Die Wiener Moderne und die russische Literatur -  - E-Book

Die Wiener Moderne und die russische Literatur E-Book

0,0

Beschreibung

Das Buch analysiert die literarischen Wechselbeziehungen zwischen Österreich und Russland um die Jahrhundertwende, die im Gegensatz zu den Konstellationen der klassischen Moderne im jeweiligen Nationalbereich am wenigsten erforscht sind. Die russische Moderne wird in der Forschung immer noch zu sehr als nationale Sonderentwicklung und zu wenig im internationalen Vergleich betrachtet. Gerade dieser Vergleich vermag indessen zu zeigen, wie sehr sie einem nie da gewesenen Austausch zwischen Zentrum und Peripherie verdankt, indem sie die europäische, darunter in zunehmendem Maße die österreichische Moderne als wichtiges Anregungspotenzial rezipiert. Auch für Österreich trat die russische Literatur seit Ende des 19. Jahrhunderts öfters als gebender Teil mit eigener Stimme im Konzert der europäischen Kulturen auf. Nach dem neuesten Stand der Forschung zur Germanistik, Slawistik und Komparatistik sind russisch-österreichische Literaturbeziehungen als wesentlicher, aber vernachlässigter Bereich der gemeinsamen Kultur Europas im komparatistischen Maßstab zu analysieren.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 278

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Aleksej Žerebin

Die Wiener Moderne und die russische Literatur

Aus dem Russischen ins Deutsche

übersetzt von Karin Witte

Für Trixi Schiferer

© 2014

Praesens Verlag, Wien

www.praesens.at

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Abhängig vom verwendeten ebook-Reader kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-7069-3000-0

ISBN Print 978-3-7069-0382-0

Vorwort

 

 

Die österreichische Literatur und Philosophie Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts soll im Buch A. I. Žerebins als eigenständige nationale Variante der gemeineuropäischen Moderne dargestellt werden, die sich an der Schnittstelle westlicher und russischer Einflüsse herausbildete. Das Hauptaugenmerk des Autors liegt dabei auf der Genese des ästhetischen Konzepts und den ersten großen Verdiensten der Vertreter der Wiener Schule, den Schriftstellern, die dem literarischen Kreis „Jung-Wiens“ angehörten (H. Bahr, A. Schitzler, H. von Hofmannsthal, P. Altenberg), und einiger ihrer Zeitgenossen. A. I. Žerebin sucht hierbei in seinem Analysevorgehen völlig neue Wege zu beschreiten, da er die Werke der österreichischen Autoren im intertextuellen Raum eines russisch-österreichischen Dialogs betrachtet. Dabei stützt er sich hauptsächlich auf die Rezeptions- und Interpretationsmodelle des russischen Symbolismus.

 

Zu danken hat der Autor der Österreich- Kooperation, dem leider bereits verstorbenen Herrn Dr. Bernhard Stillfried (Wissenschaftsministerium in Wien), der dieses Projekt sehr unterstützte, sowie den Herren Dr. Michael Dipplreiter (Österreichischer Austauschdienst), Raoul Blahacek (Literaturreferent der Stadt Wien), Prof. Dr. Christian Ehalt (Abteilung Wissenschaftsförderung der Stadt Wien) und schließlich Frau Marianne Gruber von der Österreichischen Gesellschaft für Literatur.

Einleitung

 

 

In den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts hat die Wissenschaft die Kultur Österreichs, die sich an der Schnittstelle von West und Ost herausbildete, als einzigartigen internationalen Kulturraum verstärkter semiotischer Aktivität neu entdeckt, in dem sich die ästhetische Revolution der Moderne und Avantgarde anbahnte und auch ihre ersten eindrücklichen Ergebnisse zeitigte.1 Das dem Leser vorliegende Buch möchte einen weiteren Beitrag zu den Erkenntnissen in diesem Bereich beitragen.

„Jung-Wien“ (auch „Das Junge Österreich“) nannte sich eine Gruppe österreichischer Poeten, Prosaschriftsteller und Journalisten, die die literarische Bühne zu Beginn der 90er-Jahre des 19. Jahrhunderts mit ihrem Programm der „Überwindung des Naturalismus“ betraten. In der deutschsprachigen Literatur stellte gerade das Schaffen dieser Wiener Schriftsteller den Übergang vom Realismus des 19. Jahrhunderts zur Moderne als neuer literarischer Strömung der Epoche dar, die im Frühstadium ihrer Entwicklung gemeinsam mit nicht eindeutig von einander zu trennenden postnaturalistischen Strömungen (Impressionismus, Ästhetizismus, Neuromantik, Symbolismus u.a.) auftrat.

Die deutsche Literaturwissenschaft verfasste zum Dichterkreis „Jung-Wien“ nicht weniger Literatur als die russische Russistik zum Thema des russischen Symbolismus. Das Schaffen eines jeden Schriftstellers „Jung-Wiens“ ist so gründlich und ausführlich erforscht wie die übergreifenden Ideenkonzepte des Literatenkreises im Ganzen.2In diesem Zusammenhang ist der Versuch, einen neuen Interpretationsansatz zu finden, ohne über die Grenzen der nationalen österreichischen Literatur der Moderne hinauszugehen, schwer realisierbar. Man kann allerdings den Weg des historischen Vergleichs wählen und das Werk der Jungwiener Literaten von dem Hintergrund des russisch-österreichischen kulturellen Dialogs analysieren und somit einen typologischen Ansatz wählen.

Ein solcher Zugang wird durch eine Reihe von Charakteristika gerechtfertigt, die zeigen, dass die klassische Moderne in Russland und Österreich in gewissen Stadien isomorphe Züge aufweist. Zu diesen gemeinsamen Charakteristika gehören die Intensität des apokalyptischen Bewusstseins, das durch die Ähnlichkeit der Geschicke des russischen Zarenreiches und der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn bedingt ist, sowie die Kritik am „westlichen“ Rationalismus und das Streben nach einem ontologischen Realismus, das in Russland in der Tradition der russisch-orthodoxen Kirche verwurzelt ist, in Österreich hingegen in der katholischen Barocktradition. Außerdem ist der programmatische Universalismus als Charakteristikum zu nennen, der sagt, dass die Literatur der „Resonanzraum“3der gesamten ererbten Kultur sei.

Fälle, in denen die Schriftsteller „Jung-Wiens“ das ein oder andere Werk der russischen Literatur als direkte Quelle verwendeten, sind selten und nicht eindeutig aufzuzeigen. Das bedeutet allerdings nicht, dass das Schaffen Puškins und Gogols, Tolstojs und Dostoevskijs, Turgenevs und Čechovs unbemerkt an ihnen vorüberging. „Einfluss“, schieb Ejchenbaum, „ist eine Variante eines umfassenderen und komplizierteren Phänomens. Die Literatur einer Epoche ist nicht eine Ansammlung von einzelnen, isolierten oder nur teilweise zusammenhängenden Werken, sondern in gewisser Weise eine komplexe Wechselbeziehung, ein historischer Kontext.“4Daraus folgt, dass sich die Texte der russischen und österreichischen Autoren unabhängig von deren Absichten „treffen“ und als Gegenstand einer „Kontextanalyse“ dienen können, die das übergreifende System künstlerischen Denkens rekonstruiert.

Obwohl der Autor kein Fachmann für die russischen Literatur ist, verwendet er deren Konzepte bewusst als Grundlage für die Analyse der österreichischen Texte und verwendet sie als Schlüssel zu deren Erschließung. Das Ziel dieser Vorgehensweise ist die Fundierung der These, die in der wissenschaftlichen Literatur zu diesem Thema zwar erwähnt, jedoch nicht mit aller Bestimmtheit formuliert wurde, nämlich dass die österreichische Moderne im Frühstadium ihrer Entwicklung sich als Kultur religiöser und metaphysischer Ausprägung herausbildete und präsentierte. Ihr Leitgedanke war die „Überwindung“ der historischen Wirklichkeit und ihr Haupanliegen, den außerhistorischen Mythos einer absoluten Realität zu etablieren.

Das Buch eröffnet mit einem allgemeinen Überblick über die österreichische Literatur der Jahrhundertwende. Der Autor legt dabei sein Hauptaugenmerk auf die Rolle des Dichterkreises „Jung-Wien“ und möchte so zeigen, dass das Jungwiener Programm zur „Überwindung des Naturalismus“ nicht in impressionistischer Vervollkommnung der Poesie vor dem Hintergrund der Dekadenz und metaphysischer Verzweiflung bestand, sondern im Erschaffen des antimimetischen Konzepts des poetischen Worts als Mittel magischer Wiedervereinigung der sinnlichen und übersinnlichen Welt im Sinnbild der wahrhaftigen Realität des absoluten Seins. Der Impressionismus und Ästhetizismus, mit denen man das Schaffen der Schriftsteller „Jung-Wiens“ gerne assoziiert, ist dabei für diese nur eine Zwischenstation auf dem Weg zum religiösen mythopoetischen Symbolismus, den man mit dem jüngeren Symbolismus der russischen Literatur vergleichen kann.

Die nachfolgenden Kapitel (Kap. 2 – Kap. 4) widmen sich der Textanalyse einzelner Werke der Jungwiener Dichter, die sodann mit Strömungen der russischen Literatur verglichen werden sollen. So ist das Buch Hermann Bahrs „Russische Reise“, in dem Bahr, der Ideologe und Begründer der Gruppe „Jung-Wien“, die wesentlichen Merkmale des „Petersburger Texts“ adaptiert, auch auf die Problematik der Wiener Moderne anwendbar. Eben jene Begegnung mit der russischen Kultur bestärkt Bahr in seiner Absicht, Berlin zu verlassen, das der Schauplatz seiner literarischen Tätigkeit vor der Russlandreise war, und nach Wien zurückzukehren, um sich der Gründung einer eigeständigen Wiener Schule zu widmen. Dergestalt sind außerdem die Novelle Arthur Schnitzlers „Die Frau des Weisen“, die eine typologische Ähnlichkeit mit der Erzählung Čechovs „Angst“ erkennen lässt, und die Skizzen Peter Altenbergs, die die psychologischen Motive und die Poetik des Čechov‘schen Realismus weiter ausgestalten und neu deuten. Dergestalt ist schließlich auch das „Märchen der 672. Nacht“ Hofmannsthals, die man in den semantischen Raum der miteinander eng verknüpften Texte der russischen und österreichischen Autoren über das Motiv des Gartens einordnen kann.

Methodologisch stützte sich der Autor hauptsächlich auf die Prinzipien der rezeptiven Ästhetik, die den Prozess der Sinnfindung aus dem Blickwinkel des Adressaten betrachtet und an die erste Stelle den Rezeptionskontextes als Medium für die Adaptierung der semantischen Inhalte setzt. Dieser Methodik folgend werden die Texte der österreichischen Schriftsteller in das semantische Feld der russischen Kultur integriert, deren Interpretationsmodelle sie wie die Schwingen eines Adlers umfangen. Daraus resultiert eine so bedeutsame interkulturelle Interferenz, dass man versucht ist, den Intertext der russisch-österreichischen Moderne als eine einheitliche (freilich fiktive) Metastruktur zu sehen, die von der Dynamik zweier miteinander in einem Dialog stehenden Subtexte, dem österreichischen und russischen getragen wird. So trägt die Analysemethode selbst zur Gestaltung des Gegenstandes bei. In diesem Sinne leistet der Autor einer grundsätzlichen Forderung der modernen Poetik Folge, in der das künstlerisch tätige Subjekt als Initiator eines kommunikativen Ereignisses auftritt, dessen Endziel in aktiver Interpretation liegt.

 

 

 

Anmerkungen

 

1 Besondere Rolle kam hierbei Carl E. Schorskes Buch „Fin-de-Siècle Vienna“ zu (New York 1980).

2 Literatur dazu findet sich bei: Dagmar Lorenz: Wiener Moderne. 2.Aufl. Stuttgart / Weimar 2007. S. 195-221.

3 Vladimir N. Toporov: O „resonantnom prostranstve“ literatury [Über den „Resonanzraum“ der Literatur]. In: Literary tradition and practice in Russian culture. Papers from an International Conference on the Occasion of the Seventieth Birthday of Yury Mikhailovich Lotman. Rodopi 1993. P. 16-21.

4 Boris M. Ejchenbaum: Tolstoj i Pol’ de Kok [Tolstoj und Paul de Kock ]. In: Zapadnyj sbornik. Moskva / Leningrad 1937. P. 293-294.

Kapitel 1

 

Ein Jahrhundert geht zu Ende

 

 

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts bricht in der österreichischen Literatur die Epoche der Moderne an, die große Leistungen in allen Bereichen kulturellen Schaffens zu verzeichnen hat. Besonders in jener Zeit beginnen die Österreicher sich des nationalen Eigenwerts ihrer Kultur und der Bedeutung, die jener im 20. Jahrhundert zukommen sollte, immer stärker bewusst zu werden.

In nur 30 Jahren, vom Ende der 80er-Jahre des 19. Jahrhunderts bis zu Beginn des Ersten Weltkrieges, durchmacht die österreichische Kultur eine schwierige, jedoch in sich organische Entwicklung: von der Ideologie des bourgeois-aristokratischen Liberalismus zu wahnwitzigen sozialpolitischen Utopien, von den spielerisch-melancholischen Walzern Johann Strauß‘ zur atonalen Musik Arnold Schönbergs, vom eklektischen Historismus und ornamentalen Jugendstil im Schaffen Otto Wagners und Gustav Klimts zum asketischen Funktionalismus Adolf Loos‘ und dem Pathos der visionären Kunst Egon Schieles, vom skeptischen Empiriokritizismus Ernst Machs zum mathematisch bewiesenen Mystizismus Ludwig Wittgensteins, von den ersten psychoanalytischen Versuchen Sigmund Freuds zu allgemeingültigen psychoanalytischen Schlussfolgerungen über das Phänomen Kultur, von den ästhetischen Scheinwelten des jungen Hofmannsthals zu den prophetischen Phantasien Franz Kafkas.

Die Literatur Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts zeichnet sich durch eine große Vielfalt ideologischer Strömungen und Kunstformen aus, die durch den Zerfall des traditionellen Weltbildes und der Suche nach einer neuen kulturellen Synthese entstehen. So schließt diese Epoche einerseits an den späten, bereits „überlebten“ Realismus der „Jahrhundertwende“ an, wie er sich in der eleganten sozial-psychologischen Prosa Marie von Ebner-Eschenbachs (1830-1916) und Ferdinand von Saars (1833-1906) präsentiert, andererseits an die naturalistisch gefärbten Bauernnovellen Peter Roseggers (1843-1918) und die Volksdramen Ludwig Anzengrubers (1839-1889) und Karl Schönherrs (1867-1943).

Der Naturalismus hatte in Österreich eine weniger fruchtbare Entwicklung als in Frankreich oder in Deutschland. Als die gesellschaftlichen Probleme jener Zeit zum Gegenstand literarischer Betrachtung in Österreich werden, setzt man sich damit anders als in jenen Ländern nicht so sehr in leidenschaftslos wissenschaftlicher-analytischer Form auseinander, als man auf direkte und emotionale Weise die Lüge und Heuchelei vorherrschender gesellschaftlicher Normen zu entlarven sucht. Dieser Art sind beispielsweise die politische Lyrik Rosa Mayreders (1852-1916) und besonders der berühmte Antikriegsroman Bertha von Suttners (1843-1914) „Die Waffen nieder!“ (1889). Dabei handelt es sich um Werke, die stark vom publizistischem Pathos des sozialen Mitgefühls und des Kampfes um soziale Gerechtigkeit getragen sind.

Die Vertreter des Realismus schreiben noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts, und ihr Schaffen wird auch weiterhin mit großem Interesse von einer breiten Öffentlichkeit verfolgt. Dabei kann man bereits in den Jahren 1908/1909 die Entstehung des Expressionismus ansetzten, der seine Blüte im Ersten Weltkrieg erlebte. Die wichtigsten Künstler des österreichischen Expressionismus waren Oskar Kokoschka (1886-1908) und Albert  Ehrenstein (1886-1950), Georg  Trakl (1887-1914)  und Franz  Werfel (1890-1945), Georg  Kulka (1897-1929) und Alfred  Kubin (1877-1959), Albert Paris von Gütersloh (1887-1973) und Oskar Marius Fontana (1889-1969). In ihrem Schaffen begreifen diese Expressionisten die Gegenwart als letztes apokalyptisches Stadium des Andersseins der Welt vor deren schrittweiser Umwandlung.

Der Wiener Expressionist Paul Hatvani (1892-1975) sagt, dass „der Expressionismus [...] die Welt bewusst [mache]“ und dass das menschliche Bewusstsein „im Expressionismus [...] die Welt [überflute]“ und von neuem die äußere Wirklichkeit erschaffe, weil es in ihr das „Reich des Geistes“ verkörpere.1 Schönberg, der nicht nur Musiker, sondern auch Autor der synkretistischen Dramen „Die glückliche Hand“ (1910) und „Jakobs Leiter“ (1917) war, verlangt vom Künstler, die Welt als unlösbares Rätsel abzubilden, da das Zugeständnis an ihre Unergründlichkeit in sich ein Vorgefühl jenes Sinnes, der außerhalb der Welt liege, berge. „Die Lösung des Rätsels des Lebens in Raum und Zeit liegt außerhalb von Raum und Zeit“,2 lautet ein Aphorismus Ludwig Wittgensteins, der als theoretische Grundlage für jenes subversive logische Paradoxon dient, das nicht notwendigerweise eine Verstümmelung der Sprache und der Vorstellungswelt nach sich zieht.

Ästhetische Anarchie, das Bestreben, starke Sensationen im sprachlichen Ausdruck zu vermitteln, und die Zerstörung der traditionellen Struktur der Kommunikation sind nur eine Möglichkeit, die Realität auszuschalten und zu deren transzendentem Sinn vorzudringen. Eine andere, nicht weniger radikale Möglichkeit zeigt Franz Kafka auf, bei dem sich die semantische Verschiebung durch Vereinigung unvereinbarer Elemente im Rahmen der formal richtigen logisch-syntaktischen Strukturen vollzieht. In der künstlerischen Welt der Werke Kafkas erscheint das Absurde als Norm, und die Norm entpuppt sich als absurd. Wie auch bei den Expressionisten ist im Werk Kafkas das Bewusstsein der Sinnlosigkeit und des unvermeidlichen Untergangs der sinnlich-materiellen Welt von der verzweifelten Hoffnung auf die Existenz einer absoluten Wahrheit außerhalb deren Grenzen getragen. Von dort kommen eine neue Erde und ein neuer Himmel auf die Menschheit, die sich bereits in undeutlichen Umrissen unter den Schichten einer zerfallenden Wirklichkeit abzeichnen. Dort strömt aus dem „Tor zum Gesetz“ das Licht der absoluten Wahrheit, die dem Menschen nicht zugänglich, jedoch einzig für ihn bestimmt ist.

Der Ansturm der Expressionisten auf die Grenzen des Irdischen geht jenen Weg der geistigen Befreiung, den bereits die naturalistische Kritik an der sozialen Wirklichkeit und das für den späten Realismus charakteristische undeutliche Gefühl der Unbeständigkeit und des Trugs der sinnlich-materiellen Welt ankündigten, zu Ende. Für die Moderne wurde das Schaffen der Schriftsteller und Poeten, die dem Dichterkreis „Jung-Wien“ angehörten, zum Angelpunkt und Bindeglied zwischen Realismus und Avantgarde. Diesem gehörten Arthur  Schnitzler (1862-1931), Hermann Bahr (1863-1934), Hugo von  Hofmannsthal (1874-1928), Leopold Freiherr von Andrian-Werburg (1875-1951), Richard von Beer-Hofmann (1866-1945) und Peter Altenberg [Richard Engländer] (1859-1919). In den ersten Jahren nach der Gründung „Jung-Wiens“ trafen diese sich im Café Griensteidl, das zu einer Art „Stabsquartier“ der neuen literarischen Strömung wurde. Hermann Bahr, der die Dichtervereinigung ins Leben rief, sah in „Jung-Wien“ ein Bollwerk der nationalen österreichischen Moderne,3 wie sie von ihm in der Sammlung literaturkritischer Essays „Die Überwindung des Naturalismus“ (1891) dargelegt wird.

Das ästhetische Konzept der Wiener Moderne entsteht als Reaktion auf die neuen Kunstströmungen, die in Deutschland, hauptsächlich in Berlin, entstehen. Im deutschsprachigen Kulturraum ist Berlin um 1880 ein allgemein anerkanntes Zentrum, in dem die Idee zur Erneuerung der deutschen Kultur im Zeichen des Naturalismus, der ersten von unzähligen Strömungen, die der Begriff der „Moderne“ umfasst, entsteht. Während man nun in Deutschland zu dieser Zeit die theoretische Grundlage des Naturalismus entwirft, ist man in Wien scheinbar noch untätig. Wien ist kulturelle Provinz, und die erste Ausgabe des von Bahr im Jahre 1890 gegründeten Journals „Moderne Dichtung“ zeigt deutlich, dass die Idee der Modernisierung der österreichischen Kultur anfänglich unzertrennlich mit der Rezeption der Werke der Berliner Schriftsteller verknüpft ist, die man als modern und nachahmenswert empfindet.

Die Idealisierung der von außen übernommenen naturalistischen Ästhetik verwandelt sich in Wien jedoch bald in Kritik. Man ist der Ansicht, dass die Idee der literarischen Revolution in Deutschland in unehrlicher, getrübter und verzerrter Weise umgesetzt worden sei und dass sie gerade in Wien, im Schoße der österreichischen Kultur, die jene Idee von Deutschland empfangen habe, ihre wahre Bedeutung erlangen solle. Diese Meinung vertreten Hermann Bahr und die anderen Mitglieder „Jung-Wiens“. Sie stellen den deutschen Naturalismus dem französischen gegenüber, ordnen somit Letzteren in den Kontext der europäischen Dekadenz ein und enden mit der Forderung nach der „Überwindung des Naturalismus“, die den Österreichern zu erfüllen obliege.

Den Naturalismus zu überwinden bedeutete in erster Linie das Augenmerk von der Außenwelt auf die Innenwelt zu verlegen, was die Naturalisten, besonders die deutschen nach Ansicht der Jungwiener Dichter verweigerten. Da sich dadurch der Gegenstand der Dichtung änderte, erfolgte auch ein prinzipieller Wandel der Ästhetik, in der man physische Empfindungen als magische Symbole zu verstehen begann und die Mimesis der sinnlich-materiellen Wirklichkeit den Platz dem neuem antimimetischen Ansatz der Abbildung von Bedeutungsinhalten überlassen sollte. „Die Ästhetik drehte sich um“, behauptete Bahr in den 90er-Jahren des 19. Jahrhunderts, „Die Natur des Künstlers sollte nicht länger ein Werkzeug der Wirklichkeit sein, um ihr Ebenbild zu vollbringen; sondern umgekehrt, die Wirklichkeit wurde jetzt wieder Stoff des Künstlers, um seine Natur zu verkünden, in deutlichen und wirksamen Symbolen“, weshalb der Künstler auch danach strebe, „das Geheime aufzusuchen, satt dem Augenschein zu folgen, und gerade dasjenige auszudrücken, worin wir uns anders fühlen und wissen als die Wirklichkeit.“4

Zum Schlüsselwort der Wiener Ästhetik wird die „Seele“. Dabei handelt es sich nicht um eine Metapher für eine psychische Tätigkeit, die von den Gesetzmäßigkeiten der sinnlich-gegenständlichen Welt gesteuert wird, sondern um die unaussprechliche Unendlichkeit und unvorhersehbare schöpferische Urgewalt, in der sich die Außenwelt selbst entweder als nichtige und sinnlose Illusion auflöst oder von Neuem als verwirklichter Traum des Künstlers ersteht. Man gelangt zur Überzeugung, dass die ontologische Realität der Seele, die man der trügerischen Wirklichkeit gegenüberstellt, nicht mit psychologischem Realismus dargestellt werden könne, der die Prozesse des Seelenlebens gewissermaßen von außen beschreibe, wie sie sich in der sinnlich-materiellen Welt manifestierten. Es sei eine „neue Psychologie“ nötig, die die Innenwelt der Persönlichkeit von innen erschließen könne, nämlich so, wie das Subjekt jener Prozesse selbst jene Seelenzustände erlebe, „jenseits des Verstandes und vor dem Gefühle“.5

In den Essays „Die Krisis des Naturalismus“ (1890) und „Die neue Psychologie“ (1891) ruft Bahr dazu auf, die „Psychologie der Gefühle“ durch die „Psychologie der Nerven“ zu ersetzen. Es ist interessant, dass er neben dem Ausdruck „Psychologie der Nerven“ auch noch die Begriffe „Mystik der Nerven“ und „Romantik der Nerven“ verwendet. Bahr lehnt die „Gefühle“ der realistischen Kunst deswegen ab, weil diese bereits vom Verstand „gefiltert“ worden seien und den Menschen von der Welt der Objekte, die er wahrnehme, abtrennten, da sie die logische Relation der Subjekt-Objekt-Beziehungen nach diesem ausrichteten. Die Aufgabe der neuen Psychologie bestehe nun darin, diese logische Relation aufzulösen, denn sie habe die ontologische Identität von Seele und Universum entdeckt. Bahr meint, dass Gefühle das nicht bewirken könnten, sondern ausschließlich Sensationen. „Die Psychologie wird aus dem Verstande in die Nerven verlegt – das ist der ganze Witz“, schreibt Bahr.6 Kunst, die wahrhaft über die Seele sprechen wolle, also „Seelenkunst“ sein wolle, müsse sich auf Sensationen konzentrieren und zu „Nervenkunst“ werden. Dabei müssten die Nerven beinahe schmerzhaft gereizt und so empfänglich sein, dass sich mystische Visionen einstellen könnten. Als bestes Beispiel für die Umsetzung dieses Programms dienen die besten Gedichte und die subjektive lyrische Prosa „Jung-Wiens“.

In den Jahren 1890/91 beginnt der „Wiener Stil“ markant an Bedeutung zu gewinnen. Es kommt, wie Bahr formuliert, zur „zweiten (postnaturalistischen – Anm. des Autors) Tendenz der Moderne“.7 Die Wiener Kultur geht vom Kurs ab, den sie unter Einfluss der provokanten Berliner Schriften nahm, und beginnt mit ungeheurer Produktivität eigne Werke hervorzubringen, die ihr bald im übergreifenden Raum der deutschen Moderne maßgebliche Bedeutung zukommen lassen sollten. Wien setzt sich gegen Berlin durch. Vor dem Hintergrund des kulturellen Erwachens von Wiens kommt es zu einer wesentlichen Umdeutung der Rolle Berlins als Initiator der Literatur der Moderne, auch schon bei den Zeitzeugen jenes polemischen Dialogs der beiden Städte. Schon damals vertritt man die Meinung, dass die Ästhetik des Berliner Naturalismus, auch wenn sie noch so sehr die Tradition mit viel Pathos verleugne, noch tief in der positivistischen Kultur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verwurzelt und im besten Fall ein Vorbote der ästhetischen Revolution, die sich im Zeitalter der Avantgarde und abstrakten Kunst vollzogen habe, sei. Und diese Meinung hat bis heute an Aktualität nichts eingebüßt.

 

***

 

Die Begriffe, mit denen sich die Wiener Moderne charakterisiert-„fin de siécle“, „décadence“, „Impressionismus“, „Symbolismus“-übernimmt Bahr aus Frankreich. Anders als die deutschen Naturalisten legen die Jungwiener Dichter ihre Gedanken zur Ästhetik nicht in pathetischen Manifesten nieder, sondern verwenden dazu das Genre der reflektierenden kritischen Prosa, in der das einfühlsame Portrait des ein oder anderen ausländischen Dichters auch ein Selbstbildnis seines Wiener Kritikers darstellt. Die Jungwiener literaturkritische Essayistik beschäftigt sich bevorzugt mit Schriftstellern wie Maurice Barrès, Paul Bourget, Joris Karl Huysmans und Maurice Maeterlinck. Von gleichem Interesse sind für sie Gabriele D‘Annunzio, Algernon Charles Swinburne, Walter Pater, Oscar Wilde, August Strindberg und Jens Peter Jacobsen. An russischen Schriftstellern lesen die Jungwiener mit großem Interesse Dostoevskij, Tolstoj und Čechov. Deren Einfluss, der zur Ästhetik des Naturalismus in krassem Widerspruch steht, spürt man nicht nur in der kritischen Prosa „Jung-Wiens“. Dass die Jungwiener für ausländische Einflüsse offen sind, bewirkt eine hohe Dialogizität ihrer Texte, die dadurch in einer starken intertextualen Beziehungen zu den kulturellen Strömungen der europäischen „Jahrhundertwende“ stehen.

Für die Gründung „Jung-Wiens“ war Henrik Ibsen von großer Bedeutung, den Naturalisten wie auch Symbolisten in gleicher Weise hoch schätzten, da sie in ihm einen Vorboten der künftigen „Revolution des menschlichen Geistes“ sahen. 1891 lud der Direktor des Wiener Burgtheaters Max Burckhard, ein Freund und Gönner Schnitzlers und Bahrs, Ibsen nach Wien zur Premiere des Stücks „Die Kronprätendenten“ ein. Den großen Erfolg des Stücks sah die literarische Jugend Wiens als symbolischen Akt, der eine neue Epoche der Nationalkultur einläutete. In einem persönlichem Gespräch mit Hofmannsthal sprach Ibsen seine Hoffnung aus, dass sich die junge Wiener Literatur konsolidieren werde, und man darf mit großer Gewissheit davon ausgehen, dass man jene Konsolidierung im Zeichen der Idee des „dritten Reiches“ zu Wege zu bringen gedachte, die Ibsen in jener Zeit als Schlüssel zur Auflösung der geistigen Krise sah, die Europa zu jener Zeit durchmachte. Ein Mitglied „Jung-Wiens“, Rudolf Lothar, sagte von Ibsen: „Er ist der Dichter unserer Sehnsucht nach einer neuen Zeit mit neuen Menschen. Das sind die Adelsmenschen des dritten Reiches [...].“8

Wenn Bahr später in seinen Memoiren schrieb, dass er „Jung-Wien“ von Ibsen übernahm, dann ist das keine Übertreibung. Der alte Traum vom „dritten Reich“, den Ibsen über die Saint-Simonisten kennenlernte, bildete die Grundlage der gesamten Ideenwelt der Moderne, an deren Ausgestaltung auch „Jung-Wien“ maßgeblich beteiligt war. Anstoß zur Entwicklung dieses Motivs gab das Aufeinanderprallen von „Geist“ und „Leben“, welches den Ausgangspunkt in Hermann Bahrs Essay „Die Moderne“ (1890), der ersten und einzigen Programmschrift „Jung-Wiens“, bildet. Obwohl Bahr diesen Essay eineinhalb Jahre vor der Begegnung mit Ibsen verfasste, bereitet dieser gleichsam jene Begegnung und auch das gesamte religiös-philosophische Konzept der Wiener Moderne vor.

Bahr beginnt seinen Essay nicht mit dem Begriff der Moderne selbst, sondern zeichnet ein allgemeines Epochengemälde, dessen Leitgedanke das Motiv der Apokalypse ist: „Es geht eine wilde Pein durch diese Zeit und der Schmerz ist nicht mehr erträglich. Der Schrei nach dem Heiland ist gemein und Gekreuzigte sind überall. Ist es das große Sterben, das über die Welt gekommen? Es kann sein, daß wir am Ende sind, am Tode der erschöpften Menschheit, und das sind nur die letzten Krämpfe. Es kann sein, daß wir am Anfange sind, an der Geburt einer neuen Menschheit, und das sind nur die Lawinen des Frühlings. Wir steigen ins Göttliche oder wir stürzen, stürzen in Nacht und Vernichtung – aber Bleiben ist keines. Daß aus dem Leide das Heil kommen wird und die Gnade aus der Verzweiflung, daß es tagen wird nach dieser entsetzlichen Finsternis und daß die Kunst einkehren wird bei den Menschen – an diese Auferstehung, glorreich und selig, das ist der Glaube der Moderne.“9 In weiterer Folge wird das Motiv der Apokalypse zum Leitmotiv der Kultur der Moderne. Es bildet ein Symbolinventar aus Archetypen, mit dessen Hilfe die Künstler der Zeit der Moderne in ihrem Werk das Bild der historischen Wirklichkeit zeichnen. Dieses Inventar war für die gesamte Moderne wichtig und gewann bei den Expressionisten sogar noch größere Bedeutung. Die Moderne versteht die Geschichte als Mythos vom Weltende und der Auferstehung zu einem künftigen absoluten Sein, das durch den Untergang der Gegenwart herbeigeführt wird.

Als Erklärung für das apokalyptische Prinzip dient im Essay Bahrs das philosophische Gleichnis des gescheiterten Bundes von Geist und Leben, das an die symbolischen Märchen der Romantik erinnert: Das ewig junge, ewig Veränderungen unterworfene Leben hat den Geist verlassen, und dieser, der längst alt geworden und in Regungslosigkeit erstarrt ist, hat sich in ein Phantom verwandelt, und sein Königreich in eine Scheinwelt der Lüge. Die Antithese von Geist und Leben, die Bahr hier erwähnt, geht auf Nietzsche und Ibsen zurück und bildet die Grundlage des gesamten philosophisch-literarischen Diskurses über die Krise der europäischen Kultur (T. Mann, G. Simmel, T. Lessing, O. Spengler). Besonders in dieser Antithese spiegelt sich die grundlegende Spaltung des Bewusstseins der Moderne mit ihrer Suche nach der unverfälschten, wahrhaftigen Realität wider, die unter den vielen Schichten der sichtbaren Welt verborgen und zur „konventionelle[n] Lüge der Kulturmenschheit“10 verkommen ist.

Der „Geist“ ist bei Bahr Bollwerk und Symbol für die überlebte rationalistische Kultur mit ihren wissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten, moralischen Ansprüchen und gesellschaftlichen Einrichtungen. Dadurch dass der Mensch deren Herrschaft anerkenne, habe er sich mit Phantomen umgeben, um sich herum die Wände des Ibsen‘schen „Puppenhauses“ errichtet, die sodann zu den Grenzen dessen eigenen „Ichs “ wurden. Die Wahrheit des lebendigen Lebens sei außen vor den Toren der eigenen Persönlichkeit geblieben, sperre sich in einer Scheinwelt aus heuchlerischen Konventionen ein, befinde sich in bequemer oder quälender Gefangenschaft der Kulturtradition. Für die Jungwiener Dichter stellt ein solches Gefängnis die von den Vätern übernommene Kultur des klassischen Liberalismus dar, die dadurch ihr Recht auf Leben und den Glauben an ihre Werte einbüßte.11

Den Grundgedanken des europäischen Liberalismus bildete der Glaube an die autonome Persönlichkeit des Menschen und dessen Supremat über die Wirklichkeit. Wenn Bahr nun auf die Krise des „Geistes“ verweist, dann bringt er damit das zentrale Thema der österreichischen Moderne zur Sprache, worin es um die Entfremdung und den Zerfall der menschlichen Persönlichkeit geht. Die wichtigsten Helden in den Werken der Jungwiener sind die „nervösen Menschen“ der Übergangszeit. Gefangene der sozialen Wirklichkeit sind sie und fühlen sich gleichzeitig auch als Sklaven ihrer Gefühlsempfindungen, ihres „Unbewussten“. Sie sind zwischen der Skylla einer repressiven Kultur und der Charybdis einer gesetzlosen, irrationalen Natur, der sinnlich-materiellen Urgewalt des Lebens, hin und her geworfen.Mit diesem Konzept der Persönlichkeit ist das in Bahrs Essay angedeutete und in der Literatur der Wiener Moderne breit ausgestaltete Sujet des Erotismus, besonders die Vorliebe für das Motiv der schicksalhaften Frau, der Femme fatale, verbunden. Sie steht für die grausame und gleichzeitig anziehende Unbarmherzigkeit des Lebens, die Erneuerung an der Schwelle zu Zerfall und Untergang verheißt. Zum ersten Mal ist dieses Motiv in Klimts Bildern „Judith“ und „Salome“ dargestellt, die ästhetisch umsetzen, was Johann Jakob Bachofen (1815-1875) über den künftigen Triumph des weiblichen Urprinzips und der dionysischen Empfindsamkeit über die apollinische männlich dominierte Zivilisation verkündete. Bei Hofmannsthal verkörpert die Heldin des antikisierenden Dramas „Elektra“ (1906) eine Spielart dieses Motivs, bei Schnitzler die Heldin des Renaissance-Dramas „Der Schleier der Beatrice“ (1899). Beinahe groteske Züge verleiht diesem der Übersetzer und Epigone Baudelaires Felix Dörmann [F. Biedermann] (1870-1928) in seiner Verherrlichung der „Madonna Lucia“ (Neurotica, 1891).

Die Krise des „Geistes“, über die Bahr in seinem Essay schreibt, sahen sowohl dieser als auch dessen Zeitgenossen aus der Perspektive der „Decadénce“. Ihren Anfang nahm die Décadence bei Paul Bourget und Nietzsche und spiegelte das Lebensgefühl wider, das sich für diese in der Desintegration und dem Zerfall des Ganzen, sei es nun in Kunstwerken, im philosophisch-ästhetischen Weltbild, im sozialen Gefüge oder der geistigen Welt des Individuums äußerte. In der deutschsprachigen Literatur der Jahrhundertwende sind gerade die Österreicher ein Paradebeispiel für jene Strömung, die ihre Werke vor dem Hintergrund des „des farbenreichen Untergangs“ (S. George) des Habsburgerreiches schufen.

Nach dem Österreichisch-Preußischen Krieg ist die Doppelmonarchie Österreich-Ungarn, die letzte Erbin des Heiligen Römischen Reiches, „ständig im Gefühl der unzureichenden Gründe der eigenen Existenz“ (R. Musil). „Das schöne Wien“ wird zu einem Symbol der Décadence. Deren goldene Jugend, die im Klima der „fröhlichen Apokalypse“ (H. Broch) der 70er- und 80er-Jahre des 19. Jahrhunderts herangewachsen war, findet das eigene Lebensgefühl in den berühmten Versen Verlaines wieder: „Ich bin das Kaiserreich an seiner letzten Wende [...]“

Die Dichter „Jung-Wiens“ schreiben nicht ohne bitteren Stolz von sich, dass sie die übersättigten Nachfolger eines sterbenden bedeutenden Kulturerbes seien. Sie sind Zeugen des Verfalls der bürgerlich-aristokratischen Kultur des europäischen Humanismus. Da deren Fundament zerbröckelt ist, zerfällt sie in eine nicht zu unterscheidende Vielzahl isolierter, beinahe phantomgleicher Artefakte, die der schwache Zauber verblühender Schönheit umgibt. „Man hat manchmal die Empfindung“, schreibt Hofmannsthal 1891, „als hätten unsere Väter [...] uns, den Spätgeborenen nur zwei Dinge hinterlassen: hübsche Möbel und überfeine Nerven. [...] Wir haben nichts als ein sentimentales Gedächtnis, einen gelähmten Willen und die unheimliche Gabe der Selbstverdoppelung.“12

Die intensive Selbstreflexion inmitten des schönen Interieurs der väterlichen Villen hatte allerdings weiterreichende Folgen als nur die fruchtlose Verzweiflung der Epigonen. Das Pathos der Décadence ist nicht nur vom Gefühl des Verlusts und Bedauerns ob des Verlorenen getragen. Das Weltgefühl der Wiener Décandence zeichnet eine grundsätzliche Ambivalenz aus. Deren „Spleen“ entsteht aus der Suche nach einem ungeahnten „Ideal“. Hinter der Todessehnsucht verbirgt sich das Verlangen nach Erneuerung. Sie bekennt sich zur Verehrung intensiver und ungewöhnlicher Empfindungen, zerstörerischer Leidenschaften und eines veränderten Bewusstseins und protestiert somit heftig gegen die „schale, öde Wirklichkeit“.13 Sie hegt damit auch die Hoffnung auf ein Vordringen in eine andere Realität, in den Bereich des „höheren Seins“. „Die abartenden Naturen sind überall da von höchster Bedeutung, wo ein Fortschritt erfolgen soll“,14 schreibt Nietzsche in seiner Schrift „Menschliches Allzumenschliches“, und die Dichter „Jung-Wiens“ verstehen ihr dekadentes Dasein eindeutig als ein Zeichen des Auserwähltseins, als ein Pfand für den Übergang zu einer höheren Stufe der Persönlichkeit und Kultur, die Hermann Bahr Moderne nennt.

Die Décadence stellt in der Geschichte der Moderne das Stadium der Selbstverneinung der zu Ende gehendenden und an ihrer eigenen reichen Vielfalt übersättigten traditionellen Kultur dar. Eine neue Epoche, so Bahr, beginne damit, dass der moderne Mensch aufhöre, dem vergreisten Geist zu dienen und eine Wiedervereinigung mit dem Leben herbeisehne: „Wir wollen wahr werden. Wir wollen gehorchen dem äußeren Gebote und der inneren Sehnsucht. [...] Wir wollen die Fenster weit öffnen, daß die Sonne zu uns komme, die blühende Sonne des jungen Mai. Wir wollen alle Sinne und Nerven aufthun, gierig, und lauschen und lauschen. Und mit Jubel und Ehrfurcht wollen wir das Licht grüßen, das zur Herrschaft einzieht in die ausgeräumten Hallen.“15Gefühl und Nerven sollten von neuem vereinen, was der Verstand geteilt habe, die Außen- und Innenwelt, Leben und Geist. „Wir wollen wallfahrten aus der engen, dumpfen Klause nach den hellen, weiten Höhen, wo die Vögel singen, Pilgrime der Sinne“, schreibt Bahr, „Ja, nur den Sinnen wollen wir uns vertrauen, was sie verkündigen und befehlen.“16

Was uns der Verstand als Wahrheit vorspiegle, sei, meint Bahr, bloß Trug, da die Wirklichkeit keine vorgefertigte und vollkommene Entität außerhalb des menschlichen Bewusstseins darstelle. Als die Wiener Moderne in ihren Anfängen war, herrschten in der Kunst einerseits der eklektische Stil des Historismus, der seine Vorbilder aus der Kunst der Vergangenheit, von der Gotik bis zu Barock und Klassizismus, nahm, und andererseits die Schule des Naturalismus, der sein empirisches Weltbild mit größtmöglicher Genauigkeit zu entwerfen suchte, vor. Deren gemeinsames und von Bahr abgelehntes Prinzip ist eine vorgefertigte Wirklichkeit und unwandelbare, allgemeingültige Wahrheit. Bahr entlarvt die objektive und unpersönliche Wahrheit des Verstandes und stellt dieser eine sensuelle und grundsätzlich subjektive gegenüber: „Wir haben kein anders Gesetz als die Wahrheit, wie jeder sie empfindet.“17

Daraus folgt, dass das Leben, das unabhängig von unserer Wahrnehmung existiert, genauso Fiktion ist wie auch die Welt der bösartigen Phantome, die der Intellekt, der „Geist“, hervorgebracht hat. Schon die Romantiker behaupteten, dass das Subjekt der Wahrnehmung die transzendentale Bedingung für die künstlerische Wahrheit sei. Damit ist jedoch nicht der Mensch aus der rationalistischen Kultur gemeint, sondern der gefährlichere und in seinem Verhalten unberechenbarere Homo phsychologicus, d.h. eine Persönlichkeit, deren Gefühle und Instinkte zeigen, wie kompliziert und widersprüchlich die Vorgänge ihrer Innenwelt sind. So hat das Leben für Bahr auch einen realen Sinn, da es sich in den Bereich unserer sinnlichen Erfahrung eingliedert und zu einem Textus wird, der aus unseren Gefühlen, Emotionen, Phantasien und Gedanken gewoben ist.

Die subjektive Wahrheit, die Bahr fordert, ist keine relative, sondern eine absolute Größe. Sie ist für ihn die gegenseitige Durchdringung von Geist und Leben. Der Geist, der die Verbindung zum Leben verloren hat, und das Leben, das vom Geist abgetrennt ist, sind Feinde und Konkurrenten, zwei unversöhnliche Illusionen. Jedoch ist der durch das Leben verjüngte Geist kein unfruchtbarer Logos mehr, der Scheingesetzte vorgibt, genauso wie das durch den Geist erleuchtete Leben keine bedrohliche und dem Menschen fremde irrationale Gewalt mehr darstellt. In der Vereinigung nehmen beide, da sie wesensgleich und identisch sind, ihre wahre Gestalt an. Beide, Leben und Geist, treten jetzt als Symbole der absoluten, wahrhaftigen Realität auf, in der die quälenden Widersprüche der rationalistischen Kultur überwunden werden. Deshalb wird auch im weiteren Verlauf der Moderne, am deutlichsten in der Avantgarde, der Kampf mit der vergegenständlichten, objektivierten Realität sowohl unter dem Banner des Lebens aus auch dem des Geistes geführt. Die Entwicklung jener Grundkonzepte der Moderne führt also von deren Gegenüberstellung zu deren Gleichsetzung, vom verstärkten Bewusstsein eines psychophysischen Dualismus zum Triumph des „dritten Reiches “.

Im Essay Bahrs ist jene Evolution noch nicht vorgezeichnet, jedoch angedeutet, wie auch auf die für die Moderne zentrale Idee der erlösenden, messianischen Rolle der Kunst und des Künstlers angespielt wird. Nach den Dichtern der Romantik schreibt Bahr als Erster der Kunst eine schöpfende Funktion zu. Die Wiedergeburt der Menschheit, an die die Künstler der Moderne glaubten, schreibt er, vollziehe sich erst, wenn „die Kunst einkehren wird bei den Menschen“ und der Mensch, nachdem er seine einzigartige persönliche Wahrheit gefunden habe, dadurch zum Künstler werde, der seine Seele der toten Materie des Lebens einhauchen könne.18 Damit tritt die Moderne in Wien von Anfang an in direkten Widerspruch zur naturalistischen Formel „Kunst-Natur-X“, in der X für die Subjektivität des Künstlers steht (A. Holz).