Ecke, angelehnt an die graue Betonwand, die sie nie tapeziert und gestrichen hatte. Ich nehme die Bestrafung für sie entgegen. Wie immer. Eines Tages würde ich stark genug sein.

Er schlägt zu. Unaufhörlich. Gegen den Kopf. Gegen meinen Oberkörper. Ich krümme mich. Er beleidigt mich. Ich schleudere gegen den Tisch. Gegen die Wand. Gegen die Tür. Mein Blick verdunkelt sich. Ich sehe nichts mehr und dann…

Ich wurde wach von dem beklemmenden Gefühl in der Brust, keine Luft mehr zu bekommen. Als nächstes nahm ich den kalten Schweiß wahr, der meine Bettdecke an meiner nackten Haut kleben ließ. Erst als mir bewusst wurde, dass es ein Traum gewesen war, löste sich die Anspannung in meinem Körper. Erschöpft ließ ich den Kopf ins Kissen fallen. Es war noch dunkel draußen. Im leichten Wind wehten die Vorhänge vor meinen Fenstern. Das sanfte Rauschen des Meeres war zu hören. Es wirkte friedlich, doch in mir drin war kein Frieden. Ich hatte lange nicht mehr davon geträumt. Warum ausgerechnet jetzt? Ich hatte Schuldgefühle. Ich war doch noch ein Kind. Ich war damals 10 Jahre alt gewesen. 10 verdammte Jahre.

‚Fuck, wie kaputt hat mich meine Kindheit gemacht?‘, fragte ich mich selbst und vergrub meinen Kopf zwischen meinen Händen.

Ich stand auf, um mir ein Glas Wasser einzuschenken. Als ich vom Waschbecken aufsah und in den Spiegel blickte, sah ich in leere, überarbeitete Augen, die müde vom Leben waren. Ich musste einen Weg finden, da raus zu kommen. Die dunklen Ränder unter den Augen, gezeichnet von stundenlangem Training und viel zu langen Diensten, waren nicht zu übersehen. Sie ließen mich nachdenklich werden. Ich musste für eine Zeit lang weg. Der Entschluss stand fest.

Freya

Es waren zwar nur 20 Grad, doch, die Sonne brannte auf meiner Haut und ich wischte mir den Schweiß von der Stirn. Es fehlte nicht mehr viel. Nur noch ein Raum, der in einem warmen Beige gestrichen werden musste. Die Möbel standen soweit und der Raum, der als Atelier dienen sollte, war bereits gefüllt mit Bildern und Gemälden, die ich den Menschen zeigen wollte. Sie erzählten in gewisser Weise meine Geschichte. Gefühle und Emotionen aus all den Jahren, in denen ich das Fotografieren erlernt hatte, bis jetzt. Sie waren besser geworden. Man konnte von Bild zu Bild erkennen, dass Arbeit und Fleiß dahintersteckten. Ich hoffte, dass auch die Menschen, die mein Atelier besuchen würden, dies wahrnehmen würden.

‚Okay, ein letzter Anstrich‘, dachte ich, seufzte und ging mir durch meine vom Wind durcheinandergebrachten Locken.

Die frische Brise tat gut. Seit drei Wochen arbeitete ich nun schon am Fertigstellen meines Ateliers und des Studios. Ein samtes weiß an den Wänden und Möbel aus warmem Holz zierten die Räume. Überall schmückte selbstgemachte Deko die Wohnung. Ich war zufrieden. Obwohl zufrieden gar kein Ausdruck war. Ich war glücklich und wann konnte ich das das letzte Mal von mir behaupten? Meine neue Wohnung war zu einem richtigen Zuhause für mich geworden und mit Lynn verbrachte ich mittlerweile beinahe mehr Zeit, als wie wir beieinander gewohnt haben.

„Freyaaaaa“, hörte ich es von draußen rufen.

‚Wenn man vom Teufel spricht‘, dachte ich und lief lächelnd, mit beiden Händen in die Hüfte gestemmt die dunkelbraune Mahagoni-Haustür hinaus.

Sie fiel mir mit zwei Kaffee in den Händen um den Hals.

„Och Lynn“, rief ich ein wenig zu genervt, als ich merkte, dass mir etwas Kaltes den Rücken hinunterlief.

„Was ist das, was ich jetzt an meinem weißen Top kleben hab?“, fragte ich, während ich ihr einen der Becher abnahm.

„Oh Gott, Frey. Das tut mir leid. Ich hab uns Eiskaffee mitgebracht. Bei den Temperaturen dachte ich mir, brauchst du was Abkühlung“, antwortete sie mir und hielt sich entschuldigend die Hand vor den Mund.

Ich verzog das Gesicht, wissend über den Umstand, dass ich mein weißes Top nun ausziehen konnte. Ich hatte schließlich einen Sport-BH drunter und bei den Temperaturen sollte es niemanden stören, wenn ich so herumlief. Ich zog es mir über den Kopf. Mein schwarzer Hosenrock war vielleicht ein wenig knapp, aber so war es wenigstens auszuhalten. Ich lief Lynn hinterher, die plötzlich in der Tür stehenblieb und mich mit Tränen in den Augen ansah.

„Frey… du hast es geschafft. Du hast dir einen Traum erfüllt. Sieh es dir an. Es ist wunderschön“, sagte sie und nahm meine beiden Hände in ihre.

„Ich bin stolz auf dich“, fügte sie leise hinzu.

Wie dankbar konnte man eigentlich sein, eine beste Freundin zu haben, die immer, egal in welcher Lage sie selbst steckte, zu einem hielt? Ich konnte es in diesem Moment nicht in Worte fassen und sagte nur:

„Danke Lynn.“

Sie war diejenige, die mich durch die letzten Monate gebracht hatte. Jede meiner schlechten Launen, Zickereien und Tiefschläge hat sie ausgehalten. Sie hat sich nie beschwert. Nicht ein einziges Mal.

Entschlossen ging ich hinein und sagte mit hochgezogenen Augenbrauen euphorisch zu ihr:

„Okay, los geht´s. Schnapp dir den Pinsel und die Farbe. Ein letzter Anstrich.“

„Nenene, du machst schon wieder Stress für gaaar nichts. Wir setzen uns jetzt erstmal raus vors Atelier und trinken in Ruhe unseren Eiskaffee“, sagte sie ebenso entschlossen wie ich und schob die beiden Stühle und den Tisch vor meinem großen Schaufenster zurecht.

Sie brachte eine Ruhe mit sich, zu der ich alleine nicht fähig war. Ohne sie würde ich vermutlich bereits an Burnout und Überarbeitung leiden. Aber dadurch, dass sie über 90% meiner Zeit bestimmte, kam ich gar nicht erst in die Verlegenheit, zu wenige Pausen zu machen.

„Mir ist so unglaublich heiß“, sagte ich und stand auf.

„Du bist heiß“, erwiderte Lynn mit den Augenbrauen wackelnd.

Ich verdrehte die Augen und gab ihr einen leichten Schlag auf den Arm.

„Au, das zählt bestimmt schon als häusliche Gewalt“, meckerte sie und rieb sich die Stelle.

„Warum hab ich eigentlich das Gefühl wir sind ein Ehepaar? Ich meine wir gehen zusammen einkaufen, treffen Entscheidungen füreinander und ich passe immer auf, dass du nicht zu viel Schokolade isst“, sagte sie in ihren Kaffeebecher schauend.

Ich musste lachen, ehrlich lachen und dann dachte ich über ihre Worte nach. Konnten viele Menschen behaupten, das Glück zu haben, seine beste Freundin als Lebenspartnerin betiteln zu können? Naja in gewisser Weise jedenfalls.

„Das mit der Schokolade übernimmst du natürlich total selbstlos“, sagte ich ironisch und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

„Ja, stell dir vor, ich würde sie nicht essen. Dann würdest du einige Kilos mehr wiegen“, erwiderte sie schmunzelnd.

Ich lachte gespielt und antwortete:

„Danke man. Was würde ich bloß ohne dich tun.“

Sie gab mir auch einen Kuss auf die Wange und widmete sich wieder ihrem Handy.

Ich ging ins Innere des alten Hauses. Drinnen war es deutlich kühler. Man hätte es sogar aushalten können, wenn man nicht gerade einen Haufen an Möbeln und Klamotten zu schleppen hatte. Ich sah in den kleinen runden Spiegel im Badezimmer. Mein Kopf war knallrot. Ich füllte meine Hände mit kaltem Wasser und ließ es mir über die warmen Wangen laufen.

‚Uff, das tut gut‘, dachte ich und schloss für den Moment die Augen.

Ich sollte wohl wieder hinaus gehen und Lynn holen. So langsam wurde ich nämlich ungeduldig, was die Renovierung des Studios anging. In zwei Wochen hatte ich vor, die Türen endlich für Menschen zu öffnen, die sich für meine Bilder interessierten. Je näher dieser Tag rückte, desto nervöser wurde ich. Die Sonne stand mittlerweile recht tief am Himmel und tauchte die Straßen in ein warmes Orange.

Ich ging zurück nach draußen, um Lynn endlich dazu bewegt zu bekommen, ein wenig Hand anzulegen, damit wir wenigstens etwas weiterkamen. Als ich hinaus ging, blickte ich zu Lynn, die sich angeregt mit jemandem unterhielt. Es war nicht irgendjemand.

Mein Herz blieb stehen. Einatmen. Ausatmen.

‚Freya, einatmen nicht vergessen‘, erinnerte ich mich im letzten Moment selbst daran, eh ich mich an der Luft verschluckte und zu Husten begann.

Er bemerkte mich. Als er mich sah, wurde sein Blick weich. Die Spannung in seinen Schultern ließ nach.

„Freya“, sagte er nur und blickte mich mit seinen dunklen Augen schuldbewusst an.

Warum schuldbewusst? Ich konnte keine Sekunde länger darüber nachdenken und drehte mich um. Ich musste hier weg. Einfach weg. Mechanisch lief ich durch die Tür wieder ins Innere des Studios und hielt erst an, als ich mich mit beiden Händen an der kleinen liebevoll eingerichteten Küchenzeile abstützte. Ich träumte, oder?

‚Als könntest du so vor der Tatsache fliehen, dass er da ist?!‘, sagte mein Gewissen herablassend zu mir.

Ich fühlte mich plötzlich, als wäre alles nur ein schlechter Traum. Nichts wäre mehr das, für was ich es hielt. Was tat er hier? Was tat Bobby nach all den Monaten in Manhattan? Was tat er überhaupt in Manhattan? Warum musste er ausgerechnet jetzt hier aufkreuzen? Jetzt, wo es mir doch wieder gut ging. Es ging mir doch gut, oder nicht? Noch vor wenigen Minuten hätte ich eine klare Antwort auf diese Frage gewusst und sie wäre endlich wieder ‚JA‘ gewesen. Doch Bobby brachte meine kleine Welt durcheinander. Er gehörte hier nicht hin. Er passte hier nicht hin.

„Freya“, hörte ich es wieder.

Ich brauchte nicht mal aufzuschauen, um zu wissen, dass er in dem Türbogen zur Küche stand. Sein Blick auf mir wog schwer und ich kämpfte mit dem Gedanken, ihm in die Augen zu schauen. Kopf gegen Herz. War es nicht immer so? Dann sah ich auf. Ich sah ihm in seine traurigen Augen und konnte nichts dagegen tun, als den Kopf zu schütteln und meine Lippen aufeinanderzupressen. Ich kämpfte mit den Tränen und ich konnte mir die Frage nur wieder und wieder stellen:

‚Was tut er hier?‘