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Diese Ausführungen erwuchsen aus einer mehr als zweieinhalb Jahrzehnte währenden Auseinandersetzung mit der Anthroposophie. In dieser Zeit trat die Frage nach den Grundlagen bzw. den Voraussetzungen der Anthroposophie in zunehmendem Maße in den Vordergrund. Diese hat im Verlauf des mehrjährigen Entstehungsprozesses dieser Arbeit zu Perspektiven geführt, die in der sonstigen anthroposophischen Literatur nur unzureichend beachtet werden. Das hat den Entschluss reifen lassen, diese Arbeit einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
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Seitenzahl: 169
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Von unseren Ideen wird der künftige Kulturhistoriker eine neue Epoche des Denkens beginnen lassen müssen. (GA 30, S. 360)1
1 Rudolf Steiner Gesamtausgabe (Bibliographische Angaben zur GA siehe „Verwendete Literatur“).
Vorwort
Einführung: Eduard von Hartmann und
Die Philosophie der Freiheit
Kapitel I:
Die Stufen des Denkens und die höheren Arten des Erkennens
Zum Ausgangspunkt von Rudolf Steiners Erkenntnisbemühungen
Die Stufen des Denkens
Das lebendige Denken und das logischkombinierende Denken
Das qualitative Denken
Die erste Voraussetzung der
Philosophie der Freiheit:
Die Erkenntnis der Eigenwesenheit des Denkens
Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft
Die Stufen der höheren Erkenntnis
Die imaginative Erkenntnisart
Die inspirierte Erkenntnis
Die intuitive Erkenntnis
Kapitel II:
Das Erleben der Freiheit
Das Goethe-Karma Karl Julius Schröers und Rudolf Steiner
Karl Julius Schröer und der Platonismus
Rudolf Steiners Opposition zu Karl Julius Schröer
Die Natur und unsere Ideale
Karl Julius Schröer und das Griechentum
Die Idee der Freiheit
Die zweite Voraussetzung der
Philosophie der Freiheit:
Die Wirklichkeit der Freiheit
Die Stellung des Menschen in der Wirklichkeit
Kapitel III:
Das Werden einer Freiheitstat
Kapitel IV:
Friedrich Nietzsche
Kapitel V:
Die christologischen Grundlagen des Erkennens
Ausblick
Verwendete Literatur
Die folgenden Ausführungen entstanden aus einer mehr als zweieinhalb Jahrzehnte währenden Auseinandersetzung mit der Anthroposophie. Im Laufe dieser Zeit trat die Frage nach den Voraussetzungen der Anthroposophie in zunehmendem Maße in den Vordergrund.
Diese Frage führte zunächst zur Wichtigkeit der Anerkennung des Denkens als einer übersinnlichen Wesenheit.
Für die Anthroposophie ist mit dem Denken nicht nur eine Fähigkeit zur Abstraktion gegeben, sondern es ist als eine geistige Tatsache aufzufassen, die über das Subjekt des Menschen hinausweist und in die geistige Welt führt. In diesem Zusammenhang kommt der Erkenntnis der Ich-Wesenheit des Menschen eine besondere Bedeutung zu. Daraus ergibt sich der Weg, auf dem der Mensch seine Erkenntnisfähigkeit von einer lediglich seinem Subjekt anhängenden Fähigkeit zur objektiven „Weltangelegenheit“ zu verwandeln imstande ist.
Die andere Voraussetzung der Anthroposophie besteht in dem Erleben der Freiheit in ihrer Wirklichkeit. Es geht dabei nicht um schöne Worte oder gar um eine Theorie über das, was Freiheit sein soll, sondern es geht um den tatsächlichen Vollzug der Freiheit.
Diese beiden Voraussetzungen finden bereits in Rudolf Steiners sogenanntem erkenntnistheoretischem Frühwerke ihren Niederschlag.
Führt man den Weg des Denkens mit dem Freiheitsgeschehen zusammen, so ergibt sich der Weg des Werdens einer Freiheitstat. Das bedeutet konkret: Freiheit ist ohne den bewussten Weg in die höheren Welten nicht zu denken. Der Weg des Werdens einer Freiheitstat verwandelt sich auf diese Weise in einen Weg, der den Menschen von der Erkenntnis des Mikrokosmischen seines eigenen höheren Ich zur Erkenntnis des makrokosmischen Ich des Christus führt.
Allerdings liegt es in der Willensrichtung des gegenwärtigen Zeitalters, dem Menschen den Zugang zu einem solchen Weg mit allen Mitteln verbauen zu wollen: Das Ziel der Errungenschaften der Technik und des sozialen Lebens, auf die unsere Gegenwart mit so großem Stolz blickt, liegt aus dieser Perspektive darin, den Menschen gar nicht in die Verlegenheit kommen zu lassen, in sein eigenes Inneres zu blicken, was jedoch die unabdingbare Voraussetzung wäre, sich auf den Freiheitsweg zu begeben.
So scheint dem Menschen der Gegenwart bereits der Ausgangspunkt des Weges, um den es hier geht, wie mit Brettern vernagelt zu sein. Das Wichtigste, zu dem man den Menschen führen will, scheint in unseren Tagen die Zerstreuung seiner Bewusstseinskräfte zu sein. Er soll daran gehindert werden, zu sich selbst zu finden.
Wenn der Mensch seiner selbst – seines Ich – verlustig wird, setzt sich etwas anderes an dessen Stelle. Dabei handelt es sich um das gerade Gegenteil dieses Ich. Das Resultat davon kann in allerlei Gräueltaten und monströsen Ausformungen egoistischen Handelns beobachtet werden, von denen uns Zeitungen und Fernsehen tagtäglich berichten.
Was bei einer solchen Ent-Ichung passiert, kann urbildhaft an der Entwickelung Friedrich Nietzsches beobachtet werden, wie im Verlaufe der vorliegenden Arbeit zur Darstellung gebracht wird.
Zuletzt muss noch auf den wichtigsten Punkt der Anthroposophie Rudolf Steiners hingewesen werden. Und der ist mit dem Christus gegeben.
Dabei ist der Christus für Rudolf Steiner kein Thema, das für ihn gleichberechtigt neben anderen Themen, mit denen er sich auseinandersetzte (Medizin, biologisch-dynamische Landwirtschaft, Pädagogik etc.), stand. Vielmehr durchdringt der Christus alle anderen Themen und bildet das Zentrum der Anthroposophie. Aus dem Christus ergibt sich aber auch das Besondere der erkenntnistheoretischen Perspektive, die Rudolf Steiner in seinem Frühwerk einnimmt.
In diesem Sinne hat Rudolf Steiner im Vortrag vom 24.5.1912 (GA 155) seine Wahrheit und Wissenschaft mit dem Christusereignis zusammengestellt und auf diese Weise selbst auf die unmittelbare Beziehung seines erkenntnistheoretischen Werkes zum Zentralereignis der Weltentwickelung hingewiesen. Daraus ergibt sich eine grandiose Perspektive, aus der sich erst das Wesentliche des Erneuerungsimpulses der Anthroposophie erschließt. Darauf soll im letzten Kapitel der vorliegenden Ausführungen hingewiesen werden.
Diese Ausführungen wären ohne eine eingehende Beschäftigung mit dem Werk Sergej O. Prokofieffs nicht entstanden. Daher möchte ich an dieser Stelle insbesondere auf die beiden grundlegenden Bücher dieses Autors zur Philosophie der Freiheit hinweisen.2
2 Sergej O. Prokofieff, Anthroposophie und „Die Philosophie der Freiheit“: Anthroposophie und ihre Erkenntnismethode. Die christologische und kosmisch-menschheitliche Dimension der „Philosophie der Freiheit“. Dornach 2006; Der Hüter der Schwelle und „Die Philosophie der Freiheit“: Über die Beziehung der „Philosophie der Freiheit“ zu dem Fünften Evangelium. Dornach 2007.
Ein Denken, das sich von der Betrachtung rein physischer Gegenstände und Vorgänge unabhängig gemacht hat, kann man als reines Denken bezeichnen: Philosophische Betrachtungen, die sich mit dem Sinn von Welt und Leben befassen, können als Beispiel für ein solches Denken gelten. Rudolf Steiner weist auf eine ganze Reihe von Philosophen hin, die ihm im Sinne des Entfaltens eines solchen Denkens in seinen früheren Jahren als besonders wesentlich erschienen. So heißt es in Mein Lebensgang über Georg Friedrich Hegel:
Die Art, wie dieser Philosoph die Wirklichkeit des Gedankens darstellt, war mir nahegehend. Daß er nur zu einer Gedankenwelt, wenn auch zu einer lebendigen, vordringt, nicht zu einer Anschauung einer konkreten Geisteswelt, stieß mich zurück. Die Sicherheit, mit der man philosophiert, wenn man von Gedanke zu Gedanken fortschreitet, zog mich an. (GA 28, S. 63)
Damit weist Rudolf Steiner gleichzeitig auf das Problematische des von Gedanke zu Gedanken fortschreitenden reinen Denkens philosophischer Prägung hin. Denn dieses ist, da es nicht bis zur Anschauung der geistigen Welt vordringt, eben nur ein Denken in Begriffen und Ideen, und nicht mehr:
Hegel hat die Ideenwelt ebenso wenig wie Goethe als Wahrnehmung, als individuelles Dasein geschaut. Er hat aber gerade über die Ideenwelt seine Reflexionen angestellt. Diese sind daher nach vielen Richtungen hin schief und unwahr.3
Gerade für das Verständnis der Philosophie der Freiheit kommt es aber auf ein Denken an, das sich bis zur Wahrnehmung der individuellen geistigen Natur der Ideenwelt zu erheben vermag.
Wie das zu verstehen ist, lässt sich an einem besonderen historischen Ereignis in Bezug auf die Aufnahme dieses Buches verdeutlichen:
Unmittelbar nachdem die Philosophie der Freiheit erschienen war, überbrachte Rudolf Steiner am 14.11.1893 dem von ihm hochgeschätzten Eduard von Hartmann ein Exemplar, dem er bereits Wahrheit und Wissenschaft „In warmer Verehrung“ zugeeignet hatte. Hartmann machte sich auch sogleich an die Lektüre und konnte so seinerseits Rudolf Steiner bereits eine Woche später – am 21.11.1893 – sein mit ausführlichen Randbemerkungen versehenes Exemplar zur Ansicht zurücksenden.
Diese sehr bedeutungsvollen Randbemerkungen erschienen zunächst in der Form, in der sie Rudolf Steiner für sich übertrug im Jahre 1984.4 Zehn Jahre später, als das Original Eduard von Hartmanns auftauchte, wurden sie, zusammen mit anderen Dokumenten und der Erstauflage der Philosophie der Freiheit, im Rahmen der Gesamtausgabe als GA 4a herausgegeben.
In diesen Randbemerkungen kommt Eduard von Hartmann zu einer wahrhaft vernichtenden Beurteilung der Philosophie der Freiheit, die er zusammenfassend als Unphilosophie bezeichnet. (GA 4a, S. 420)
Weshalb kommt er zu diesem Urteil?
Der Grund dafür ist durchaus nachvollziehbar, wenn man bedenkt, dass sich das reine Denken philosophischer Prägung auf dem Felde des Abstrakt-Ideellen bewegt.
Auf diesem Felde stehen einander zwei Grundpositionen schroff gegenüber: Die eine ist mit dem Objektivismus gegeben, die andere mit dem Subjektivismus.
Der Objektivismus hält an der Erkennbarkeit der Wahrheit in den Dingen fest. Die Dinge der Welt sprechen sich für ihn, in dem, was sie dem Menschen sind, selbst aus.
Dem hält der Subjektivismus die prinzipielle Unerreichbarkeit der Wahrheit entgegen: Dem Menschen sei es nur möglich, ein Leben in Begriffen und Ideen zu entfalten, denen eine Bedeutung alleine für ihn selbst zukommt. Da er sie selbst hervorbringt, sind sie subjektiv und ihr Zusammenhang mit der Wirklichkeit ungewiss. Was der Mensch in den Dingen der Welt zu erkennen glaubt, sagt über deren wahre Wesenheit nichts aus.
Zu welch großartigen Ergebnissen die erstere dieser beiden Anschauungsarten auf dem Gebiete des Organischen geführt hat, zeigt sich an der Naturanschauung Goethes. Diesem Geist ergab sich das dem Organischen einwohnende Prinzip der Gestaltung als Erfahrung aus dem Anschauen der Naturdinge selbst. Das konnte der an Kant geschulte Schiller nicht akzeptieren. Ihm erschien das, was Goethe als Gestaltungsprinzip der organischen Natur im Anschauen erlebte, lediglich als abstrakte Idee. Mit dieser war ihm nur die subjektive Repräsentanz des in der Natur Wirkenden im Menschen gegeben, nicht aber dieses selbst.
Dass es der abstrakten Idee gegenüber möglich sein sollte, das in der Natur Wirkende an sich selbst zu erleben, konnte er demgegenüber nicht gelten lassen.
Dieser Gegensatz wurde sogleich offenbar, als Goethe und Schiller miteinander ins Gespräch kamen, nachdem sie am 22. August 1794 einer Sitzung der Naturforschenden Gesellschaft in Jena beigewohnt hatten. Damals trat zugleich das Einseitige beider Anschauungsarten zutage, zwischen denen eine Vermittelung unmöglich schien: War es Goethe unmöglich, in seiner eigenen Seele dieselben Kräfte wahrzunehmen, deren Wirksamkeit er im Reich des Organischen erlebte, so vermochte es Schiller nicht, in den Naturdingen dieselbe Geistigkeit zu erleben, die sich für ihn – allerdings in abstrakter Form – mit den Ideen verband. Die Anschauung der Ideenwelt als individuelles Dasein war beiden nicht möglich.
Erst ein Denken, dem sich die Ideen in ihrem individuellen Dasein erschließen, würde die Grenze überwinden, die sich für das reine Denken philosophischer Prägung zwischen Äußerem und Innerem bzw. Subjektivismus und Objektivismus ergibt. Einem solchen Denken käme dadurch ein Wirklichkeitswert zu, der über das reine Denken philosophischer Prägung hinausgeht.
Genau ein solches Denken liegt der Philosophie der Freiheit zugrunde. Das erschließt sich dem Leser allerdings nicht ohne weiteres. Den meisten mag es so scheinen, als würde sich Rudolf Steiner in diesem Buch lediglich im Sinne des reinen Denkens philosophischer Prägung aussprechen. Nur dem Aufmerksamen wird sich die besondere Art des Denkens, auf dem dieses Werk gründet, erschließen. Er wird bemerken, dass hier vom Denken noch in einem anderen Sinn gesprochen wird, als dies sonst geschieht. Besonders deutlich tritt dies zutage, wenn dem Denken eine Position jenseits von Subjekt und Objekt zugewiesen wird:
Das Denken ist jenseits von Subjekt und Objekt. Es bildet diese beiden Begriffe ebenso wie alle anderen. Wenn wir als denkendes Subjekt also den Begriff auf ein Objekt beziehen, so dürfen wir diese Beziehung nicht als etwas bloß Subjektives auffassen. Nicht das Subjekt ist es, welches die Beziehung herbeiführt, sondern das Denken. Das Subjekt denkt nicht deshalb, weil es Subjekt ist; sondern es erscheint sich als ein Subjekt, weil es zu denken vermag. Die Tätigkeit, die der Mensch als denkendes Wesen ausübt, ist also keine bloß subjektive, sondern eine solche, die weder subjektiv noch objektiv ist, eine über diese beiden Begriffe hinausgehende. Ich darf niemals sagen, daß mein individuelles Subjekt denkt; dieses lebt vielmehr selbst von des Denkens Gnaden. Das Denken ist somit ein Element, das mich über mein Selbst hinausführt und mit den Objekten verbindet. Aber es trennt mich zugleich von ihnen, indem es mich ihnen als Subjekt gegenüberstellt. (GA 4, S. 60)
Hinter dem, was Rudolf Steiner mit diesen Worten in die Form des reinen Denkens philosophischer Prägung kleidet, steht nichts anderes als eine übersinnliche Erfahrung des Denkens. Nur eine solche ist in der Lage, das Wesenhafte des Denkens in seiner wahren Wirklichkeit an sich selbst anzuschauen und als individuelle Wahrnehmung vor sich zu haben. Für eine solche Erfahrung stellt sich das Denken nicht mehr nur als eine Eigenschaft des Subjektes dar. Es wird vielmehr in den Rang einer kosmischen Tatsache erhoben, die sich dem Menschen hingibt. Darauf deuten die folgenden Worte der Philosophie der Freiheit hin:
Der ideelle Inhalt eines andern Menschen ist auch der meinige, und ich sehe ihn nur so lange als einen andern an, als ich wahrnehme, nicht mehr aber, sobald ich denke. Jeder Mensch umspannt mit seinem Denken nur einen Teil der gesamten Ideenwelt, und insofern unterscheiden sich die Individuen auch durch den tatsächlichen Inhalt ihres Denkens. Aber diese Inhalte sind in einem in sich geschlossenen Ganzen, das die Denkinhalte aller Menschen umfasst. Das gemeinsame Urwesen, das alle Menschen durchdringt, ergreift somit der Mensch in seinem Denken. Das mit dem Gedankeninhalt erfüllte Leben in der Wirklichkeit ist zugleich das Leben in Gott. (GA 4, S. 250; GA 4a, S. 200 f.)
Erst später kam Rudolf Steiner auf das gemeinsame Urwesen, das sich im Denken ausspricht, ganz konkret zu sprechen. In einem Gespräch mit Walter Johannes Stein bemerkt er, es handle sich dabei um eine „Art Gruppenseele der Menschheit, das ist der Älteste der Archai, der eben auf dem Wege ist, ein Geist der Form zu werden“.5
Von einem Denken, das sich in dieser Art als geistige Wesenheit auffassen lässt, kann man mit Recht erwarten, dass es den Menschen zur Wahrheit führe. Je mehr sich der Mensch in das so aufgefasste Denken einlebt, desto mehr sollte es ihm möglich sein, in die höhere Wirklichkeit, der es angehört, aufzusteigen. Das Denken wird so tatsächlich zu einem Weg, der den Menschen mit der Wirklichkeit verbindet. Es wird zum Gedankenweg der Anthroposophie, der den Menschen in das Wesen der Wahrheit hinein führt.
Das reine Denken philosophischer Prägung kann von einem solchen Weg nichts wissen, denn es ist Sache des Subjektes und wurzelt nicht in der Welt des Geistigen. Demgemäß kann es höchstens theoretische Betrachtungen über das Denken anstellen. Dieses selbst wird es aber nicht in seiner Tätigkeit anschauen können.
Rudolf Steiner wird dagegen die Anschauung des Denkens – das Denken über das Denken – zur geistigen Erfahrung. In ihr erlebt er ein in sich klares Element, in dem Betrachtendes und Betrachtetes von gleicher Wesenheit sind:
Für jeden [.], der die Fähigkeit hat, das Denken zu beobachten – und bei gutem Willen hat sie jeder normal organisierte Mensch –, ist diese Beobachtung die allerwichtigste, die er machen kann. Denn er beobachtet etwas, dessen Hervorbringer er selbst ist; er sieht sich nicht einem zunächst fremden Gegenstande, sondern seiner eigenen Tätigkeit gegenüber. Er weiß, wie das zustande kommt, was er beobachtet. Er durchschaut die Verhältnisse und Beziehungen. Es ist ein fester Punkt gewonnen, von dem aus man mit begründeter Hoffnung nach der Erklärung der übrigen Welterscheinungen suchen kann. (GA 4, S. 46)
Das stellt sich für Eduard von Hartmann allerdings ganz anders dar: Aus seiner Perspektive bewegt sich der Mensch, wenn er über sein Denken nachdenkt, keineswegs in einem in sich klaren Element. Hartmann spricht deshalb, im Gegensatz zu dem von Rudolf Steiner Gesagten, von zwei Aspekten des Denkens: zunächst von den begrifflichen Ergebnissen des Denkens – den Gedankenergebnissen –, derer sich der Mensch bewusst wird. Diesen steht die hervorbringende Tätigkeit des Denkens, also der eigentliche Vorgang der Begriffsbildung, gegenüber, von dem der Mensch – wie Eduard von Hartmann meint – kein Bewusstsein haben kann. Beim Denken über das Denken beobachtet der Mensch also „nur die Ergebnisse seiner hervorbringenden Thätigkeit, nicht diese selbst: letzteres ist Täuschung, wie wenn wir bei rasch aufeinanderfolgender Beleuchtung durch elektrische Funken eine Bewegung zu sehen glauben.“ (GA 4a, S. 357)
Das ist aus der Perspektive des reinen Denkens philosophischer Prägung auch richtig. Denn dieses Denken beobachtet lediglich die abstrakten Begriffe, die sich im Laufe des Denkprozesses bilden. Diese Begriffe reihen sich in der Tat wie „eine Perlenschnur von aufeinanderfolgenden Denkergebnissen [.], deren logische Beziehungen mir verständlich sind“ (GA 4a, S. 357), aneinander. Mit diesen Begriffen ist jedoch noch nichts über den Prozess ausgesagt, aus dem sie hervorgegangen sind: Das in Tätigkeit befindliche Denken, das sie lebendig miteinander verbindet, bleibt ihnen gegenüber im Dunkeln.
Eduard von Hartmann hat das Denken nicht als prozesshaftes Geschehen vor sich, sondern nur die geronnenen Begriffe, die im Verlaufe des Denkvorganges in das Bewusstsein fallen. Diese Begriffe können als Verfestigungen des lebendigen Gedankenprozesses angesehen werden, der sich vor dem Menschen als unerreichbares Ding an sich verbirgt. Auf das prozesshafte Denken, also das ihnen zugrunde liegende schöpferische Denkgeschehen, kann er nur schließen.
In diesem Schöpferischen des lebendigen Gedankenprozess, auf den Hartmann nur schließen kann, bewegt sich Rudolf Steiner in der Philosophie der Freiheit auf bewusstem Wege. Dadurch überwindet er die Grenze, die sich vor dem reinen Denken philosophischer Prägung aufbaut, und gelangt zu einer höheren Erfahrung des Denkens, das er nunmehr als geistige Realität erlebt.
Aus diesem Grunde kann Rudolf Steiner Eduard von Hartmann aus der Perspektive, die dieser einnehmen musste, auch bestätigen. Nicht bestätigen kann er ihn allerdings in Bezug auf das lebendige Denken. Aus der Perspektive eines solchen Denkens heißt es in dem Aufsatz Die Geisteswissenschaft als Anthroposophie und die zeitgenössische Erkenntnistheorie zu Eduard von Hartmanns abschließender Beurteilung der Philosophie der Freiheit:
[.] am Schlusse seines Urteiles ahnt Eduard von Hartmann, daß meine erkenntnistheoretische Grundanschauung aus dem Begrifflichen als bloßem Abbild der sinnenfälligen und geschichtlichen Welt hinausführt. Für ihn hört an diesem Punkte alle Philosophie und alles mögliche Weltanschauungsstreben auf; für mich beginnt da der Eintritt der menschlichen Erkenntniskräfte in die Welt der Geisteswissenschaft. Er nennt das den ‚Rutsch in den Abgrund der Unphilosophie‘; was ich so kennzeichnen muß, wie ich es in meinem Buche ‚Vom Menschenrätsel‘ getan habe, als den Aufstieg vom gewöhnlichen zum ‚schauenden‘ Bewußtsein. (GA 35, S. 330)
Mit Eduard von Hartmann tritt das philosophische Denken an das Neuartige der Philosophie der Freiheit heran und muss an ihm scheitern. Das ist nicht als die persönliche Tragik eines Menschen aufzufassen. Vielmehr stehen hier zwei Verständnisarten des Denkens einander gegenüber, die nicht miteinander vereinbar sind: die philosophische Betrachtungsart und die Geisteswissenschaft.
Das Göttliche im Universum findet nur der, der es in sich selbst entdeckt. Was aber im Innern sich als Göttliches ankündigt, ist dasselbe wie das äußere Göttliche. Wenn einem das Göttliche aufgeht, hört eben der Unterschied des Innen und Außen auf; man verschmilzt mit der Außenwelt und lebt sich in das einige Göttliche ein.6
3Goethes Weltanschauung. Weimar 1897, S. 203. In der Zweitauflage von Goethes Weltanschauung aus dem Jahre 1918 modifiziert Rudolf Steiner die Wortwendung „individuelles Dasein“ in „individuelles Geist-Dasein“ (GA 6, S. 208) und macht dadurch noch deutlicher, worum es ihm ging.
4Beiträge zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe. Nr. 85/86.
5 Walter Johannes Stein/Rudolf Steiner, Dokumente eines wegweisenden Zusammenwirkens. Dornach 1985. S. 284.
6 Rudolf Steiner in: J.W. Goethe Naturwissenschaftliche Schriften. Mit Einleitungen und Erläuterungen herausgegeben von Rudolf Steiner. Dornach 1975, Fünfter Band, S. 491.
Im Jahre 1882 verfasste Rudolf Steiner einen Aufsatz mit dem Titel Einzig mögliche Kritik der atomistischen Begriffe, den er in dem Vortrag vom 12.5.1917 als „ersten Anfang dessen, was ich als Geisteswissenschaft bezeichnen möchte“7 charakterisiert.
In diesem Aufsatz bezeichnet er die Aufgabe, die sich die moderne Naturwissenschaft gestellt hat, als das Auffüllen der an sich selbst inhaltsleeren Begriffsschemen durch die Sinneserfahrung. Die Grundlage dafür findet er bereits bei Kant:
Kant schränkt das Gebiet der Erkenntnis auf die Erfahrung ein, weil er in dem durch dieselbe vermittelten sinnlichen Stoff die einzige Möglichkeit fand, die in unserer geistigen Organisation liegenden, an sich ganz leeren Begriffsschemen, die Kategorien, auszufüllen. Ihm war sinnlicher Gehalt die einzige Form eines solchen.8
Daraus ergibt sich, dass die moderne Naturwissenschaft als Wirklichkeit nur gelten lassen kann, was den physischen Sinnen wahrnehmbar ist und sich vor diese als ein Zählbares, Messbares und Wägbares hinstellt. Was dagegen dem Denken Begriffe und Ideen sind, kann ihr nur ein von dem Subjekt hervorgebrachtes Abstraktes sein, dem kein objektiver Wirklichkeitsgehalt zukommt.
Diese Anschauung steht in schroffem Gegensatz zur Gedankenrichtung Rudolf Steiners, weshalb er dazu bemerkt: