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Rupert Sheldrake

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Beschreibung

Rupert Sheldrake hat mit dem "Wissenschaftswahn" ein Standardwerk geschaffen – eine schlagkräftige Antwort auf den "Gotteswahn" von Richard Dawkins. Der berühmte Biologe zeigt anhand von zehn "Dogmen", dass die meisten Forscher an Vorstellungen festhalten, die vollkommen überholt und eindeutig widerlegbar sind. Er fordert ein neues und grenzüberschreitendes Denken und plädiert für mehr Offenheit und Neugier in den Naturwissenschaften. Aktualisierte Taschenbuchneuausgabe eines der Hauptwerke des großen Visionärs. Die 10 Dogmen der Naturwissenschaften: 1. Alles ist mechanischer Natur. 2. Materie besitzt grundsätzlich kein Bewusstsein. 3. Die Gesamtheit von Materie und Energie ist immer gleich. 4. Die Naturgesetze stehen ein für alle Mal fest. 5. Die Natur kennt keine Absichten. 6. Biologische Vererbung ist ausschließlich materieller Natur. 7. Der Geist, unser Denken und Fühlen, sitzt im Kopf. 8. Erinnerungen sind materielle Spuren im Gehirn. 9. Unerklärliche Phänomene wie Telepathie sind reine Einbildung. 10. Mechanische Medizin ist die einzig wirksame Medizin. Das materislistische Welt ist obsolet geworden. Nüchtern, sachlich und ohne jede Esoterik zeigt hier ein Naturwissenschaftler, wie fadenscheinig und oberflächlich die Argumente der Vertreter eines reinen Materialsmus geworden sind. sheldrake fodert einen Neuanfang in Philosophie und Wissenschaft, der überfällig ist und Wissenschaft und Spiritualität auf die Dauer zusammenführen wird.

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Rupert Sheldrake

Der Wissenschaftswahn

Warum der Materialismus ausgedient hat

Aus dem Englischen von Jochen Lehner

Knaur e-books

Über dieses Buch

Rupert Sheldrake hat mit dem »Wissenschaftswahn« ein Standardwerk geschaffen – eine schlagkräftige Antwort auf den »Gotteswahn« von Richard Dawkins. Der berühmte Biologe zeigt anhand von zehn »Dogmen«, dass die meisten Forscher an Vorstellungen festhalten, die vollkommen überholt und eindeutig widerlegbar sind. Er fordert ein neues und grenzüberschreitendes Denken und plädiert für mehr Offenheit und Neugier in den Naturwissenschaften. Aktualisierte Taschenbuchneuausgabe eines der Hauptwerke des großen Visionärs.

 

Die 10 Dogmen der Naturwissenschaften:

1. Alles ist mechanischer Natur.

2. Materie besitzt grundsätzlich kein Bewusstsein.

3. Die Gesamtheit von Materie und Energie ist immer gleich.

4. Die Naturgesetze stehen ein für alle Mal fest.

5. Die Natur kennt keine Absichten.

6. Biologische Vererbung ist ausschließlich materieller Natur.

7. Der Geist, unser Denken und Fühlen, sitzt im Kopf.

8. Erinnerungen sind materielle Spuren im Gehirn.

9. Unerklärliche Phänomene wie Telepathie sind reine Einbildung.

10. Mechanische Medizin ist die einzig wirksame Medizin.

 

Das materislistische Welt ist obsolet geworden. Nüchtern, sachlich und ohne jede Esoterik zeigt hier ein Naturwissenschaftler, wie fadenscheinig und oberflächlich die Argumente der Vertreter eines reinen Materialsmus geworden sind. sheldrake fodert einen Neuanfang in Philosophie und Wissenschaft, der überfällig ist und Wissenschaft und Spiritualität auf die Dauer zusammenführen wird.

Inhaltsübersicht

WidmungVorwortEinleitungProlog1 Ist die Natur mechanisch?2 Ist die Gesamtmenge der Materie und Energie immer gleich?3 Stehen die Naturgesetze ein für alle mal fest?4 Ist Materie ohne Bewusstsein?5 Ist die Natur ohne Zwecke und Absichten?6 Ist biologische Vererbung ausschließlich materieller Natur?7 Werden Erinnerungen als materielle Spuren gespeichert?8 Gibt es Geist nur im Gehirn?9 Sind unerklärliche Phänomene reine Einbildung?10 Ist mechanistische Medizin die einzig wirksame Medizin?11 Die Illusion der Objektivität12 Die Zukunft der WissenschaftDankLiteratur
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Für alle, die mir geholfen und Mut gemacht haben, ganz besonders für meine Frau Jil und unsere Söhne Merlin und Cosmo.

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Vorwort

Mein Interesse an der Naturwissenschaft begann schon in früher Jugend. Als Junge hielt ich Tiere aller Art, Raupen und Kaulquappen, aber auch Tauben, Kaninchen, Schildkröten und einen Hund. Mein Vater, der Apotheker und Spezialist für Kräuterheilkunde und Mikroskopie war, unterrichtete mich schon in ganz jungen Jahren über Pflanzen. Er führte mir unter dem Mikroskop eine Welt der Wunder vor Augen, winzige Lebewesen in einem Tropfen Teichwasser, die Schuppen auf Schmetterlingsflügeln, Kieselalgenschalen, Querschnitte von Pflanzenstängeln, sogar im Dunkeln glosendes Radium. Ich sammelte Pflanzen und las naturkundliche Bücher wie Fabres Book of Insects, die mir die Lebensgeschichten des Skarabäus, der Gottesanbeterin und des Glühwürmchens erzählten. Mit zwölf war mir klar, dass ich Biologe werden wollte.

Schon auf der Schule stellte ich die Naturwissenschaften in den Mittelpunkt, und für mein Studium an der Cambridge University wählte ich Biochemie als Hauptfach. Mir gefiel diese Arbeit, nur fehlte mir hier der weite Horizont, ich hätte gern das Gesamtbild gesehen. Die alles verändernde Gelegenheit, meinen Blick zu weiten, kam mit einem Forschungsstipendium an der Harvard University, wo ich Geschichte und Philosophie der Naturwissenschaft studieren konnte.

Zurück in Cambridge, begann ich mit Forschungen zur Entwicklung der Pflanzen. Im Zuge meiner Doktorarbeit gelang mir eine Neuentdeckung: Absterbende Zellen spielen eine wichtige Rolle für die Regulation des Pflanzenwachstums, weil sie im Verlauf ihres »programmierten Zelltodes« das Pflanzenhormon Auxin freisetzen. In wachsenden Pflanzen lösen sich neue Holzzellen selbst so auf, dass ihre Zellulosewände als mikroskopische Röhren stehen bleiben, durch die in Stielen, Wurzeln und Blattadern Wasser geleitet wird. Mir fiel auf, dass Auxin produziert wird, während die Zellen sterben.[1] Die absterbenden Zellen regen weiteres Zellwachstum an, mehr Wachstum bedeutet dann mehr Zelltod und folglich wieder mehr Wachstum.

Nach meiner Promotion fiel mir ein Forschungsstipendium des Clare College in Cambridge zu, wo ich Studienleiter für Zellbiologie und Biochemie war und Studenten der Übungs- und Laborkurse unterrichtete. In dieser Zeit wurde ich zum Research Fellow der Royal Society ernannt und setzte in Cambridge meine Forschungen über Pflanzenhormone fort. Es ging mir darum zu klären, wie Auxin von den oberirdischen Pflanzenteilen in Richtung der Wurzelspitzen transportiert wird, und hier gelang es mir, die molekulare Basis des polaren Auxintransports zu ermitteln,[2] was dann zur Grundlage eines Großteils der weiteren Forschung zur Frage der Pflanzenpolarität wurde.

Mit Mitteln der Royal Society konnte ich ein Jahr lang an der Universität Malaya in Kuala Lumpur arbeiten, wo ich mich mit den Farnen des Regenwalds beschäftigte. Am Rubber Research Institute of Malaysia fand ich während dieser Zeit heraus, wie der Latexstrom in Gummibäumen genetisch gesteuert wird und wie die Entwicklung der Latexgefäße vor sich geht.[3]

Als ich dann wieder in Cambridge war, entwarf ich eine neue Hypothese über das Altern bei Pflanzen und Tieren einschließlich des Menschen. Alle Zellen altern. Wenn sie aufhören zu wachsen, sterben sie schließlich ab. Meine Hypothese betrifft die Verjüngung und besagt, dass sich schädliche Abfallprodukte in der Zelle ansammeln und sie altern lassen, dass sie aber durch asymmetrische Zellteilung verjüngte Tochterzellen hervorbringen können. Dabei nimmt eine der Tochterzellen den Großteil der Schlacken auf und geht zugrunde, während die anderen einen sauberen Neubeginn haben. Die in diesem Sinne am stärksten verjüngten Tochterzellen sind Eizellen. Bei Pflanzen und Tieren erzeugen zwei aufeinanderfolgende Zellteilungen (Meiose) eine Eizelle und drei weitere Tochterzellen, die bald absterben. Meine Hypothese erschien 1974 in einem Aufsatz mit dem Titel »The ageing, growth and death of cells« in der Zeitschrift Nature.[4] »Programmierter Zelltod« oder Apoptose ist seither ein breites Forschungsgebiet geworden, wichtig für unser Verständnis von Krankheiten wie Krebs oder Aids und für die Geweberegeneration durch Stammzellen. Viele Stammzellen teilen sich asymmetrisch und bringen dabei eine neue, verjüngte Stammzelle und eine weitere Zelle hervor, die sich differenziert und dann altert und stirbt. Meine Hypothese besagt, dass die Verjüngung von Stammzellen durch Zellteilung darauf beruht, dass die übrigen Tochterzellen sterben müssen.

Da ich meinen Horizont erweitern und auch praktisch etwas für die Ärmsten der Welt leisten wollte, ging ich ans International Crops Research Institute for Semi-Arid Tropics bei Heiderabad in Indien, eine internationale Forschungseinrichtung, die sich die Verbesserung der Lebensbedingungen in semi-ariden Tropengebieten durch landwirtschaftliche Forschung zum Ziel setzt. Hier beteiligte ich mich als Pflanzenphysiologe an der Arbeit mit Kichererbsen und Straucherbsen.[5] Wir züchteten neue, hoch ertragreiche Sorten, und ich entwickelte ein System der Mehrfachernte,[6] das jetzt von vielen asiatischen und afrikanischen Bauern angewendet wird und die Erträge deutlich gesteigert hat.

1981 begann mit der Veröffentlichung meines Buchs A New Science of Life (Das schöpferische Universum) eine neue Phase meiner wissenschaftlichen Laufbahn. In diesem Buch formulierte ich die Hypothese, dass es formgebende Felder gibt, die sowohl das Wachstum von Pflanzen als auch die Entwicklung von Embryonen steuern. Diese Felder nannte ich morphogenetische Felder. Meine Hypothese besagt weiterhin, dass diese Felder ein Gedächtnis besitzen müssen, das auf dem Prozess der »morphischen Resonanz« beruht. Ich untermauerte meine Hypothese mit allem, was an Indizien zur Verfügung stand, und sie gab später zu einer Vielzahl experimenteller Testverfahren Anlass, die in der Neuausgabe des Buchs (2009) zusammengefasst wurden.

Aus Indien nach Hause zurückgekehrt, setzte ich meine Forschungen zur Pflanzenentwicklung fort und begann, mit Brieftauben zu arbeiten – ein Thema, das mich fesselte, seit ich als Junge Tauben gehalten hatte. Wie finden Tauben aus Hunderten Kilometern Entfernung über unbekanntes Terrain und sogar übers Meer nach Hause? Ich dachte mir, sie könnten über ein Feld mit ihrem heimatlichen Schlag verbunden sein, das wie ein unsichtbares Gummiband wirkt und sie nach Hause zieht. Selbst wenn sie außerdem einen Magnetsinn besitzen sollten, mit einem Kompass allein würden sie nicht nach Hause finden. Sollten Sie je mit dem Fallschirm über unbekanntem Gelände abspringen müssen und dabei über einen Kompass verfügen, würden Sie zwar wissen, wo Norden ist, aber nicht, wie Sie nach Hause kommen.

Mir wurde bald klar, dass die Navigationsfähigkeiten der Tauben nur eines von vielen Beispielen für unerklärliche Fähigkeiten bei Tieren ist. Woher zum Beispiel wissen manche Hunde wie durch Telepathie, wann ihre Besitzer nach Hause kommen? Zu solchen Fragen kann man mit relativ einfachen Mitteln Forschungen anstellen, und die Ergebnisse waren faszinierend. 1994 veröffentlichte ich mein Buch Seven Experiments that Could Change the World (Sieben Experimente, die die Welt verändern könnten), in dem ich Vorschläge zu kostengünstigen Tests machte, die möglicherweise unsere Vorstellungen von der Natur der Wirklichkeit verändern würden. Die Ergebnisse beschrieb ich 2002 in der Neuausgabe des Buchs und in zwei weiteren Büchern, Dogs That Know When Their Owners Are Coming Home (1999, Neuausgabe 2011; deutsch: Der siebte Sinn der Tiere, 2008) und The Sense of Being Stared At (2003; deutsch: Der siebte Sinn des Menschen,2008).

Ich bin seit achtundzwanzig Jahren Fellow des Institute of Noetic Sciences bei San Francisco und Gastprofessor mehrerer Universitäten, darunter das Graduate Institute in Connecticut. Ich habe über achtzig Arbeiten in wissenschaftlichen Zeitschriften wie Nature veröffentlicht, bei denen das Verfahren des Peer-Review, also der Begutachtung durch unabhängige Fachkollegen, üblich ist. Ich gehöre etlichen wissenschaftlichen Gesellschaften wie der Society for Experimental Biology und der Society for Scientific Exploration an und bin Fellow der Zoological Society sowie der Cambridge Philosophical Society. Ich halte an Universitäten, Forschungsinstituten und bei wissenschaftlichen Konferenzen in Großbritannien, Kontinentaleuropa, Nord- und Südamerika, Indien und Australasien Seminare und Vorträge zu meinen Forschungen.

Ich habe das Leben eines Wissenschaftlers geführt und bin ein entschiedener Verfechter des wissenschaftlichen Ansatzes. Es verstärkt sich bei mir jedoch die Überzeugung, dass die Naturwissenschaften einiges an Spannkraft, Vitalität und Neugier eingebüßt haben. Ihrer Kreativität stehen dogmatisches und ideologisches Denken, ängstlicher Konformismus und institutionelle Schwerfälligkeit im Wege.

An wissenschaftlichen Kollegen überrascht mich immer wieder der Kontrast zwischen ihren öffentlichen Äußerungen und dem, was sie im privaten Gespräch sagen. In der Öffentlichkeit sind ihnen die massiven Tabus, mit denen bestimmte Themen belegt sind, sehr bewusst; im privaten Gespräch erlebt man sie schon eher ein wenig abenteuerlustig.

Zur Neuausgabe 2021

Dieses Buch erschien erstmals im Jahr 2012. Die vorliegende, vollständig überarbeitete und aktualisierte Ausgabe berücksichtigt neue Entwicklungen in der Wissenschaft, die nahezu ausnahmslos die in der ersten Auflage vorgebrachten Argumente untermauert haben.

 

Die meisten Ergänzungen betreffen die Kapitel 6, 7 und 11. Im Kapitel 6, in dem es um das Wesen der Vererbung geht, komme ich auf das weiterhin ungelöste »Problem der fehlenden Erblichkeit« zu sprechen, die epigenetische Revolution und den in der Evolutionstheorie herrschenden Aufruhr, seit der Neodarwinismus alten Stils im Begriff ist, durch die Erweiterte Synthese der Evolutionstheorie abgelöst zu werden. Im Kapitel 7über das Wesen der Erinnerung diskutiere ich neue Erkenntnisse der Neurowissenschaft, die wir neuartigen und raffinierten optogenetischen Techniken zu verdanken haben. Diese Techniken ermöglichen es, die Aktivität von Nervenzellen im Gehirn so detailreich wie nie zuvor zu untersuchen, wodurch die Theorie, dass Erinnerungen als materielle Spuren gespeichert werden, problematischer wird als je zuvor. Das Kapitel 11 über die Illusion der Objektivität enthält nun eine Diskussion über die »Krise der Reproduzierbarkeit«, die kurz nach dem ersten Erscheinen dieses Buchs über die wissenschaftlichen Zeitschriften hereinbrach. Vieles von dem, worüber in Fachzeitschriften berichtet wird, ist nicht replizierbar. Was hat das zu bedeuten?

Ich habe dieses Buch geschrieben, weil ich glaube, dass die Naturwissenschaften spannender und mitreißender sein werden, wenn sie sich über die Dogmen hinwegsetzen, die dem forschenden Fragen Grenzen setzen und die Fantasie hinter Gittern gefangen halten. Seit dem Erscheinen der ersten Ausgabe bin ich noch mehr davon überzeugt, dass diese Befreiung notwendig ist und dass sich dieser Prozess beschleunigt.

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Einleitung

Die zehn Dogmen der modernen Naturwissenschaft

Seinen ungeheuer großen Einfluss verdankt das naturwissenschaftliche Weltbild dem Umstand, dass die Naturwissenschaften selbst so erfolgreich sind. Über Technik und Medizin sind sie in jedem einzelnen Leben gegenwärtig, und selbst das geistige Klima verändert sich durch die gewaltige Ausweitung unseres Wissens bis hinunter zu den allerkleinsten Materieteilchen und hinaus in die Weite des Weltraums mit seinen Abermilliarden Galaxien in diesem stetig expandierenden Universum.

Doch in dieser dritten Dekade des einundzwanzigsten Jahrhunderts – Wissenschaft und Technik scheinen den Gipfel ihrer Macht erreicht zu haben, ihr Einfluss hat sich über die ganze Welt ausgebreitet, und niemand, so scheint es, kann mehr an ihrem Sieg zweifeln – tauchen überraschend gravierende innere Probleme auf. Die meisten Wissenschaftler sind zuversichtlich, dass man diesen Problemen mit noch mehr Forschung nach etablierten Verfahren beikommen wird, während andere, darunter auch ich, Symptome eines tieferen Übels darin erkennen.

In diesem Buch vertrete ich die Ansicht, dass die Naturwissenschaft von ihren eigenen jahrhundertealten und inzwischen zu Dogmen verhärteten Annahmen ausgebremst wird. Wissenschaft wäre ohne diese Annahmen besser dran, nämlich freier und interessanter, sie würde mehr Spaß machen.

Der größte Wahn der Wissenschaften besteht in der Annahme, sie wüssten bereits die Antworten. Zwar müssten die Details noch ausgearbeitet werden, aber im Prinzip seien die Grundprobleme gelöst.

Heutige Naturwissenschaft beruht auf der Annahme, Realität sei grundsätzlich materieller oder physikalischer Natur. Es gibt materielle Wirklichkeit und sonst nichts. Bewusstsein ist ein Nebenprodukt der physischen Gehirntätigkeit. Materie ist ohne Bewusstsein. Der Evolution liegt kein Plan zugrunde. Gott existiert nur als Idee im Menschengeist, das heißt in menschlichen Köpfen.

Solche Grundüberzeugungen sind von großer Macht, aber nicht weil die Wissenschaftler kritisch über sie nachdächten, sondern weil sie es eben nicht tun. Natürlich, die Fakten der Naturwissenschaft, die angewandten wissenschaftlichen Verfahren und das, was an Technik daraus hervorgeht, sind etwas sehr Reales, doch das hinter dem herkömmlichen wissenschaftlichen Denken stehende Glaubenssystem ist ein in der Ideengeschichte des neunzehnten Jahrhunderts verwurzelter Glaube.

Dies ist ein Buch für die Wissenschaft. Ich wünsche mir die Naturwissenschaften weniger dogmatisch und dafür wissenschaftlicher. Die Naturwissenschaften werden, davon bin ich überzeugt, wie neugeboren sein, wenn sie sich von ihren einengenden Dogmen freimachen.

Das naturwissenschaftliche Glaubensbekenntnis

Hier nun die zehn zentralen Glaubenssätze, die sich die meisten Wissenschaftler ungeprüft zu eigen machen:

 

Alles ist mechanischer Natur. Hunde zum Beispiel sind nicht etwa lebende Organismen mit ihren ganz eigenen Zielsetzungen, sondern komplexe Mechanismen. Auch Menschen sind Maschinen, in Richard Dawkins’ lebendiger Ausdrucksweise sogar »schwerfällige Roboter«. Ihre Gehirne sind wie genetisch programmierte Computer.

Materie besitzt grundsätzlich kein Bewusstsein. Sie hat keine Innerlichkeit, keine Subjektivität, keine »Ansichten«. Auch menschliches Bewusstsein ist pure Täuschung, vorgespiegelt vom stofflichen Geschehen im Gehirn.

Die Gesamtheit von Materie und Energie ist immer gleich (der Urknall, mit dem alle Materie und Energie urplötzlich erschien, ist die einzige Ausnahme).

Die Naturgesetze stehen ein für alle Mal fest. Sie sind heute so, wie sie von Anfang an waren und für immer sein werden.

Die Natur kennt keine Absichten, Evolution ist ohne Richtung oder Ziel.

Biologische Vererbung ist ausschließlich materieller Natur, vermittelt über das genetische Material, die DNA, und andere materielle Strukturen.

Der Geist, unser Denken und Fühlen, sitzt im Kopf und ist nichts als Gehirnaktivität. Wenn wir einen Baum betrachten, ist das Bild, das wir sehen, nicht da draußen, wo es zu sein scheint, sondern innen, im Gehirn.

Erinnerungen sind als materielle Spuren im Gehirn gespeichert und werden beim Tod gelöscht.

Unerklärliche Phänomene wie Telepathie sind reine Einbildung.

Mechanistische Medizin ist die einzig wirksame Medizin.

 

Zusammen bilden diese Glaubenssätze die Philosophie oder besser Ideologie des Materialismus, dessen Kerngedanke ja besagt, dass alles seiner Natur nach materieller oder physischer Art ist, auch der Geist. Dieses Glaubenssystem setzte sich gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts in der Naturwissenschaft durch und gilt jetzt als gesicherte Erkenntnis. Vielen Wissenschaftlern ist nicht bewusst, dass der Materialismus eine bloße Annahme darstellt – sie setzen ihn mit Naturwissenschaft gleich, mit dem wissenschaftlichen Bild der Realität oder eben dem naturwissenschaftlichen Weltbild. In ihrer Ausbildung taucht dieser Gedanke nicht auf, sie bekommen nie Gelegenheit, auch nur darüber zu sprechen, er geht durch so etwas wie intellektuelle Osmose auf sie über.

Im alltäglichen Sprachgebrauch bezeichnen wir mit »Materialismus« ein ganz auf materielle Interessen, Reichtum, Besitz und Luxus ausgerichtetes Leben. Ohne Zweifel wird das von einer materialistischen Philosophie genährt, die ja alle spirituellen Realitäten und nichtmateriellen Zielsetzungen leugnet, aber ich möchte mich in diesem Buch mit den wissenschaftlichen Behauptungen des Materialismus und nicht so sehr mit seinen Auswirkungen auf unsere Lebensweise auseinandersetzen.

Jede dieser zehn Doktrinen möchte ich im Sinne einer radikalen Skepsis zu einer Frage umkehren. Ganz neue Horizonte öffnen sich, wenn eine fraglos akzeptierte Annahme nicht mehr als selbstverständliche Wahrheit genommen, sondern zum Ansatz eines forschenden Fragens gemacht wird. So verkehrt sich etwa die Annahme, die Natur sei maschinenähnlich oder mechanisch, in die Frage: »Ist die Natur mechanisch?« Oder die Annahme, Materie habe kein Bewusstsein, wird zu der Frage: »Ist Materie ohne Bewusstsein?« Und so weiter.

Im Prolog betrachte ich die Wechselwirkungen zwischen Naturwissenschaft, Religion und Macht, um dann in den Kapiteln 1 bis 10 diesen zehn Dogmen auf den Grund zu gehen. Am Schluss jedes Kapitels werde ich kurz darstellen, von welcher Tragweite das jeweilige Thema ist und wie es sich auf unser Leben auswirkt. Ich gebe außerdem Anregungen für weitere Fragen, die Sie als Ansatzpunkte nehmen können, wenn Sie diese Themen mit Freunden oder Kollegen erörtern möchten. Am Schluss jedes Kapitels finden Sie eine Zusammenfassung.

Das naturwissenschaftliche Weltbild in der Glaubwürdigkeitskrise

Seit über zweihundert Jahren versprechen die Materialisten, die Wissenschaft werde irgendwann für alles eine physikalische oder chemische Erklärung geben können. Die Wissenschaft werde erweisen, dass Lebewesen komplexe Maschinen sind, dass Geist nichts als Gehirnaktivität ist und die Natur keinen tieferen oder höheren Sinn hat. Die Vertreter solcher Überzeugungen stützen sich auf den festen Glauben, dass wissenschaftliche Entdeckungen ihre Überzeugung schließlich rechtfertigen werden. Der Wissenschaftsphilosoph Karl Popper gab dieser Haltung den Namen »Gutscheinmaterialismus«, weil man ja im Effekt etwas bescheinigt, was noch gar nicht entdeckt ist.[7] Trotz aller wissenschaftlich-technischen Errungenschaften steht der Materialismus heute vor einer Glaubwürdigkeitskrise, die noch im vorigen Jahrhundert undenkbar gewesen wäre.

Als ich 1963 an der Cambridge University Biochemie studierte, wurde ich zusammen mit einigen anderen Kursteilnehmern zu privaten Kolloquien mit Francis Crick und Sydney Brenner eingeladen, die in Brenners Räumen am Kings College stattfinden sollten. Da hatten die beiden Wissenschaftler gerade zusammen mit anderen Wissenschaftlern den genetischen Code »geknackt«. Beide waren leidenschaftliche Vertreter des Materialismus und Crick darüber hinaus militanter Atheist. Sie ließen uns wissen, es gebe in der Biologie noch zwei größere ungeklärte Probleme, nämlich Entwicklung und Bewusstsein. Die seien noch nicht gelöst, weil die Leute, die daran arbeiteten, keine Molekularbiologen und nicht sehr helle seien. Crick und Brenner würden die Lösungen innerhalb der nächsten zehn, höchstens zwanzig Jahre finden. Brenner würde sich die Entwicklung, Crick das Bewusstsein vornehmen. Wir waren eingeladen, uns ihnen anzuschließen.

Sie taten ihr Bestes. Brenner erhielt 2002 für seine Arbeit zur Entwicklung eines winzigen Wurms, Caenorhabditis elegans, den Nobelpreis. Crick starb 2004 am Tag nach der Korrektur seiner letzten Arbeit über das Gehirn. Bei seiner Beerdigung sagte sein Sohn Michael, Crick sei nicht auf Ruhm, Reichtum oder Popularität aus gewesen, sondern habe »den letzten Nagel in den Sarg des Vitalismus schlagen« wollen.[8] (Der Vitalismus lehrt, dass Lebewesen wirklich lebendig und niemals erschöpfend mit den Mitteln der Physik und Chemie zu erklären sind.)

Crick und Brenner scheiterten. Die Probleme der Entwicklung und des Bewusstseins sind nach wie vor ungelöst. Viele weitere Einzelheiten sind entdeckt worden, die Genome Hunderter Spezies wurden sequenziert, und die Verfahren der Gehirntomografie werden immer noch präziser. Nach wie vor jedoch steht der Beweis aus, dass Leben und Geist allein auf der Basis von Physik und Chemie erklärbar seien (siehe hierzu die Kapitel 1, 4 und 8).

Der Materialismus geht von der Grundannahme aus, dass es nur Materie und sonst nichts gibt. Folglich kann Bewusstsein nur Gehirnaktivität sein. Bewusstsein ist ein Schatten, ein »Epiphänomen« ohne eigene Aktivität oder eben eine von vielen Möglichkeiten, über Gehirnaktivität zu sprechen. Unter heutigen Neurowissenschaftlern und Bewusstseinsforschern gibt es jedoch keinen Konsens, was die Natur des Geistes angeht. Führende Zeitschriften wie Behavioural and Brain Sciences und das Journal of Consciousness Studies veröffentlichen immer wieder Artikel, in denen gravierende Probleme des materialistischen Weltbilds aufgezeigt werden. Der Philosoph David Chalmers hat das bloße Vorhandensein der subjektiven Erfahrung als »das harte Problem« bezeichnet. Hart ist daran, dass es für die subjektive Erfahrung keine mechanistische Erklärung gibt. Selbst wenn wir durchschauen, wie Auge und Gehirn auf rotes Licht reagieren, haben wir damit noch nicht das Erlebnis der »Röte« erklärt.

In Biologie und Psychologie erlebt die Glaubwürdigkeit des Materialismus zurzeit einen Einbruch. Kann die Physik da in die Bresche springen? Manche Materialisten nennen sich lieber Physikalisten, damit man gleich weiß, dass sie sich auf die moderne Physik und nicht auf einen längst veralteten Materiebegriff stützen. Aber die Glaubwürdigkeit des Physikalismus ist von der Physik selbst zurückgestuft worden, und das kam so:

Erstens heben manche Physiker hervor, dass die Quantenmechanik nur zu formulieren ist, wenn man auch das Bewusstsein des Beobachters berücksichtigt. Geist, sagen sie, lässt sich nicht auf Physik reduzieren, denn schließlich setzt die Physik ja den Geist des Physikers voraus.[9]

Zweitens führen die ehrgeizigsten Theorien der physischen Realität, die String- und M-Theorien mit ihren zehn beziehungsweise elf Dimensionen, die Naturwissenschaft auf völlig neues Territorium. Seltsamerweise, so Stephen Hawking in seinem 2010 erschienenen Buch The Grand Design (Der große Entwurf), »scheint niemand zu wissen, für was ›M‹ steht, aber es kann ›Master‹ oder ›Miracle‹ oder ›Mystery‹ bedeuten«. Nach dem, was Hawking »modellabhängigen Realismus« nennt, können je nach Situation verschiedene Theorien anzuwenden sein. »Jede Theorie kann ihren eigenen Wirklichkeitsbegriff haben, und für den modellabhängigen Realismus darf das auch so sein, solange die Theorien dort, wo sie sich überschneiden, zu gleichen Voraussagen kommen, also immer dann, wenn beide anwendbar sind.«[10]

Da String-Theorien und M-Theorien gegenwärtig nicht mit wissenschaftlichen Methoden überprüfbar sind, kann der modellabhängige Realismus nur in seinem Bezug zu anderen Modellen, nicht aber aufgrund von Experimenten beurteilt werden. Zudem gilt dieser Ansatz auch für unzählige andere Universen, die freilich noch nie beobachtet worden sind. In Hawkings Worten:

Für die M-Theorie gibt es Lösungen, die verschiedene Universen mit … unterschiedlichen Gesetzen zulassen, je nachdem, wie der innere Raum gekrümmt ist. Für die M-Theorie gibt es Lösungen, die viele verschiedene innere Räume zulassen, möglicherweise bis zu 10500, und das bedeutet, dass sie 10500 verschiedene Universen zulässt, jedes mit seinen eigenen Gesetzen … Die alte Hoffnung der Physik, nämlich eine Theorie hervorbringen zu können, welche die … Gesetze unseres Universums als einzig mögliche Folgerung aus wenigen einfachen Annahmen erklärt, muss womöglich aufgegeben werden.[11]

Manche Physiker begegnen diesem ganzen Ansatz mit großer Skepsis, wie in Lee Smolins Buch The Trouble With Physics (Die Zukunft der Physik) nachzulesen ist.[12] String-Theorie, M-Theorie und modellabhängiger Realismus sind eine wacklige Grundlage für Materialismus oder Physikalismus oder jeden anderen wissenschaftlichen Glauben. Dazu mehr in Kapitel 1.

Drittens zeichnet sich seit dem Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts ab, dass die bekannten Formen der Materie und Energie nur etwa vier Prozent des Universums ausmachen. Der Rest besteht aus »dunkler Materie« und »dunkler Energie«. Um was es sich bei den übrigen 95 Prozent der physikalischen Realität handelt, ist buchstäblich dunkel (siehe Kapitel 2).

Viertens besagt das »kosmologische anthropische Prinzip«, dass biologisches Leben nicht hätte entstehen können, wären die Naturkonstanten im Augenblick des Urknalls auch nur ein wenig anders gewesen – und dann wären wir jetzt nicht hier, um darüber nachzudenken (siehe Kapitel 3). Hat dann ein göttliches Bewusstsein für die Feinabstimmung der Gesetze und Konstanten am Anfang gesorgt? Um zu verhindern, dass Gott in neuem Gewand wieder eingeschleust wird, nehmen die meisten Kosmologen lieber an, dass unser Universum nur eines von vielen, vielleicht sogar unendlich vielen möglichen parallelen Universen ist, die alle ihre ganz eigenen Gesetze und Konstanten haben, wie es auch nach der M-Theorie möglich erscheint. Wir leben eben zufällig in dem Universum, das uns die richtigen Bedingungen bietet.[13]

Die Multiversen-Theorie ist die denkbar größte Abweichung von einem Prinzip, das »Occams Rasiermesser« genannt wird. Es besagt, dass die »Anzahl der Entitäten nicht über das notwendige Maß hinaus zu vermehren« ist oder, mit anderen Worten, dass wir mit möglichst wenig Annahmen auskommen sollten. Darüber hinaus hat diese Theorie den großen Nachteil, dass sie nicht überprüfbar ist.[14] Sie stellt nicht einmal sicher, dass Gott draußen bleibt. Ein unendlicher Gott könnte der Gott unendlich vieler Universen sein.[15]

Noch gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts schien der Materialismus ein einfaches und einleuchtendes Weltbild zu bieten, doch die Naturwissenschaft des einundzwanzigsten Jahrhunderts hat ihn weit hinter sich gelassen. Seine Versprechen haben sich nicht erfüllt, seine Gutscheine sind von einer rasanten Inflation entwertet worden.

Die Naturwissenschaften werden von zu Dogmen verhärteten und durch machtvolle Tabus geschützten Annahmen behindert, davon bin ich überzeugt. Diese Glaubenssätze schützen wohl die Zitadelle der etablierten Naturwissenschaft, wirken jedoch ebenso als Barriere gegen aufgeschlossenes Denken.

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Prolog

Wissenschaft, Religion und Macht

Die Naturwissenschaft beherrscht und verwandelt die Welt seit dem ausgehenden neunzehnten Jahrhundert. Als Technik und Medizin ist sie in jedem Leben gegenwärtig. Ihr intellektueller Ruf ist nahezu unwidersprochen. Sie ist von größerem Einfluss als jeder andere Denkansatz in der Geschichte der Menschheit. Ihre Macht gründet sich größtenteils auf ihren praktischen Anwendungen, aber sie wirkt auch intellektuell sehr ansprechend. Sie bringt uns ein neues Verständnis der Welt nahe, beispielsweise der mathematischen Ordnung auf der molekularen und atomaren Ebene, der Molekularbiologie der Gene und der kosmischen Evolution in ihren kaum vorstellbaren Dimensionen.

Eine wissenschaftliche Priesterschaft

Francis Bacon (1561 – 1626), ein Politiker und Rechtsanwalt, der es bis zum Lord Chancellor of England brachte, sah den Aufstieg der Naturwissenschaft zur Macht klarer voraus als jeder andere. Er wollte ein Wegbereiter sein, und dazu musste er nachweisen, dass an dem Streben nach Macht über die Natur nichts Böses war. Zu seiner Zeit war die Furcht vor Hexerei und schwarzer Magie noch weitverbreitet, und dem versuchte er mit der Behauptung entgegenzuwirken, Naturerkenntnis sei gottgewollt und nicht Teufelswerk. Eigentlich sei Naturwissenschaft die Rückkehr zur paradiesischen Unschuld Adams im Garten Eden vor dem Sündenfall.

Das erste Buch der Bibel, die Genesis, rechtfertigte nach Bacons Darstellung die Naturwissenschaft. Dass Adam allen Tierarten ihre Namen gab, sei der Beginn der Naturerkenntnis gewesen. Als Gott die Tiere gemacht hatte, »brachte er sie zu dem Menschen, dass er sähe, wie er sie nennte; denn wie der Mensch allerlei lebendige Tiere nennen würde, so sollten sie heißen« (Genesis 2,19). Und da handelte es sich noch ausschließlich um die Erkenntnis des Mannes, denn Eva wird erst drei Verse später erschaffen. Die technische Beherrschung der Natur durch den Menschen, so Bacon weiter, sei nicht etwas Neues, sondern vielmehr die Rückbesinnung auf seine ihm von Gott verliehene Macht. Er war sehr zuversichtlich, dass die Menschen ihr neues Wissen klug und gut nutzen würden. »Lasst nur das Menschengeschlecht jenes Anrecht auf die Natur zurückerlangen, welches ihr von Gott verliehen wurde; die Ausübung dieses Rechts wird von kluger Vernunft und wahrer Religion geleitet sein.«[16]

Wohlorganisierte institutionelle Forschung sollte der Zugang zu dieser neuen Macht über die Natur sein. In seinem 1624 erschienenen New Atlantis (Neu-Atlantis) schildert Bacon ein technokratisches Utopia, in dem eine wissenschaftliche Priesterschaft zum Wohl des ganzen Staates die Entscheidungen trifft. Die Mitglieder oder Fellows dieser wissenschaftlichen Vereinigung, die Bacon »Orden oder Gesellschaft« nannte, trugen Roben und wurden mit der ihrer Macht und Würde gemäßen Achtung behandelt. Dem Ordensoberhaupt stand eine prachtvolle Kutsche zu. Und wenn er mit Gefolge unterwegs war, »hielt er eine Hand erhoben und segnete das Volk«.

Ziel dieser Gründung war, »die Ursachen und verborgenen Bewegungen der Dinge zu erkennen, das Herrschaftsgebiet der Menschheit zu vergrößern und alles überhaupt Mögliche ins Werk zu setzen«. Die Gesellschaft verfügte über alle Geräte und Einrichtungen zur Prüfung von Sprengstoffen und Kriegsgerät, es gab Schmelzöfen, außerdem Gartenanlagen für die Pflanzenzucht sowie Apotheken.[17]

Diese Vision einer wissenschaftlichen Einrichtung lässt bereits Züge der institutionalisierten Forschung erkennen und gab den unmittelbaren Anstoß zur Gründung der Royal Society in London (1660) und weiterer Akademien der Wissenschaft in anderen Ländern. Die Mitglieder dieser Akademien waren zwar vielfach hoch angesehen, aber den erlauchten Stand und die politische Macht der imaginären Prototypen Bacons erreichten sie nicht. Der Größe dieser Menschen sollte nach Bacons Vorstellungen über ihren Tod hinaus in einer Art Hall of Fame gedacht werden, in der ihre Bildnisse bewahrt wurden. »Denn für jede Erfindung von Wert errichten wir dem Erfinder eine Statue und gewähren ihm reichen und ehrenvollen Lohn.«[18]

Zu Bacons Zeit (und bis heute) war die Church of England zugleich Staatskirche. So stellte sich Bacon auch die wissenschaftliche Priesterschaft durch Patronat mit dem Staat verbunden vor – eine Art Staatskirche der Wissenschaft. Hier erwies er sich als weit vorausschauend. Im Kommunismus wie im Kapitalismus sind die offiziellen Akademien der Wissenschaft nach wie vor die Machtzentren des wissenschaftlichen Establishments. Eine Trennung von Staat und Wissenschaft existiert nicht. Wissenschaftler spielen die Rolle einer alteingesessenen Priesterschaft und nehmen Einfluss auf politische Entscheidungen über Krieg, Kunst, Industrie, Landwirtschaft, Medizin, Bildung und Forschung.

Bacon prägte den Slogan, mit dem man sich Regierungsmittel und Investorengelder sichern kann: »Wissen ist Macht.«[19] Die Wissenschaftler waren auf diesem Gebiet der Mittelbeschaffung jedoch nicht in allen Ländern gleich erfolgreich. Systematische staatliche Wissenschaftsförderung setzte in Frankreich und Deutschland viel früher ein als in Großbritannien und den Vereinigten Staaten, wo wissenschaftliche Forschung bis in die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts überwiegend privat finanziert oder von wohlhabenden Amateuren wie Charles Darwin betrieben wurde.[20]

In Frankreich war es vor allem Louis Pasteur (1822 – 1895), der sich für die Wissenschaft als Religion der Wahrheitsfindung starkmachte. Laboratorien sollten wie Tempel sein, durch die sich die Menschheit zu ihrer vollen Größe erheben würde:

Setzt euch ein, ich beschwöre euch, für diese heiligen Einrichtungen, denen wir den bezeichnenden Namen Laboratorium geben. Fordert ihre Vermehrung und glanzvolle Ausgestaltung, es sind die Tempel des Reichtums und der Zukunft. Dort nämlich wächst die Menschheit, dort wird sie stärker und besser.[21]

Bis zum Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts war die Naturwissenschaft so gut wie vollständig institutionalisiert und professionalisiert, und nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte sie durch staatliche Förderung und Investitionen seitens der Industrie einen enormen Aufschwung.[22] Nirgends ist die finanzielle Ausstattung der wissenschaftlichen Forschung besser als in den Vereinigten Staaten, wo sich die Gesamtfördersumme für Forschung und Entwicklung 2008 auf 398 Milliarden Dollar belief, davon 104 Milliarden Dollar an Staatsmitteln.[23] Allerdings bezahlen Regierung und Wirtschaft den Wissenschaftler normalerweise nicht dafür, dass er wie Adam vor dem Sündenfall unschuldige Erkenntnis liefert. Das Benennen von Tieren, etwa der bedrohten Käferarten im tropischen Regenwald, steht nicht sehr weit oben auf der Prioritätenliste. Die meisten Mittel fließen in die Umsetzung der suggestiven Formel Bacons: »Wissen ist Macht.«

In den Fünfzigerjahren, die institutionalisierte Naturwissenschaft hatte den Gipfel ihrer Macht und ihres Ansehens erreicht, zeichnete der Wissenschaftshistoriker George Sarton mit Genugtuung ein Bild der Lage, das sich wie eine Verlautbarung der katholischen Kirche vor der Reformation ausnimmt:

Die Wahrheit ist nur durch das Urteil der Experten zu ermitteln … Alles wird da von einer sehr kleinen Anzahl von Männern entschieden, sogar von einzelnen Experten, deren Resultate freilich sehr genau von einigen wenigen anderen überprüft werden. Die Leute haben hier nichts zu sagen, sondern einfach das zu akzeptieren, was ihnen an Entscheidungen vorgelegt wird. Der Wissenschaftsbetrieb liegt in den Händen der Universitäten, Akademien und wissenschaftlichen Gesellschaften und bleibt der öffentlichen Einflussnahme so weit entzogen, wie es nur irgend möglich ist.[24]

Bacons Vision einer wissenschaftlichen Priesterschaft ist jetzt weltweit Realität geworden. Allerdings erwies sich sein Glaube, der Mensch werde in seiner Herrschaft über die Natur »von kluger Vernunft und wahrer Religion geleitet sein«, als Irrglaube.

Wunschträume von Allwissenheit

Der Wunschtraum gottähnlicher Allwissenheit ist in der Geschichte der Naturwissenschaften ein wiederkehrendes Thema. Zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts malte sich der französische Physiker Pierre-Simon Laplace einen wissenschaftlichen Geist aus, der alles weiß und alles vorhersagen kann:

Man denke sich eine Intelligenz, welche jederzeit Kenntnis aller die Natur beherrschenden Kräfte einschließlich des augenblicklichen Zustands sämtlicher Gebilde besäße, aus denen die Natur besteht. Wäre diese Intelligenz imstande, alle diese Daten der Analyse zu unterziehen, so wäre sie in der Lage, die Bewegungen der größten Himmelskörper und der leichtesten Atome in einer einzigen Formel zu erfassen. Nichts wäre ihr ungewiss. Vergangenheit und Zukunft stünden ihr gleichermaßen klar vor Augen.[25]

So dachte man nicht nur in der Physik. Thomas Henry Huxley, der so viel für die Verbreitung von Darwins Evolutionstheorie tat, wollte den mechanistischen Determinismus auch auf den gesamten Evolutionsprozess ausdehnen:

Sollte die Grundannahme des Evolutionsgedankens zutreffen, dass die gesamte belebte und unbelebte Welt auf die nach definitiven Gesetzen ablaufenden Wechselwirkungen jener Kräfte zurückzuführen ist, die den Molekülen zu eigen sind, aus welchen das Universum in seiner ursprünglichen Nebelgestalt bestand, so muss mit gleicher Gewissheit diese gegenwärtige Welt in den kosmischen Dünsten angelegt gewesen sein, und ein Verstand von genügender Fassungskraft hätte vermöge der Kenntnis der Eigenschaften der Moleküle dieses Nebels zum Beispiel den Bestand der Fauna Großbritanniens im Jahre 1869 vorhersagen können.[26]

In der Anwendung auf das menschliche Gehirn folgte aus diesem Determinismus, dass es einen freien Willen nicht geben kann, da alle molekularen und physikalischen Abläufe im Gehirn im Prinzip absehbar und berechenbar sind. Dieser Glaube beruhte jedoch nicht auf einer wissenschaftlichen Grundlage, sondern einzig auf der Annahme, dass alles von mathematischen Gesetzen bestimmt sei.

Auch heute halten viele Naturwissenschaftler den freien Willen für eine Illusion. Erstens, heißt es, funktioniere das Gehirn nach Art einer Maschine, und zweitens sei außerhalb dieser mechanischen Abläufe kein eigenständiges Ich zu erkennen, das Entscheidungen treffen könne. So verkündete der britische Gehirnforscher Patrick Haggard noch 2010 im Brustton der Überzeugung: »Als Neurowissenschaftler bin ich zwangsläufig Determinist. Es gibt physikalische Gesetze, nach denen sich die elektrischen und chemischen Ereignisse im Gehirn richten müssen. Die Möglichkeit, unter identischen Umständen anders zu handeln, existiert nicht. Es gibt kein Ich, das sagen könnte: ›Ich will aber anders handeln.‹«[27] Und selbst Haggard lässt sich von der Wissenschaft nicht in sein Privatleben hineinreden: »Ich halte mein wissenschaftliches Leben und mein Privatleben säuberlich getrennt. Mir kommt es trotz allem so vor, als würde ich entscheiden, welchen Film ich mir ansehe, ich empfinde es nicht als vorherbestimmt, obwohl es irgendwo in meinem Gehirn schon festgelegt sein muss.«

Indeterminismus und Zufall

1927 wurde mit der Entdeckung des Unschärfeprinzips in der Quantenphysik deutlich, dass die stoffliche Welt ihrer Natur nach letztlich nicht determiniert ist und man physikalische Voraussagen nur als Aussagen über Wahrscheinlichkeiten machen kann. Das liegt vor allem an der Wellennatur von Quantenphänomenen. Eine Welle ist naturgemäß etwas in Raum und Zeit Ausgebreitetes, kann also nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt einem bestimmten Punkt im Raum zugeordnet werden. Fachsprachlich ausgedrückt: Es ist nicht möglich, Position und Impuls zugleich präzise zu bestimmen.[28] Die Quantentheorie hat es nicht mit Gewissheiten, sondern mit statistischen Wahrscheinlichkeiten zu tun. Der Zufall bestimmt, ob in einem Quantenereignis diese und nicht jene Möglichkeit realisiert wird.

Hat der Indeterminismus in der Quantenwelt eine Bedeutung für den freien Willen? Wenn Indeterminismus so viel wie regellose Beliebigkeit bedeutet, nein. Zufallsentscheidungen sind nicht freier als gänzlich vorherbestimmte Entscheidungen.[29]

In der neodarwinistischen Evolutionstheorie spielt die Zufälligkeit in der Gestalt genetischer Zufallsmutationen eine Rolle. Diese Mutationen sind Quantenereignisse, und hätte der Zufall sie anders gefügt, würde die Evolution anders verlaufen. T. H. Huxley irrte sich in der Annahme, der Lauf der Evolution sei vorhersehbar. Dazu der Evolutionsbiologe Stephen Jay Gould: »Würde das Band des Lebens noch einmal laufen, wären es andere Überlebende, die heute die Erde zieren würden.«[30]

Im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts zeichnete sich immer deutlicher ab, dass nicht nur Quantenprozesse, sondern so gut wie alle Naturphänomene probabilistisch, also nach Wahrscheinlichkeiten verlaufen. Strömende Flüssigkeiten, Brandungswellen und das Wetter – sie alle lassen eine Spontaneität und Unbestimmtheit erkennen, die genaue Vorhersagen verbieten. Die Meteorologen machen trotz ihrer hoch leistungsfähigen Computer und trotz des über Satelliten bezogenen stetigen Datenstroms auch heute noch falsche Voraussagen. Es liegt nicht an ihrer zweifelhaften Qualifikation als Wissenschaftler, sondern daran, dass Wetterphänomene ihrer Natur nach nicht im Detail absehbar sind. Wetter ist »chaotisch«, aber nicht im alltäglichen Sinne einer völligen Regellosigkeit, sondern als ein System, das keine präzisen Vorhersagen erlaubt. In gewissem Umfang können Wetterabläufe im Sinne einer vielfach »Chaostheorie« genannten Dynamik mathematisch simuliert werden, doch daraus lassen sich keine exakten Voraussagen ableiten.[31] Gewissheit ist in der Alltagswelt so wenig zu haben wie in der Quantenphysik. Sogar die Umlaufbahnen der Planeten um die Sonne, lange das Prunkstück der mechanistischen Naturwissenschaft, erweisen sich über große Zeiträume betrachtet als chaotisch.[32]

So erwies sich der Determinismus, dem im neunzehnten und beginnenden zwanzigsten Jahrhundert viele anhingen, als Irrglaube. Die Befreiung der Naturwissenschaft von diesem Dogma weckte einen neuen Sinn für das Ungewisse in der Natur, insbesondere in der Evolution. Und das Ende des Determinismusglaubens war keineswegs das Ende der Naturwissenschaften. Sie werden auch den Verlust der Dogmen überleben, von denen sie jetzt noch gefesselt sind. Neue Möglichkeiten werden ihnen neues Leben einhauchen.

Weitere Allwissenheitsfantasien

Gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts umfasste der Traum von der Allwissenheit der Naturwissenschaften weitaus mehr als nur den Glauben an den Determinismus. 1888 schrieb der kanadisch-amerikanische Astronom Simon Newcomb: »Wir nähern uns wahrscheinlich der Grenze dessen, was wir in der Astronomie überhaupt wissen können.« Und 1894 erklärte der spätere Physik-Nobelpreisträger Albert Michelson: »Die wichtigen Grundgesetze und Grundtatsachen der Physik sind entdeckt und so grundsolide abgesichert, dass die Wahrscheinlichkeit ihrer Verdrängung durch neue Erkenntnisse verschwindend gering erscheint … Künftige Entdeckungen muss man schon an der sechsten Stelle hinter dem Komma suchen.«[33] William Thomson, besser bekannt als Lord Kelvin, Physiker und Erfinder der internationalen Telegrafie, soll 1900 seiner unerschütterlichen Zuversicht mit folgenden oft zitierten (aber nicht mit Sicherheit von ihm stammenden) Worten Ausdruck gegeben haben: »Es gibt in der Physik jetzt nichts Neues mehr zu entdecken. Immer genauere Messungen, das ist alles, was noch zu tun bleibt.«

Alle diese Überzeugungen fielen Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts in Scherben, als es in der Physik zu völlig unerwarteten neuen Entwicklungen kam – Quantenphysik, Relativitätstheorie, Kernspaltung und Kernfusion (etwa in Atom- und Wasserstoffbomben), die Entdeckung von Galaxien außerhalb unserer Milchstraße und schließlich die Urknalltheorie, die besagt, dass dieses Universum vor etwa 14 Milliarden Jahren als etwas sehr Kleines und ungemein Heißes seinen Anfang nahm und sich seitdem unter Abkühlung ausdehnt und entwickelt.

Dennoch kamen zum Ende des zwanzigsten Jahrhunderts wieder Allwissenheitsfantasien auf, diesmal beflügelt von den physikalischen Triumphen des zwanzigsten Jahrhunderts und den Entdeckungen der Neurobiologie und Molekularbiologie. 1996 veröffentlichte John Horgan, damals Wissenschaftsredakteur beim Scientific American, ein Buch mit dem Titel The End of Science: Facing the Limits of Knowledge in the Twilight of the Scientific Age (An den Grenzen des Wissens: Siegeszug und Dilemma der Naturwissenschaften). Er hatte zahlreiche führende Wissenschaftler interviewt und stellte folgende provozierende These auf:

Wer an die Naturwissenschaft glaubt, hat sich mit der Möglichkeit, ja Wahrscheinlichkeit anzufreunden, dass die Ära der wissenschaftlichen Entdeckungen vorbei ist. Mit »Naturwissenschaft« spreche ich nicht die angewandte Wissenschaft an, sondern reine Wissenschaft in ihrer ganzen Größe als das Grundbestreben des Menschen, dieses Universum und seinen Platz in ihm zu verstehen. Weitere Forschungen werden wohl keine großen Offenbarungen mehr bereithalten, keine Umwälzungen mit sich bringen, sondern nur noch einen kleineren Zuwachs an Wissen in kleiner werdenden Schritten.[34]

Hierin hat Horgan sicher recht: Wenn etwas einmal entdeckt wurde, etwa die Struktur der DNA, kann man es nicht immer weiter entdecken. Nur dass er eben die Grundaussagen der herkömmlichen Wissenschaft als erwiesen ansah. Er ging davon aus, dass die grundlegenden Antworten bereits bekannt seien. Nun, sie sind es nicht, vielmehr lässt sich jede einzelne dieser Antworten durch interessantere und wesentlich ergiebigere Fragestellungen ersetzen. Das möchte ich in diesem Buch aufzeigen.

Naturwissenschaft und Christentum

Die Begründer der mechanistischen Naturwissenschaft im siebzehnten Jahrhundert – Johannes Kepler, Galileo Galilei, René Descartes, Francis Bacon, Robert Boyle, Isaac Newton und andere – waren praktizierende Christen. Kepler, Galilei und Descartes waren Katholiken, Bacon, Boyle und Newton Protestanten. Boyle war ein reicher Adliger und überaus fromm. Er setzte beträchtliche Teile seines Privatvermögens für die christliche Mission in Indien ein. Newton wandte viel Zeit und Kraft für Bibelforschungen auf und interessierte sich besonders für die Datierung von Prophezeiungen. Der Tag des Jüngsten Gerichts wird nach seinen Berechnungen in die Zeit zwischen 2060 und 2344 fallen. Zu den Einzelheiten verfasste er sogar ein Buch, Observations on the Prophecies and the Apocalypse of St. John.[35]

Die Naturwissenschaft des siebzehnten Jahrhunderts entwarf ein Bild des Universums als Maschine, die ein Gott klug konstruiert und in Gang gesetzt hatte. Alles unterlag ewigen mathematischen Gesetzen, die als Ideen im Geist Gottes aufgefasst wurden. Diese mechanistische Philosophie war deshalb so revolutionär, weil sie die animistische Weltsicht des mittelalterlichen Europas verwarf (siehe Kapitel 1). Bis zum siebzehnten Jahrhundert waren die Gelehrten und Theologen ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass die Welt lebendig ist, durchdrungen vom Geist Gottes, dem göttlichen Lebensatem. Alles war beseelt, Pflanzen, Tiere und Menschen. Die Sterne, die Planeten und die Erde selbst waren Lebewesen, von engelhaften Intelligenzen geleitet.

Die mechanistische Naturwissenschaft lehnte solche Lehren ab und trieb der Natur die Seele aus. Die materielle Welt wurde buchstäblich leblos, eine seelenlose Maschine. Materie war ohne Bestimmung und Bewusstsein, Planeten und Sterne waren tot. Im gesamten stofflichen Universum war das einzig Nicht-Mechanische der Menschengeist. Er war selbst immateriell und gehörte wie die Engel und Gott der spirituellen Sphäre an. Niemand wusste die Beziehung des Geistes zur Körper-Maschine zu erklären, aber Descartes mutmaßte, die Zirbeldrüse sei die Kontaktstelle, jenes tannenzapfenähnliche kleine Organ, das etwa in der Mitte des Gehirns zwischen den beiden Hemisphären eingebettet ist.[36]

Nach einigen anfänglichen Reibereien – am bekanntesten dürfte der 1633 von der Kirche gegen Galilei geführte Prozess sein – gingen Naturwissenschaft und Christentum im gegenseitigen Einvernehmen ihrer getrennten Wege. Die naturwissenschaftliche Arbeit war einigermaßen frei von Einmischungen seitens der Kirche, und andererseits legte sich die Naturwissenschaft auch nicht mit der Kirche an. Das änderte sich allerdings mit dem Aufstieg des militanten Atheismus gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts. Das stoffliche Universum – Sterne, Planeten, Pflanzen, Tiere und auch der menschliche Körper – war die Domäne der Naturwissenschaft. Alles Übrige, nämlich Gott, Engel, Geister und die menschliche Seele, bliebe der Religion. Selbst Stephen Jay Gould verteidigte dieses Arrangement noch als »vernünftige Position des allgemeinen Konsenses«. Er nannte es die Doktrin der getrennten Lehren. Das Hoheitsgebiet der Naturwissenschaft erstrecke sich »auf das Reich des Empirischen: woraus die Welt gemacht ist (Fakten) und warum sie so funktioniert, wie sie funktioniert (Theorie). Die Lehr-Hoheit der Religion umfasst die Fragen der moralischen Werte und des letzten Sinns.«[37]

Doch ungefähr seit der Zeit der Französischen Revolution (1789 – 1799) lehnten militante Materialisten dieses Arrangement als intellektuell unredlich ab und sahen es nur noch als Zuflucht für geistig Minderbemittelte. Für sie gab es fortan nur noch eine Realität: die materielle Welt. Das Reich des Geistigen existierte einfach nicht. Götter, Engel und Geister waren menschliche Einbildung, und der Menschengeist selbst war nichts weiter als eine Seite, ein Nebenprodukt der Gehirntätigkeit. Übernatürliche Instanzen, die in den mechanischen Lauf der Natur eingriffen, existierten nicht. Es gab nur noch eine Lehre, nämlich die der Naturwissenschaft.

Der atheistische Glaube

Die materialistische Philosophie erlangte ihre Vormachtstellung in der institutionalisierten Naturwissenschaft in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, und das stand in engem Zusammenhang mit dem Umsichgreifen des Atheismus in Europa. Für die Atheisten des einundzwanzigsten Jahrhunderts ist die Richtigkeit der materialistischen Lehre genau wie für ihre Vorgänger eine ausgemachte wissenschaftliche Tatsache, nicht etwa bloß eine Annahme.

Als sich das noch mit dem Gedanken verband, das gesamte Universum sei nach dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik eine Maschine, der langsam der Dampf ausgeht, mündete die materialistische Philosophie in ein trübseliges Weltbild ein, wie es in den Worten des Philosophen Bertrand Russell zum Ausdruck kommt:

Dass der Mensch ein Produkt von Ursachen ist, die nicht vorhersahen, auf was sie hinauslaufen würden; dass seine Entstehung, sein Wachsen, sein Hoffen und Fürchten, all sein Lieben und Glauben nur das Ergebnis zufälliger Zusammenstöße von Atomen sind; dass kein Feuer, kein Heldentum, keine Inbrunst des Denkens und Fühlens ein Leben über das Grab hinaus erhalten kann; dass all den Mühen aller Zeitalter, aller Hingabe, aller Inspiration, allem mittaghellen menschlichen Genie der Untergang im gewaltigen Tod des Sonnensystems bestimmt ist; und dass der ganze Tempel menschlicher Errungenschaften unwiderruflich vom Schutt eines in Trümmern fallenden Universums begraben sein wird – all das ist zwar nicht gänzlich unwidersprochen, aber doch der Gewissheit so nahe, dass keinem Philosophen, der es bestreitet, viel Hoffnung auf Anerkennung gemacht werden kann. Nur im Gerüst dieser Wahrheiten, nur auf dem Boden endgültiger Verzweiflung kann künftig die Wohnstatt der Seele gebaut werden.[38]

Wie viele Wissenschaftler glauben denn an diese »Wahrheiten«? Manche akzeptieren sie fraglos. Aber es gibt auch viele, deren persönliche Philosophie oder religiöse Orientierung ihnen dieses »wissenschaftliche Weltbild« etwas beschränkt erscheinen lässt, bestenfalls als Halbwahrheit. Und auch innerhalb der Wissenschaft selbst lassen Disziplinen wie evolutionäre Kosmologie, Quantenphysik und Bewusstseinsforschung die Standarddogmen der Naturwissenschaft inzwischen etwas altmodisch aussehen.

Dass Wissenschaft und Technik die Welt tiefgreifend verändert haben, ist keine Frage. Die Wissenschaft feiert ihre Erfolge, wenn es darum geht, Maschinen zu bauen, Ernteerträge zu steigern oder Heilverfahren zu entwickeln. Hier ist ihre Geltung enorm. Seit ihren Anfängen im Europa des siebzehnten Jahrhunderts hat sich die mechanistische Naturwissenschaft mit dem europäischen Imperialismus und seinen Ideologien – denken wir an Marxismus, Sozialismus und den Kapitalismus der freien Märkte – über die ganze Welt ausgebreitet. Durch die wirtschaftliche und technische Entwicklung erfasst sie Milliarden von Menschen. Die Verkünder der Wissenschaft und Technik verbuchten Erfolge, von denen die christlichen Missionare nicht einmal träumen konnten. Niemals zuvor hat ein einzelnes Ideengebäude die ganze Welt beherrscht. Bei all den Erfolgen ist jedoch nicht zu übersehen, dass die Naturwissenschaft auch heute noch den ideologischen Ballast ihrer europäischen Vergangenheit mit sich herumschleppt.

Wissenschaft und Technik sind aufgrund der unübersehbaren materiellen Vorteile, die sie mit sich bringen, fast überall willkommen, und die materialistische Philosophie ist fester Bestandteil des Pauschalvertrags. Dabei können religiöse Überzeugungen und eine wissenschaftliche Laufbahn die erstaunlichsten Verbindungen eingehen. Ein indischer Wissenschaftler schrieb 2009 in der Zeitschrift Nature:

[In Indien] ist Naturwissenschaft weder die einzig wahre Form der Erkenntnis noch allzu sehr durch Skepsis behindert … Ich habe in meinen dreißig Jahren als Forscher beobachten können, dass die meisten indischen Wissenschaftler ganz offen die Götter und Göttinnen anrufen und um Mithilfe beim Erfolg in beruflichen Angelegenheiten ersuchen, wenn es etwa darum geht, eine wissenschaftliche Arbeit zu veröffentlichen oder Anerkennung zu finden.[39]

Überall auf der Welt ist den Wissenschaftlern bekannt, dass die Lehren des Materialismus während der Arbeitszeit die Regel sind, an die man sich zu halten hat. Nicht viele Wissenschaftler sprechen sich offen dagegen aus – oder frühestens, wenn sie sich aus dem Berufsleben zurückziehen oder den Nobelpreis gewonnen haben. Und die meisten gebildeten Menschen beugen sich in der Öffentlichkeit der Meinungsmacht der Naturwissenschaft und bekennen sich zum orthodoxen Glauben, auch wenn sie privat anders denken.

Natürlich gibt es Wissenschaftler und Intellektuelle, die aus tiefster Überzeugung Atheisten sind und bei denen der Materialismus den Kern ihres Glaubens ausmacht. Einige wenige von ihnen werden Missionare und sind voller Bekehrungseifer. Sie sehen sich als so etwas wie Kreuzritter, die für Wissenschaft und Vernunft gegen die Kräfte des Aberglaubens, der Religion und der Leichtgläubigkeit zu Felde ziehen. Etliche Bücher, die eine frontale Opposition dieser Art propagieren, wurden in den letzten Jahren zu Bestsellern, zum Beispiel Das Ende des Glaubens: Religion, Terror und das Licht der Vernunft von Sam Harris, Den Bann brechen: Religion als natürliches Phänomen von Daniel Dennett, Der Herr ist kein Hirte: wie Religion die Welt vergiftet von Christopher Hitchens und Der Gotteswahn von Richard Dawkins. Letzteres, 2006 erschienen, wurde allein in der englischen Originalausgabe bis 2010 zwei Millionen Mal verkauft und in vierunddreißig Sprachen übersetzt.[40] Dawkins war Professor of the Public Understanding of Science an der Oxford University, bis er diese Position 2008 aus Altersgründen aufgab.

Doch nur wenige Atheisten glauben ausschließlich an den Materialismus. Die meisten sind außerdem Humanisten, bei denen der Glaube an die Menschheit die Stelle des Glaubens an Gott eingenommen hat. Die Menschen nähern sich durch die Naturwissenschaft einer gottähnlichen Allwissenheit an. Gott hat keinen Einfluss auf den Lauf der Menschheitsgeschichte. Vielmehr haben die Menschen das Heft selbst in die Hand genommen und erwirken den Fortschritt selbst – durch Vernunft, Wissenschaft, Technik, Bildung und gesellschaftliche Reformen.

Die mechanistische Naturwissenschaft gibt keinen Anlass zu der Vermutung, das Leben habe einen Sinn, die menschliche Existenz einen Zweck und der Fortschritt etwas Zwangsläufiges. Stattdessen erklärt sie das Universum und das menschliche Dasein ausdrücklich für sinnlos. Ein konsequenter Atheismus ohne humanistischen Glauben malt ein trostloses Bild und gibt wenig Anlass zu Hoffnungen, wie Bertrand Russell so eindringlich klargemacht hat. Doch der weltliche Humanismus entstand in einer jüdisch-christlichen Kultur und übernahm vom Christentum den Glauben an die unvergleichliche Wichtigkeit menschlichen Lebens zusammen mit dem Glauben an ein künftiges Heil. Weltlicher Humanismus ist in gewisser Weise ein umgedeutetes Christentum, in dem der Mensch den Platz Gottes einnimmt.[41]

Der weltliche Humanismus macht den Atheismus etwas gefälliger, weil er neben beweisbaren Fakten noch einen tröstlichen Fortschrittsglauben zulässt. Erlösung kommt nicht mehr aus der Hand Gottes, sondern die Menschen sorgen mit Naturwissenschaft, Vernunft und gesellschaftlichen Reformen selbst für ihr Heil.[42]

Alle Materialisten, ob sie den Glauben an menschlichen Fortschritt teilen oder nicht, nehmen an, die Wissenschaft werde ihre Überzeugungen irgendwann als wahr beweisen können. Auch das ist freilich reine Glaubenssache.

Dogmen, Glaubenssätze und die Freiheit des Forschens

Bestehende Glaubenssätze zu hinterfragen ist nicht unwissenschaftlich, sondern gehört eigentlich zum Wesen der Wissenschaft. Was Wissenschaft schöpferisch macht, ist der Geist des aufgeschlossenen Forschens. Gelungene Wissenschaft ist ein Prozess, nicht eine Position oder ein System von Gewissheiten. Auf Neuland kann Wissenschaft nur vorstoßen, wenn sich die Wissenschaftler ungebunden genug fühlen, um neue Fragen zu stellen und neue Theorien zu entwerfen.

In seinem wegweisenden Buch Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (englische Originalausgabe 1962) zeigte der Wissenschaftshistoriker Thomas Kuhn auf, dass sich die meisten Wissenschaftler in Zeiten »normaler« Wissenschaft zu einem gemeinsamen Wirklichkeitsmodell bekennen, das er »Paradigma« nannte und das auch bestimmt, wie Fragen zu stellen sind. Das jeweils herrschende Paradigma gibt also vor, was für Fragen erlaubt und wie sie zu beantworten sind. Normale Wissenschaft spielt sich in diesem Rahmen ab, und was sich hier nicht einfügt, wird in der Regel wegerklärt. Natürlich sammeln sich dann Anomalien an, und schließlich wird ein Krisenpunkt erreicht. Zu revolutionären Veränderungen kommt es, wenn die Forscher den Rahmen ihres Denkens und ihrer Praxis so ausweiten, dass er auch die Fakten integrieren kann, die bis dahin als Anomalien unberücksichtigt blieben. Irgendwann wird dann auch das neue Paradigma die Basis für eine neue Phase der normalen Wissenschaft.[43]

Kuhn trug dazu bei, den sozialen Aspekt der Wissenschaft ins Blickfeld zu rücken, und rief uns in Erinnerung, dass Wissenschaft ein kollektives Unterfangen ist. Wissenschaftler unterliegen den üblichen Zwängen menschlichen Zusammenlebens, nicht zuletzt dem Gruppendruck, der vom Kollegium ausgeht, sowie dem Zwang, mit den Normen dieser Gruppe konform zu gehen. Kuhns Gedankengang beruhte weitgehend auf der Wissenschaftsgeschichte, aber die Wissenschaftssoziologen haben seine Gedanken aufgegriffen und vertieft. Sie sahen sich an, wie Wissenschaft tatsächlich praktiziert wird, wie die Wissenschaftler stützende Netzwerke aufbauen, wie sie Mittel und Resultate nutzen, um Macht und Einfluss zu gewinnen, und wie sie um Forschungsmittel, Prestige und Anerkennung konkurrierten.

Bruno Latours Science in Action: How to Follow Scientists and Engineers Through Society (1987) ist eine der einflussreichsten Studien in dieser Tradition. Latour fiel auf, dass Wissenschaftler ganz selbstverständlich zwischen Wissen und Glauben unterscheiden. Innerhalb ihres Fachgebiets kennen sie sich mit den Gegenständen aus, die ihre Disziplin abdeckt, während alle außerhalb dieses Netzwerks nur glauben, sie wüssten. Und wenn Wissenschaftler einen Blick auf Menschen außerhalb ihrer Gruppe werfen, fragen sie sich oft ratlos, wie es da so irrational zugehen kann:

Wissenschaftler haben ein ziemlich düsteres Bild von Nicht-Wissenschaftlern: Ein paar Köpfe finden heraus, was es mit der Realität wirklich auf sich hat, während alle übrigen nur wirre Vorstellungen haben oder sich einfach nicht von gesellschaftlichen, kulturellen und psychologischen Vorgaben lösen können und deshalb starr an alten Vorurteilen festhalten. Einen Lichtblick gewährt allein die Vorstellung, dass alle Menschen, könnte man nur die Dinge aus dem Weg räumen, die sie zu Gefangenen ihrer Vorurteile machen, augenblicklich und ohne Aufwand so grundvernünftig werden würden wie die Wissenschaftler. Sie würden ohne Weiteres erfassen, was es mit den Phänomenen der Welt auf sich hat. In jedem von uns steckt ein Wissenschaftler, der schläft und nur aufwachen kann, wenn alle gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen aus dem Weg geräumt sind.[44]

Für alle, die an das »wissenschaftliche Weltbild« glauben, kommt es nur darauf an, der Öffentlichkeit durch Bildung und die Medien zu mehr wissenschaftlichem Durchblick zu verhelfen.

Seit dem neunzehnten Jahrhundert wird der Materialismus mit wirklich durchschlagendem Erfolg propagiert. Millionen von Menschen sind zu diesem »wissenschaftlichen« Weltbild bekehrt worden, auch wenn sie von Wissenschaft eigentlich wenig Ahnung haben. Sie sind gleichsam Gläubige der Kirche der Wissenschaft – des Szientismus –, und die Wissenschaftler stellen darin die Priester. Der prominente Atheist Ricky Gervais äußerte sich zu dieser Haltung 2010 im Wall Street Journal. Es war das Jahr, in dem das Magazin Time ihn auf die Liste der einhundert einflussreichsten Persönlichkeiten der Welt setzte. Gervais ist Entertainer, nicht Wissenschaftler oder origineller Denker. Er leiht sich aber die Autorität der Wissenschaft zur Untermauerung seines Atheismus aus:

Wissenschaft sucht die Wahrheit. Sie zieht nichts vor. Koste es, was es wolle, sie kommt den Dingen auf die Spur. Wissenschaft ist bescheiden. Sie weiß, was sie weiß, und sie weiß, was sie nicht weiß. Sie leitet ihre Schlussfolgerungen und Überzeugungen von harten Beweisen ab. Sie sorgt dafür, dass die Beweise ständig aktualisiert werden, und überarbeitet gegebenenfalls ihre Schlussfolgerungen. Es wirft sie nicht aus der Bahn, wenn neue Fakten auftauchen. Sie macht sich den gesamten Wissensschatz zu eigen. Sie klammert sich nicht an mittelalterliche Praktiken, nur weil sie Tradition sind.[45]

Das ist vor dem Hintergrund der Geschichte und Soziologie der Wissenschaft ein hoffnungslos naives Bild. Wissenschaftler sind darin als aufgeschlossene Wahrheitssucher dargestellt – nichts davon, dass sie um Etats und Prestige rangeln, dem Druck ihrer Kollegen ausgesetzt sind, Vorurteilen und Tabus unterliegen. Doch so naiv es sein mag, ich möchte dieses Ideal des freien Forschens ernst nehmen. Dieses Buch ist ein Experiment, bei dem ich diese Ideale auf die Wissenschaft selbst anwenden möchte. Ich möchte Annahmen in Fragen verkehren und so herausfinden, was die Wissenschaft wirklich weiß und nicht weiß. Ich möchte die zehn Kernanschauungen des Materialismus im Licht harter Beweise und neuer Entdeckungen betrachten. Und ich unterstelle, dass es echte Wissenschaftler nicht aus der Bahn werfen wird, wenn neue Fakten auftauchen; dass sie nicht am materialistischen Weltbild festhalten werden, nur weil es Tradition hat.

Ich tue es, weil der Geist des Forschens die Wissenschaft immer wieder von unnötigen inneren oder äußeren Beschränkungen befreit hat. Ich bin überzeugt, dass die Naturwissenschaften bei all ihren Erfolgen von überholten Glaubenssätzen behindert werden.

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1 Ist die Natur mechanisch?

Nicht-Naturwissenschaftler können sich oft nur über die Versicherung vieler Naturwissenschaftler wundern, Tiere und Pflanzen seien Maschinen und auch Menschen eigentlich Roboter, von computerähnlichen Gehirnen mit genetisch programmierter Software gesteuert. Irgendwie scheint die Annahme näherzuliegen, dass wir lebende Organismen sind und die Pflanzen und Tiere auch. Organismen regulieren sich selbst. Sie finden selbst ihre Form, sie erhalten sich selbst, sie haben ihre eigenen Bestrebungen und Ziele. Maschinen werden dagegen von einem externen Bewusstsein erdacht, ein Maschinenbauer setzt ihre Teile zusammen, sie haben keine eigenen Absichten und Ziele.

Die moderne Naturwissenschaft begann mit der Ablehnung dieser älteren organischen Sicht des Universums. Von da an stand die Maschinenmetapher im Zentrum des naturwissenschaftlichen Denkens, und das hatte weitreichende Folgen. Einerseits hatte es etwas ungemein Befreiendes. Ein ganz neues Denken wurde möglich, das zur Erfindung von Maschinen anregte und die Entwicklung der Technik in Gang setzte. In diesem Kapitel möchte ich die Geschichte dieses Denkens nachzeichnen und aufzeigen, was passiert, wenn wir es infrage stellen.

Vor dem siebzehnten Jahrhundert verstand es sich für die allermeisten Menschen von selbst, dass die Erde wie auch das gesamte Universum so etwas wie ein Organismus ist. Im europäischen Mittelalter und der Renaissance war die Natur etwas Lebendiges. Es wurde auch in klaren Worten ausgesprochen, zum Beispiel von Leonardo da Vinci (1452 – 1519): »Wir können sagen, die Erde habe eine vegetative Seele, das Land sei ihr Fleisch, das Gestein ihre Knochen … Ebbe und Flut der Meere sind ihr Atem und Puls.«[46] Auch William Gilbert (1540 – 1603), ein wegbereitender Forscher auf dem Gebiet des Magnetismus, vertrat eine organische Naturphilosophie: »Wir erachten das gesamte Universum als belebt und alle Sphären, alle Sterne, ja auch die edle Erde als von Urbeginn an von der ihnen bestimmten Seele geleitet und mit dem Antrieb der Selbsterhaltung ausgestattet.«[47]

Nikolaus Kopernikus, der in seiner 1543 veröffentlichten revolutionären Theorie der Himmelsbewegungen die Sonne anstelle der Erde ins Zentrum rückte, war ebenfalls kein Mechanist. Seine Gründe für diese Änderung waren ebenso mystischer wie wissenschaftlicher Natur. Er fand, die zentrale Stellung sei der Sonne würdig:

In der Mitte aber von Allen steht die Sonne. Denn wer möchte in diesem schönsten Tempel diese Leuchte an einen andern oder bessern Ort setzen, als von wo aus sie das Ganze zugleich erleuchten kann? Wenn anders nicht unpassend Einige sie die Leuchte der Welt, Andere die Seele, noch Andere den Regierer nennen. Trismegistos nennt sie den sichtbaren Gott, Electra des Sophocles den Alles Sehenden. So lenkt in der That die Sonne, auf dem königlichen Throne sitzend, die sie umkreisende Familie der Gestirne.[48]

Die kopernikanische Wende in der Kosmologie war ein machtvoller Impuls für die weitere Entwicklung der Physik. Als noch viel radikaler erwies sich jedoch die mit dem siebzehnten Jahrhundert einsetzende Wende zu einem mechanistischen Naturverständnis.

Es hatte schon in den Jahrhunderten davor mechanische Modelle mancher Naturphänomene gegeben. So finden wir in der Wells Cathedral im westlichen England eine vor über sechshundert Jahren installierte astronomische Uhr, die heute noch funktioniert. Die Uhr zeigt vor einem Sternenhintergrund Sonne und Mond auf Bahnen um die Erde. Die Bewegung der Sonne zeigt den Tageslauf an und der innere Kreis den Mond auf seiner einmonatigen Umlaufbahn. Zum Vergnügen der Besucher tauchen jede Viertelstunde zwei Turnierritter auf und hetzen hintereinanderher, und dazu schlägt ein dritter Mann mit den Fersen Glocken an.

Astronomische Uhren gab es zuerst in China und im arabischen Kulturkreis, wo sie mit Wasserkraft angetrieben wurden. Um 1300 begann auch in Europa der Bau von Uhren, aber hier wurde eine andere Mechanik gewählt, die mit Gewichten und Hemmungen arbeitete. Bei diesen frühen Uhren war noch vorausgesetzt, dass die Erde der Mittelpunkt des Universums ist. Sie taten ihren nützlichen Dienst, indem sie die Tageszeit und die Mondphasen anzeigten, doch das veranlasste niemanden zu glauben, die Welt funktioniere wie ein Uhrwerk.

Um 1600 aber setzte jener Wandel vom organischen zum mechanistischen Bild des Universums ein, der noch heute unser Wissenschaftsverständnis bestimmt: Mechanische Weltmodelle galten von nun an als Abbilder der tatsächlichen Funktionsweise der Welt. Unpersönliche mechanische Prinzipien und nicht wie früher Seelen und Geister von eigener Lebendigkeit und Intention regierten von da an die Bewegungen der Sterne und Planeten.

Johannes Kepler formulierte sein Vorhaben 1605 folgendermaßen: »Mein Ziel ist es zu zeigen, dass die himmlische Maschine nicht eine Art göttlichen Lebewesens ist, sondern gleichsam ein Uhrwerk … Und zwar zeige ich auch, wie diese physikalische Vorstellung rechnerisch und geometrisch darzustellen ist.«[49] Auch Galileo Galilei (1564 – 1642) befand, alles sei von »unerbittlichen, unwandelbaren« mathematischen Gesetzen regiert.

Was den Vergleich mit einem Uhrwerk so besonders überzeugend machte, war der Umstand, dass Uhren etwas in sich Geschlossenes haben und weder als Zug- noch als Schubgerät für anderes fungieren. Auch das Universum funktioniert gemäß der Regelhaftigkeit seiner Bewegungen und ist damit der Zeitmesser schlechthin. Und das Uhrwerk war noch von weiterem metaphorischem Nutzen, es führte das Prinzip des Erkennens durch Tun sinnfällig vor Augen: Wer eine Maschine zu konstruieren vermochte, würde es auch wieder tun können. Mechanisches Wissen war Macht.

Die mechanistische Naturwissenschaft verdankt ihre Geltung nicht in erster Linie ihrem philosophischen Unterbau, sondern ihren praktischen Erfolgen, zumal in der Physik. Mathematische Modelle müssen im Allgemeinen sehr weitgehend abstrahieren und vereinfachen, und das gelingt am besten bei Dingen oder Apparaten, die der Mensch selbst gemacht hat. Mathematik ist in der Mechanik außerordentlich nützlich, wenn es um relativ einfache Probleme wie die Berechnung der Flugbahnen von Kanonenkugeln oder Raketen geht.

Ein sprechendes Beispiel ist die Billardkugelphysik, die Karambolagen und Aufprallenergien sehr gut berechnen kann, aber nur mit idealen Billardkugeln in einer reibungsfreien Umgebung. Die Mathematik lässt sich vereinfachen, wenn man die Umstände des Spiels selbst stark vereinfacht: Die Kugeln sind von idealer Rundung, der Tisch ist perfekt eben, die Gummibande ringsum ist überall vollkommen gleichförmig – kurz, ein Arrangement, wie es unter natürlichen Bedingungen nicht vorkommt. Denken Sie sich zum Vergleich einen Steinbrocken, der einen Bergabhang hinunterpoltert. In der wirklichen Welt stellen die Kollisionen und Richtungswechsel der Billardkugeln außerdem einen Spielverlauf dar, nur liegen die Regeln des Spiels und die Intentionen der Spieler schon außerhalb dessen, was die Physik erfassen kann. Das mathematische Modell des Verhaltens von Billardkugeln ist folglich eine extreme Abstraktion.