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Das bisher persönlichste Buch des großen Biologen und Vordenkers Rupert Sheldrake mit den 7 wichtigsten spirituellen Praktiken aller Religionen. Fast alle spirituellen Traditionen haben konkrete Übungsformen entwickelt, und fast alle diese Methoden sind inzwischen wissenschaftlich erforscht. Ob Meditation, Gebet, Ritual, Musik und Tanz; ob die Verbindung mit der Natur, Pilgerreisen oder einfach das Prinzip Dankbarkeit: Rupert Sheldrake erklärt für jeden suchenden Menschen die wissenschaftliche Basis all dieser spirituellen Praktiken. Er zeigt, dass Bewusstsein eine größere Reichweite hat als von den Naturwissenschaften oft behauptet wird. Sheldrakes überzeugendes Sachbuch belegt den Wert von Spiritualität im Leben eines jeden Menschen. Die vielen persönlichen Berichte, Übungsanleitungen und Bekenntnisse dieses langjährig Meditierenden und überragenden Wissenschaftlers unserer Zeit geben der Wiederentdeckung der Spiritualität eine besondere Note. Die Religion hat keineswegs ausgedient, wie viele Atheisten und Materialisten unserer Zeit annehmen. Spiritualität und Sinnsuche ist allen Menschen immanent und wird immer wieder neue Wege und Formen finden. Bewusstsein ist mehr als die Naturwissenschaft unterstellt, so lautet die Botschaft von Rupert Sheldrake.
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Seitenzahl: 348
Rupert Sheldrake
Die Wiederentdeckung der Spiritualität
Knaur e-books
Ob Meditation, Gebet, Ritual, Musik und Tanz; ob die Verbindung mit der Natur, Pilgerreisen oder einfach das Prinzip Dankbarkeit: Fast alle spirituellen Traditionen haben konkrete Übungsformen entwickelt. Der berühmte Biologe Rupert Sheldrake erklärt für jeden suchenden Menschen die wissenschaftliche Basis all dieser spirituellen Praktiken. Seine Botschaft ist, dass Bewusstsein eine größere Reichweite hat als von den Naturwissenschaften oft behauptet wird. Spirituelle Praktiken können zu Erfahrungen führen, bei denen jedem sofort klar wird, dass dabei eine Verbindung mit einem größeren Bewusstsein entsteht. Rupert Sheldrake ist mit allen vorgestellten Praktiken selbst vertraut. Seine persönlichen Berichte und Übungsanleitungen inspirieren jeden Suchenden. Als langjährig Meditierender kennt er nicht nur die christliche Kontemplation und indische Formen des Yoga, er hat auch tibetisch-buddhistische Retreats besucht und mit Schamanen zusammengearbeitet. In seinem bisher persönlichsten Buch zeigt sich, dass Religion im Sinne echter spiritueller Erfahrung keineswegs ausgedient hat oder von den Naturwissenschaften einfach beiseitegeschoben werden kann. Er legt überzeugend dar, dass inneres Erleben nicht in Zellen oder Molekülen stattfindet, sondern in einer Dimension, die solche materiellen Strukturen überhaupt erst ermöglicht.
In dankbarer Erinnerung an meine Eltern Reginald und Doris
Dieses Buch ist der Ertrag einer langjährigen Reise durch die Welt der Wissenschaft, der Geschichte, Philosophie, Spiritualität, Theologie und Religion, aber nicht minder einer ganz konkreten Reise durch viele Länder der physischen Welt wie Großbritannien, Irland, das kontinentale Europa, Nordamerika, Malaysia und Indien. Sowohl die Wissenschaft als auch spirituelle Gebräuche gehören zu meinem Leben, seit ich ein Kind war, und über ihre Beziehungen untereinander habe ich mir seither in vielerlei Hinsicht Gedanken gemacht.
Geboren und aufgewachsen bin ich in Newark-on-Trent in der Grafschaft Nottinghamshire, einem Marktflecken in den englischen Midlands. Ich genoss eine ganz normale christliche Erziehung. Meine Eltern waren Methodisten, und ich besuchte ein anglikanisches Jungeninternat.
Schon in sehr jungen Jahren interessierte ich mich für Pflanzen und Tiere, und ich hielt viele verschiedene Haustiere. Mein Vater war Apotheker, der sich mit Heilkräutern und dem Mikroskopieren auskannte, und so unterstützte er meine Interessen. Da ich Biologe werden wollte, wählte ich in der Schule den wissenschaftlichen Zweig, und später studierte ich an der Universität von Cambridge Biologie und Biochemie.
Während dieser Schul- und Studienjahre stellte ich fest, dass die meisten meiner Lehrer und Dozenten der wissenschaftlichen Disziplinen Atheisten waren und den Atheismus als etwas Selbstverständliches betrachteten. Im England jener Zeit gingen Wissenschaft und Atheismus Hand in Hand. Diese Einstellung schien Teil des wissenschaftlichen Weltbildes zu sein, und ich akzeptierte das.
Mit siebzehn, in der Zeit zwischen dem Schulabschluss und der Aufnahme meines Studiums, arbeitete ich als Laborant im Forschungslaboratorium eines Pharmazieunternehmens. Als ich den Job annahm, wusste ich allerdings nicht, dass es dabei um Tierexperimente ging. Ich wollte Biologe werden, weil ich Tiere mochte. Aber nun arbeitete ich in einer Art Todeslager. Keine der Kreaturen, mit denen man Experimente anstellte – Katzen, Kaninchen, Meerschweinchen, Ratten, Mäuse und ein Tag alte Küken –, verließ jemals das Labor lebendig. Es war eine Zerreißprobe zwischen meinem Mitleid mit den Tieren und dem wissenschaftlichen Ideal der Objektivität, das keinen Raum für persönliche Gefühle ließ.
Als ich Kollegen gegenüber meine Zweifel zum Ausdruck brachte, erinnerten sie mich daran, dass all dies zu unserem Wohl geschehe: Die Tiere würden geopfert, um Menschenleben zu retten. Und damit hatten sie zweifellos recht. Wir profitieren von der modernen Medizin, und unsere Medikamente sind fast ausnahmslos zuvor an Tieren erprobt worden. Es wäre unverantwortlich und ungesetzlich, potenziell giftige Substanzen ohne solche Tests bei Menschen anzuwenden. Menschen haben Rechte, so die Argumentation, Labortiere so gut wie keine. Indem wir die moderne Medizin in Anspruch nehmen, befürworten die meisten von uns stillschweigend dieses System des Tieropfers.
Während dieser Zeit las ich Freud und Marx, die mir mein atheistisches Weltbild bestätigten; und als ich mein Studium in Cambridge aufnahm, trat ich der dortigen Humanistischen Gesellschaft bei. Nachdem ich den Versammlungen einige Male beigewohnt hatte, fand ich sie bald öde, und meine Neugier zog mich in eine andere Richtung. Was sich meinem Geist aber am meisten eingeprägt hat, war der Auftritt des Biologen Sir Julian Huxley, eines der führenden Köpfe der säkularen humanistischen Bewegung. Er vertrat den Standpunkt, dass die Menschheit ihre eigene Evolution in die Hand nehmen und das Erbgut der menschlichen Rasse mithilfe der Eugenik und insbesondere der selektiven Züchtung verbessern solle.
Was ihm vorschwebte, war eine neue, genetisch vervollkommnete Generation, Kinder, die durch künstliche Befruchtung mit geeignetem Spendersamen gezeugt sind. Er zählte auch die Eigenschaften auf, die die Samenspender aufzuweisen hätten, um diesen Qualitätssprung der Menschheit zu gewährleisten: Es sollten Männer sein, die auf eine lange wissenschaftliche Familientradition zurückblicken können, die selbst große Leistungen in der Wissenschaft vorzuweisen und es zu großer öffentlicher Anerkennung gebracht haben. Als der ideale Samenspender erwies sich Sir Julian selbst. Später stellte ich dann fest, dass er auch in die Tat umsetzte, was er predigte.
Von einem Atheisten und angehenden mechanistisch denkenden Biologen wie mir wurde erwartet, an ein Universum zu glauben, das seinem Wesen nach mechanisch ist. In ihm gab es weder ein letztes Ziel noch einen Gott, und der menschliche Geist bestand aus nichts anderem als Gehirnfunktionen. Aber ich empfand all das als Zumutung, besonders dann, wenn ich verliebt war. Ich hatte eine sehr hübsche Freundin, und in einer Phase des Hochgefühls ging ich in eine Physiologie-Vorlesung über Hormone. Ich erfuhr etwas über Testosteron, Progesteron und Östrogen und wie sich diese Hormone auf die verschiedenen Zonen des männlichen und weiblichen Körpers auswirken. Aber es gab eine gewaltige Kluft zwischen der Verliebtheit, die ich verspürte, und dem Erlernen dieser chemischen Formeln.
Auch die große Kluft zwischen meiner ursprünglichen Intention – meinem Interesse an lebendigen Pflanzen und Tieren – und der Art von Biologie, die man mir da beibrachte, wurde mir immer bewusster. Zwischen meinem unmittelbaren Erleben der Tier- und Pflanzenwelt und der Art und Weise, wie mir darüber Wissen vermittelt wurde, gab es fast keine Verbindung. In unseren Laborseminaren töteten wir die Organismen, die wir untersuchten, sezierten sie und zerlegten die Einzelteile in immer kleinere Stücke, bis wir hinunter zur molekularen Ebene gelangten.
Für mein Gefühl war daran etwas grundlegend falsch, aber ich konnte das Problem nicht klar benennen. Ein befreundeter Literaturstudent lieh mir dann ein Buch über deutsche Philosophie, das einen Aufsatz über Goethe als Dichter und Botaniker enthielt.[1] Ich stellte fest, dass Goethe zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Vision von einer anderen Art Wissenschaft hatte – einer ganzheitlichen Wissenschaft, die das unmittelbare Erleben und Verstehen einschloss. In ihr handelte es sich nicht darum, alles in Stücke zu zerlegen und das Zeugnis der Sinne zu verwerfen.
Die Vorstellung, dass Wissenschaft auch anders aussehen könnte, erfüllte mich mit Hoffnung. Ich wollte Wissenschaftler sein. Aber ich wollte mich nicht sofort in eine Forscherkarriere stürzen, wie meine Dozenten es von mir annahmen. Ich wollte mir Zeit lassen, um eine weitere Perspektive zu gewinnen. Ich hatte dann das Glück, ein Frank-Knox-Stipendium für Harvard zu bekommen, und nach meinem Abschluss in Cambridge studierte ich dort ein Jahr (1963/64) Philosophie und Wissenschaftsgeschichte.
Thomas Kuhns Buch Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen war gerade erschienen, und es öffnete mir die Augen dafür, dass die mechanistische Naturtheorie etwas war, was Kuhn ein »Paradigma« nannte – ein kollektiv getragenes Wirklichkeitsmodell, ein Glaubenssystem. Kuhn zeigte auf, dass in Perioden revolutionären wissenschaftlichen Wandels alte Modelle der Wirklichkeit durch neue ersetzt wurden. Wenn sich die Wissenschaft in der Vergangenheit radikal gewandelt hatte, dann würde sie sich vielleicht auch in Zukunft erneut wandeln können – eine aufregende Möglichkeit.
Ich ging zurück nach Cambridge, um an Pflanzen zu forschen. In die Tierforschung, mein ursprüngliches Ziel, wollte ich nicht, weil ich mein Leben nicht damit zubringen wollte, Tiere zu töten. Ich schrieb meine Doktorarbeit über die Bildung des Pflanzenhormons Auxin, das das Wachstum von Stielen und Stämmen sowie die Holz- und Wurzelbildung anregt. Das Hormonpulver, das Gärtner verwenden, um die Wurzelbildung bei Stecklingen zu fördern, enthält Auxin in synthetischer Form. Anschließend forschte ich als Fellow am Clare College in Cambridge weiter auf dem Gebiet der Pflanzenentwicklung und erhielt außerdem ein Forschungsstipendium der Royal Society, das mir enorme Freiheit verschaffte, wofür ich sehr dankbar bin.
In dieser Zeit wurde ich Mitglied einer Vereinigung, die sich »Epiphany Philosophers« nannte und ihren Sitz und in Cambridge hatte.[2] Es war ein bunt zusammengewürfelter Kreis, dem Quantenphysiker, Mystiker, Buddhisten, Quäker, Anglikaner und Philosophen angehörten. Zu seinen Mitgliedern zählten Richard Braithwaite, Philosophieprofessor in Cambridge und führender Wissenschaftsphilosoph,[3] seine Frau Margaret Masterman, Leiterin der Cambridge Language Research Unit und eine Pionierin auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz, sowie Dorothy Emmet, Philosophieprofessorin an der Universität von Manchester und eine frühere Studentin des Philosophen Alfred North Whitehead. Viermal im Jahr kamen wir für eine Woche zusammen, in der wir eine Wohngemeinschaft in einer Windmühle in dem Hafenörtchen Burnham Overy Staithe an der Küste von Norfolk bildeten. Wir diskutierten über Physik, Biologie, alternative Medizin, Akupunktur, Parapsychologie, Quantentheorie, über Sprach- und Wissenschaftsphilosophie. Nichts wurde ausgeklammert.
Während dieser siebenjährigen Epoche hatte ich die Freiheit, mir nicht nur mein Forschungsgebiet selbst auszusuchen, sondern auch den Ort, an dem ich meine Studien betreiben wollte. Von der Royal Society mit Geldmitteln ausgestattet, ging ich 1968 für ein Jahr nach Malaysia, weil ich die Pflanzenwelt des Regenwaldes erforschen wollte. Das Botanische Institut der Universität Malaya bei Kuala Lumpur wurde meine neue Heimat. Auf dem Weg dorthin bereiste ich für mehrere Monate Indien und Sri Lanka, was meinen Horizont enorm erweiterte. Ich begegnete dort einer völlig anderen Art, die Welt zu betrachten, auf die ich durch meinen Bildungshintergrund in keiner Weise vorbereitet war.
Als ich nach Cambridge zurückkehrte, setzte ich meine Forschungen zur Pflanzenentwicklung fort und konzentrierte mich dabei vor allem auf die Frage, wie das Pflanzenhormon Auxin von den Blättern und Stängeln zu den Wurzelspitzen transportiert wird, wobei es auf seinem Weg Veränderungen in der Pflanze bewirkt. Obwohl diese Arbeit sehr erfolgreich war, gelangte ich immer mehr zu der Überzeugung, dass der mechanistische Ansatz nicht ausreicht, um die Formentwicklung zu erklären. Es musste auch »Top-down«- und nicht bloß »Bottom-up«-Organisationsprinzipien geben.
Um eine Analogie aus der Architektur zu verwenden, wäre ein Beispiel für ein Top-down-Prinzip der Bauplan eines vollständigen Gebäudes, während eine Bottom-up-Erklärung darin bestünde, sich mit den chemischen und physikalischen Eigenschaften der Mauersteine zu befassen, den Bindeeigenschaften des Mörtels, mit dem auf den Mauern lastenden Druck, der auf den elektrischen Leitungen liegenden Spannung und so weiter. All diese physikalischen und chemischen Faktoren sind für das Verständnis der Gebäudeeigenschaften wichtig, aber sie allein können nicht Form, Design und Funktion des Gebäudes erklären.
Aus diesem Grund begann ich, mich für biologische oder morphogenetische, also formgebende Felder zu interessieren, ein Konzept, das in den Zwanzigerjahren erstmals vertreten wurde. Die Form eines Blattes wird nicht allein durch die Gene im Inneren der Zellen bestimmt, die sie in die Lage versetzen, bestimmte Proteinmoleküle zu bilden, sondern auch durch ein blattformendes Feld, so etwas wie einen unsichtbaren Plan, eine Art Hohlform oder »Attraktor« im Sinne von »Zielgestalt« oder auch »Gestaltziel« für das Blatt. In Eichen-, Rosen- und Bambusblättern ist es jeweils ein anderer, obwohl sie alle die gleichen Auxin-Moleküle und dasselbe polare Auxin-Transportsystem aufweisen, durch das sich die Auxine stets nur in einer Richtung bewegen, vom Spross zur Wurzelspitze, nicht aber in entgegengesetzter Richtung.
Als ich darüber nachdachte, auf welche Weise morphogenetische Felder vererbt werden könnten, hatte ich einen Einfall: Es könnte eine Art von Gedächtnis in der Natur geben, das über die Zeit hinweg direkte Verbindungen zwischen früheren und gegenwärtigen Organismen schafft und durch das jede Spezies mit einer Art kollektiven Form- und Verhaltensgedächtnisses ausgestattet ist. Diesen hypothetischen Gedächtnistransfer nannte ich »morphische Resonanz«. Mir wurde aber schnell klar, dass der Vorschlag äußerst kontrovers aufgenommen würde und ich nicht in der Lage wäre, mit ihm an die Öffentlichkeit zu gehen, bevor ich noch sehr viel gründlicher darüber nachgedacht hätte. Ich brauchte Belege, und die Suche danach würde Jahre dauern können.
Zur selben Zeit wuchs mein Interesse an der Erforschung des Bewusstseins anhand psychedelischer Erlebnisse, die mich davon überzeugten, dass der menschliche Geist weit umfassender ist als alles, was ich darüber während meiner wissenschaftlichen Ausbildung erfahren hatte.
Im Jahr 1971 erlernte ich die Transzendentale Meditation, weil ich in der Lage sein wollte, das Bewusstsein ohne die Hilfe von Drogen zu erforschen. Im Transcendental Meditation Centre in Cambridge wurde nicht verlangt, irgendeinen Glauben anzunehmen. Die Meditationslehrer stellten die Abläufe als etwas rein Physiologisches dar. Das war mir sehr recht; es funktionierte, ich konnte meditieren und musste an nichts glauben, was sich außerhalb meines eigenen Gehirns abspielte. Ich war noch immer Atheist und froh, eine spirituelle Praxis gefunden zu haben, die sich mit meinem wissenschaftlichen Weltbild vertrug und keine Religion voraussetzte.
Ich begeisterte mich immer mehr für die hinduistische Philosophie und Yoga, und im Jahr 1974 bot sich mir die Gelegenheit, nach Indien zu gehen. Dort übernahm ich die Stelle des leitenden Pflanzenphysiologen am Internationalen Saatgut-Forschungsinstitut für halbtrockene Tropengebiete ICRISAT (International Crops Research Institute for the Semi-Arid Tropics) in der Nähe von Hyderabad. Ich forschte an Kicher- und Straucherbsen und gehörte einem Team an, das bessere Sorten züchtete, die höhere Erträge lieferten und resistenter gegen Dürre sowie Pflanzenschädlinge und -krankheiten waren.
Ich genoss die Jahre in Indien und nutzte einen Teil meiner freien Zeit, um mir Tempel und Aschrams anzusehen sowie Vorträge von Gurus anzuhören. In Hyderabad hatte ich auch einen Sufi-Lehrer, Agha Hassan Hyderi. Er gab mir ein Sufi-Mantra, ein Wazifa, und für ungefähr ein Jahr praktizierte ich eine Sufi-Form der Meditation. Eines der Dinge, die ich von ihm lernte, war, dass in der Sufi-Tradition Genuss als etwas betrachtet wird, das von Gott kommt. Seine Religion war nicht puritanisch oder asketisch. Er trug wundervolle Brokatgewänder, war ein Liebhaber von Wohlgerüchen und ließ, während er auf Urdu und Persisch Gedichte rezitierte, seine Finger durch eine Schale mit Jasminblüten neben seinem Sitz gleiten. Ich hatte Religion immer als etwas Lustfeindliches betrachtet, aber Aghas Einstellung war vollkommen anders.
Dann schoss mir ein neuer Gedanke durch den Kopf: Wie stand es nun mit dem Christentum? Seit ich als Teenager zum Atheismus und säkularen Humanismus bekehrt wurde, hatte ich nicht mehr viel darüber nachgedacht, obwohl die Epiphany Philosophers ein christlicher Kreis waren und wir an jedem Morgen und Abend in der Windmühle gemeinsam einstimmige Psalmen sangen.
Als ich einen hinduistischen Guru um Rat auf meinem spirituellen Weg fragte, sagte er: »Alle Wege führen zu Gott. Du stammst aus einer christlichen Familie und solltest daher den Weg des Christentums gehen.« Je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr Sinn ergab es. Die heiligen Orte des Hinduismus liegen in Indien oder in der Nähe des Subkontinents, etwa der Berg Kailash. Die heiligen Orte Großbritanniens liegen auf den Britischen Inseln, und die meisten von ihnen sind christlich. Meine Vorfahren waren seit vielen Jahrhunderten Christen; sie wurden geboren, heirateten und starben innerhalb dieser Tradition, meine Eltern eingeschlossen.
Ich begann, das Vaterunser zu beten und an den Gottesdiensten der anglikanischen Kirche St. John’s in Secunderabad teilzunehmen. Ich entdeckte den christlichen Glauben für mich neu. Einige Zeit darauf, mit 34 Jahren, wurde ich in der Church of South India konfirmiert, einer ökumenischen Kirche, die durch die Vereinigung anglikanischer, methodistischer und weiterer Kirchen entstanden war. Während meiner Schulzeit war ich, anders als die meisten Jungen, nicht konfirmiert worden.
Aber noch immer verspürte ich eine große Spannung zwischen der hinduistischen Weisheit, die ich als so tiefgründig empfand, und der christlichen Tradition, die mir im Vergleich damit oberflächlich vorkam. Dann fand ich durch einen Freund zu einem wunderbaren Lehrer, Vater Bede Griffiths, der in einem christlichen Aschram in Tamil Nadu in Südindien lebte. Er war ein britischer Benediktinermönch, der seit über zwanzig Jahren in Indien wohnte.
Er führte mich in die christliche Mystik ein, eine Tradition, über die ich sehr wenig wusste, und in die christliche Philosophie des Mittelalters, insbesondere die Werke von Thomas von Aquin und Bonaventura. Ihre Einsichten erschienen mir tiefer als alles, worüber ich in kirchlichen Predigten oder Vorlesungen an Universitäten gehört hatte. Vater Bede hatte darüber hinaus profunde Kenntnisse der indischen Philosophie und hielt regelmäßig Vorträge über die Upanischaden, die viele der Grundvorstellungen der hinduistischen Gedankenwelt enthalten. Er zeigte, wie die philosophischen und religiösen Traditionen des Ostens und des Westens sich gegenseitig befruchten konnten.[4]
Während ich am ICRISAT arbeitete, dachte ich weiterhin über die morphische Resonanz nach, und mehr als vier Jahre später war ich so weit, mich eine Zeit lang beurlauben zu lassen, um darüber zu schreiben. Ich wollte dafür in Indien bleiben, und Vater Bede bot mir die perfekte Lösung an, indem er mich in seinen Aschram Shantivanam am Ufer des heiligen Flusses Kaveri einlud.
Vater Bedes Aschram verband viele Züge der indischen Kultur mit der christlichen Tradition. Wir saßen auf dem Boden und aßen vegetarische Gerichte von Bananenblättern; es gab jeden Morgen Yoga, morgens und abends je eine einstündige Meditationssitzung. Für gewöhnlich meditierte ich im Schatten einiger Bäume am Flussufer. Die Morgenmesse begann mit dem Singen des Gayatri-Mantras, eines Sanskrit-Mantras, das die göttliche Kraft anruft, die sich in den Strahlen der Sonne bekundet. Ich fragte Vater Bede: »Wie können Sie ein hinduistisches Mantra in einem katholischen Aschram singen?« Er antwortete: »Gerade deshalb, weil es ein katholischer Aschram ist. ›Katholisch‹ bedeutet ›allumfassend‹. Was irgendeinen Weg zu Gott ausschließt, ist nicht katholisch, sondern bloß eine Sekte.«
Ich blieb dort für eineinhalb Jahre, zwischen 1978 und 1979, und lebte in einer mit Palmenblättern gedeckten Hütte unter einem Banyan-Baum, in der ich mein Buch Das schöpferische Universum – Die Theorie des morphogenetischen Feldes schrieb (Originaltitel: A New Science of Life). Danach kehrte ich an das ICRISAT zurück und arbeitete dort noch ein paar Jahre in Teilzeit, wobei ich jeweils einen Teil des Jahres in Indien, Großbritannien und Kalifornien verbrachte.
Zurück in Großbritannien, genoss ich es, meine heimatlichen Traditionen wiederzuentdecken. Mir gefiel die Tatsache, dass Europäer nicht anders als Inder heilige Orte haben, zu denen sie pilgern. So begab ich mich auf Wallfahrten zu Kathedralen, Kirchen und prähistorischen Stätten wie Avebury. Es war auch innerlich wie eine Heimkehr, mich wieder mit meinem Heimatland zu verbinden und mit jenen, die dort vor mir gelebt hatten. Ich machte es mir zur Gewohnheit, sonntags in die Kirche zu gehen, wo immer ich mich befand, meist eine kleine Kirche auf dem Land. Und an dieser Gewohnheit halte ich bis heute fest.
A New Science of Life erschien 1981 in Großbritannien, und als ich bald darauf nach Indien zurückgekehrt war, um meine Feldversuche fortzusetzen, erreichte mich eine Einladung, auf einer Konferenz in Bombay zu sprechen, bei der es um das Thema »Altes Wissen und moderne Wissenschaft« ging. Ich nahm mir ein paar Tage frei und unterbrach meine Getreideernte, um einen Vortrag über morphische Resonanz zu halten. Auf der Konferenz begegnete ich Jill Purce, die dort als Vertreterin des Programmteils über altes Wissen sprach. Jill hatte ein Buch mit dem Titel Die Spirale – Symbol der Seelenreise geschrieben und war außerdem Herausgeberin einer schönen Buchreihe über Kunst und Fantasie, die bei Thames & Hudson erschien und noch heute gedruckt wird.
Ein paar Monate später trafen Jill und ich uns in Indien wieder, nachdem sie im Himalaja an einem Retreat teilgenommen hatte, das Teil ihrer Dzogchen-Praxis war, einer Form des tibetischen Buddhismus. Im selben Jahr begegneten wir uns später in England wieder, wo wir uns näherkamen. Wir heirateten 1985 und leben seither in Hampstead im Norden Londons zusammen.
Als ich sie kennenlernte, hatte Jill eine neue Form des Gesangsunterrichts entwickelt, mit der sie die Menschen an die Kraft des Sprechgesangs in Gruppen heranführte, wobei sie sich auf die Traditionen vieler verschiedener Kulturen und Religionen bezog. In ihren Kursen lehrt sie eine besondere Form des Obertongesangs, wie er traditionell in der Mongolei und in Tuwa gepflegt wird und bei dem hohe flötenähnliche Töne als Obertöne der Grundtöne des Gesangs hörbar werden. Außerdem zeigt sie, welche starken bewusstseinsverändernden Effekte diese Gesänge haben und wie sie Menschen untereinander in Resonanz bringen können.[5]
Während der vergangenen dreißig Jahre habe ich experimentelle Forschungen zu zahlreichen Themen betrieben, darunter zum Pflanzenwachstum, zur morphischen Resonanz,[6] zum Orientierungssinn von Brieftauben,[7] zum siebten Sinn von Haustieren,[8] zum Spüren fremder Blicke[9] und zur Telefon-Telepathie.[10] Von 2005 bis 2010 war ich Direktor des Perrott-Warrick-Projekts, das unerklärliche menschliche und tierische Fähigkeiten erforscht und vom Trinity College in Cambridge finanziell gefördert wird.
Die Ergebnisse dieser Forschungen haben mich zu der Überzeugung geführt, dass der menschliche Geist weit über die Grenzen des Gehirns hinausreicht, was ebenso für Tiere gilt. Zum Beispiel scheint es unmittelbar wirksame telepathische Einflüsse sowohl unter Tieren und Menschen als auch zwischen Mensch und Tier zu geben. Telepathische Beziehungen kommen für gewöhnlich zwischen Menschen und Tieren zustande, die emotional miteinander verbunden sind.
Solche psychischen Phänomene sind normal, nicht paranormal; sie sind natürlich, nicht übernatürlich; sie gehören einfach zur Art und Weise, wie unser Geist und unsere sozialen Bindungen funktionieren. Wenn sie manchmal als »paranormal« bezeichnet werden, dann, weil sie nicht in eine beschränkte Auffassung von Wirklichkeit passen. Diese Phänomene lassen sich wissenschaftlich erforschen und haben messbare Auswirkungen. Es handelt sich bei ihnen um Wechselbeziehungen zwischen lebendigen Organismen sowie zwischen diesen Organismen und ihrer Umwelt. Aber deshalb sind solche Phänomene noch nichts Spirituelles.
Es gilt, zwischen der psychischen und der spirituellen Dimension zu unterscheiden. Phänomene wie Telepathie zeigen, dass der Geist nicht auf das Gehirn beschränkt ist. Aber uns steht überdies die Verbindung mit einem weit größeren Bewusstsein offen, mit einer »mehr-als-menschlichen« spirituellen Wirklichkeit, wie immer wir sie auch benennen mögen. Spirituelle Praktiken helfen uns dabei, diesen Fragen für uns selbst nachzugehen.
Jills Arbeit war einer der Entstehungsimpulse für dieses Buch, denn sie hat eine Form entwickelt, spirituelle Gebräuche zu vermitteln, die jeden Interessierten einbezieht, welcher Religion oder »Nichtreligion« er auch angehört. Wie ich es bei der Transzendentalen Meditation und immer wieder in Jills Seminaren erlebt habe, kann man sehr wohl eine spirituelle Praxis erlernen und ausüben, ohne zuvor Glaubensfragen und Vorbehalte erörtern zu müssen. Die spirituelle Praxis kann zu einem vertieften Verständnis führen, aber die unmittelbare Erfahrung kommt zuerst.
Dieselben Prinzipien gelten für sämtliche Formen spiritueller Praxis, die ich in diesem Buch vorstelle. Sie alle stehen jedem von uns offen, ob Christ, Jude, Moslem, Hindu, Buddhist, Animist oder moderner Schamane. Sie stehen Menschen offen, die spirituell, aber nicht gläubig sind, Anhängern des New Age, säkularen Humanisten, Agnostikern und Atheisten. Ich selbst bin Christ, ein Mitglied der anglikanischen Kirche, und praktiziere diese Gebräuche in einem christlichen Kontext. Aber sie alle werden ebenso von den Anhängern anderer Religionen ausgeübt und nicht minder von Atheisten und Agnostikern. Keine Religion oder Nichtreligion hat ein Monopol auf diese Praktiken. Sie sind für alle da.
Viele wissenschaftliche Studien zeigen den wohltuenden Einfluss, den diese Gebräuche auf die Praktizierenden haben. Zum Beispiel sind Menschen, die sich in der Dankbarkeit üben, im Durchschnitt glücklicher als andere, die sich nicht darin üben. Ich schreibe dieses Buch, weil ich glaube, dass es in unserem säkularen Zeitalter – unabhängig von der Glaubensrichtung – einen großen Bedarf gibt, die Praktiken wiederzuentdecken.
Die spirituelle Praxis hat viele Formen. Für dieses Buch habe ich sieben von ihnen ausgewählt, die ich auch selbst ausübe.
Alle Religionen kennen spirituelle Praktiken. Sie helfen Menschen dabei, nicht nur untereinander, sondern auch mit Formen des Bewusstseins in Verbindung zu treten, die über die menschliche Ebene hinausreichen. Bis vor Kurzem hielten die meisten Atheisten und säkularen Humanisten es für selbstverständlich, dass diese Bräuche Zeitverschwendung, wenn nicht auf gefährliche Weise irrational seien. Aber die Einstellungen ändern sich, vor allem im Hinblick auf Gesundheit und Wohlbefinden. Auch wenn die Medizin gewaltige Fortschritte gemacht hat, kann sie doch weder Sinnerfahrung vermitteln noch das Beziehungsleben verbessern helfen oder uns Werte wie Dankbarkeit, Großzügigkeit und Versöhnlichkeit nahebringen. Das wird von der Medizin auch nicht erwartet. Vielmehr zählt man all diese Aspekte zur Rolle der Religionen, und offenbar haben sie auf Gesundheit und Wohlbefinden enorme Auswirkungen. Neuere Forschungen zeigen, dass gläubige Menschen durchschnittlich weniger an Ängsten und Depressionen leiden als nichtgläubige,[11] sie sind seltener suizidgefährdet,[12] häufiger Nichtraucher[13] und neigen weniger zum Missbrauch von Alkohol und Drogen.[14]
Die meisten dieser Studien unterschieden nicht zwischen den Auswirkungen bestimmter spiritueller Gebräuche und Einstellungen. Jede Religion verfügt über eine große Anzahl verschiedener Rituale, und einige von ihnen können auch in einem säkularen Kontext ausgeübt werden, etwa die Meditation oder die Übung der Dankbarkeit. Auch bei nichtgläubigen Menschen haben diese Praktiken einen günstigen Einfluss auf die körperliche und seelische Gesundheit.
Im 20. Jahrhundert glaubten viele Menschen, Wissenschaft und Vernunft würden bald die allein bestimmenden Kräfte sein und die Religionen nach und nach verschwinden. Die Menschheit, so meinten sie, erhöbe sich zu einer weltlichen, vernunftgeleiteten sozialen Ordnung, befreit von den Fesseln alter Dogmen und des Aberglaubens. Aber anstatt auszusterben, konnten sich die Religionen behaupten. Der Islam ist keineswegs verschwunden. Der Hinduismus ist wohlauf. Und nicht zuletzt dank des Dalai-Lama ist das Ansehen des Buddhismus in Ländern gestiegen, die zuvor nicht buddhistisch orientiert waren. Das Christentum ist zwar in weiten Teilen Europas und Nordamerikas tatsächlich im Rückgang begriffen, aber seine Anhängerschaft wächst in Schwarzafrika, in Asien und im pazifischen Raum, wo es inzwischen mehr Christen als in Europa gibt.[15] Zur Zeit der Sowjetunion war Russland offiziell atheistisch, und die Religion wurde brutal unterdrückt. Aber seit das kommunistische System 1991 endete, hat der Anteil der Christen in der Bevölkerung stark zugenommen. Im Jahr 1991 gaben 61 Prozent der Russen an, ohne Religion zu sein, 31 Prozent gehörten der russisch-orthodoxen Kirche an; 2008 dagegen bezeichneten sich nur noch 18 Prozent der Russen als nicht gläubig und 72 Prozent als orthodoxe Christen.[16]
Als Reaktion auf diesen unerwarteten Trend bekam der militante Atheismus des 21. Jahrhunderts neuen Auftrieb. Der moderne Kreuzzug gegen die Religionen wurde von den Vertretern des sogenannten neuen Atheismus geführt, allen voran Sam Harris, Autor von Das Ende des Glaubens: Religion, Terror und das Licht der Vernunft, von Richard Dawkins mit seinem Buch Der Gotteswahn, von Daniel Dennett mit Den Bann brechen: Religion als natürliches Phänomen und von Christopher Hitchens mit dem Buch Der Herr ist kein Hirte: Wie Religion die Welt vergiftet.
Die neuen Atheisten glauben nicht an Gott, aber sie haben einen unerschütterlichen Glauben an die Philosophie des Materialismus. Die Materialisten glauben, dass das gesamte Universum bewusstlos ist und aus geistloser Materie besteht, die von den unpersönlichen Gesetzen der Mathematik beherrscht wird. In der Natur gibt es weder Plan noch Ziel. Die Evolution ist Resultat des Wechselspiels zwischen blindem Zufall und physikalischer Notwendigkeit. Das Bewusstsein steckt allein im Kopf und existiert nur im Gehirn. Gott, Engel und Geistwesen sind Ideen des menschlichen Geistes: Also sind sie im Gehirn. Sie haben keine unabhängige Existenz außerhalb des Kopfes.
Aus der Perspektive dieses materialistischen Glaubenssystems erscheint die Religion als ein Sumpf aus Aberglauben und Irrationalismus; sie repräsentiert ein Entwicklungsstadium, dem die Menschheit entwachsen ist. Leute, die noch immer einer Religion anhängen, sind einfältig oder verblendet; sie sollten aus dem Lügengespinst, in dem sie gefangen sind, befreit werden – oder wenigstens ihre Kinder, indem man sie in der Schule aufklärt.
Die materialistische Weltanschauung hat eine große Rolle bei der Säkularisierung Europas und Nordamerikas gespielt und ging einher mit einem Rückgang religiösen Brauchtums, insbesondere bei Menschen mit christlichem Hintergrund.[17] In Europa ist es heute nur noch eine kleine Minderheit, die den christlichen Glauben regelmäßig ausübt. In Großbritannien lag der Anteil regulärer Kirchgänger in der Bevölkerung 1980 bei 12 Prozent, 2015 nur noch bei 5 Prozent.[18] Ein sehr viel größerer Anteil, nämlich 49 Prozent, bezeichnete sich dabei als irreligiös; innerhalb der weißen Bevölkerung tat dies sogar die Mehrheit.[19]
Von Russland abgesehen, zeigt sich der Schwund des christlichen Glaubens und Brauchtums fast überall in Europa, und zwar sowohl in protestantischen als auch in katholischen Ländern. Im traditionell katholisch geprägten Frankreich gingen 2011 nur noch 5 Prozent wöchentlich zum Gottesdienst,[20] fast ebenso wenige wie im traditionell protestantischen Schweden.[21] Sogar in Ländern, in denen die katholische Kirche ehemals großen Einfluss hatte, ist die Zahl der Kirchgänger dramatisch zurückgegangen. In Irland gingen 2011 nur noch etwa 18 Prozent wöchentlich zur Messe, während es 1984 noch fast 90 Prozent waren.[22] Selbst in Polen, dem religiösesten Land Europas, war der Anteil derer, die noch jede Woche zum Gottesdienst gingen, 2011 auf weniger als 40 Prozent geschrumpft.[23]
Die meisten europäischen Länder sind jetzt überwiegend säkular und werden oft als »nachchristlich« bezeichnet. In den Vereinigten Staaten sind die Menschen jedoch weiterhin religiöser. 2014 gaben 89 Prozent der Amerikaner an, sie glaubten an Gott, 77 Prozent identifizierten sich mit einem Glaubensbekenntnis, und 36 Prozent besuchten wöchentlich den Gottesdienst. Der Anteil der Atheisten betrug 3 Prozent und lag damit weit niedriger als in den meisten europäischen Ländern.[24] Aber selbst in den USA lässt die Bindung an die Kirche und ihre Bräuche nach.[25]
Alles ist jetzt im Fluss. Wie ich in meinem Buch Der Wissenschaftswahn gezeigt habe, erscheinen die Grundannahmen des Materialismus als sehr fragwürdig, gerade wenn man sie im Licht der wissenschaftlichen Fortschritte betrachtet. Mittlerweile wird die bloße Existenz des menschlichen Bewusstseins zunehmend zum Problem für Materialisten, die ja von der Annahme ausgehen, dass alles aus bewusstloser Materie hervorgegangen ist, einschließlich des menschlichen Gehirns. Wenn das so ist, wie kann dann das Bewusstsein dem Gehirn entspringen, wenn es sonst nirgends in der Natur vorkommt? Das ist das sogenannte »harte Problem« in der Philosophie des Geistes.
Der schwindende Einfluss der Kirche und des religiösen Brauchtums bedeutet aber nicht, dass die meisten Menschen Atheisten geworden sind. Bei einer Umfrage, die 2013 in Großbritannien durchgeführt wurde, stimmten nur 13 Prozent der Erwachsenen der Aussage zu, dass der »Mensch ein rein materielles Wesen ohne ein spirituelles Element« sei. Mehr als drei Viertel dagegen stimmten der Aussage zu, »dass es Dinge im Leben gibt, die sich weder durch die Wissenschaft noch auf anderem Wege erklären lassen«. Und sogar von den Befragten, die sich als nichtgläubig bezeichneten, meinten mehr als 60 Prozent, dass es Dinge gebe, die sich nicht erklären lassen, und mehr als ein Drittel von ihnen glaubte an Geistwesen.[26]
Ungeachtet der Glaubensrichtung aber, zu der sich die Befragten bekennen, kommen neueren Studien zufolge spirituelle Erlebnisse überraschend häufig vor, auch unter denjenigen, die sich selbst als nichtgläubig bezeichnen.[27] Dazu gehören Nahtoderfahrungen, spontan auftretende mystische Ereignisse und Offenbarungserlebnisse nach der Einnahme psychotroper Substanzen. Die von dem Meeresbiologen Sir Alister Hardy gegründete Religious Experience Research Unit (Forschungsabteilung für religiöse Erfahrungen) in Oxford führte in Großbritannien mehrfach eine Erhebung durch, bei der sie folgende Frage stellte: »Haben Sie jemals die Gegenwart einer Macht gespürt, etwas, was sich von Ihrer Alltagserfahrung unterscheidet – unabhängig davon, ob Sie es ›Gott‹ nennen oder nicht?« 1978 bejahten dies 36 Prozent, 1987 48 Prozent, und im Jahr 2000 gaben mehr als 75 Prozent der Befragten an, »sich einer spirituellen Dimension in ihrer Erfahrungswelt bewusst zu sein«. Ebenfalls in größeren Abständen stellte die Gallup-Organisation, eins der führenden Meinungsforschungsinstitute, Amerikanern die Frage, ob sie jemals »ein religiöses oder mystisches Erlebnis« hatten. 1962 bejahten dies 22 Prozent, 1994 33 Prozent und 2009 49 Prozent.[28]
Diese Umfrageergebnisse müssen nicht bedeuten, dass spirituelle und mystische Erfahrungen heute verbreiteter sind als früher; möglicherweise spiegelt sich in ihnen nur die Enttabuisierung solcher Erlebnisse wider, sodass die Menschen mittlerweile weniger Hemmungen haben, sich dazu zu äußern. Früher befürchtete man häufig, als geistesgestört zu gelten, wenn man sich zu mystischen Erfahrungen bekannte. Inzwischen öffnet sich aber auch die etablierte Psychiatrie und Psychologie der Möglichkeit »paranormaler« Ereignisse, und darüber zu sprechen findet gesellschaftlich mehr Akzeptanz.[29]
Der Säkularismus hat weder zu einem Erlöschen des Interesses an der spirituellen Dimension noch zu einem Nachlassen entsprechender Erfahrungen geführt.[30] Aber mit ihren spirituellen Neigungen orientieren sich jetzt viele außerhalb des traditionellen Rahmens der Religion. Beispielsweise praktizieren Millionen von Menschen Yoga und Meditation in einem säkularen Kontext. Es entstehen neue Formen von Spiritualität, die überwiegend auf persönlicher Erfahrung beruhen. Sie erfüllen ein Bedürfnis, das der Atheismus nicht befriedigen kann.
Hardliner unter den Atheisten wie Daniel Dennett und Richard Dawkins stellen spirituelle Erfahrungen infrage und tun sie gern als Wahnzustände des Gehirns oder als Begleiterscheinungen chemischer Prozesse ab. Aber eine wachsende Zahl von Atheisten und säkularen Humanisten ist bereit, über solche Erfahrungen zu sprechen, und betrachtet sie sogar als wesentlich für die gesunde Entwicklung des Menschen.
Philip Pullman, ein prominenter Schriftsteller und Kinderbuchautor, der sich öffentlich zum Atheismus bekennt, hatte als junger Mann ein mystisches Erlebnis, das ihn zu der Überzeugung brachte, das Universum sei »lebendig, bewusst und sinnerfüllt«. In einem Interview sagte er kürzlich: »Alles, was ich geschrieben habe, auch in seiner leichtesten und einfachsten Form, ist letztlich der Versuch, von der Wahrheit dieser Aussage zu zeugen.«[31]
Der Philosoph Alain de Botton, der als Atheist großgeworden ist, kommt zu dem Schluss, dass Atheisten durch die Abkehr von der Religion sich selbst um etwas Wesentliches bringen. In seinem Bestseller Religion für Atheisten: Vom Nutzen der Religion für das Leben stellt er dar, welche sozialen und persönlichen Bedürfnisse die Religion erfüllt, die von einer rein säkularen Lebenseinstellung nicht befriedigt werden können.
De Botton ist Sohn nichtgläubiger Juden, die, wie er sagt, »den religiösen Glauben ungefähr auf eine Stufe mit dem Glauben an den Weihnachtsmann stellten … Wenn erkennbar wurde, dass jemand aus ihrem Bekanntenkreis heimlich religiöse Gefühle hegt, haben meine Eltern ihn mit der Art von Mitleid betrachtet, wie man es üblicherweise für Leute aufbringt, die mit einer Erbkrankheit belastet sind, und nichts hat sie davon überzeugen können, diese Person jemals wieder ernst zu nehmen.«[32]
Mit Mitte zwanzig durchlebte de Botton nach eigener Aussage eine »Krise des Unglaubens«. Auch wenn er bekennender Atheist blieb, war es für ihn ein befreiender Gedanke, dass es möglich sein könnte, sich der Religion zuzuwenden, ohne religiöse Dogmen zu übernehmen. Er kam für sich zu dem Ergebnis, dass sein fortgesetzter innerer Widerstand gegen religiöse Vorstellungen »keine Rechtfertigung dafür ist, sich von der Musik, den Bauwerken, Gebeten, Zeremonien, Feiertagen, Heiligenschreinen, Wallfahrten, gemeinsamen Mahlzeiten und illuminierten Handschriften der Glaubenslehren abzukehren«:
Die säkulare Gesellschaft ist auf unbillige Weise um eine ganze Reihe von Gebräuchen und Inhalten verarmt, mit denen zu leben Atheisten sich außerstande fühlen (…) Wir sind dahin gekommen, das Wort »Moralität« zu fürchten. Schon der Gedanke daran, eine Predigt zu hören, lässt uns erschauern. Wir nehmen Reißaus bei der Vorstellung, dass Kunst etwas Erhebendes oder einen ethischen Auftrag haben solle. Wir begeben uns nicht auf Pilgerreisen. Wir können keine Tempel bauen. Wir besitzen kein Instrument, um Dankbarkeit zum Ausdruck zu bringen. Ein Selbsthilfebuch zu lesen ist unter Intellektuellen verpönt. Wir sträuben uns gegen mentale Übungen. Fremde singen nun mal selten zusammen.[33]
De Botton will das Leben von Atheisten bereichern, indem er der Religion diese Gebräuche »stiehlt«. Von der Religion erwartet er sich Aufschlüsse darüber, wie Gemeinschaftssinn zu entwickeln ist, wie sich dauerhafte Beziehungen gestalten lassen, wie Eifersucht und Minderwertigkeitsgefühle zu überwinden sind und wie aus Kunst, Architektur und Musik ein größerer Genuss zu ziehen ist.
Sam Harris, ebenfalls Atheist und für seine antireligiöse Polemik bestens bekannt, ist gleichzeitig ein Anhänger der Meditation. Er hat zwei Jahre in Indien verbracht und sich von Gurus in der traditionellen tibetischen Dzogchen-Meditation unterweisen lassen. In seinem Buch Erwachen: Spiritualität jenseits von Glaube und Religion schreibt er:
Die Spiritualität bleibt das große Loch in Säkularismus, Humanismus, Rationalismus, Atheismus und all den anderen Abwehrhaltungen, die vernünftige Männer und Frauen gegenüber unvernünftiger Religion einnehmen. Menschen zu beiden Seiten dieser Kluft hegen die Vorstellung, dass visionäre Erlebnisse keinen Platz im wissenschaftlichen Kontext haben – abgesehen von den Stationen psychiatrischer Kliniken. Solange wir über Spiritualität nicht auf rationale Weise sprechen können – indem wir die Selbsttranszendenz als eine gültige Erfahrung anerkennen –, wird unsere Welt vom Dogmatismus heimgesucht werden.[34]
Mittlerweile ist eine atheistische Kirche namens »Sonntagsversammlung« auf dem Vormarsch. Sie wurde 2013 von zwei Komikern, Sanderson Jones und Pippa Evans, ins Leben gerufen. Zu ihren Angeboten zählen gemeinsames Singen, persönliches Kennenlernen in kleinen Gruppen und das Vortragen erbaulicher Geschichten. Ihr Motto lautet: »Lebe besser, hilf oft, staune mehr.«[35] Jones beschreibt sich selbst als »humanistischen Mystiker« und hofft, dass sich die Sonntagsversammlung, anders als frühere humanistische Zusammenschlüsse, zu einer ekstatischen oder charismatischen Form des Humanismus entwickeln wird.[36]
Viele Atheisten alten Schlags sind bereit, das ehrfürchtige Staunen über ein Universum, wie es die Wissenschaft uns enthüllt, als berechtigt anzuerkennen. Aber das ist auch so ziemlich ihr einziges Zugeständnis an die subjektive Erlebniswelt der Spiritualität. Eine neue Generation von Atheisten und säkularen Humanisten ist nun dabei, die traditionelle Domäne der Religion für sich zu entdecken, indem sie versucht, einige spirituelle Gebräuche in eine säkulare Lebenseinstellung zu integrieren. Unterdessen werden die physiologischen und psychologischen Auswirkungen spiritueller Praktiken wie nie zuvor zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung.
Nach bescheidenen Anfängen in den Siebzigerjahren haben Forscher gegen Ende des 20. Jahrhunderts damit begonnen, eine große Bandbreite von spirituellen Praktiken zu untersuchen, unter anderem Meditation, Gebet, gemeinschaftliches Singen und die Übung der Dankbarkeit. Im Jahr 2001 wurden die Ergebnisse aus mehr als 1200 wissenschaftlichen Studien im Handbook of Religion and Health umfassend dargestellt.[37] Seither ist die Zahl der entsprechenden Forschungen stark angewachsen, und in die zweite Auflage des Handbook aus dem Jahr 2012 fanden über 2100 weitere quantitative, datenbasierte Originalstudien Eingang, die seit 2000 durchgeführt worden waren. Seither wurden viele weitere Studien veröffentlicht. Generell zeigen die Ergebnisse, dass religiöse und spirituelle Gebräuche sich positiv auf die körperliche und seelische Gesundheit auswirken, weniger anfällig für Depressionen machen und die Lebenserwartung erhöhen.[38]
Der überkommene Zwist zwischen Wissenschaft und Religion ist eine künstliche Kluft, und vorurteilsfreie akademische Studien können unser Verständnis spiritueller und religiöser Gebräuche vertiefen.
In diesem Buch stelle ich sieben Arten spiritueller Praxis vor und gehe auf wissenschaftliche Studien zu ihrem Einfluss auf Körper und Psyche ein. Bei diesen sieben handelt es sich nur um eine begrenzte Auswahl, und ich beabsichtige, weitere Formen spiritueller Praxis in einem anderen Buch zu besprechen. All diese Gebräuche sind sowohl mit einer säkularen als auch einer religiösen Lebensführung vereinbar.
Es geht bei ihnen um persönliche Erfahrung, nicht um Glauben. Gleichwohl wirkt sich der Glaube, wie ich in den einzelnen Abschnitten noch zeigen werde, auf die Interpretation der Praktiken aus. So meditieren zum Beispiel Menschen seit Jahrhunderten innerhalb des Hinduismus, Buddhismus, Judentums, Christentums, des Islams, des Sikhismus und anderer religiöser Traditionen. Sie tun es, weil sie glauben, dass diese Praxis sie mit einer Bewusstseinsebene in Verbindung bringt, die über die menschliche hinausreicht.
Wie gesagt leugnen Materialisten prinzipiell die Existenz von Bewusstsein außerhalb menschlicher Grenzen. Die Erfahrungen während der Meditation sind für sie nichts anderes als Veränderungen im Gehirn, also etwas, was sich im Kopf abspielt. Dennoch erleben viele Menschen, gleich welcher Glaubensrichtung, die Meditation als eine Erfahrung, die ihr Leben bereichert.
Die sieben Praktiken, die ich hier vorstelle, sind allen Religionen gemein. Alle Religionen halten zur Dankbarkeit an. In jeder religiösen Tradition gibt es Pilgerreisen. Hindus pilgern zu Tempeln, die Göttern und Göttinnen gewidmet sind, zu heiligen Bergen wie dem Kailash oder an heilige Flüsse wie den Ganges. Moslems pilgern nach Mekka. Juden, Christen und Moslems machen sich auf den Weg nach Jerusalem. In Westeuropa gehen Christen nach Santiago de Compostela, nach Rom, Canterbury und Chartres. Irische Katholiken pilgern zum Croagh Patrick, dem heiligen irischen Berg, und an den Lough Derg, den heiligen See.
Zu allen religiösen Traditionen gehört es, wieder mit einer mehr-als-menschlichen Welt Kontakt aufzunehmen, und alle kennen die sinngebende spirituelle Verbindung mit Pflanzen. Rituale sind Ausdrucksformen der Spiritualität und finden sich in allen Religionen und säkularen Gesellschaften. Alle spirituellen Traditionen kennen Gesänge und Sprechgesänge.
Am Ende jedes Kapitels mache ich zwei Vorschläge, wie Sie eigene Erfahrungen mit der jeweiligen spirituellen Praxis sammeln können.