8,99 €
Das Werk von J. R. R. Tolkien erfreut sich durch die Verfilmung des Herrn der Ringe von Peter Jackson (wieder) größter Beliebtheit. Nicht zuletzt fasziniert der Herr der Ringe deshalb die Leserschaft, weil bei der Lektüre der Eindruck von Echtheit entsteht, von einer wahrhaft existierenden Welt, in der das Gute gegen das Böse kämpft und jedes Geschöpf ihren Platz in der Geschichte hat. Einen bedeutenden Anteil an diesem Effekt hat Tolkiens älteres und gleichzeitig unbekannteres Werk: das Silmarillion. Es handelt von Zeiten, auf die im Herrn der Ringe des Öfteren Bezug genommen wird. In diesem Buch wird das Silmarillion in den Mittelpunkt der literaturwissenschaftlichen Betrachtung gestellt und gefragt: Inwieweit besitzt dieses Werk Tolkiens eine eigene Faszination, eventuell mit einer Weltdeutung, die von jener im Herrn der Ringe abweicht? Nach einer Einführung in die Thematik widmet sich der Autor Holger Vos einer akribischen Studie des silmarillischen Text-Systems, um Beziehungen zu Bezugstexten (altnordische Mythen, Der kleine Hobbit, Der Herr der Ringe) zu ermitteln und anschließend Funktionen des Silmarillions für Tolkien selbst sowie für die Leser abzuleiten. Eine systematische Gliederung und zahlreiche Zitate in der Originalsprache des jeweiligen Werkes ermöglichen ein gutes Nachvollziehen der Untersuchung und regen eine weitere Auseinandersetzung mit dem Thema an.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 473
Die Weltdeutung
im „Silmarillion“
von J. R. R. Tolkien
Eine Untersuchung zur Funktionalität und zu den ethischen Prinzipien des Textes im Kontext des Tolkien’schen Werkes mit Bezug zu den altnordischen Mythen
Von Holger Vos
Impressum Copyright: © 2014 Holger Vos Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de
INHALT
1. Einleitung - 1 -
2. Darstellung des Untersuchungsvorhabens - 4 -
2.1. Tolkien in der Geschichte der Literatur - 4 -
2.2. Untersuchungsgegenstände und der Forschungsstand - 7 -
2.2.1. Zu untersuchende Texte - 7 -
2.2.1.1. Tolkien’sche Werke - 8 -
2.2.1.2. Altnordische Mythen - 13 -
2.2.2. Zum Forschungsstand - 15 -
2.3. Mythentheorie - 16 -
2.3.1. Zur Mythosforschung - 17 -
2.3.2. Begriffsbestimmung - 19 -
2.3.3. Funktionen und Strukturen des Mythos - 20 -
2.3.4. Mythos und Literatur - 22 -
2.4. ‘Werkzeuge’ der Untersuchung - 24 -
2.4.1. Das systemische Lesen - 24 -
2.4.1.1. Zum Rhythmus-Begriff - 24 -
2.4.1.2. Das Textsystem und die Werte - 25 -
2.4.1.3. Wirkungsweise oder semantische Performativität - 26 -
2.4.2. Intertextuelles und applizierendes Lesen - 27 -
3. Tolkiens Mythenpoetik - 30 -
3.1. Zur fairy-story – mehr als ein Märchen - 30 -
3.2. Die ‘Fairy-Funktionen’ - 32 -
3.2.1. Phantasie - 32 -
3.2.2. Wiederherstellung - 33 -
3.2.3. Flucht - 33 -
3.2.4. Trost (Eukatastrophe) - 34 -
3.3. Tolkiens Strategie: Sprache und Mythos - 35 -
3.4. Zwischenfazit I - 36 -
4. Die Mythenpoetik des Silmarillions - 38 -
4.1. Kernthema: der Kampf des Guten gegen das Böse - 39 -
4.1.1. Die Entstehung von Gut und Böse - 39 -
4.1.2. Vor dem Untergang - 51 -
4.1.2.1. Signifikanten von Gut und Böse - 52 -
4.1.2.2. Feanors Silmaril und Mandos’ Spruch - 54 -
4.1.3. Das Schicksal der Noldor - 62 -
4.1.3.1. Morgoth: „Meister aller Geschicke von Arda“ - 62 -
4.1.3.2. Beren und der Untergang Doriaths - 67 -
4.1.3.3. Túrin und das Ende Nargothronds - 73 -
4.1.3.4. Tuor und die Vernichtung Gondolins - 77 -
4.1.3.5. Earendil und die Rettung nach dem Fall - 80 -
4.1.4. Das Zweite und das Dritte Zeitalter - 84 -
4.1.4.1. Ragnarök auf Númenor? - 84 -
4.1.4.2. Der Bericht über das Dritte Zeitalter - 90 -
4.2. Analyse ausgewählter Erzählmotive nebst Erörterung stilistischer Aspekte - 95 -
4.2.1. Drachentöter: Túrin und Sigurd - 95 -
4.2.1.1. Text von Tolkien - 95 -
4.2.1.2. Altnordischer Text - 97 -
4.2.1.3. Vergleich der Texte - 99 -
4.2.2. Sonne und Mond: Arien und Tilion – Sol und Mani - 102 -
4.2.2.1. Text von Tolkien - 102 -
4.2.2.2. Altnordischer Text - 104 -
4.2.2.3. Vergleich der Texte - 105 -
4.2.3. Schätze: Die Silmaril und der Nibelungenhort - 107 -
4.2.3.1. Text von Tolkien - 107 -
4.2.3.2. Mittelhochdeutscher Text - 109 -
4.2.3.3. Vergleich der Texte - 110 -
4.2.4. Erörterung einzelner stilistischer Aspekte - 112 -
4.3. Subthemen - 116 -
4.3.1. Schaffen und Macht - 117 -
4.3.1.1. Das Erschaffen von Lebendigem - 117 -
4.3.1.2. Das Schaffen von Dingen - 119 -
4.3.2. Tod und Unsterblichkeit - 121 -
4.3.3. Schicksal und freier Wille - 126 -
4.3.4. Weitere Subthemen: Rache, Niedergang - 132 -
4.4. Zusammenfassung: Silmarillische Performativität mit altnordisch-mythischer Dimension - 134 -
4.5. Zwischenfazit II - 141 -
5. Exkurs: Silmarillische Funktionsweise im Kontext der weiteren Mittelerde-Erzählungen - 145 -
5.1. Interaktion der Wert-Systeme - 145 -
5.1.1. Silmarillische Elemente in Der kleine Hobbit und Der Herr der Ringe - 145 -
5.1.2. Homogene Wertigkeit: unterstützend, fortführend - 149 -
5.1.2.1. Die Gut-Böse-Dichotomie - 149 -
5.1.2.2. Umweltethik - 151 -
5.1.2.3. Vergänglichkeit und Wandel - 153 -
5.1.2.4. Schicksal und freier Wille - 156 -
5.1.2.5. Aragorns Tod - 158 -
5.1.3. Heterogene Wertigkeit: oppositionell, umwertend - 159 -
5.1.3.1. Psychologisierung des Bösen - 159 -
5.1.3.2. Ethik des Verzichts - 161 -
5.1.3.3. Heldentum - 163 -
5.1.4. Zu den paraphrasierenden Textteilen - 166 -
5.1.5. Ragnarök versus Eukatastrophe - 168 -
5.1.6. Überlegungen zur Rezeption der Edda, des Silmarillions und des Herrn der Ringe - 170 -
5.2. Zwischenfazit III - 172 -
6. Schluss - 174 -
7. Statt eines Nachwortes - 177 -
8. Literatur - 180 -
VORBEMERKUNG
Dieses Buch basiert auf meiner Examensarbeit im Rahmen der Ersten Staatsprüfung für das Lehramt an Grund-, Haupt- und Realschulen, die von Juli bis Oktober 2003 angefertigt wurde. Das mit der Film-Trilogie vom Herrn der Ringe von Peter Jackson (wieder-) erwachte starke Interesse an Tolkiens Werk sowie die sehr gute Beurteilung meiner Arbeit führten dazu, dass ich über eine Publikation nachdachte. Beim EDFC stieß ich auf Interesse an meiner Untersuchung zu Tolkiens Silmarillion, sodass ich sie schließlich vollständig überarbeitete und erweiterte. Ergebnis ist der vorliegende Band, hier in einer 2. Auflage bei epubli.
Titel von Werken werden kursiv geschrieben; Geschichten- bzw. Liedertitel werden mit Anführungszeichen versehen.
Folgende Siglen kommen im Fußnotentext zur Verwendung:
Mai 2014,
Holger Vos
1. Einleitung
„Uns ist in alten mæren wunders vil geseit
von helden lobebæren, von grôzer arebeit,
von fröuden, hôchgezîten, von weinen und von klagen,
von küener recken strîten muget ir nu wunder hœren sagen.“[Fußnote 1]
Diese erste Strophe des Nibelungenliedes könnte auch für die Geschichten des Silmarillions gelten, die im vergangenen Jahrhundert von J. R. R. Tolkien verfasst wurden. Die meisten Menschen werden von ihm jedoch nicht dieses Werk, sondern Der Herr der Ringe oder Der kleine Hobbit kennen. Diese drei Werke spielen auf dem Kontinent Mittelerde, welches eine alte Bezeichnung für unsere (mittlere) Welt (nämlich Midgard) ist. Der große Erfolg des Herrn der Ringe – das Buch wurde von über 100 Millionen Menschen gelesen[Fußnote 2] – führte dazu, dass man von Tolkien als dem Autor des Jahrhunderts sprach.[Fußnote 3]
Der Herr der Ringe jedoch ist nur ein Teil der Geschichten, die sich um Mittelerde ranken, stellt lediglich die bedeutsamen Geschehnisse einer vergehenden Epoche der großen Historie Mittelerdes dar, und für Tolkien stand das Silmarillion, welches von dieser Historie berichtet, im Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit: Es „war das Werk, das ihm am Herzen lag, und es hat ihn weitaus länger beschäftigt als Der Hobbit oder Der Herr der Ringe. Die beiden bekannteren Werke sind gewissermaßen nur Schößlinge, Ableger der riesigen Sammlung [...], die das ‘Silmarillion’ darstellt.“[Fußnote 4]
Die vorliegende Arbeit wird also dieses Werk in den Mittelpunkt der Untersuchung stellen, auf Grund der Ansicht, dass, wenn man einen ganzen Baum (das Werk Tolkiens) betrachten will, man den Stamm und die größten, tragenden Äste (Das Silmarillion) zuerst sehen muss, und erst dann kommen die kleineren Äste, die Blätter und die Blüten (Der kleine Hobbit und Der Herr der Ringe) des Baumes richtig und unverzerrt – in ihren Relationen zueinander und zu anderen Werken – zur Geltung. (J. R. R. T. selbst vergleicht in der Erzählung Blatt von Tüftler sein Werk mit einem Baum.) Tolkien schreibt in einem Brief an Kilby:
„Das Silmarillion nun ist ganz anders [als Der Herr der Ringe], und wenn es überhaupt etwas taugt, dann auf eine ganz andere Weise; & ich weiß eigentlich gar nicht, was ich davon halten soll.“[Fußnote 5]
In Anlehnung an diese Zeilen wollen wir uns fragen, was dieses Werk ‚taugt‘ und was wir davon halten können: Warum schuf Tolkien das Silmarillion? Was macht es? Stellt man diese Fragen, forscht man gleichsam auch nach der Funktion dieses Textes, denn eine Frage nach dem Sinn besitzt inhärent die Reflexion über die Funktion.
Welche F u n k t i o n e n hat das Silmarillion also? Dies ist die Hauptfragestellung, und sie lässt sich auf verschiedenen Ebenen stellen:
Welche Funktionen schrieb Tolkien dieser Sammlung von Geschichten zu?
Welche Funktionen hat das Silmarillion als eigenständiger Text?
Diese Fragestellung wird im Zentrum dieser Arbeit stehen. Weiter können wir fragen:
Welche Funktionen erfüllt das Silmarillion im Kontext der beiden anderen Mittelerde-Erzählungen Der kleine Hobbit und Der Herr der Ringe?
Die Beantwortung der gestellten Fragen erfolgt ebenfalls auf unterschiedlichen Ebenen: Wenn wir uns mit dem befassen, was Tolkien zu seinem Werk geschrieben hat – zu nennen wären hier seine Briefe, der Aufsatz Über Märchen und der Text Blatt von Tüftler –, werden die Funktionen offenkundig, die Tolkien seinem Werk zuschrieb; sie stellen Maßstäbe seiner ‘Poetik’ dar, und ich möchte sie im Folgenden, wegen des zuerst genannten Aufsatzes, ‘Fairy-Funktionen’ nennen. Den Funktionen des Silmarillions nähern wir uns auf dem Wege der Mythentheorie, denn es wird und wurde in der Sekundärliteratur sowie von Tolkien selbst als eine Sammlung von Sagen und Legenden bzw. Mythen bezeichnet.[Fußnote 6] Wenn wir das Wesen und die Funktionen der Mythen ermittelt haben, dann können wir möglicherweise auf Grund dessen die Funktionen des Silmarillions bestimmen – ich werde sie die ‘Mythos-Funktionen’ nennen.
Es soll betont werden, dass damit noch nichts über seine realisierten Funktionen ausgesagt ist: Ob der Tolkien’sche Text definitiv ‘Fairy-Funktionen’ und/oder ‘Mythos-Funktionen’ besitzt, wird sich im Laufe der Untersuchung zeigen.
Bevor diese jedoch unternommen wird, müssen wir zentrale Begriffe und die Texte, die untersucht werden sollen, sowie die Methoden der Untersuchung (allen voran das systemische Lesen), näher erläutern – dies wird im folgenden Kapitel dieser Arbeit geschehen. Dann folgt das dritte Kapitel, in welchem die Dimensionen der Tolkien’schen Mythenpoetik erörtert werden. Dem schließt sich ein erstes Zwischenfazit an. Die Untersuchung bildet den Hauptteil der Arbeit. In einem ersten Teil – Kapitel 4 – wollen wir die Funktionen des Silmarillions (als Einzeltext) ermitteln, indem wir intratextuelle Beziehungen aufzeigen. Hierbei werden wir sehen, dass ein Großteil dieses Textes von altnordischen Mythen beeinflusst ist.
Die Untersuchung gründet auf der Methode des systemischen Lesens. Im Paradigma dieser Methode stellt jeder Text ein Wert-System dar – dies ist das Moment des subjektiven Sinns in einem Text. Haben wir ermittelt, wie das Silmarillion und die dazu in Beziehung zu setzenden Texte (die altnordischen Mythen) ihren Sinn gestalten, können wir auf Grund dessen die intratextuellen Funktionen bestimmen; im Nachhinein können sich diese als die oben genannten Funktionen erweisen.
Im zweiten Teil der Untersuchung – Kapitel 5 – sollen die intertextuellen Funktionen des Silmarillions ermittelt werden. Diese Fragestellung wird (in Form eines Exkurses) kurz und prägnant beantwortet; dazu betrachten wir die Interaktion der Wert-Systeme des Silmarillions auf der einen und des Kleinen Hobbits und des Herrn der Ringe auf der anderen Seite: Wir beobachten, welcher Art die Beziehungen zwischen diesen Texten sind. Die Frage nach der intratextuellen Funktionsweise steht jedoch im Vordergrund, was am Umfang der jeweiligen Untersuchungsteile zu ersehen ist.
Im Rahmen dieser Untersuchung gilt, dass die intra- und intertextuellen Funktionen des Silmarillions nicht nur genannt werden sollen; hinzu kommt, dass wir erörtern, wie diese Funktionen erfüllt werden. Zwei weitere Zwischenfazits – jeweils nach dem ersten und dem zweiten Untersuchungsteil – sollen die erbrachten Ergebnisse prägnant zusammenfassen und ggf. im Hinblick auf die Sekundärliteratur diskutieren. Die zentralen Untersuchungsergebnisse werden im Schluss zusammengetragen.
Tolkien hielt nicht viel von wissenschaftlichen Untersuchungen seiner Werke. In einem Brief an einen Leser zitiert er diesbezüglich die Worte Gandalfs: „‘Derjenige, der etwas zerbricht, um herauszufinden, was es ist, hat den Pfad der Weisheit verlassen.’“ (Die Vorgehensweise Tolkiens, zu Zwecken der Verdeutlichung eines anderen Sachverhalts aus seinem Werk zu zitieren, ist interessant im Hinblick auf den Begriff der applicability, wie zu erörtern sein wird [siehe unter 2.4.2.].)[Fußnote 7] Nachvollziehbar wird diese Haltung, wenn man bedenkt, dass Tolkien immer wieder falsche Interpretationen seines Werks richtig stellen musste, z.B. die Deutung des Einen Rings als Atombombe.[Fußnote 8]
Versuchen wir also, auf dem zitierten Pfad zu bleiben.
Der altnordische Mythos berichtet in einer Geschichte/einem Lied von Odin, dem höchsten der germanischen Götter, der den Dichtermet raubt.[Fußnote 9] Der Gott verwandelt sich nach dem Raub in einen Adler und fliegt nach Asgard, wo die anderen Götter auf ihn warten. Im Zuge der Verfolgung durch die Riesen muss „der Flüchtende [...] einen Teil des Metes nach hinten [...] fahren lassen.“[Fußnote 10] Den Rest des Mets kommt in bereit gestellte Schüsseln. Letzteres gibt man Menschen, die Gelehrte oder Dichter werden; der mindere Teil ist für Dichterlinge und Schwätzer bestimmt.[Fußnote 11]
Ich hoffe, dass ich mich im Rahmen der folgenden Ausführungen als jemand erweisen werde, der den guten Met getrunken hat.
2. Darstellung des Untersuchungsvorhabens
„Lassen wir uns zu den Alten hinab, holen sie uns ein? Gleichviel. Es genügt ein Händereichen. Leichthin wechseln sie zu uns über, fremde Gäste, uns gleich. Wir besitzen den Schlüssel, der alle Epochen aufschließt, manchmal benutzen wir ihn schamlos, werfen einen eiligen Blick durch den Türspalt, erpicht auf schnellfertige Urteile, doch sollte es auch möglich sein, uns schrittweis zu nähern, mit Scheu vor dem Tabu, gewillt, den Toten ihr Geheimnis nicht ohne Not zu entreißen. Das Eingeständnis unserer Not, damit müßten wir anfangen.“[Fußnote 12]
(Christa Wolf: Medea. Stimmen)
Um die Untersuchung des Silmarillions hinsichtlich seiner Funktionen unternehmen zu können, sollen in diesem Kapitel alle dafür erforderlichen Aspekte thematisiert werden: Begriffe (Mythos, Sage, Legende, Märchen, Religion usw.) werden definiert und voneinander abgegrenzt sowie ‘Werkzeuge’ der Untersuchung (systemisches Lesen, intertextuelles und applizierendes Lesen) erörtert. Zunächst jedoch wollen wir uns den Untersuchungsgegenständen und der diesbezüglichen Forschungslage zuwenden. Außerdem werden wir Tolkien in einen größeren literaturgeschichtlichen Zusammenhang bringen.
2.1. Tolkien in der Geschichte der Literatur
Zahlreiche wundersame Dinge werden berichtet in den alten Sagen, Legenden und Mythen. Dort ist die Rede von einer Welt, in der es Drachen gibt, und Helden, die sie bekämpfen; Götter und Elben gibt es da, und die Menschen können mit ihnen in Kontakt treten. Im Laufe der Menschheitsgeschichte wurde immer wieder davon erzählt, aber nicht nur das: Ein Blick in die Geschichte der Literatur erlaubt den Schluss, dass mythische Erzählungen bzw. mythische Elemente in den meisten (nicht nur literarischen) Epochen adaptiert wurden, und jede Adaption geschah im Rahmen der jeweiligen epochalen Vorstellungen, bezogen auf die Mythen, auf die Normen und Werte, auf das Bild vom Menschen und seiner Welt – die Gegenwart macht diesbezüglich freilich keine Ausnahme.
Werfen wir nun einen kurzen Blick auf die Literaturgeschichte:
Der anonyme Nibelungendichter, welcher uns vom fast unbesiegbaren Siegfried und von vielem mehr berichtet, schrieb das mittelhochdeutsche Epos auf der Grundlage älterer Quellen und durchsetzte es mit christlichen Elementen, was, wie anzunehmen ist, von den altnordischen Quellen abweicht.
Im 19. Jahrhundert strebten die Romantiker einen Wandel des Bewusstseins und der Gesellschaft an; eine Voraussetzung dafür war ihrer Auffassung nach, dass die Dichtung alle Lebensbereiche durchdringen solle, und sie verherrlichten die Phantasie, die poetische Schöpferkraft und den Geist, der der Wirklichkeit überlegen sei.[Fußnote 13] Sie reagierten mit Verklärung auf zeitgenössische Verhältnisse; beispielsweise war eine verherrlichende und idealisierte Walddarstellung, so wird vermutet, eine Reaktion auf den düsteren Zustand der Waldungen bereits zu jener Zeit.[Fußnote 14] Hin zum Unbekannten, Unendlichen sollte die Dichtung schreiten, und im Sinne dieses Ziels wurden die alten, mythischen Schriften wiederentdeckt.[Fußnote 15] Hier, im Mythos (und auch im Märchen), gewahrten die Romantiker das archaische Unbekannte und die Unendlichkeit der Heroen und Götter. Hinter dieser Symbolik sah man „eine tiefe religiöse Wahrheit [...], die, nachdem die heidnischen Religionen sie mannigfach entstellt, endlich im Christentum in ihrer Reinheit offenbar geworden sei.“[Fußnote 16] Mythische Stoffe wurden bewahrt und neu geschaffen, aber auch entsprechend den Bedürfnissen umgestaltet: Wilhelm und Jakob Grimm, Verfasser des Deutschen Wörterbuchs und Wegbereiter der Germanistik, sammelten Märchen nicht nur, sondern veränderten sie für die Klientel, welches ihrer Ansicht nach die Märchen las: Kinder.[Fußnote 17]
In Die Leiden des jungen Werther nutzte Goethe düstere, pagane Heldenschriften, um auf das Ende von Werther hinzudeuten.[Fußnote 18]
Kleist, der zwischen den Epochen Klassik und Romantik eingeordnet wird, integrierte mythische Elemente in seine Dichtung, um die Unsicherheit des Menschen in einer unberechenbaren und nicht mittels Vernunft erfassbaren Welt zu veranschaulichen:[Fußnote 19] Der Himmelsgott Jupiter täuscht Alkmene, die ihn für ihren Ehemann Amphitryon hält.[Fußnote 20]
Richard Wagner erzählt im großen Ring des Nibelungen von Siegfried und Brünnhilde, deren Liebe im Tode die Götter überwindet:
„Verging wie Hauch / der Götter Geschlecht, / lass’ ohne Walter / die Welt ich zurück: / meines heiligsten Wissens Hort / weis’ ich der Welt nun zu. – / Nicht Gut, nicht Gold, / noch göttliche Pracht; / nicht Haus, nicht Hof, / noch herrischer Prunk: / nicht trüber Verträge / trügender Bund, / noch heuchelnder Sitte / hartes Gesetz: / selig in Lust und Leid / lässt – die L i e b e nur sein! –“[Fußnote 21]
Zur Zeit des Nationalismus und des Ersten Weltkrieges bediente man sich vermeintlicher Ideale aus dem Nibelungenlied (Beispiel: „Nibelungentreue“).
Missbraucht und mit einer menschenverachtenden, unhaltbaren Ideologie vermengt wurden altnordische resp. germanische Mythenstoffe von den NS-Verbrechern.[Fußnote 22]
Thomas Mann beruft sich in seinen Werken auf Mythisches, um sein Verständnis von Humanität und von einer traditionsbewussten Lebensweise zu vermitteln; der Mensch wird in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt.[Fußnote 23]
Ähnlich Anthropozentrisches bei Christa Wolf: Die Inhalte der tragisch-mythischen Stoffe wurden in ihren Erzählungen so umgewandelt, dass eine Reflexion über den Mythos und sein Hineinwirken in die Gegenwart ermöglicht wird. (Erzählungen, für die das Gesagte gilt, sind: „Medea“ und „Kassandra“.)
Diese wenigen Beispiele aus verschiedenen Epochen der Literaturgeschichte sollen genügen, um zu zeigen, dass Mythen bzw. mythische Elemente immer wieder aufgegriffen wurden, und zwar auf unterschiedliche Weise und unter Zuweisung unterschiedlicher Funktionen.
Unser Augenmerk richtet sich nun auf das England des frühen 20. Jahrhunderts. Im Oxford der dreißiger und vierziger Jahre kamen einige Schriftsteller unter dem Namen „Inklings“ (deutsch: „Tintenkleckser“ – ein englisches Understatement) zusammen, mit dem Ziel, „Ahnungen einer anderen, einer phantastischen Welt [...] literarisch [zu] vermitteln.“[Fußnote 24] Ihre unmittelbaren Vorläufer in dieser Hinsicht – also Autoren phantastischer Literatur – waren Chesterton, Haggard, Lord Dunsany, Morris, Shelley und Stoker, um nur einige zu nennen; freilich bedienten sie sich auch älterer (mythischer) Quellen.[Fußnote 25] Ihre Zeitgenossen – z.B. Joyce oder Eliot – ließen sich, wie etwa Th. Mann oder C. Wolf, „von alten Mythen oder Mythensagen anregen [...] zu dem Versuch, ihre Relevanz für den Menschen des 20. Jahrhunderts experimentell zu untersuchen.“[Fußnote 26] Für uns bedeutsame Mitglieder der „Inklings“ waren C. S. Lewis und sein von Sprachen begeisterter Freund, dessen Nachname sich vom deutschen Adjektiv „tollkühn“ ableiten soll.[Fußnote 27]
John Ronald Reuel Tolkien – 1892 als erster von zwei Söhnen von Arthur und Mabel Tolkien in Bloemfontein, Afrika, geboren, verheiratet mit Edith Bratt, Vater von vier Kindern, ab 1918 Philologenkarriere in Leeds und Oxford, überzeugter Katholik, 1973 in Bournemouth, England, gestorben[Fußnote 28] – war also, wie das bisher Geschilderte zeigt, nicht der erste und einzige Autor, der sich mythischer Stoffe bedient hat, um eine mitreißende Geschichte zu erzählen. (Die meisten einleitenden Zitate vor jedem Abschnitt sollen nicht nur den Blickwinkel der Betrachtung erweitern, sondern eben dies veranschaulichen. – Überdies: Die Biografie Tolkiens wird im Kontext dieser Arbeit, da es sich bei der systemischen Analyse um einen werkimmanenten Zugang handelt, eine periphere Rolle spielen – daher werden lediglich die zentralen Lebensdaten Tolkiens genannt. Das Setzen selbiger zwischen Gedankenstriche soll jedoch nicht als Herabwürdigung eines reichen Lebens verstanden werden.)
Dennoch wird im Laufe dieser Arbeit deutlich werden, dass Tolkien dabei womöglich Stratgien angewendet hat, auf Grund derer er sich von seinen Mythen adaptierenden Vorgängern und seinen Zeitgenossen sowie seinen Nachfolgern, die Fantasy schreiben – das literarische Genre, welches Tolkien begründete –,[Fußnote 29] unterscheidet. Eine dieser Strategien hat etwas mit seiner Profession und Leidenschaft, der Philologie, zu tun; eine andere kann man nachvollziehen, indem man seine Ansichten über Mythen betrachtet. Inwieweit sich dies im Wert-System des Silmarillions und seiner anderen Texte zeigt, bleibe einstweilen dahingestellt.
2.2. Untersuchungsgegenstände und der Forschungsstand
„The Lord of the Rings
is one of those things:
if you like you do:
if you don’t, then you boo!“[Fußnote 30]
Dieses kleine Gedicht Tolkiens ist sein humorvoller Kommentar zur Kritik über sein bekanntestes Werk. Die Werke von Tolkien – insbesondere Der Herr der Ringe und Das Silmarillion – scheinen herauszufordern, dass man extreme Positionen zu ihnen einnimmt:
„W. H. Auden schrieb: ‘Niemand scheint gemäßigter Ansicht zu sein; entweder sehen die Leute darin [in Der Herr der Ringe] wie ich selbst ein Meisterwerk seiner Gattung, oder sie können es nicht ausstehen.’ Und dabei sollte es bleiben, solange Tolkien lebte: höchstes Lob von der einen Seite, totale Verachtung von der anderen.“[Fußnote 31]
Eine Seite betrachtet das Werk als eine hervorragend erzählte, dynamische Geschichte.[Fußnote 32] Die Gegenseite sieht darin ein Kinderbuch, ein „zu groß gewordenes Märchen, eine philologische Kuriosität“.[Fußnote 33] Ähnlich gestaltet sich die Kritik beim Silmarillion: Einige betrachten es als ein „elbisches Telefonbuch“[Fußnote 34], das „klinge wie ein schwedischer Straßenbahnschaffner mit Erkältung, der die Stationen ausruft.“[Fußnote 35] Petzold (1980) bezeichnet einige Passagen des Textes als langweilig.[Fußnote 36] (Wir werden im Laufe der Arbeit auf diese Kritik eingehen.) – Kreeft (1984) dagegen bezeichnet es als ein Buch, das Staunen ermöglicht, und er vergleicht es mit Yggdrasil selbst, dem Weltenbaum aus der altnordischen Mythologie.[Fußnote 37]
2.2.1. Zu untersuchende Texte
Wir werden uns in der Hauptsache mit dem Silmarillion (engl. The Silmarillion) befassen, und zwar zum einen in Bezug zu seinen bedeutsamsten altnordischen Quellen und zum anderen in Bezug zum Kleinen Hobbit (engl. The Hobbit) und zum Herrn der Ringe (engl. The Lord of the Rings). Alternative Versionen der Geschichten des Silmarillions und Erweiterungen selbiger sind unter dem Titel Nachrichten aus Mittelerde (engl. Unfinished Tales of Númenor and Middle-earth) veröffentlicht. Weiteres dazu findet sich im zweibändigen Werk Das Buch der verschollenen Geschichten (engl. The Book of Lost Tales).
Werke Tolkiens, die mit Mittelerde nichts zu tun haben – beispielsweise Bauer Giles von Ham (engl. Farmer Giles of Ham) oder Roverandom –, werden hier nicht berücksichtigt. Sofern sie einen hilfreichen Beitrag zur Untersuchung der Literatur leisten, werden Tolkiens Illustrationen, Skizzen und Bilder zu seinen Mittelerdegeschichten genutzt. Tolkiens philologisches Spezialgebiet waren die altnordischen Literaturen.[Fußnote 38] Wesentliche Motive, Handlungselemente und Themen übernahm er von den altnordischen Mythen und integrierte sie in die Geschichte von Mittelerde. Was er übernommen hat und wie sich der Wert des Übernommenen ändert, ist ein Bestandteil der Untersuchung in dieser Arbeit. Tolkien war fasziniert von der „middeangeard“ des Beowulf und von der düsteren, tragischen Welt, wie sie in der „Völuspá“, einem bedeutsamen Lied aus der Lieder-Edda, beschrieben wird; es ist also durchaus berechtigt, wenn das Silmarillion mit Texten altnordischer Mythologie in Beziehung gesetzt wird, um so etwas über die Funktionen desselben zu erfahren.
2.2.1.1. Tolkien’sche Werke
Was ist Mittelerde (Middle-earth)? So heißt der größte Kontinent einer Welt namens Arda.[Fußnote 39] Der Autor stellte immer wieder klar, dass diese Welt kein anderer Planet sei, sondern die Stätte der Menschen, das Land der Sterblichen, vor langer Zeit.[Fußnote 40] Dieses Land bezieht sich auf das „nordische Midgard und die gleichbedeutenden Wörter im Frühenglischen“.[Fußnote 41] Zwar kann man von Mittelerde zu unserer Welt Parallelen ziehen und Ähnlichkeiten (zeitlicher und/oder räumlicher Natur) feststellen, doch sollte man sich stets vor Augen führen, dass Mittelerde imaginativ und literarisch ist; Einhaus (1986) betont „die den Heterokosmos kennzeichnende raum-zeitliche Abgehobenheit.“[Fußnote 42] Tolkien erdachte eine fiktive, voraltertümliche, sechstausend Jahre umfassende Historie für diese heterokosmische Welt.[Fußnote 43] Diese gliedert er in vier Zeitalter. Mit diesem Einfall entwickelt Tolkien ein Geschichtsmodell, welches sich als ein zyklisches erweist, in dem dessen Ereignisse regelmäßig wiederkehren.[Fußnote 44] Dem muss man nicht zustimmen, wie gezeigt werden wird.
Kommen wir also zu den Tolkien’schen Werken im Einzelnen. Obwohl er seine Mittelerde-Geschichten gerne als ein großes Gesamtwerk betrachtete, „als eine einzige lange Saga von den Edelsteinen und den Ringen“[Fußnote 45], und es wünschte, dass sie gemeinsam veröffentlicht würden, so wurden sie dennoch getrennt voneinander publiziert.
Das Silmarillion ist eine Sammlung von Geschichten aus dem Ersten und Zweiten Zeitalter von Arda: Die beiden ersten Geschichten – „Ainulindale“ und „Valaquenta“ – handeln von der Erschaffung der Welt durch Eru, den Einen, und den Ainur, welche ebenfalls von ihm erschaffen wurden. Die „Quenta Silmarillion“ ist die Geschichte von den drei Edelsteinen, den Silmaril; hier wird von der ‘Besiedelung’ Ardas durch die göttlichen Valar berichtet, von der Entstehung des Bösen und der Ankunft der Elben, der Zwerge und der Menschen. Es wird erzählt von Helden, die sich gegen das Böse zu behaupten versuchen: von Feanor, von Beren und von Túrin; und die drei Edelsteine sind tief in den Geschichten verankert. Die Erzählung „Akallabêth“ handelt im Zweiten Zeitalter: Die Númenórer (Menschen) stellen sich gegen Elben und Valar; Saurons Ränke haben daran einen Anteil. Der letzte Abschnitt des Silmarillions mutet wie ein Bericht an; er behandelt kurz und knapp von den Ereignissen des Dritten Zeitalters, wie sie umfassend im Herrn der Ringe erzählt werden. Wir können annehmen, dass dieser Abschnitt nach dem Verfassen des Letztgenannten geschrieben wurde, um die Werke miteinander zu verbinden.[Fußnote 46] In den Nachrichten aus Mittelerde gibt es eine rund siebzig Seiten längere Version der Túrin-Geschichte; außerdem werden Verhältnisse des Zweiten und Dritten Zeitalters näher beschrieben bzw. erweitert.
Wie Feanor an den Silmaril, die er geschaffen hatte, hing, so war Tolkiens Leben mit den Geschichten verbunden, die schließlich, nach seinem Tode, im Jahre 1977, unter dem Titel Das Silmarillion von seinem Sohn Christopher Tolkien veröffentlicht wurden. Ursprünglich hatte J. R. R. T. vorgehabt, weil er sich wünschte, die Engländer besäßen mehr mythologische Erzählungen – etwa solche wie das finnische Kalevala[Fußnote 47] –, eine Mythologie für England zu verfassen:[Fußnote 48]
„Es gab aber eine Zeit (seither bin ich längst kleinlauter geworden), da hatte ich vor, eine Sammlung von mehr oder weniger zusammenhängenden Sagen zu schaffen, die von den großen, kosmogonischen bis hin zum romantischen Märchen reichen sollten – die größeren auf den kleineren aufruhend, den Boden berührend, die kleineren um den Glanz des weiten Hintergrundes bereichert –, ein Werk, das ich einfach meinem Lande, England, widmen könnte.“[Fußnote 49]
Wir können ersehen, dass dieses ehrgeizige Ziel in dem von Christopher Tolkien im Jahre 1983 veröffentlichten zweibändigen Werk Das Buch der verschollenen Geschichten (engl. Originaltitel: The Book of Lost Tales) noch verfolgt wurde; allein der Titel einer Geschichte – „Ælfwine aus England“ – zeigt auf, dass eine Verbindung Englands mit der Tolkien’schen Mythologie gesucht wurde.[Fußnote 50] Er begann in den Jahren 1916/17 mit der Niederschrift der Verschollenen Geschichten; das Silmarillion nun stellt eine grundlegende Umgestaltung der früheren Fassung, also jener Geschichten der frühen Jahre, dar.[Fußnote 51] All das, was Das Silmarillion beinhaltet, findet sich – in mehr oder weniger andersartiger Form – in den Verschollenen Geschichten. Im Silmarillion ist keine Spur mehr von der zwischen Realität und Literatur vermittelnden Ælfwine-Geschichte. Zwar beansprucht der Text somit nicht mehr, eine Mythologie für England zu sein, aber dafür erweist es sich als die Schilderung einer sagenhaften (im wörtlichen Sinne) Zeit Mittelerdes:
„Im Herrn der Ringe waren die großen Ereignisse zu Ende des Dritten Zeitalters berichtet worden; die Geschichten des Silmarillion aber sind Legenden, die aus einer viel früheren Vergangenheit stammen, aus der Zeit, als Morgoth, der erste Dunkle Herrscher, in Mittelerde hauste und die Hochelben Krieg gegen ihn führten, um die Silmaril zurückzugewinnen.“[Fußnote 52]
Da das Silmarillion nach Tolkiens Tod editiert wurde, liegt keine völlige intratextuelle sowie intertextuelle Kongruenz vor.[Fußnote 53] (Im Folgenden sprechen wir von den silmarillischen Geschichten, wenn wir Das Silmarillion, Nachrichten aus Mittelerde und Das Buch der verschollenen Geschichten 1 und 2 meinen.) Dennoch wird hier, im Rahmen der vorliegenden Arbeit, das Silmarillion als Einheit, als Essenz der silmarillischen Geschichten betrachtet – so verfährt auch Christopher Tolkien.[Fußnote 54]
Der kleine Hobbit ist ein Kinderbuch, das, wie Tolkien beim Schreiben desselben entdeckte, zur Welt Ardas, nach Mittelerde, gehörte:
„Doch allmählich begannen manche Elemente aus seiner Mythologie sich einzuschleichen. Unvermeidlich stifteten die Zwerge eine Verbindung, denn sie kamen auch in dem früheren Werk vor; und wenn der Zauberer im ersten Kapitel den ‘Nekromanten’ erwähnt, so war das ein Hinweis auf die Legende von Beren und Lúthien.“[Fußnote 55]
Bilbo, der Hobbit, wird vom Zauberer Gandalf und einer Gruppe von Zwergen dazu gebracht, mit ihnen zu gehen, um einen Schatz von einem Drachen zurückzugewinnen. Im Laufe dieses Abenteuers findet er einen Ring. Tolkien schreibt:
„Mr. Baggins [also Der kleine Hobbit] begann als eine komische Erzählung unter herkömmlichen, aber nicht ganz stimmigen Grimmschen Märchenzwergen, und dann wurde er am Rande da hineingezogen – so daß sogar Sauron der Schreckliche über den Rand lugte. Und was können Hobbits mehr tun?“[Fußnote 56]
Was Hobbits noch tun können, entdeckte er im Herrn der Ringe.
Dort stellt sich heraus (auch für Tolkien, während er die ersten Kapitel dieses Werkes schrieb[Fußnote 57]), dass jener Ring, den Bilbo gefunden hatte, der Eine Ring der Macht ist. Neun Gefährten – Gandalf und Frodo, der Ringträger, nebst drei Hobbits, zwei Menschen, einem Zwerg und einem Elben – brechen auf, den Ring zu vernichten; und dies ist nur im Orodruin, dem Schicksalsberg inmitten des Landes Mordor, möglich. Die Gemeinschaft wird getrennt, und so verläuft der Fortgang der Handlung auf verschiedenen Ebenen, die immer wieder geschickt miteinander verknüpft werden. Erzählt wird von Schlachten gegen Saruman und Sauron sowie vom Fortkommen von Frodo und Sam auf dem Weg zum Schicksalsberg.[Fußnote 58] In diesen beiden ‘Hobbit-Texten’ gibt es zahlreiche Verweise auf die alten (silmarillischen) Geschichten von Mittelerde bzw. Arda, worauf später – im 5. Kapitel – eingegangen wird.
Es existieren zwei deutsche Herr der Ringe-Übersetzungen: eine von Margaret Carroux und die andere von Wolfgang Krege. Ich ziehe die Carroux-Übersetzung der von Krege vor. Jene ältere Version ist in Zusammenarbeit mit Tolkien entstanden; die neue Übersetzung von Krege hat im Jahr 2000 die Carroux-Version abgelöst.[Fußnote 59] Die deutsche Leserschaft des Herrn der Ringe ist deshalb in zwei Lager gespalten. Man hat mit der Neuübersetzung das Ziel verfolgt, die Rezeption des Textes für heranwachsende Leser zu erleichtern.[Fußnote 60] Doch kann man sich fragen, ob dies überhaupt erwünscht war und ob dem Text damit etwas genommen wurde, was er lieber hätte behalten sollen. Das beliebteste Beispiel für diese Übersetzungskontroverse ist die Anrede von Sam gegenüber Frodo: Bei Carroux ist es „Herr“, bei Krege „Chef“. Freilich ist das nicht die einzige Änderung, die Krege vorgenommen hat – hier einige Beispiele:
Tolkien:
„>‘Have you seen Baggins?’“ he asked in a queer voice, and bent down towards me.<“[Fußnote 61]
„‘Then he spurred his great horse right at me, and I jumped out of the way only just in time.’“[Fußnote 62]
„‘Where are you, you woolly-footed slowcoach?’“[Fußnote 63]
„‘Here is a nice little parlour!’ he said.“[Fußnote 64]
„‘These are evil tidings,’ said Celeborn, ‘the most evil that have been spoken here in long years full of grievous deeds.’“[Fußnote 65]
„‘Well, have a care!’ said Boromir. ‘I do not feel too sure of this Elvish Lady and her purposes.’“[Fußnote 66]
„‘You are wise and fearless and fair, Lady Galadriel,’ said Frodo. ‘I will give you the One Ring, if you ask for it. It is too great a matter for me.’“[Fußnote 67]
Carroux:
1. „>‘Habt Ihr Beutlin gesehen?’ fragte er mit seltsamer Stimme und beugte sich zu mir herunter [...]<“[Fußnote 68]
2. „‘Dann gab er seinem großen Pferd die Sporen und ritt direkt auf mich zu, und ich sprang gerade noch rechtzeitig beiseite.’“[Fußnote 69]
3. „‘Wo steckst du denn, du wollfüßiges Faultier!’“[Fußnote 70]
4. „‘Hier ist eine nette kleine Gaststube’, sagte er.“[Fußnote 71]
5. „‘Das sind schlimme Nachrichten’, sagte Celeborn, ‘die schlimmsten, die hier in langen Jahren voller furchtbarer Taten verkündet worden sind.’“[Fußnote 72]
6. „‘Na, sei vorsichtig!’ sagte Boromir. ‘Ich bin nicht so sehr überzeugt von dieser Elben-Herrin und ihren Absichten.’“[Fußnote 73]
7. „‘Ihr seid weise und furchtlos und schön, Frau Galadriel’, sagte Frodo. ‘Ich will Euch den Einen Ring geben, wenn Ihr ihn verlangt. Er ist eine zu gewichtige Sache für mich.’“[Fußnote 74]
Krege:
8. „>‘Hast du gesehn Beutlin?’ fragt er mich mit so einer ganz komischen Stimme und beugt sich zu mir runter.<“[Fußnote 75]
9. „‘Dann hat er seinem großen Gaul die Sporen gegeben, direkt auf mich los; gerade noch konnte ich zur Seite springen.’“[Fußnote 76]
10. „‘Wo steckst du, Nob, du flaumfüßiger Penner?’“[Fußnote 77]
11. „‘Hier haben wir ein nettes kleines Klubzimmer’, sagte er.“[Fußnote 78]
12. „‘Dies ist schlimme Post’, sagte Celeborn, ‘die schlimmste, die wir hier in den langen Jahren voller Schreckenstaten vernommen haben.’“[Fußnote 79]
13. „‘Na, nimm dich in Acht!’ sagte Boromir. ‘Dieser Elbendame und ihren Absichten trau’ ich nicht so ganz.’“[Fußnote 80]
14. „‘Klug bist du, Frau Galadriel, schön und furchtlos’, sagte Frodo. ‘Ich gebe dir den Einen Ring, wenn du mich darum bittest. Mir ist er zu schwer.’“[Fußnote 81]
Bei den unterstrichenen Stellen ergeben sich die größten stilistischen Unterschiede zwischen den beiden Übersetzungen – allgemein ist zu sagen, dass Carroux sowohl stilistisch als auch inhaltlich näher am englischen Original bleibt. Und einmal davon abgesehen sind die Modifikationen von Krege nicht sonderlich ästhetisch; vielmehr sind sie der Gesamtwirkung des Textes, wie sie Tolkien beabsichtigte, höchst abträglich. Der archaische Sprachstil gehört zum Herrn der Ringe (und ist noch bedeutsamer für das Silmarillion), denn er gehört zur Illusion des Alten:
„Tolkien used word-play in promoting the idea that The Lord of the Rings describes an age dimly remembered in historical vocabularies. This helps to arouse the reader’s interest when words from historical contexts are used. For example, he used the Old English words ent and orc [...]“[Fußnote 82]
Tolkien selbst verteidigt sein stilistisches Vorgehen in einem Aufsatz über das altenglische Gedicht Beowulf:
„Dergleichen – den Aufbau einer poetischen Sprache aus archaischen, mundartlichen oder in einer Sonderbedeutung gebrauchten Wörtern und Formen – mag man bedauern oder mißbilligen. Aber es hat nichtsdestoweniger auch etwas für sich: Die Entwicklung einer Sprachform, deren Bedeutungen vertraut, aber von trivialen Assoziationen entlastet und voller Erinnerungen an Gut und Böse geblieben sind, ist ein Gewinn; und wer eine solche Tradition besitzt, ist reicher als andere, die nichts davon haben.“[Fußnote 83]
Wird der Sprachstil Tolkiens unbedarft geändert und den vermeintlichen Rezeptionsbedürfnissen einer neuen Generation angepasst, so wirkt sich dies negativ auf die ästhetische und inhaltliche Gesamtwirkung und -aussage des Werkes aus. Ein weiterer bedeutsamer Grund, der für die Carroux-Übersetzung spricht, ist, dass der Sprachstil des Silmarillions mit dem des Herrn der Ringe besser zusammen passt – dabei bin ich mir der ironischen Tatsache bewusst, dass die deutsche Silmarillion-Übersetzung von Krege stammt. Diese Ausführungen mögen genügen, um zu begründen, warum die Carroux-Übersetzung (des Herrn der Ringe) für diese Untersuchung herangezogen wird.
2.2.1.2. Altnordische Mythen
„Brunhild. (...)
Jetzt herrscht das Kreuz und Thor und Odin sitzen
Als Teufel in der Hölle.
Frigga. Fürchest du
Sie darum weniger? Sie können uns
Noch immer fluchen, wenn auch nicht mehr segnen“.[Fußnote 84]
(Hebbel: Die Nibelungen)
Wir werden drei Texte der altnordischen bzw. germanischen Mythologie, die Lieder-Edda, die Prosa-Edda und das Nibelungenlied, zur Ermittlung der – womöglich altnordisch-mythologischen – intratextuellen Funktionsweise des Silmarillions heranziehen. (Der Terminus „altnordisch“ bezeichnet „die volkssprachige Literatur der nordgermanischen Länder von etwa 800 bis 1500“,[Fußnote 85] entspricht also einem Zeitraum, der in der deutschen Sprachgeschichte fast drei Epochen – Althochdeutsch, Mittelhochdeutsch und Frühneuhochdeutsch – umfasst.)
Die Prosa-Edda (auch Snorra Edda oder Jüngere Edda) ist ein Skaldenlehrbuch des isländischen Gelehrten Snorri Sturluson (1178/79-1241) – Skalden waren die altnordischen Dichter. Um 1220 verfasste er seine Poetik,[Fußnote 86] mit der Absicht, den Skalden der neuen Generation ein Wissen über die alten mythischen Stoffe zu vermitteln und ihnen so eine wichtige Voraussetzung für das Verstehen und Erfinden von skaldischen Kenningen – eine Art von Umschreibungen, die mindestens zwei Wörter enthalten – zu geben.[Fußnote 87] Im Prolog der Prosa-Edda sowie auch an weiteren Stellen des Textes werden die altnordischen Mythen in einen christlichen Zusammenhang eingebettet: Die Asen kommen aus Troja; darüber hinaus werden sie als Menschen mit besonderen Fähigkeiten dargestellt, nicht als Götter – Snorri hat also die Absicht, „den Norden mit seiner Kultur, seiner Sprache, seiner vorchristlichen Religion mit dem christlich-gelehrten Abendland zu verbinden.“[Fußnote 88] Hauptsächlich das Kapitel „Gylfis Täuschung“ beinhaltet Mythisches, aber auch „Die Sprache der Dichtkunst“. (In „Gylfis Täuschung“ existiert ein ähnlicher Erzählrahmen wie in den Verschollenen Geschichten: Der König Gylfi, der sich Gangleri nennt, kommt zu den Asen, welche ihm berichten von der Erschaffung der Welt und von den Taten der Götter. Tolkien: Eriol, ein Sohn Earendils, gelangt nach Tol Eressea, und die Elben dort erzählen ihm von der Musik der Ainur usw.)[Fußnote 89]
Sturluson zitierte in seiner Edda zahlreiche Strophen aus Götterliedern, woraus geschlossen wurde, dass er eine größere Sammlung solcher Götterlieder zur Verfügung gehabt haben musste. 1643 glaubte man, selbige gefunden zu haben und schrieb sie dem Priester Sæmundr Sigfússon zu. Bis man diese Annahme als irrig verwarf, wurde diese Handschrift als Sæmundar Edda bezeichnet; danach nannte man sie Lieder-Edda (auch Ältere Edda).[Fußnote 90] Bedeutsame Götterlieder heißen z.B. „Der Seherin Gesicht (Völuspá)“, „Das Wafthrudnirlied (Vafþrúðnismál)“, „Das Grimnirlied (Grímnismál)“, „Das Thrymlied (Þrymskviða)“ und „Balders Träume (Baldrs draumar)“; Heldenlieder erzählen von Sigurd, von Starkad, von Hildibrand und von andern; weitere Lieder thematisieren Sitten und Moral, z.B. „Das alte Sittengedicht (Hávamál)“ oder „Die Heidreksrätsel (Heiðreks gátur)“. Es geht um die Taten der Götter, beispielsweise die Erschaffung der Welt oder um Thors Ostfahrten, auf denen er stets Riesen mit seinem Hammer Mjöllnir tötet, es geht um Helden, die in Walhall warten, bis das Ende der Welt anbricht. Mir liegen jene Lieder in der deutschen Übersetzung von F. Genzmer vor; selbige bleibt nahe am Original und ist im Stande, „etwas von Geist und Atmosphäre der altnordischen Vorlagen lebendig werden zu lassen.“[Fußnote 91] Eine Strophe aus der „Kürzesten Seherinnenrede“ zeigt uns dieses altnordische, düstere ‘Flair’:
„Es steigt zum Himmel
im Sturm das Meer,
es stürzt aufs Land,
die Luft verdorrt;
Schneesturm kommt dann
und scharfer Wind:
dann ist das Ende
den Asen gesetzt.“[Fußnote 92]
Obwohl einige der Edda-Lieder im 9. Jahrhundert entstanden, sind die meisten – wie die Snorra Edda – doch „als Schöpfungen des Hochmittelalters [zu] betrachten“.[Fußnote 93] Dennoch: Bei Sturlusons Poetik ist lediglich der Rahmen ein christlicher, und die Lieder-Edda besitzt „nur wenige Spuren christlicher und abendländisch-mittelalterlicher Denkart und Gesittung“.[Fußnote 94] Der Grund dafür ist darin zu suchen, dass Island bzw. seine Gelehrten sich einen großen Teil der altnordisch-heidnischen Dinge bewahrt hatten – auch nach ca. zweihundert Jahren Christentum. So können die Lieder-Edda und auch die Prosa-Edda als Denkmäler der altnordischen bzw. germanischen Kultur betrachtet werden.[Fußnote 95]
Das Nibelungenlied (mhd. Der Nibelunge Nôt) ist ein Heldenepos in Strophen und wurde von einem uns unbekannten Verfasser um 1200 geschrieben. Es beinhaltet mehr als 2000 Nibelungenstrophen, die 39 Aventiuren bilden. Das Epos gliedert sich in zwei ähnlich große Teile: Der erste schildert Siegfrieds Werbung um Kriemhild, die Heirat der beiden und seine Ermordung durch Hagen; der zweite kündet von Kriemhilds Rache, die schließlich zum Untergang der Nibelungen führt.[Fußnote 96] Auch einige Lieder der Edda beschreiben Inhalte des Nibelungenliedes, doch da diese hinsichtlich ihrer Datierung differieren und es unter ihnen zudem keine Handlungskongruenz gibt,[Fußnote 97] habe ich mich entschlossen, statt der diesbezüglichen Edda-Lieder das Nibelungenlied für die Untersuchung zu nutzen, um einen einheitlichen Text zu haben; die Vorgeschichte aber – Siegfrieds Heldentat, die Tötung des Drachen – wird ausführlicher in der Lieder- als auch in der Prosa-Edda erzählt. – Wir wissen, dass J. R. R. Tolkien all diese altnordischen Texte gekannt hat: „Er las die Sagas und die Jüngere Edda oder Prosa-Edda. Er las auch die Ältere oder Lieder-Edda, und so geriet er an die alte Schatzkammer der isländischen Mythen und Sagen.“[Fußnote 98] Shippey (2002) sieht seitens der Prosa-Edda einen großen Einfluss für das Silmarillion: „Wenn Tolkien darüber hinaus für Das Silmarillion ein literarisches Vorbild hatte, so kann es nur Snorri Sturlusons Prosa-Edda gewesen sein“.[Fußnote 99]
2.2.2. Zum Forschungsstand
Nahezu alle sekundärliterarischen (bedeutsamen) Werke beschäftigen sich mit dem Gesamtwerk Tolkiens, wobei Der Herr der Ringe schwerpunktmäßig behandelt wird. In Carpenters autorisierter Tolkien-Biografie (1977) ist die Entstehungsgeschichte der Werke Tolkiens mit eingebunden. Shippey betont in seinen Büchern The road to Middle-earth (1982) und J. R. R. Tolkien – Autor des Jahrhunderts (2000) die Rolle der Philologie bei der Entstehung der Mittelerde-Erzählungen und versucht in seinem neueren Buch zu begründen, warum Tolkien einer der wichtigsten Autoren des Jahrhunderts genannt werden kann. Carter (1969) referiert die literarische Tradition, in die sich Tolkien mit seinen Werken einfügt. Noel (1977) leitet in ihrer Mythology of Middle-earth die bedeutsamsten Quellen her. Helms interpretiert den Hobbit und den Herrn der Ringe in Tolkiens Welt (1974) ohne Kenntnis des Silmarillions; in Tolkien und die Silmarille (1981) holt er eine Interpretation des Silmarillions in erhellender Weise nach.
Fonstad (1991) hat mit ihrem Historischen Atlas von Mittelerde ein Standardwerk der Sekundärliteratur zu Tolkien geschaffen. Petzold (1980) beschäftigt sich mit der Frage, inwieweit Tolkiens Werk (bzw. Fantasy-Literatur im Allgemeinen) als Wunscherfüllung zu betrachten ist. In den beiden Sammelbänden von Pesch – J. R. R. Tolkien – der Mythenschöpfer (1984) und Das Licht von Mittelerde (1994) – werden verschiedene Aspekte des Tolkien’schen Werkes untersucht, beispielsweise Tolkiens linguistische Ästhetik (Pesch, 1994) oder eine Erörertung (Kreeft, 1984) über das Silmarillion. Gloge (2002) versucht den Weg bis hin zur Fantasy-Literatur nachzuzeichnen, angefangen bei Tolkien. Zahnweh (1989) stellt in ihrem Buch Heldenfiguren bei Tolkien eine Hierarchie des Heldentums auf, betreffend das Silmarillion und den Herrn der Ringe. Purtill (1984) ermittelt Elemente des Moralischen und Religiösen bei Tolkien. In einem von Clark und Timmons (2000) herausgegebenen Sammelband werden zahlreiche Aspekte des Tolkien’schen Werkes untersucht, z.B. Heldentum, Tolkiens Erzählstil oder das Motiv des Drachentötens. Einhaus (1986) beschreibt den Heterokosmos von Mittelerde und untersucht die raum-zeitlichen Relationen des Herrn der Ringe. Hammond und Scull (1995) schließlich richten den Blick auf Tolkien, den Künstler, und bringen seine Bilder und Illustrationen mit seinen Werken in Verbindung und gehen so einen anderen Weg der Interpretation.[Fußnote 100]
Weitere Sekundärliteratur thematisiert ähnliche Inhalte. Die meisten der genannten Autoren bzw. Werke beschäftigen sich mehr oder weniger ausführlich mit den Quellen, die Tolkien zur Verfügung standen. In vertiefender Weise tun dies Noel, Helms, Purtill und Zahnweh, wobei sie sich – wie andere – nicht nur mit dem Nennen von Ähnlichkeiten begnügen, sondern auch mit der Frage, inwieweit der Tolkien’sche Text zu einer Umwertung des Quelleninhaltes führt. In Bezug auf das Silmarillion gilt dies für seine im Zentrum stehenden Geschichten – sicherlich wird im Hinblick auf altnordische Elemente noch mehr zu entdecken sein. Der erste Teil der vorliegenden Untersuchung knüpft in der Weise an die Genannten (Noel, Helms, Purtill und Zahnweh) und andere Autoren an, als er versucht, die differierenden Wertigkeiten von bereits thematisierten altnordischen Elementen in den zu Grunde liegenden Texten aufzuzeigen und darüber hinaus weitere solcher Elemente zu ermitteln. Weiterhin ist zur Sekundärliteratur zu bemerken, dass alle Autoren Tolkiens Abneigung bezüglich der Allegorie kennen; einige von ihnen verfallen jedoch im Verlauf ihrer Untersuchungen auf die Methode, allegorisch zu interpretieren, z.B. Shippey (2000).[Fußnote 101] Im Gegensatz dazu werden wir das Silmarillion und die anderen Texte systemisch lesen.[Fußnote 102]
2.3. Mythentheorie
„Prometheus
Von Prometheus berichten vier Sagen: Nach der ersten wurde er, weil er die Götter an die Menschen verraten hatte, am Kaukasus festgeschmiedet, und die Götter schickten Adler, die von seiner immer wachsenden Leber fraßen.
Nach der zweiten drückte sich Prometheus im Schmerz vor den zuhackenden Schnäbeln immer tiefer in den Felsen, bis er mit ihm eins wurde.
Nach der dritten wurde in den Jahrtausenden sein Verrat vergessen, die Götter vergaßen, die Adler, er selbst.
Nach der vierten wurde man des grundlos Gewordenen müde. Die Götter wurden müde, die Adler wurden müde, die Wunde schloß sich müde.
Blieb das unerklärliche Felsgebirge. - Die Sage versucht das Unerklärliche zu erklären. Da sie aus einem Wahrheitsgrund kommt, muß sie wieder im Unerklärlichen enden.“[Fußnote 103]
(Kafka: Prometheus)
Nun werden wir uns kurz mit dem Begriff Mythos auseinandersetzen. Hierbei sind besonders zwei Fragen wichtig: Welche Funktionen hat der Mythos? Und: Wie hängen Mythos und Literatur zusammen?
2.3.1. Zur Mythosforschung
Mit Beginn des philosophischen Denkens (im 5. Jh. v. u. Z.) wird der Mythos dem Logos gegenüber gestellt; ersterer wird fortan betrachtet als unwahre Erzählung, die es zu widerlegen gilt – Platon betrachtet Mythen „als ‘lügenhaft’ und ‘kindlich’“.[Fußnote 104] Mythen werden allegorisch interpretiert, was die erfolgreichste Interpretationsweise ist. Eine andere ist es, den potentiellen wahren Kern eines Mythos zu identifizieren; auch die Reduktion von Göttererzählungen auf Menschengeschichten (Euhemerismus) ist eine Art der Mythosinterpretation.[Fußnote 105] Bis in die Gegenwart halten sich diese Herangehensweisen.
Für das aufstrebende Christentum stellt der Mythos zunächst etwas dar, was es zu bekämpfen gilt, dann – nach dem Sieg des Christentums – stellt sich Liberalität gegenüber dem Mythos ein.[Fußnote 106] Im Mittelalter sind Mythen Bildungsgut für Gelehrte; zudem bleiben allegorische und euhemeristische Deutungsverfahren bestehen, was zeigt, dass ein Mythos weiterhin als „‘erdichtete Märe’“[Fußnote 107] betrachtet wird, aus welcher man eine eventuelle Wahrheit erst extrahieren müsse. Auch in der Epoche der Aufklärung werden Mythen ähnlich betrachtet wie in der Antike: Für den aufklärerischen Rationalismus „ist der Mythos ein Produkt der Einbildung und gehört einer niederen Stufe des geistigen Lebens an.“[Fußnote 108] Er muss überwunden werden durch die Vernunft, da Mythen einer „kindlich-wilde[n] Entwicklungsstufe der Menschheit“[Fußnote 109] angehören.
Der Mythos wird in der Romantik neu bewertet; er ist der aufklärerischen Kritik entzogen, wenn er als „‘Kunstwerk der Natur’“,[Fußnote 110] als Grundlage der Kunst und als „Organ des religiösen Bewusstseins par excellence“[Fußnote 111] betrachtet wird. Wie unter 2.1. bereits angesprochen, spielt der Mythos bei der angestrebten Veränderung der Gesellschaft eine Rolle:
„Das Interesse der Romantik an der Mythologie war nicht ein bloß historisches, sondern stand im Kontext der Suche nach einer ‘neuen Mythologie’ [...], die der poetisch-ästhetischen Persönlichkeit wie der analog konzipierten Gesellschaft zu einer neuen ‘Originalität’ und ‘Spontaneität’ in Freiheit verhelfen und diese antizipierend ausdrücken sollte.“[Fußnote 112]
Die romantische Betrachtung des Mythos wird in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufgegeben:
„Aus einem Programmwort der Romantik bei der Suche nach der Urweisheit wird ein Gegenstand nüchterner Forschung, die im Bewußtsein von Evolution und Fortschritt M. nur in den rohen Anfängen der Menschheitsgeschichte vermutet“.[Fußnote 113]
Mythen sind in dieser Zeit Reaktionen primitiver Naturvölker auf ihre natürliche Umgebung; und Müller sieht im Mythos eine Krankheit der Sprache.[Fußnote 114] Im 20. Jahrhundert existiert ein pluralistisches Nebeneinander von Ansichten über den Mythos. Für Eliade ist der Mythos die Schilderung von zeitlosen Dingen, die den Menschen in eine „‘>ewige Gegenwart< der mythischen Zeit’“[Fußnote 115] versetzt. Im Zusammenhang mit der Freud’schen Psychoanalyse sind Mythen lediglich Äußerungen des menschlichen Trieblebens.[Fußnote 116] Jungs Archetypenlehre hat große Wirkung, beispielsweise auch auf Eliade und Campbell – Archetypen stellen Mythen bildende Strukturelemente dar. Lévi-Strauss sieht im Mythos Strukturen und Sinnelemente, die sich von der Sprache abheben; Mythen sind Versuche, „jene die Gesellschaft bedrängenden Widersprüche [...] theoretisch zu bewältigen“.[Fußnote 117] Nestle rekurriert auf die Mythos-Logos-Differenzierung der Antike und bedient sich der Aufklärungsmetaphorik, wenn er sagt, dass der Weg vom Mythos zum Logos gleichsam ein Weg „aus der Unmündigkeit zur Mündigkeit des Geistes“[Fußnote 118] sei. Otto dagegen gibt dem Mythos den Vorzug; dieser bzw. seine Sprache bezeichnet ein Ding nicht, sondern ist es.
Im Rahmen eines Skeptizismus gegenüber der Technik und zuweilen der gesamten Moderne finden Ottos Ausführungen Zustimmung.[Fußnote 119] Kerényi spricht dem Mythos die Fähigkeit zu, Begründungen und Erklärungen zu liefern; und seine Sprache sei durch keine andere zu ersetzen.[Fußnote 120] Nach dem Zweiten Weltkrieg werden Mythos und Aufklärung hinsichtlich ihres Gefahrenpotentials von der Frankfurter Schule nahezu gleichgesetzt.[Fußnote 121] Eine Entmythologisierungsdebatte etabliert sich, in welcher über die Bedeutsamkeit des Mythos diskutiert wird.[Fußnote 122] Hübner weist Mythos und Wissenschaft den gleichen Rang zu und meint, dass das eine das andere nicht widerlegen könne; der Mythos beruhe auf widerspruchsfreien Denkgesetzen.[Fußnote 123] Meier schließlich bezieht sich auf Gebsers Unterscheidung zwischen mythischem und mentalem Bewusstsein und gibt beiden Bewusstseinsarten eine gleich bedeutsame Rolle bei der Entwicklung der Menschheit.[Fußnote 124] Der Mythos wird also nicht mehr als Geschichte voller Lügen, die es mittels der Vernunft zu überwinden gilt, betrachtet, sondern als Bestandteil des menschlichen Bewusstseins, dessen Erkenntniswert noch immer bedeutsam ist. Wir werden uns mit den Ausführungen von Autoren näher beschäftigen, die den Mythos in dieser Weise betrachten: Jung, Eliade, Kerényi und Lévi-Strauss.
2.3.2. Begriffsbestimmung
Versuchen wir nun, uns über einen Mythos-Begriff für diese Arbeit klar zu werden. In einem Band zu Mittelalter-Mythen stoßen wir auf folgende Definition:
„Mythen [...] sind überlieferte oder neu aktualisierte Konkretisationen von Gestalten, Geschehen, Gegenständen und Gegenden, die erzählerisch – gewissermaßen modellhaft – ein Konzept bereitstellen für das Verhältnis des Menschen zu seinen Erfahrungen und zur Welt.“[Fußnote 125]
Der Ursprung des Mythos liegt im Erfahren einer ungleich mächtigeren Natur:
„Die hauptsächlichste Wurzel der meisten Mythen, auch des germanischen Mythos, ist das Naturerlebnis, und zwar schon im Umkreis des Alltages. Was entscheidend wird für Sein oder Nichtsein, ist sicherlich ein großer Machtträger.“[Fußnote 126]
Das Entstehen der mythischen Götter liegt im Naturerleben, wie auch Kerényi (1996) konstatiert; wirkliche Götter beziehen sich auf die real existierende Umwelt des Menschen: „Der antike Mensch fand in der Welt Grund genug, um seine Götter real zu empfinden. Ebenso war es sein Leben, das die Neigung hatte, in die Gebilde seiner Mythologie einzugehen und sie zu verwirklichen.“[Fußnote 127] Im Hinblick auf das Altnordische untersucht Hansen (1993) die ätiologische Bedeutung der besonderen Landschaft Islands und macht in der aktiven Vulkanzone des Landes zahlreiche Schauplätze der altnordischen Mythen ausfindig, denn dort „war ein Reich der Phantasie und doch eine reale Welt germanischer Kultstätten, ein Wunderland, das es wirklich gab und heute noch gibt, das aber erst entdeckt werden mußte.“[Fußnote 128]
Mythen werden in erzählerischer Form präsentiert, sind also Sprache, und sie unterscheiden sich von verwandten Genres:
„Der Begriff der ‘Mythus’ ist noch umstrittener und unklarer als der des Märchens. [...] In Sagen, Legenden, Märchen werden die Vorgänge auf den Menschen bezogen, in der Sage auf den vom Außerordentlichen Getroffenen, in der Legende auf den Träger des Sakralen, im Märchen auf die von Wundern getragene handelnde Figur. Im Mythus aber braucht vom Menschen nicht die Rede zu sein; die ihn kennzeichnenden Figuren sind namentlich Götter (die auch in Gestalt von Tieren oder Menschen, im Grenzfall als gottähnliche Heroen, erscheinen können). [...] Sagen, Legenden und Märchen blicken vom Irdischen aus auf das Jenseitige, der Mythus liebt es, seinen Standpunkt von Anfang an im ganz Anderen zu wählen; er hebt so das Geschehen aus dem Irdischen und aus der Zeitlichkeit heraus.“[Fußnote 129]
Das Göttliche, das Überirdische und das Überzeitliche (bzw. Zeitlose) sind bedeutsame Merkmale des Mythos, welche in dieser spezifischen Form und Kombination nicht so in den anderen Genres zu finden sind. So erschaffen die Asen-Götter des altnordischen Mythos am Anfang der Zeit die Welt; in den Sagen um Siegfried stehen Menschen zumeist im Mittelpunkt, und im Märchen haben sie, wie z.B. Jorinde und Joringel oder Hänsel und Gretel, eine zentrale Rolle.
Wie stehen Religion und Mythos zueinander? Nach Fries (1963) ist ein wesentliches Kennzeichen von Religion die Hervorbringung von Ethik, Gemeinschaft und Räumen, in welchen diese Gemeinschaft zusammenkommen kann: Tempel bzw. Kirchen.[Fußnote 130] Mythen sind in die alten Religionen eingebunden; sie gelten als Dokumente einer mytischen Zeit, und die Menschen sind betrebt, mittels der Mythen in diese Zeit zu gelangen bzw. eine religiöse Erfahrung zu machen.[Fußnote 131] Insofern existiert eine Unterscheidbarkeit zwischen der Bibel und Liedern der Edda einzig auf der Grundlage der Anbindung an eine Religion: Die Bibel gilt nicht als Mythos (oder als Sammlung von Mythen), weil sie an eine Religion gebunden ist. Die Lieder der Edda – wie die Bibel von Göttern resp. Gott und einer Urzeit handelnd –, sind nicht mehr an eine (germanische) Religion gebunden, weil selbige nicht mehr existiert, und so gelten sie als Mythen. Der Unterschied zwischen Bibel und Mythos ist also durch die Anbindung an den Glauben/an eine Religion determiniert.
Nach Schweikle (1990) stellen Mythen „Versuche früherer Kulturstufen [dar], Fragen des Ursprungs der Welt (kosmogon. M.), ihres Endes (eschatolog. M.), der Entstehung der Götter (theogon. M.), der Menschen (anthropogon. M.) und bestimmter Naturphänomene (aitiolog. M.) in Bildern, durch Personifikationen (Anthropomorphismus) oder mehr oder weniger ausgeschmückte Geschehnisfolgen zu erfassen. Der M. läßt sich auch als Versuch erklären, Moralisches, Existentielles oder Mystisches in Symbolen zu gestalten.“[Fußnote 132]
Ersichtlich wurde in diesem Abschnitt, dass es schwer fällt, den Begriff des Mythos zu bestimmen, ohne dabei zumindest in Ansätzen über seine Funktion zu reflektieren. Eine wichtige Aufgabe bzw. Funktion der Mythen – nämlich Weltdeutung oder Welterklärung – soll nun weiter erläutert werden.
2.3.3. Funktionen und Strukturen des Mythos
Die Funktion der W e l t d e u t u n g wird im Mythos anders erfüllt als im Logos: „Im Ggs. zur log. Erkenntnis bildet der M. keine Urteile, sondern will Realitäten darstellen, für die er keine rationalen Beweise zu erbringen braucht.“[Fußnote 133] Diese Darstellung der Realität hat (nach Eliade) den Zweck, die Welt als wirklich, sinnvoll und heilig zu begreifen.[Fußnote 134] Hierbei – so Kerényi – ist die Weltdeutung bzw. -erklärung lediglich eine sekundäre Funktion, denn zunächst ist der Mythos Selbstzweck:
„Die Mythologie erklärt sich selbst und alles in der Welt. Nicht weil sie zur ‘Erklärung’ erfunden, sondern weil sie auch diese Eigenschaft besitzt, erklärend zu sein. Wie auch die Poesie oder die Musik manchmal die Welt selbst für den Geist viel durchsichtiger macht als eine wissenschaftliche Erklärung.“[Fußnote 135]
Die Welterklärung im Mythos hat folgende Merkmale: Zunächst ist alles aufeinander bezogen und miteinander in Beziehung gesetzt; mit Schlegel können wir sagen:
„Die Mythologie ist ein solches Kunstwerk der Natur. In ihrem Gewebe ist das Höchste wirklich gebildet; alles ist Beziehung und Verwandlung, angebildet und umgebildet, und dieses Anbilden und Umbilden eben ihr eigenthümliches Verfahren, ihr innres Leben, ihre Methode wenn ich so sagen darf.“[Fußnote 136]
Weiterhin ist das „Zurückgehen auf Ursprung und Urzeit [...] der Grundzug jeder Mythologie.“[Fußnote 137] Mythen sind stark mit dem ‘dahinter’ liegenden Denken und einer entsprechenden Lebensweise verbunden. Das mythische Denken ist bestrebt, die Welt total zu erfassen und zu begreifen:
„Es bleibt insofern anders, als es bestrebt ist, auf kürzestem Wege zu einem allgemeinen Verständnis des Universums zu gelangen, und zwar nicht nur zu einem allgemeinen, sondern auch zu einem totalen. Das heißt, es handelt sich um eine Art des Denkens, die beinhaltet, daß man, solange man nicht alles versteht, nichts erklären kann.“[Fußnote 138]
Ein Mensch, der in solcher Weise denkt, lebt auf eine besondere Weise. Eliade (1987) differenziert zwei menschliche Lebensweisen; die des religiösen und die des areligiösen Menschen. Für den religiösen Menschen – homo religiosus – ist nahezu alles in der Welt mit Göttlichem bzw. Heiligem erfüllt: Raum und Zeit, alltägliche Handlungen, Dinge und Tiere.[Fußnote 139] Alles ist gleichsam mit diesem heiligen Element ‘aufgeladen’. Im Mythos finden wir also eine totale Welterklärung vor, die sich darin äußert, dass sämtliche Elemente mit mythischer Bedeutung besetzt sind.
Nach Meier (1990) bestehen Mythen aus zahlreichen Symbolen: „Die Erkenntnis, daß der Mythos die Darstellung eines Symbols – oder einer Reihe von Symbolen – mit den Mitteln der Sprache ist, ist ein Schlüssel des Zugangs zum Mythos, mehr noch: sie ist der Schlüssel.“[Fußnote 140] Der Symbol-Begriff wird „verwendet für ein bildhaftes Zeichen, das über sich hinaus auf höhere geist. Zusammenhänge weist, für die Veranschaulichung eines Begriffes, als sinnl. Zeugnis für Ideenhaftes.“[Fußnote 141] Es steht im Gegensatz zur Allegorie, welche rational auflösbar und einschichtig ist – ein Symbol dagegen hat mehrdimensionale Bedeutung und spricht neben Sinn und Gefühl auch Unbewusstes an. Die Verknüpfung zwischen dem benennenden Symbol und dem Benannten ist offenkundig und nicht, wie bei der Allegorie, willkürlich.[Fußnote 142] Symbole gründen auf Archetypen.[Fußnote 143] Dieses ist ein (von Jung eingeführter) Begriff, der „für archaische Bildvorstellungen der Menschheit verwendet“[Fußnote 144] wird, welche aus dem Unbewussten stammen.
Zur Anschauung wollen wir uns einem Archetypus zuwenden: dem des Helden. Die Merkmale einer archetypischen Heldengeschichte sind:
Austritt aus dem Alltagsleben –
Kampf –
Eingehen in eine unbekannte Welt (Reich der Finsternis) –
Prüfungen –
Belohnung/Triumph –
Erweiterung des Bewusstseins –
Rückkehr –
‘Heilung’ der Welt mit einem Gut, das er bringt.[Fußnote 145]
Ist ein Charakter in einer Erzählung durch diese von Campbell (1973) genannten Merkmale gekennzeichnet, so können wir diesen als mythisch bezeichnen.
Halten wir fest: Mythen sind gekennzeichnet durch eine vollständige Erfassung (Erklärung) physikalischer bzw. natürlicher und moralischer Phänomene, welche mittels einer Aufladung dieser Phänomene mit mythischen Elementen – Göttern, magischen Eigenschaften, Werte des Guten und des Bösen usw. – geschieht. Diese Aufladung der Welt mit Mythischem (mit Eliade könnten wir auch sagen: mit Heiligem) ist das wichtigste Merkmal einer mythischen Weltdeutung.
2.3.4. Mythos und Literatur
Es ist notwendig, mit Bezug auf Kerényi (1996) zwischen „lebendiger“ und ‘lebloser’ Mythologie zu unterscheiden, wobei die Bezeichnung der ‘leblosen’ Mythologie von mir stammt:
„Lebendige Mythologie wird gelebt, sie ist eine Ausdrucks-, Denk- und Lebensform – und dennoch ist sie stofflich. Sie ist keine bloße Form oder Art des Vorstellens. Mythologie setzt eine besondere mythologische Denkform oder ‘Weise des Bildens’, oder wie immer sie genannt werden will, wohl voraus, doch setzt sie sie nicht mehr oder nicht weniger voraus als die Poesie eine poetische, die Musik eine musikalische ‘Denkform’.“[Fußnote 146]
Mit ‘leblos’ möchte ich eine mythische Erzählung bezeichnen, die eben nicht mehr gelebt wird und keine besondere Denkform mehr darstellt. Diese Unterscheidung bezieht sich auf das, was oben zur Bibel und zur Edda gesagt wurde: Die Bibel besitzt „lebendige“ mythische Elemente; die Edda ‘leblose’. Dass dies so ist, wird von Kerényi mit dem Verhältnis, das wir zu diesen Texten einnehmen, erklärt: