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Jonathan Littell

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Beschreibung

Im Februar 2008 erschien im Berlin Verlag der Roman, den Jorge Semprun als »das Ereignis unserer Jahrhunderthälfte « bezeichnet: Die Wohlgesinnten von Jonathan Littell. Über Monate hielt er die deutsche Literaturkritik in Atem. Mit den fiktiven Lebenserinnerungen des SS-Obersturmführers Maximilian Aue, Jahrgang 1913, Sohn eines deutschen Vaters und einer französischen Mutter, zeichnet Jonathan Littell ein erschreckend detailgenaues Bild des Zweiten Weltkriegs und der Verfolgung und Vernichtung der Juden durch die Nationalsozialisten aus Sicht eines Täters. »Das ist ein Roman, und das ist ein Autor, vor denen man sich verneigen muss«, schrieb Andreas Isenschmid in der NZZ am Sonntag. Die Wohlgesinnten erscheint im Oktober 2009 im Berliner Taschenbuch Verlag.

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Seitenzahl: 1993

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Jonathan Littell

Die Wohlgesinnten

 

Roman

 

Aus dem Französischenvon Hainer Kober

 

 

 

Berliner Taschenbuch Verlag

 

 

 

Für die Toten

TOCCATA

 

Ihr Menschenbrüder, lasst mich euch erzählen, wie es gewesen ist. Wir sind nicht deine Brüder, werdet ihr antworten, und wir wollen es gar nicht wissen. Gewiss, die Geschichte ist düster, aber auch erbaulich, sie ist eine wahrhaft moralische Erzählung, glaubt mir. Ein bisschen lang ist sie wohl, schließlich ist viel geschehen, doch wenn ihr es nicht allzu eilig habt, werdet ihr vielleicht die Zeit erübrigen. Immerhin betrifft die Geschichte euch: Und ihr werdet schon sehen, wie sehr sie euch betrifft. Glaubt nicht, ich wollte euch von irgendetwas überzeugen, wovon es auch sei; was ihr denkt, ist schließlich eure Sache. Wenn ich mich nach all diesen Jahren entschlossen habe, sie niederzuschreiben, dann nur, um mir selber Klarheit zu verschaffen, nicht euch. Lange kriecht man als Raupe über diese Erde und wartet auf den prächtigen durchscheinenden Schmetterling, den man in sich trägt. Und dann vergeht die Zeit, die Verpuppung findet nicht statt, wir bleiben Larven. Das ist eine betrübliche Feststellung, aber was soll man machen? Natürlich bleibt immer noch der Selbstmord. Doch ehrlich gesagt, lockt er mich wenig. Sicher, ich habe lange daran gedacht, und sollte ich doch darauf zurückgreifen, wüsste ich auch wie: Ich würde mir eine Handgranate gegen das Herz drücken und mit einem wilden Ausbruch der Freude aus dieser Welt scheiden. Eine kleine runde Granate, die ich behutsam entsichern würde, bevor ich den Bügel freigäbe, und bei dem kurzen metallischen Klicken des Zünders lächelte ich, dem letzten Geräusch, das ich hören würde – abgesehen vom Hämmern meines Herzens in den Ohren. Und dann endlich das Glück, oder jedenfalls der Friede, und die Wände des Büros mit Fetzen dekoriert. Die Putzfrauen würden saubermachen, dafür werden sie schließlich bezahlt, selber schuld. Doch wie gesagt, der Selbstmord reizt mich nicht. Ich weiß übrigens nicht, warum, ein altes moralphilosophisches Relikt vielleicht, das mich predigen lässt, wir seien schließlich nicht auf dieser Welt, um uns zu amüsieren? Aber wozu dann? Keine Ahnung, um zu überdauern vermutlich, die Zeit totzuschlagen, bevor sie dich erschlägt. So gesehen, ist das Schreiben ein Zeitvertreib wie jeder andere auch. Nicht, dass ich viel Zeit zu verlieren hätte, ich bin ein viel beschäftigter Mann. Ich habe, wie man so sagt, Beruf und Familie, mithin Verpflichtungen, all das kostet Zeit, lässt kaum welche, um seine Erinnerungen zu schreiben. Und Erinnerungen, die habe ich in Hülle und Fülle. Ich bin geradezu eine Erinnerungsfabrik. Am Ende werde ich ein ganzes Leben damit verbracht haben, Erinnerungen zu fabrizieren, obwohl man mich heute eher dafür bezahlt, Spitze zu fabrizieren. Im Grunde hätte ich genauso gut darauf verzichten können, diese Geschichte aufzuschreiben. Schließlich bin ich nicht dazu verpflichtet. Seit dem Krieg habe ich mich unauffällig verhalten. Gott sei Dank habe ich im Unterschied zu vielen meiner ehemaligen Kameraden nie das Bedürfnis gehabt, meine Memoiren zu schreiben, weder um mich zu rechtfertigen, weil es nichts zu rechtfertigen gibt, noch aus finanziellen Gründen, weil ich auch so mein gutes Auskommen habe. Einmal war ich auf einer Geschäftsreise in Deutschland und hatte eine Besprechung mit dem Direktor eines großen Unternehmens für Unterwäsche, dem ich Spitzen verkaufen wollte. Ich war ihm von alten Freunden empfohlen worden. Ohne viel Worte wussten wir, was wir voneinander zu halten hatten. Nach unserer Besprechung, die übrigens äußerst positiv verlaufen war, erhob er sich, nahm ein Buch aus dem Regal und schenkte es mir. Es waren die posthum erschienenen Memoiren von Hans Frank, dem Generalgouverneur von Polen, mit dem Titel Im Angesicht des Galgens. »Ich habe von seiner Witwe einen Brief bekommen«, berichtete mein Gegenüber. »Sie hat das Manuskript, das er nach seinem Prozess verfasst hatte, auf eigene Kosten veröffentlicht, um den Unterhalt für ihre Kinder bestreiten zu können. Können Sie sich vorstellen, so weit zu kommen? Die Witwe des Generalgouverneurs! Ich habe bei ihr zwanzig Exemplare bestellt, zum Verschenken. Außerdem habe ich alle meine Abteilungsleiter angehalten, eines zu kaufen. Ich habe ein rührendes Dankschreiben von ihr bekommen. Kannten Sie ihn?« Ich versicherte ihm, dass ich ihn nicht kannte, das Buch aber mit Interesse lesen würde. In Wirklichkeit schon, ich bin ihm kurz begegnet, erzähle es euch später vielleicht noch, falls ich den Mut oder die Geduld dazu aufbringe. Aber damals davon zu sprechen hätte keinen Sinn gehabt. Das Buch war übrigens sehr schlecht – verworren und wehleidig, es trieft vor einer seltsam frömmelnden Scheinheiligkeit. Diese Aufzeichnungen mögen vielleicht ebenfalls verworren und schlecht sein, doch ich werde mich darum bemühen, klar zu bleiben. Ich kann euch versichern, dass sie zumindest frei von jeglicher Reue sein werden. Ich bereue nichts: Ich habe meine Arbeit getan, mehr nicht. Meine Familienangelegenheiten, von denen ich vielleicht auch noch erzähle, betreffen nur mich allein. Was das Übrige angeht, habe ich zum Ende hin sicherlich den Bogen überspannt, aber da war ich schon nicht mehr ganz ich selbst, ich taumelte, und um mich herum geriet die ganze Welt ins Wanken, ich war nicht der Einzige, der den Verstand verlor, das müsst ihr mir zugutehalten. Und außerdem schreibe ich nicht, um meine Witwe und meine Kinder zu versorgen, denn ich bin sehr wohl in der Lage, für ihre Bedürfnisse aufzukommen. Nein, wenn ich mich endlich zum Schreiben entschlossen habe, dann sicherlich, um mir die Zeit zu vertreiben, womöglich auch, um ein oder zwei dunkle Punkte zu klären – für euch vielleicht und für mich selbst. Zudem glaube ich, dass es mir guttun wird. Denn meine Stimmung ist eher trübe. Was bestimmt an der Verstopfung liegt. Ein leidiges und schmerzhaftes Problem und für mich neu; früher verhielt es sich genau umgekehrt. Lange Zeit musste ich drei- bis viermal am Tag auf die Toilette, wenn es heute einmal pro Woche wäre, könnte ich von Glück reden, so bin ich auf Einläufe angewiesen, eine denkbar unerquickliche, aber wirksame Prozedur. Ihr müsst schon verzeihen, dass ich euch mit so anstößigen Einzelheiten komme: Ich habe doch wirklich das Recht, ein bisschen zu klagen. Und wenn ihr das nicht aushaltet, tätet ihr gut daran, die Lektüre schleunigst abzubrechen. Ich bin nicht Hans Frank, ich hasse Getue. Im Rahmen meiner Möglichkeiten möchte ich so genau wie möglich sein. Trotz meiner Schwächen, und davon hatte ich einige, gehöre ich zu denen, die meinen, nur wenige Dinge im menschlichen Leben seien wirklich unentbehrlich: Luft, Essen, Trinken, Verdauung und die Suche nach Wahrheit. Der Rest ist Beiwerk.

Vor einiger Zeit hat meine Frau eine schwarze Katze mit nach Hause gebracht, vermutlich wollte sie mir eine Freude machen. Natürlich hatte sie mich nicht gefragt. Sie ahnte wohl, dass ich es kategorisch abgelehnt hätte, da hat sie mich lieber vor vollendete Tatsachen gestellt. Als das Tier einmal da war, ließ sich nichts mehr daran ändern, die Enkelkinder hätten geweint und so weiter. Trotzdem war diese Katze äußerst unangenehm. Wenn ich sie streicheln wollte, um meinen guten Willen unter Beweis zu stellen, verzog sie sich aufs Fensterbrett und starrte mich mit ihren gelben Augen an. Machte ich Anstalten, sie auf den Arm zu nehmen, kratzte sie mich. Nachts aber rollte sie sich auf meiner Brust zusammen, eine beklemmende Last, und im Schlaf träumte ich, ich würde unter einem Steinhaufen erstickt. Mit meinen Erinnerungen erging es mir ganz ähnlich. Als ich zum ersten Mal daran dachte, sie schriftlich niederzulegen, nahm ich Urlaub. Was vermutlich ein Fehler war. Dabei hatte alles gut angefangen: Ich hatte eine beträchtliche Anzahl von Büchern zu dem Thema gekauft und gelesen, um mein Gedächtnis aufzufrischen, Organigramme gezeichnet, detaillierte Zeittafeln angelegt und so fort. Doch mit diesem Urlaub hatte ich plötzlich Zeit und begann nachzudenken. Außerdem war gerade Herbst; während ein schmutzig grauer Regen die Bäume entlaubte, stieg langsam die Angst in mir auf. Ich stellte fest, dass mir das Denken nicht guttat.

Dabei hätte ich darauf gefasst sein können. Meine Kollegen halten mich für einen ruhigen, bedächtigen, überlegten Menschen. Ruhig, das schon, aber sehr oft am Tag beginnt es in meinem Kopf zu fauchen und zu grollen, dumpf wie im Ofen eines Krematoriums. Ich rede, diskutiere, treffe Entscheidungen wie alle Welt, doch an der Theke, vor meinem Kognak, male ich mir aus, wie ein Mann mit einem Jagdgewehr hereinkommt und das Feuer eröffnet. Im Kino oder Theater stelle ich mir vor, wie eine entsicherte Handgranate unter den Sitzreihen entlangrollt. An einem Feiertag sehe ich auf dem öffentlichen Platz ein Auto voller Sprengstoff explodieren, den festlichen Nachmittag zum Massaker entarten, das Blut zwischen den Pflastersteinen rinnen, Fleischklumpen an den Hauswänden kleben oder durch die Fenster fliegen und in der Sonntagssuppe landen, höre die Schreie, das Stöhnen der Menschen, denen die Bombe die Gliedmaßen abgerissen hat, wie ein neugieriger Bub Insekten die Beine ausrupft, das stumpfsinnige Vorsichhinbrüten der Überlebenden, eine eigenartige Stille, die sich wie Watte auf das Trommelfell legt, den Beginn der langen Furcht. Ruhig? Ja, ich bewahre die Ruhe, egal, was passiert, ich lasse mir nichts anmerken, ich bleibe ruhig, unbewegt, wie die stummen Fassaden ausgebombter Städte, wie die kleinen Alten auf den Parkbänken mit ihren Spazierstöcken und Medaillen, wie die Gesichter Ertrunkener dicht unter der Wasseroberfläche, die man nie wieder findet. Selbst wenn ich es wollte, wäre ich völlig außerstande, diese schreckliche Ruhe zu durchbrechen. Ich gehöre nicht zu den Menschen, die bei jeder Kleinigkeit einen Aufstand machen, ich bewahre Haltung. Aber auch mich bedrückt das. Am schlimmsten sind nicht unbedingt die Vorstellungen, die ich gerade beschrieben habe. Mit derartigen Fantasien lebe ich schon lange, wahrscheinlich seit meiner Kindheit, auf jeden Fall lange bevor auch ich mich inmitten der Schlächterei wiederfand. So gesehen, war der Krieg für mich nur eine Bestätigung, und ich habe mich an diese kleinen Szenarien gewöhnt, ich begreife sie als einen passenden Kommentar zur Nichtigkeit der Dinge. Nein, als beschwerlich und belastend hat sich der Umstand erwiesen, dass ich nichts anderes mehr zu tun hatte als nachzudenken. Überlegt einmal: Woran denkt ihr im Laufe eines Tages? Im Grunde an sehr wenig. Es wäre doch ein Leichtes für euch, eure alltäglichen Gedanken vernünftig zu klassifizieren: praktische oder mechanische Gedanken, Planung der Zeit- und Handlungsabläufe (Beispiel: Kaffeewasser vor dem Zähneputzen aufsetzen, aber erst danach Brot toasten, weil es früher fertig ist), berufliche Probleme, Geldsorgen, häusliche Schwierigkeiten, sexuelle Fantasien. Ich erspare euch die Einzelheiten. Beim Abendessen betrachtet ihr das alternde Gesicht eurer Frau, die euch viel reizloser erscheint als eure Geliebte, ansonsten aber in jeder Hinsicht die Richtige ist; was soll’s, so ist das Leben, also redet ihr über die letzte Regierungskrise. In Wahrheit ist euch die letzte Regierungskrise herzlich egal, aber über was solltet ihr sonst reden? Klammert diese Gedanken aus, und ihr werdet mir zustimmen, dass nicht viel bleibt. Natürlich gibt es auch andere Augenblicke. Zwischen zwei Waschmittelwerbungen unerwartet ein Tango aus der Vorkriegszeit, sagen wir, Violetta, und schon sind auch das nächtliche Plätschern des Flusses, die Lampions der Buden und der leichte Schweißgeruch auf der Haut einer heiteren Frau wieder da; am Eingang eines Parks ruft das lächelnde Gesicht eines Kindes dasjenige eures kleinen Sohnes wach, kurz bevor er laufen lernte; auf der Straße bricht ein Sonnenstrahl durch die Wolkendecke und bringt die großen Blätter und den weißlichen Stamm einer Platane zum Leuchten: Und plötzlich denkt ihr an eure Kindheit, an den Schulhof, auf dem ihr Krieg spieltet, mit Schreckensgeschrei und Glücksgeheul. Da habt ihr einen menschlichen Gedanken. Aber das kommt sehr selten vor.

Doch wenn man die Arbeit, die banalen Verrichtungen, die alltägliche Hektik unterbricht, um sich ernsthaft einem Gedanken zu widmen, sieht alles ganz anders aus. Dann kommen die Dinge bald in schweren schwarzen Wellen hoch. Nachts zergehen die Träume, entfalten und vervielfältigen sich und lassen eine feine feuchtbittere Schicht im Kopf zurück, die nach dem Aufwachen lange braucht, bis sie sich auflöst. Damit wir uns nicht falsch verstehen: Hier geht es nicht um Schuldgefühle oder Gewissensbisse. Die gibt es natürlich auch, das will ich nicht leugnen, aber mir scheint, die Dinge liegen viel komplizierter. Selbst ein Mensch, der nicht im Krieg war, der nicht töten musste, wird erlebt haben, wovon ich rede. Die Rückkehr der kleinen Bosheiten, Feigheiten, Falschheiten und Schäbigkeiten, die wir uns alle irgendwann haben zuschulden kommen lassen. Kein Wunder also, dass die Menschen die Arbeit erfunden haben, den Alkohol, das müßige Geschwätz. Kein Wunder, dass das Fernsehen solche Erfolge feiert. Kurzum, ich beendete meinen leidigen Urlaub schon bald, es war besser so. Für meine Schreiberei blieb mir trotzdem genügend Zeit, morgens beim Frühstück und abends, wenn die Sekretärinnen gegangen waren.

Eine kurze Pause, um mich zu übergeben, und ich fahre fort. Das ist eine weitere meiner vielen kleinen Beschwerden: Hin und wieder kommt mir das Essen hoch, manchmal sofort, manchmal später, ohne Grund, einfach so. Ich habe das schon lange, seit dem Krieg, begonnen hat es im Herbst 41, genauer gesagt, in der Ukraine, in Kiew, glaube ich, vielleicht auch in Shitomir. Davon später mehr. Jedenfalls habe ich mich seither daran gewöhnt: Ich putze mir die Zähne, trinke ein Schnäpschen und mache weiter, wo ich gerade aufgehört habe. Zurück zu meinen Erinnerungen. Ich habe mir mehrere Schulhefte gekauft, großformatig, aber mit kleinen Karos, die bewahre ich im Büro in einer abgeschlossenen Schreibtischschublade auf. Früher kritzelte ich meine Notizen auf kleine Karteikärtchen, auch mit kleinen Karos; jetzt habe ich beschlossen, das Ganze zusammenhängend aufzuschreiben. Wozu, weiß ich nicht so recht. Gewiss nicht zur Erbauung meiner Nachkommenschaft. Wenn ich in diesem Moment plötzlich stürbe, sagen wir, an einem Herzinfarkt oder einem Schlaganfall, und wenn meine Sekretärinnen dann diese Schublade aufschlössen, würden sie sicherlich einen Schock bekommen, die Bedauernswerten, und meine Frau ebenfalls: Die Karten würden schon genügen. Man wird alles rasch verbrennen müssen, um einen Skandal zu vermeiden. Mir ist das egal, ich bin dann tot. Schließlich schreibe ich nicht für euch, auch wenn ich mich an euch wende.

Mein Arbeitszimmer ist ein angenehmer Ort zum Schreiben, groß, nüchtern, ruhig. Weiße Wände, fast schmucklos, ein Glasschrank mit Warenmustern und im Hintergrund eine große Glaswand, durch die man von oben auf den Maschinensaal blickt. Trotz Doppelverglasung erfüllt das unablässige Klicken der Leavers-Maschinen das Büro. Wenn ich nachdenken möchte, stehe ich vom Schreibtisch auf und trete an das Fenster, betrachte die exakt aufgereihten Webstühle zu meinen Füßen, die sicheren und genauen Bewegungen der Weber; ich lasse mich einlullen. Gelegentlich gehe ich hinunter und schlendere zwischen den Maschinen umher. Der Saal ist dunkel, die schmutzigen Fensterscheiben sind blau gestrichen, weil die Spitzen empfindlich sind, sie vertragen kein Licht, und der bläuliche Dämmerschein beruhigt mein Gemüt. Ich gebe mich gern ein wenig dem monotonen und skandierten Geklapper hin, das den Saal beherrscht, diesem metallischen Klopfen mit seinem Zweierrhythmus, der mich in seinen Bann zieht. Die Webmaschinen beeindrucken mich immer wieder aufs Neue. Sie sind aus Gusseisen, grün gestrichen, jede von ihnen wiegt zehn Tonnen. Einige sind sehr alt. Sie werden schon lange nicht mehr hergestellt. Die Ersatzteile lasse ich extra anfertigen. Nach dem Krieg haben wir zwar von Dampf auf Strom umgestellt, aber die Maschinen selbst nicht angetastet. Ich halte Abstand, um mich nicht schmutzig zu machen. Die vielen beweglichen Teile müssen ständig geschmiert werden, allerdings würde Öl die Spitzen ruinieren, daher verwenden wir Grafit, zerstoßenen Bleigrafit, mit dem der Weber die beweglichen Maschinenelemente stäubt, mit Hilfe eines strumpfartigen Beutels, als schwenke er ein Weihrauchgefäß. Die Spitze kommt schwarz heraus, und der Grafit bedeckt die Wände, den Boden, die Maschinen und die Menschen, die sie überwachen. Auch wenn ich selten selbst mit Hand anlege, kenne ich diese großen Maschinen recht gut. Die ersten englischen Tüllmaschinen, ein ängstlich gehütetes Geheimnis, schmuggelten Arbeiter kurz nach den napoleonischen Kriegen in Frankreich ein, um die Zollgebühren zu umgehen. Es war ein Seidenweber aus Lyon, Jacquard, der sie so veränderte, dass sich Spitzen auf ihnen herstellen ließen, indem er Lochkarten zur Festlegung der Webmuster einführte. Rollen an der Unterseite liefern die Kettfäden. Im Inneren der Maschine befinden sich fünftausend Bobinen, die Seele, auf einem Schlitten. Ein Catch-Bar (einige englische Ausdrücke behalten wir sogar im Französischen bei) greift diesen Schlitten, balanciert ihn aus und führt ihn mit einem lauten, hypnotisch wirkenden Schnalzen vor und zurück, vor und zurück. Die Fäden, seitlich geführt, werden nach einer komplizierten Choreografie, die auf fünf- bis sechshundert Jacquard-Karten niedergelegt ist, von Combs, kupfernen Schützenlagern in Bleifassungen, verflochten. Ein Schwanenhals hebt das Schützenlager wieder an. Schließlich kommt die Spitze spinnwebartig hervor, betörend unter ihrer Grafitschicht, und rollt sich langsam auf einem Rohr auf, das oben an der Leavers-Maschine angebracht ist.

Bei der Arbeit in der Fabrik gilt strenge Geschlechtertrennung: Die Männer entwerfen die Motive, stanzen die Lochkarten, ziehen die Kettfäden auf, überwachen die Webmaschinen und den restlichen Maschinenpark; ihre Frauen und Töchter füllen noch heute die Bobinen, entfernen den Grafit, bessern die Spitzen aus, trennen und legen sie. Die Traditionen werden hochgehalten. Die Weber bilden hier eine Art proletarischer Aristokratie. Die Ausbildungszeit ist lang, die Arbeit schwierig; im vorigen Jahrhundert fuhren die Weber von Calais mit Kutsche und Zylinder zur Fabrik und duzten den Besitzer. Die Zeiten haben sich geändert. Der Krieg hat diesen Wirtschaftszweig zugrunde gerichtet, obwohl einige Webmaschinen für die Deutschen liefen. Alles musste wieder aus dem Nichts aufgebaut werden. Heute existieren in Nordfrankreich, wo vor dem Krieg viertausend Webmaschinen in Betrieb waren, nur noch etwa dreihundert. Und trotzdem haben sich die Weber mit dem wirtschaftlichen Aufschwung früher als manche Bürger ein Auto geleistet. Allerdings duzen meine Arbeiter mich nicht. Ich glaube nicht, dass sie mich mögen. Was nicht schlimm ist, ich verlange es nicht von ihnen. Schließlich mag ich sie auch nicht. Man arbeitet zusammen, das ist alles. Wenn ein Mitarbeiter gewissenhaft und fleißig ist, wenn die Spitzen, die seinen Webstuhl verlassen, keinen Grund zur Beanstandung geben, gewähre ich ihm zum Jahresende eine Prämie. Wer zu spät oder betrunken zur Arbeit erscheint, bekommt Abzüge. Auf dieser Basis verstehen wir uns ausgezeichnet.

Ihr fragt euch vielleicht, wie ich in der Spitzen-Industrie gelandet bin. Eigentlich lag mir nichts ferner als die Wirtschaft. Ich habe Jura und Volkswirtschaft studiert und meinen Dr. jur. gemacht, den ich in Deutschland im Namen führen darf. Allerdings haben mich die Verhältnisse nach 1945 ein bisschen daran gehindert, auf meinen akademischen Grad zu pochen. Wenn ihr’s wirklich wissen wollt, lag mir auch nichts ferner als Jura: Als junger Mann hätte ich am liebsten Literatur und Philosophie studiert. Das wurde mir verwehrt – ein weiteres trauriges Kapitel meines Familienromans, vielleicht komme ich darauf noch zurück. Doch muss ich zugeben, dass Jura mir im Spitzen-Gewerbe bessere Dienste leistet als die Literatur. So ungefähr ist es gewesen. Als endlich alles zu Ende war, ist es mir gelungen, nach Frankreich zu kommen und mich als Franzose auszugeben; was nicht allzu schwer war, wenn man die chaotischen Verhältnisse damals bedenkt. Ich kam mit den Deportierten zurück, man stellte mir nicht viele Fragen. Gewiss, ich sprach ein tadelloses Französisch. Meine Mutter war Französin, und ich habe zehn Jahre meiner Kindheit in Frankreich verbracht, die gymnasiale Unterstufe, die Oberstufe, die Vorbereitungsklassen für die Grandes Écoles besucht und sogar zwei Jahre an der ELDS* studiert. Und da ich im Süden aufgewachsen bin, konnte ich mir sogar einen leichten südfranzösischen Akzent zulegen, jedenfalls achtete niemand auf mich, es herrschte ein heilloses Durcheinander, ich wurde an der Gare d’Orsay mit einer Suppe empfangen, und ein paar Beschimpfungen gab es auch, ich muss erwähnen, dass ich nicht versucht hatte, mich als Deportierter auszugeben, sondern als Zwangsarbeiter beim STO, und das schmeckte den Gaullisten nicht, also beschimpften sie mich ein bisschen, wie auch die anderen armen Teufel, dann haben sie uns wieder laufen lassen, wir kamen nicht ins Hotel Lutétia, aber in die Freiheit. Ich bin nicht in Paris geblieben, da kannte ich zu viele Leute, zu viele, die ich besser nicht gekannt hätte, ich bin in die Provinz gegangen, habe mich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser gehalten, mal hier, mal dort. Dann hat sich die Aufregung gelegt. Rasch haben sie aufgehört, die Leute zu erschießen, bald sich nicht einmal mehr die Mühe gemacht, sie ins Gefängnis zu stecken. Da habe ich Nachforschungen angestellt und schließlich einen Mann gefunden, den ich kannte. Er hatte sich geschickt aus der Affäre gezogen und eine Verwaltungsstelle nach der anderen unbeschadet überstanden; als vorausschauender Mann hatte er sich wohlweislich gehütet, die Dienste, die er uns erwiesen hatte, an die große Glocke zu hängen. Anfangs wollte er mich nicht empfangen, doch als er endlich begriff, wer ich war, sah er ein, dass er gar keine andere Wahl hatte. Ich kann nicht behaupten, dass es eine angenehme Unterhaltung war: Ein Gefühl der Befangenheit, des Zwanges war deutlich zu spüren. Aber er verstand sehr wohl, dass wir ein gemeinsames Interesse hatten: ich, eine Stellung zu bekommen, und er, die seine zu behalten. Er hatte einen Vetter in Nordfrankreich, einen ehemaligen Vertreter, der versuchte, ein kleines Unternehmen aufzuziehen, und zwar mit drei Leavers-Maschinen, die er von einer Witwe, die Konkurs gemacht hatte, gekauft hatte. Dieser Mann stellte mich als Reisenden ein, als Vertreter für seine Spitzen. Die Arbeit ging mir entsetzlich auf die Nerven; schließlich gelang es mir, ihn zu überzeugen, dass ich ihm auf organisatorischer Ebene weit nützlicher sein könnte. Immerhin hatte ich beträchtliche Erfahrung auf diesem Gebiet, auch wenn ich mich auf sie so wenig berufen konnte wie auf meinen Doktortitel. Die Firma wuchs, besonders seit den fünfziger Jahren, als ich wieder Kontakte in der Bundesrepublik aufnahm und es mir gelang, uns Zugang zum deutschen Markt zu verschaffen. Damals hätte ich leicht nach Deutschland zurückkehren können: Viele meiner alten Kameraden lebten dort in Ruhe und Frieden; einige hatten kleine Strafen verbüßt, andere waren nicht einmal belangt worden. Mit meinem Werdegang hätte ich meinen Namen wieder annehmen, meinen Titel wieder führen, eine Pension nach dem 131er Gesetz und eine Kriegsversehrtenrente beantragen können, niemand hätte etwas bemerkt. Arbeit hätte ich rasch gefunden. Aber, so sagte ich mir, was hätte ich davon gehabt? Die Rechtswissenschaft ließ mich im Grunde ebenso kalt wie das Geschäftsleben, und dann hatte ich am Ende doch noch Gefallen an den Spitzen gefunden, diesen entzückenden und geschmackvollen Schöpfungen des Menschen. Als wir genügend Webmaschinen zusammengekauft hatten, beschloss mein Chef, eine zweite Fabrik zu eröffnen und mir die Leitung anzuvertrauen. Seither bekleide ich diesen Posten und warte auf den Ruhestand. In der Zwischenzeit hatte ich geheiratet, zwar mit einem gewissen Widerwillen, aber hier in dieser nördlichen Region ließ sich das kaum vermeiden, es war nötig, um meine gesellschaftliche Stellung zu festigen. Ich habe eine Frau aus gutem Haus gewählt, sie ist ganz hübsch, repräsentabel, und ihr gleich ein Kind gemacht, um sie zu beschäftigen. Leider bekam sie Zwillinge, das muss in der Familie liegen, will sagen, in meiner Familie, ein Balg wäre für meinen Geschmack mehr als genug gewesen. Mein Chef hat mir Geld vorgestreckt, ich habe mir ein stattliches Haus gekauft, nicht allzu weit vom Meer entfernt. So habe ich mich in bürgerlichen Verhältnissen wiedergefunden. Und das war auch besser so. Nach allem, was geschehen war, hatte ich in erster Linie das Bedürfnis nach Ruhe und Regelmäßigkeit. Das Leben hatte den Träumen meiner Jugend die Flügel gestutzt, und meine Ängste hatten sich auf dem Weg vom einen Ende des deutschen Europas zum anderen allmählich verflüchtigt. Ich bin aus dem Krieg wie ausgeleert zurückgekehrt, nur Bitterkeit und Scham waren geblieben, wie Sand, der zwischen den Zähnen knirscht. Daher kam mir ein Leben, das allen gesellschaftlichen Konventionen Rechnung trug, gerade recht: eine bequeme Gangart, auch wenn ich sie oft mit Ironie und manchmal sogar mit Hass betrachte. Ich hoffe, auf diese Weise eines Tages in Jeromino Nadals Zustand der Gnade zu gelangen und keine Neigung zu irgend etwas zu verspüren, es sei denn dazu, keine Neigung zu irgend etwas zu verspüren. Aber ich werde literarisch; einer meiner Fehler. Um heiliggesprochen zu werden, habe ich mich noch nicht von meinen Bedürfnissen befreit. Von Zeit zu Zeit beehre ich meine Frau, gewissenhaft, mit wenig Lust, aber auch ohne übermäßigen Ekel, um den häuslichen Frieden aufrechtzuerhalten. Und ab und an, auf Geschäftsreisen, gebe ich mir Mühe, an alte Gewohnheiten anzuknüpfen; aber sozusagen nur noch aus hygienischen Gründen. All das hat für mich viel von seinem Reiz verloren. Der Körper eines schönen Jünglings, eine Skulptur von Michelangelo, das macht keinen Unterschied: Der Atem stockt mir nicht mehr. Es ist wie nach einer langen Krankheit, wenn einem nichts mehr schmeckt, wenn es egal ist, ob man Rind oder Huhn isst. Man muss Nahrung zu sich nehmen, das ist alles. Ehrlich gesagt, gibt es nicht viel, woran ich Interesse finde. Möglicherweise an der Literatur, aber auch da weiß ich nicht so recht, ob es nicht reine Gewohnheit ist. Vielleicht schreibe ich deshalb meine Erinnerungen auf: um mein Blut in Wallung zu bringen, um zu sehen, ob ich noch etwas empfinde, ob ich noch ein bisschen leiden kann. Seltsame Übung.

Dabei müsste ich das Leid doch eigentlich kennen. Keinem Europäer meiner Generation ist es erspart geblieben, ich darf jedoch ohne falsche Bescheidenheit von mir behaupten, dass ich mehr davon zu Gesicht bekommen habe als die meisten. Und außerdem vergessen die Menschen schnell, wie ich Tag für Tag feststellen kann. Sogar die, die dabei gewesen sind, erzählen fast nie anders davon als in abgegriffenen Gedanken und Wendungen. Man nehme nur die erbärmliche Prosa der deutschen Autoren, die den Krieg im Osten behandeln – die triefende Sentimentalität, die tote, grauenhafte Sprache. Die Prosa eines Herrn Paul Carell zum Beispiel, eines Autors, der es in den letzten Jahren zu einigem Erfolg gebracht hat. Zufällig habe ich diesen Herrn Carell in Ungarn kennengelernt, als er noch Paul Karl Schmidt hieß und unter der Schirmherrschaft seines Ministers von Ribbentrop schrieb, was er wirklich dachte, in einer kräftigen Prosa mit schönster Wirkung: Die Judenfrage ist keine Frage der Humanität, keine der Religion, sie ist einzig und allein eine der politischen Hygiene. Nun ist dem ehrenwerten Herrn Carell-Schmidt das bemerkenswerte Kunststück gelungen, zwei sterbenslangweilige Bände über den Krieg gegen die Sowjetunion zu veröffentlichen, ohne ein einziges Mal das Wort Jude zu erwähnen. Ich weiß es, denn ich habe sie gelesen: Es war mühsam, aber ich habe Ausdauer. Unsere französischen Autoren, die Mabires und Landemers, sind keinen Deut besser. So wenig wie die Kommunisten, nur dass deren Standpunkt entgegengesetzt ist. Wo sind sie hin, die gesungen haben: Brüder, ergreift die Gewehre, auf zur entscheidenden Schlacht? Sie schweigen oder sind tot. Man schwatzt, redet alles schön und verhaspelt sich im faden Brei aus Wörtern wie Ruhm, Ehre, Heldentum, das ist geisttötend, niemand hat etwas zu sagen. Vielleicht bin ich ungerecht, aber ich wage zu hoffen, dass ihr mich versteht. Das Fernsehen überschüttet uns mit Zahlen, mit eindrucksvollen Zahlen, die nicht mit den Nullen geizen. Aber wer von euch hält einmal inne, um sich diese Zahlen wirklich zu vergegenwärtigen? Wer von euch hat jemals versucht, alle Menschen, die er kennt oder in seinem Leben gekannt hat, zusammenzuzählen und diese lächerliche Zahl mit denen zu vergleichen, von denen er im Fernsehen hört, den berühmten sechs Millionen oder zwanzig Millionen? Rechnen wir ein bisschen. Die Mathematik ist nützlich, eröffnet Perspektiven, lüftet den Kopf. Sie ist ein manchmal äußerst lehrreiches Unterfangen. Übt euch also ein bisschen in Geduld und schenkt mir eure Aufmerksamkeit. Ich werde nur die beiden Schauplätze berücksichtigen, auf denen ich eine Rolle gespielt habe, mag sie auch noch so unbedeutend gewesen sein: den Krieg gegen die Sowjetunion und das Vernichtungsprogramm, das in unseren Dokumenten offiziell als Endlösung der Judenfrage bezeichnet wurde, um diesen hübschen Euphemismus zu zitieren. An der Westfront sind die Verluste auf jeden Fall relativ gering geblieben. Meine Ausgangszahlen sind ein wenig willkürlich: Ich habe keine Wahl, die Quellen sind widersprüchlich. Bei den sowjetischen Gesamtverlusten halte ich mich an die übliche, 1956 von Chruschtschow genannte Zahl von zwanzig Millionen, wohl wissend, dass der namhafte englische Autor Reitlinger nur auf zwölf Millionen kommt und Erickson, ein schottischer Historiker, der genauso, wenn nicht noch renommierter ist, zu einer Zahl von mindestens sechsundzwanzig Millionen gelangt: Damit liegt die offizielle sowjetische Zahl, fast auf die Million genau, in der Mitte. Was die deutschen Verluste angeht – nur die in der UdSSR selbstverständlich –, können wir von der noch offizielleren und mit deutscher Gründlichkeit ermittelten Zahl von 6 172 373 Soldaten ausgehen, die zwischen dem 22. Juni 1941 und dem 31. März 1945 im Osten als solche registriert wurden; sie wird in einem nach dem Krieg aufgefundenen internen Bericht des OKH (Oberkommandos des Heeres) genannt, umfasst allerdings neben den Gefallenen (mehr als eine Million) auch die Verwundeten (fast vier Millionen) und Vermissten (das heißt Gefallenen, Kriegsgefangenen und in der Gefangenschaft Gestorbenen, rund 1 288 000). Sagen wir, um es kurz zu machen, zwei Millionen Tote, die Verwundeten interessieren uns hier nicht, darunter die gut fünfzigtausend zusätzlichen Toten, die in dem Zeitraum zwischen dem 1. April und dem 8. Mai 1945 umgekommen sind, vor allem in Berlin, zuzüglich jener Million, auf die man die Opfer unter der Zivilbevölkerung im Zuge der Invasion Ostdeutschlands und der anschließenden Vertreibungen schätzt, womit wir insgesamt auf eine Zahl von ungefähr drei Millionen kommen. Bei den Juden haben wir die Wahl: Die übliche Zahl ist sechs Millionen, obwohl nur wenige Menschen wissen, woher sie stammt. (Höttl hat in Nürnberg ausgesagt, Eichmann habe sie ihm genannt; doch Wisliceny behauptet, Eichmann habe gegenüber seinen Kameraden von fünf Millionen gesprochen; und Eichmann selbst hat, als die Juden ihm die Frage endlich persönlich stellen konnten, erklärt, zwischen fünf und sechs Millionen, aber auf jeden Fall fünf.) Dr. Koherr, der für den Reichsführer SS Heinrich Himmler die Statistik zusammenstellte, kam bis zum 31. Dezember 1942 auf etwas unter zwei Millionen, räumte aber ein, als ich 1943 Gelegenheit hatte, das Thema mit ihm zu erörtern, dass seine Ausgangszahlen wenig zuverlässig seien. Professor Hilberg schließlich, ein sehr angesehener Spezialist auf diesem Gebiet und kaum der Parteilichkeit, jedenfalls nicht der prodeutschen, verdächtig, kommt nach einer sehr strengen Beweisführung von neunzehn Seiten auf die Zahl von 5 100 000, was sich im Großen und Ganzen mit der Auffassung des verstorbenen Obersturmbannführers Eichmann deckt. Halten wir uns also an die Zahl von Professor Hilberg, womit sich insgesamt folgendes Bild ergibt:

 

Tote sowjetischer Nationalität:

20 Millionen

Tote deutscher Nationalität:

  3 Millionen

Zwischensumme (Krieg im Osten):

23 Millionen

Endlösung:

  5,1 Millionen

Insgesamt:

26,6 Millionen, wohl wissend, dass 1,5 Millionen Juden auch unter den Toten sowjetischer Nationalität aufgeführt sind (»Sowjetische Bürger, die von den deutschfaschistischen Invasoren getötet wurden«, wie es so diskret auf dem ungewöhnlichen Denkmal in Kiew heißt).

 

Nun zur Mathematik. Die militärische Auseinandersetzung mit der UdSSR hat offiziell vom 22. Juni 1941 um drei Uhr morgens bis zum 8. Mai 1945 um 23.01 Uhr gedauert, was drei Jahre, zehn Monate, sechzehn Tage, zwanzig Stunden und eine Minute ergibt, abgerundet sind das 46,5 Monate, 202,42 Wochen, 1417 Tage, 34 004 Stunden oder 2 040 241 Minuten (die überzählige Minute mitgerechnet). Für das als »Endlösung« bezeichnete Programm legen wir den gleichen Zeitraum zugrunde: Vorher, als noch nichts entschieden oder systematisiert war, sind die jüdischen Verluste eher zufälliger Natur. Setzen wir unser Zahlenspiel fort: Auf die Deutschen entfallen 64 516 Tote pro Monat oder 14 821 Tote pro Woche oder 2117 Tote pro Tag oder 88 Tote pro Stunde oder 1,47 Tote pro Minute – dies der Durchschnitt für jede Minute jeder Stunde jeden Tages jeder Woche jeden Monats jeden Jahres für die Dauer von drei Jahren, zehn Monaten, sechzehn Tagen, zwanzig Stunden und einer Minute. Für die Juden, die sowjetischen eingerechnet, erhalten wir rund 109 677 Tote pro Monat oder 25 195 Tote pro Woche oder 3599 Tote pro Tag oder 150 Tote pro Stunde oder 2,5 Tote pro Minute für den gleichen Zeitraum. Auf sowjetischer Seite schließlich ergeben sich ungefähr 430 108 Tote pro Monat, 98 804 Tote pro Woche, 14 114 Tote pro Tag, 588 Tote pro Stunde beziehungsweise 9,8 Tote pro Minute, gleicher Zeitraum. Das ergibt unter dem Strich für meinen Tätigkeitsbereich einen Durchschnittswert von 572 043 Toten pro Monat, 131 410 Toten pro Woche, 18 722 Toten pro Tag, 782 Toten pro Stunde und 13,04 Toten pro Minute, und das für alle Minuten aller Stunden aller Tage aller Wochen aller Monate jeden Jahres des gegebenen Zeitraums, der, erinnern wir uns, drei Jahre, zehn Monate, sechzehn Tage, zwanzig Stunden und eine Minute umfasst. Diejenigen, die sich über die überzählige und in der Tat etwas pedantisch wirkende Minute lustig gemacht haben, mögen sich vor Augen halten, dass sie immerhin einen Mittelwert von 13,04 zusätzlichen Toten bedeutet, und sich, wenn sie denn dazu fähig sind, dreizehn Menschen aus ihrem Umfeld vorstellen, die in einer Minute getötet werden. Wir können auch eine Rechnung aufmachen, die das Zeitintervall zwischen jedem Toten bestimmt: Das ergibt für die gesamte Dauer des genannten Zeitraums im Durchschnitt einen deutschen Toten alle 40,8 Sekunden, einen jüdischen Toten alle 24 Sekunden, einen bolschewistischen Toten (die sowjetischen Juden eingerechnet) alle 6,12 Sekunden, insgesamt im Mittel einen Toten alle 4,6 Sekunden. Nun seid ihr in der Lage, euch anhand dieser Zahlen in konkreter Fantasie zu üben. Nehmt beispielsweise eine Uhr zur Hand und fangt an zu zählen: ein Toter, zwei Tote, drei Tote und so fort, alle 4,6 Sekunden (oder alle 6,12 Sekunden, 24 Sekunden, 40,8 Sekunden, falls ihr irgendeine besondere Vorliebe habt), wobei ihr versucht, euch diese Toten vorzustellen, wie sie dort aufgereiht vor euch liegen, eins, zwei, drei … Ihr werdet sehen, das ist eine gute Meditationsübung. Oder nehmt eine andere, aktuellere Katastrophe, die euch sehr nahegegangen ist, und zieht einen Vergleich. Wenn ihr Franzosen seid, dann betrachtet beispielsweise euer kleines algerisches Abenteuer, das eure Mitbürger so tief traumatisiert hat. Ihr habt dort, einschließlich der Unfälle, in sieben Jahren 25 000 Mann verloren: Das entspricht den Toten von einem Tag und knapp dreizehn Stunden an der Ostfront; oder auch den jüdischen Toten von rund sieben Tagen. Die Toten auf algerischer Seite rechne ich natürlich nicht mit: Da sie in euren Büchern und Sendungen so gut wie nie vorkommen, dürften sie für euch wohl keine große Bedeutung haben. Trotzdem habt ihr für jeden eurer eigenen Toten zehn von ihnen getötet, eine beachtliche Leistung, sogar an der unseren gemessen. Ich lasse es damit gut sein, obwohl wir noch lange fortfahren könnten, lade euch aber ein, macht ruhig allein weiter, bis ihr den Boden unter den Füßen verliert. Ich brauche das nicht: Schon lange ist mir der Gedanke an den Tod näher als meine Halsschlagader, wie es so hübsch im Koran heißt. Sollte es euch jemals gelingen, mich zum Weinen zu bringen, werden euch meine Tränen das Gesicht verätzen.

Den Schluss aus alledem finden wir – wenn ihr mir ein weiteres Zitat gestattet, das letzte, ich verspreche es – in einer treffenden Wendung des Sophokles: Nicht geboren zu sein geht über alles. Schopenhauer schrieb übrigens ganz ähnlich, dass es besser wäre, wenn es nichts gäbe: Wer die Behauptung, daß, in der Welt, der Genuß den Schmerz überwiegt, oder wenigstens sie ineinander die Waage halten, in der Kürze prüfen will, vergleiche die Empfindung des Thieres, welches ein anderes frißt, mit der dieses andern. Ja, ich weiß, das sind zwei Zitate, aber es ist dieselbe Idee: In Wahrheit leben wir in der schlechtesten aller möglichen Welten. Gewiss, der Krieg ist vorbei. Wir haben unsere Lehren daraus gezogen, das passiert nie wieder. Doch seid ihr euch wirklich sicher, dass die Menschen daraus gelernt haben? Seid ihr sicher, dass das nie wieder passiert? Seid ihr überhaupt sicher, dass der Krieg vorbei ist? In gewisser Weise ist der Krieg nie vorbei, oder er ist erst vorbei, wenn das letzte Kind, das am letzten Tag des Krieges geboren wurde, wohlbehalten begraben ist, und auch danach lebt er in dessen Kindern und in deren Kindern fort, bis sich das Erbe allmählich verflüchtigt, die Erinnerungen verblassen und der Schmerz abklingt, auch wenn zu dem Zeitpunkt jeder ihn schon längst vergessen hat und all das zu den alten Geschichten zählt, die nicht einmal mehr dazu taugen, Kinder zu erschrecken, schon gar nicht die Kinder der Toten oder derer, die gerne tot wären.

Ich ahne, was ihr denkt: Was für ein schlechter, bösartiger Mensch, sagt ihr euch, kurzum ein in jeder Beziehung übler Typ, der lieber im Gefängnis schmoren sollte, als uns hier – halb unbelehrbarer Faschist, halb reuiger Sünder – seine unausgegorene Philosophie aufzutischen. Was den Faschismus anbelangt, wollen wir doch nicht alles durcheinanderbringen, und was meine strafrechtliche Verantwortung angeht, solltet ihr vorschnelle Urteile vermeiden, ich habe meine Geschichte noch nicht erzählt; zur Frage meiner moralischen Verantwortung schließlich gestattet mir einige Überlegungen. Die politischen Philosophen haben oft dargelegt, dass in Kriegszeiten der Bürger, zumindest wenn er männlichen Geschlechts ist, eines seiner elementarsten Rechte verliert, das auf Leben, und zwar seit der Französischen Revolution und der Einführung der Wehrpflicht, dieses mittlerweile universell oder nahezu universell anerkannten Prinzips. Allerdings haben sie nur selten darauf verwiesen, dass der Bürger gleichzeitig ein weiteres Recht verliert, das vielleicht ebenso elementar und für ihn vielleicht noch existenzieller ist, insoweit es sein Selbstbild als zivilisierter Mensch betrifft: das Recht, nicht zu töten. Niemand fragt euch nach eurer Meinung. Den Menschen, der oben am Rand des Massengrabs steht, hat es in den meisten Fällen ebenso wenig danach verlangt, dorthin zu kommen, wie denjenigen, der tot oder sterbend unten in dieser Grube liegt. Ihr werdet mir entgegenhalten, einen Soldaten im Kampf zu töten sei etwas anderes, als einen wehrlosen Zivilisten umzubringen; das Kriegsrecht erlaube das eine, aber nicht das andere; die allgemeine Moral desgleichen. Abstrakt betrachtet, ist das sicherlich ein gutes Argument, doch trägt es den Bedingungen dieses Krieges nicht im Entferntesten Rechnung. Die nach dem Krieg vollkommen willkürlich eingeführte Unterscheidung zwischen den »militärischen Operationen« einerseits, die denen jeder anderen kriegerischen Auseinandersetzung entsprachen, und andererseits den »Gräueltaten«, die von einer Minderheit sadistischer und kranker Täter verübt wurden, ist, wie ich zu zeigen hoffe, ein tröstliches Fantasiegebilde der Sieger – der westlichen Sieger, müsste ich hinzufügen, denn die Sowjets haben trotz aller Rhetorik immer gewusst, worauf es ankam: Stalin begegnete nach dem Mai 1945 und nach den ersten demonstrativen Betroffenheitsbekundungen der illusorischen »Gerechtigkeit« nur mit beißendem Spott, ihm ging es um die konkreten und praktischen Dinge, um Sklaven und Material für den Wiederaufbau, nicht um Gewissensbisse und Wehklagen, weil er so gut wie wir wusste, dass die Toten blind sind für Tränen und dass man sich für Gewissensbisse nichts kaufen kann. Ich berufe mich nicht auf den von unseren braven deutschen Anwälten so hoch geschätzten Befehlsnotstand. Was ich getan habe, geschah in klarer Erkenntnis der Sachlage, in der festen Überzeugung, es sei meine Pflicht, es sei unumgänglich, mochte es auch noch so unangenehm und betrüblich sein. Der totale Krieg bedeutet auch, dass es den Zivilisten nicht mehr gibt, und zwischen dem jüdischen Kind, das vergast oder erschossen wurde, und dem deutschen Kind, das den Brandbomben zum Opfer fiel, gibt es nur den Unterschied der Mittel; beide Tode waren gleich vergeblich, keiner hat den Krieg um eine einzige Sekunde abgekürzt; doch in beiden Fällen glaubten der Mann oder die Männer, die sie getötet haben, dass er gerecht und notwendig gewesen sei; wem ist ein Vorwurf daraus zu machen, wenn sie geirrt haben? Das gilt auch, wenn wir künstlich unterscheiden zwischen dem Krieg und dem, was der jüdische Rechtsanwalt Lempkin als Genozid bezeichnet hat, wobei anzumerken ist, dass es zumindest in unserem Jahrhundert noch nie einen Genozid ohne Krieg gegeben hat, dass der Genozid jenseits des Krieges nicht existiert und dass es sich bei ihm, wie beim Krieg, um ein kollektives Phänomen handelt: Der moderne Genozid ist ein Prozess, der den Massen für die Massen zugefügt wird. In unserem Fall ist er außerdem ein Prozess, der durch die Erfordernisse der industriellen Produktionsweise strukturiert wird. Wie der Arbeiter nach Marx dem Produkt seiner Arbeit entfremdet wird, so wird der Befehlsempfänger im Genozid oder im totalen Krieg moderner Prägung dem Produkt seines Handelns entfremdet. Das gilt selbst für den Fall, dass ein Mann einem anderen sein Gewehr an den Kopf hält und den Abzug betätigt. Denn das Opfer ist von anderen Männern dorthin geführt und sein Tod von wieder anderen beschlossen worden, und auch der Schütze weiß, dass er nur das letzte Glied in einer langen Kette ist und dass er nicht mehr Skrupel zu haben braucht als das Mitglied eines Erschießungskommandos, das im Zivilleben einen rechtskräftig Verurteilten hinrichtet. Wie der Schütze weiter weiß, ist ein Zufall dafür verantwortlich, dass er schießt, dass sein Kamerad für die Absperrung sorgt und ein dritter den Lastwagen fährt. Allenfalls könnte er versuchen, mit der Wache oder dem Fahrer zu tauschen. Ein anderes Beispiel, der Fülle der historischen Literatur und nicht meiner persönlichen Erfahrung entnommen: die Vernichtung Schwerbehinderter und psychisch Kranker deutscher Staatsangehörigkeit bei der so genannten »Aktion Gnadentod«, die zwei Jahre vor der »Endlösung« eingeleitet wurde. Hier wurden die im Rahmen einer Rechtsordnung ausgewählten Kranken in einem Gebäude von regulären Krankenschwestern in Empfang genommen, registriert und entkleidet; Ärzte untersuchten sie und führten sie in eine Kammer, die hermetisch verschlossen wurde; ein Arbeiter öffnete die Gaszufuhr, andere reinigten die Kammern; ein Polizist stellte die Sterbeurkunde aus. Nach dem Krieg befragt, antwortete ein jeder von ihnen: Ich, schuldig? Die Krankenschwester hat niemanden getötet, sie hat die Kranken lediglich entkleidet und beruhigt, die üblichen Handreichungen ihrer Zunft. Auch der Arzt hat nicht getötet, sondern lediglich eine Diagnose nach Kriterien bestätigt, die von anderen Instanzen vorgegeben waren. Der Hilfsarbeiter, der den Gashahn aufdreht, der Mann also, der in Zeit und Raum dem Mord am nächsten kommt, führt unter der Aufsicht seiner Vorgesetzten und der Ärzte eine bestimmte Verrichtung aus. Die Arbeiter, welche die Kammer säubern, genügen damit einer hygienischen Pflicht, einer höchst abstoßenden noch dazu. Der Polizist nimmt eine Amtshandlung vor, wenn er den Tod beurkundet und anmerkt, dass er ohne Verstoß gegen geltendes Recht eingetreten ist. Wer ist also schuldig? Alle oder niemand? Warum sollte der an den Gashahn gestellte Arbeiter größere Schuld auf sich laden als der Arbeiter, der für die Heizung, den Garten oder die Fahrzeuge zuständig ist? Das gilt für alle Aspekte dieses ungeheuren Unternehmens. Ist beispielsweise der Weichensteller bei der Eisenbahn schuld am Tod der Juden, die er über seine Weichen zum Lager geleitet hat? Dieser Weichensteller ist ein Bahnbeamter, seit zwanzig Jahren macht er die gleiche Arbeit, er stellt seine Weichen nach festen Plänen, er muss nicht wissen, was in den Zügen ist. Es ist nicht seine Schuld, wenn diese Juden durch sein Weichenstellen von einem Punkt A zu einem Punkt B befördert werden, wo man sie tötet. Trotzdem spielt dieser Weichensteller eine entscheidende Rolle im Vernichtungswerk. Ohne ihn könnte der Zug mit den Juden nicht zum Punkt B gelangen. Gleiches gilt für den Beamten, der die Aufgabe hat, Wohnungen für ausgebombte Volksgenossen zu requirieren, den Drucker, der die Deportationsbescheide druckt, den Lieferanten, der Beton oder Stacheldraht an die SS verkauft, den Unteroffizier von der Standortverwaltung, der ein Teilkommando der Sipo mit Benzin beliefert, und den lieben Gott dort droben, der das alles zulässt. Gewiss, man kann verschiedene Ebenen strafrechtlicher Verantwortung relativ exakt festlegen, sodass es möglich ist, einige zu verurteilen und alle anderen ihrem Gewissen zu überlassen, so sie denn eines haben; das ist umso leichter, wenn man, wie in Nürnberg, die Gesetze im Nachhinein macht. Doch selbst dort ist man mit einer gewissen Beliebigkeit vorgegangen. Warum hat man Streicher gehängt, diesen machtlosen Bauernlümmel, und nicht den elenden Lumpen Bach-Zelewski? Warum hat man meinen Vorgesetzten Rudolf Brandt gehängt und nicht dessen Vorgesetzten Wolff? Warum hat man Minister Frick gehängt und nicht seinen Untergebenen Stuckart, der die ganze Drecksarbeit für ihn erledigte? Glück hat er gehabt, dieser Stuckart, hat er sich die Hände doch nie mit Blut, sondern immer nur mit Tinte besudelt. Es sei noch einmal gesagt, der Klarheit wegen: Ich will hier nicht behaupten, ich sei an diesem oder jenem nicht schuldig. Ich bin schuldig, ihr seid es nicht, wie schön für euch. Trotzdem könntet ihr euch sagen, dass ihr das, was ich getan habe, genauso hättet tun können. Vielleicht mit weniger Eifer, dafür möglicherweise auch mit weniger Verzweiflung, jedenfalls aber auf die eine oder die andere Art. Die moderne Geschichte hat, denke ich, hinreichend bewiesen, dass jeder Mensch, oder fast jeder, unter gewissen Voraussetzungen das tut, was man ihm sagt; und, verzeiht mir, die Wahrscheinlichkeit ist gering, dass ihr die Ausnahme seid – so wenig wie ich. Wenn ihr in einem Land und in einer Zeit geboren seid, wo nicht nur niemand kommt, um eure Frau und eure Kinder zu töten, sondern auch niemand, um von euch zu verlangen, dass ihr die Frauen und Kinder anderer tötet, dann danket Gott und ziehet hin in Frieden. Aber bedenkt immer das eine: Ihr habt vielleicht mehr Glück gehabt als ich, doch ihr seid nicht besser. Denn solltet ihr so vermessen sein, euch dafür zu halten, seid ihr bereits in Gefahr. Gern stellen wir dem Staat – ob er totalitär ist oder nicht – den gewöhnlichen Menschen gegenüber, die Laus oder das kleine Licht. Dabei vergessen wir jedoch, dass der Staat aus Menschen besteht, mehr oder weniger gewöhnlichen Menschen, ein jeder mit seinem Leben, seiner Geschichte, jeder mit seiner Verkettung von Zufällen, die dafür gesorgt haben, dass er sich eines Tages auf der richtigen Seite des Gewehrs oder Dokuments wiederfindet, während andere auf der falschen stehen. Dieser Gang der Ereignisse ist in den seltensten Fällen das Ergebnis einer Entscheidung oder gar einer charakterlichen Veranlagung. Und die Opfer sind in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle nicht deshalb gefoltert oder getötet worden, weil sie gut waren, ebenso wenig wie ihre Peiniger sie aus Bosheit gequält haben. Das zu glauben wäre reichlich naiv; man braucht sich nur in einer beliebigen Bürokratie umzusehen, und sei es die des Roten Kreuzes, um sich davon zu überzeugen. Stalin hat meine These übrigens auf bemerkenswerte Weise unterstrichen, indem er jede Generation von Henkern in Opfer der nachfolgenden Generation verwandelte, ohne dass ihm deshalb die Henker ausgegangen wären. Die Maschinerie des Staates nun ist aus dem gleichen Sand gebacken wie das, was sie Korn für Korn zu Staub zermahlt. Es gibt sie, weil alle damit einverstanden sind, dass es sie gibt, sogar – und häufig bis zum letzten Atemzug – ihre Opfer. Ohne die Höß, Eichmanns, Goglidzes, Wyschinskis, aber auch ohne die Weichensteller, die Betonfabrikanten und die Buchhalter in den Ministerien wäre ein Stalin oder ein Hitler nur einer jener von Hass und ohnmächtigen Gewaltfantasien aufgeblähten Säcke gewesen. Die Feststellung, dass die meisten leitenden Angestellten der Vernichtungsindustrie weder sadistisch noch verrückt waren, ist mittlerweile ein Gemeinplatz. Die Sadisten, die Psychopathen hat es natürlich, wie in jedem Krieg, gegeben, und sie haben unbeschreibliche Gräueltaten begangen, das ist wahr. Wahr ist auch, dass die SS größere Anstrengungen hätte unternehmen können, diesen Leuten auf die Finger zu sehen, obwohl sie es in höherem Maße tat, als gemeinhin angenommen wird; und das ist gar nicht so selbstverständlich: Fragt die französischen Generale, sie hatten ihre liebe Not mit ihren Alkoholikern, ihren Vergewaltigern und Offiziersmördern in Algerien. Doch das ist nicht das Problem. Verrückte gibt es immer und überall. In unseren friedlichen Vororten wimmelt es von Pädophilen und Psychopathen, in unseren Nachtasylen von durchgeknallten Megalomanen; einige werden zum echten Problem, sie bringen zwei, drei, zehn oder gar fünfzig Menschen um – dann zertritt sie derselbe Staat, der sich ihrer im Krieg bedenkenlos bedient, wie blutsaugende Insekten. Doch diese Kranken zählen nicht. Die wirkliche Gefahr – vor allem in unsicheren Zeiten – sind die gewöhnlichen Menschen, aus denen der Staat besteht. Die wirkliche Gefahr für den Menschen bin ich, seid ihr. Wenn ihr davon nicht überzeugt seid, braucht ihr nicht weiterzulesen. Ihr werdet nichts verstehen und euch nur ärgern, nutzlos für euch – wie für mich.

Wie die meisten Menschen habe ich nie zum Mörder werden wollen. Wäre es nach mir gegangen, hätte ich mich, wie gesagt, der Literatur zugewandt. Geschrieben, wenn ich das Talent gehabt hätte, falls nicht, sie vielleicht gelehrt, jedenfalls mit diesen schönen und friedlichen Schöpfungen gelebt, den besten, die menschliches Streben je hervorgebracht hat. Wer würde sich denn aus freien Stücken – die Irren beiseitegelassen – für den Mord entscheiden? Und dann hätte ich gerne Klavier gespielt. Eines Tages, im Konzert, beugte sich eine Dame mittleren Alters zu mir herüber: »Sie sind bestimmt Pianist, nicht wahr?« – »Leider nicht, gnädige Frau«, musste ich bedauernd antworten. Der Gedanke, dass ich nicht Klavier spiele und nie spielen werde, schnürt mir noch heute die Brust zusammen, manchmal mehr als das Grauen, mehr als der schwarze Fluss meiner Vergangenheit, der mich durch die Jahre trägt. Ich werde diesen Gedanken einfach nicht los. Als ich klein war, hat meine Mutter mir ein Klavier gekauft. Es war zu meinem neunten Geburtstag, glaube ich. Oder zum achten. Auf jeden Fall bevor wir nach Frankreich gingen, um bei diesem Moreau zu leben. Monatelang hatte ich sie angefleht. Ich träumte von nichts anderem als davon, Pianist zu werden, ein berühmter Konzertpianist: unter meinen Fingern Kathedralen, schwerelos wie Seifenblasen. Aber wir hatten kein Geld. Mein Vater war seit einiger Zeit fort, seine Konten gesperrt (das begriff ich erst später), und meine Mutter musste sich irgendwie durchschlagen. Doch in diesem Fall hatte sie das Geld aufgetrieben, ich weiß nicht wie, vielleicht gespart oder geliehen, vielleicht hatte sie sich sogar prostituiert, ich weiß es nicht, es ist ohne Belang. Sicherlich hatte sie ehrgeizige Pläne mit mir, wollte meine Talente fördern. So wurde uns an meinem Geburtstag dieses Klavier gebracht, ein schönes Stück. Selbst gebraucht hatte es bestimmt eine hübsche Stange Geld gekostet. Anfangs war ich Feuer und Flamme. Ich nahm Stunden; doch als die Fortschritte ausblieben, war ich rasch ernüchtert und gab auf. Vom Tonleiterüben hatte ich nicht geträumt, ich war wie alle Kinder. Meine Mutter wagte nicht, mir meine Faulheit und mangelnde Ausdauer vorzuwerfen, aber mir war schon klar, dass sie der Gedanke an das viele vergeudete Geld ärgern musste. Auf dem Klavier sammelte sich der Staub; meine Schwester brachte nicht mehr Interesse auf als ich; und ich verschwendete keinen Gedanken mehr daran, ich bemerkte kaum, dass meine Mutter es, sicherlich mit Verlust, wieder verkaufte. Ich habe meine Mutter nie wirklich geliebt, ich habe sie sogar gehasst, aber in diesem Fall tat sie mir doch leid. Allerdings war sie nicht ganz schuldlos daran. Wenn sie konsequent gewesen wäre, Strenge gezeigt hätte, als es notwendig war, hätte es mit dem Klavierspiel vielleicht geklappt, und das hätte mich glücklich gemacht, mir eine sichere Zuflucht geboten. Nur für mich zu spielen, daheim, wäre mir mehr als genug gewesen. Gewiss, ich höre häufig Musik und finde lebhaftes Vergnügen daran, doch das ist nicht das Gleiche, lediglich Ersatz. Genau wie meine Liebesabenteuer mit Männern: In Wirklichkeit, ich bekenne es, ohne rot zu werden, wäre ich lieber eine Frau gewesen. Nicht unbedingt eine Frau, die in dieser Welt lebt und handelt, eine Ehefrau, eine Mutter; nein, eine nackte Frau, die auf dem Rücken liegt, die Beine spreizt, vom Gewicht eines Mannes erdrückt wird, sich an ihn klammert, von ihm durchbohrt wird, in ihm zerfließt und sich in den grenzenlosen Ozean verwandelt, in dem er ertrinkt, eine Lust ohne Ende und ohne Anfang. Es sollte nicht sein. Stattdessen wurde ich Jurist, Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes, SS-Offizier, schließlich Direktor einer Spitzenfabrik. Das ist traurig, lässt sich aber nicht ändern.

Alles, was ich hier niedergeschrieben habe, ist wahr, wahr ist aber auch, dass ich eine Frau geliebt habe. Eine einzige, die aber mehr als alles in der Welt. Nun war aber sie ausgerechnet diejenige, die mir verboten war. Es ist durchaus denkbar, dass ich, als ich träumte, eine Frau zu sein, als ich mir den Körper einer Frau erträumte, immer noch nach ihr suchte, mich ihr nähern wollte, sein wollte wie sie, sie sein wollte. Das ist sehr gut möglich, ändert aber nichts. Von den Typen, mit denen ich geschlafen habe, habe ich nicht einen einzigen geliebt, ich habe mich ihrer bedient, ihren Körper benutzt, das ist alles. Die Liebe dieser Frau hätte mir für ein ganzes Leben genügt. Macht euch nicht lustig: Diese Liebe war vermutlich das einzig Gute, was ich in meinem Leben zustande gebracht habe. All das, so denkt ihr gewiss, klingt ein bisschen merkwürdig für einen Offizier der Schutzstaffel. Doch warum hätte nicht auch ein SS-Obersturmbannführer ein Innenleben haben sollen, Begierden und Leidenschaften wie alle anderen? Von meiner Sorte, die ihr immer noch für kriminell haltet, gab es Hunderttausende; unter ihnen natürlich, wie überall, ganz banale Menschen, aber auch ungewöhnliche: Künstler, hochgebildete Männer, Neurotiker, Homosexuelle, Männer, die ihre Mutter liebten, was weiß ich. Und warum auch nicht? Keiner war typischer als irgendein Mensch in irgendeinem Beruf. Es gibt Geschäftsleute, die guten Wein und Zigarren lieben, Geschäftsleute, die vom Geld besessen sind, und Geschäftsleute, die sich einen Dildo in den After schieben, wenn sie ins Büro gehen, und unter ihrem edlen Zwirn obszöne Tätowierungen verstecken: Derlei erscheint uns selbstverständlich, warum nicht auch bei Angehörigen der SS oder Wehrmacht? Weit häufiger, als man vermutet, stießen unsere Stabsärzte auf Damenunterwäsche, wenn sie die Uniformen der Verwundeten aufschnitten. Die Behauptung, ich sei nicht typisch gewesen, besagt gar nichts. Ich lebte, ich hatte eine Vergangenheit, eine Vergangenheit, die mich belastete und teuer zu stehen kam, aber das kann passieren, und ich lebte sie auf meine Weise. Dann ist der Krieg gekommen, ich diente, ich wurde in schreckliche Ereignisse, in Gräueltaten verstrickt. Ich hatte mich nicht verändert, ich war noch immer derselbe Mensch, meine Probleme waren nicht gelöst, obwohl der Krieg mich vor neue stellte, obwohl diese Schrecken nicht spurlos an mir vorübergingen. Es gibt Männer, für die der Krieg oder sogar das Morden eine Lösung ist, doch ich gehöre nicht zu ihnen, für mich, wie für die meisten anderen Menschen, sind Krieg und Mord eine Frage, eine Frage ohne Antwort, denn wenn wir in die Nacht hinausrufen, antwortet niemand. Außerdem zieht eines das andere nach sich: Ich habe im Rahmen des normalen Dienstes begonnen und dann, unter dem Druck der Ereignisse schließlich, diesen Rahmen überschritten; aber all das hängt zusammen, ist eng miteinander verknüpft: Ob ich ohne den Krieg bis zu diesem Äußersten gegangen wäre, kann man nicht wissen. Vielleicht, vielleicht aber auch nicht, vielleicht hätte ich eine andere Lösung gefunden. Wir wissen es nicht. Meister Eckhart hat geschrieben, dass ein Engel in der Hölle auf seiner eigenen kleinen Paradieswolke schwebt. Mir war immer klar, dass auch die Umkehrung gilt, dass ein Dämon im Paradies auf seiner eigenen kleinen Höllenwolke schweben würde. Ich halte mich allerdings nicht für einen Dämon. Für das, was ich getan habe, gab es immer Gründe, ob gute oder schlechte, weiß ich nicht, auf jeden Fall aber menschliche Gründe. Die, die töten, sind Menschen wie die, die getötet werden, das ist die schreckliche Wahrheit. Ihr könnt niemals sagen: Ich werde nicht töten, das ist unmöglich, höchstens könnt ihr sagen: Ich hoffe, nicht zu töten. Auch ich hoffte es, auch ich wollte ein gutes und nützliches Leben führen, Mensch unter Menschen sein wie alle anderen, auch ich wollte meinen Teil zum gemeinsamen Werk beitragen. Doch meine Hoffnungen sind getäuscht worden, man hat sich meiner ehrlichen Absichten bedient, um ein Werk zu verrichten, das sich als schlecht und verderblich erwies, und ich habe die dunklen Ufer überschritten, all dies Böse drang in mein Leben, und nichts von alldem kann wiedergutgemacht werden, niemals. Auch die Wörter nützen nichts mehr, sie versickern wie Wasser im Sand, und der Sand füllt mir den Mund. Ich lebe, ich tue, was mir möglich ist, so geht es jedem, ich bin ein Mensch wie jeder andere, ich bin ein Mensch wie ihr. Hört mal, wenn ich es euch doch sage: Ich bin wie ihr!

* Der Autor hat darauf verzichtet, die zahlreichen Ausdrücke und Abkürzungen, die außerhalb eines Kreises von Spezialisten unbekannt sind, zu erklären; daher sind am Ende des Bandes ein Glossar und eine Liste der militärischen Ränge angefügt. (Anm. d. Verl.)

ALLEMANDE I UND II

 

An der Grenze war eine Pontonbrücke ausgelegt. Dicht daneben ragten noch, wie hingefläzt, aus den grauen Wassern des Bugs die verbogenen Joche der von den Sowjets gesprengten Stahlbrücke empor. Wie es hieß, hatten unsere Pioniere die neue Brücke in einer einzigen Nacht montiert, und gleichmütige Feldgendarmen, deren halbmondförmige Ringkragen im Sonnenlicht funkelten, regelten den Verkehr so selbstverständlich, als wären sie noch zu Hause. Die Wehrmacht hatte Vorfahrt; wir mussten warten. Ich blickte auf den gemächlich dahinfließenden Strom, die kleinen ruhigen Wälder auf der anderen Seite, das Gedränge auf der Brücke. Dann waren wir an der Reihe. Gleich nach der Brücke begann eine Art Allee aus den Skeletten des russischen Kriegsgeräts am Straßenrand: platt gewalzte und ausgebrannte Lastkraftwagen, wie Konservendosen aufgerissene Panzer, wüst ineinander verknäulte Geschütze – umgestürzt, weggeschleudert, verkeilt, in einer unabsehbaren verkohlten Masse aus unregelmäßig übereinandergeschobenen Lagen. Dahinter die Wälder in strahlendem Sommerlicht. Die ungepflasterte Straße war geräumt, doch die Spuren der Explosionen, große Ölflecken und verstreut herumliegende Trümmerreste, waren noch zu sehen. Dann kamen die ersten Häuser von Sokal. Im Stadtzentrum knisterte noch die Glut einiger verlöschender Brände. Staubbedeckte Leichen zwischen Schutt und Trümmern, meist in Zivil, versperrten einen Teil der Straße. Gegenüber in einem Park standen, säuberlich aufgereiht im Schatten der Bäume, weiße Kreuze mit seltsamen kleinen Dächern. Zwei deutsche Soldaten malten Namen darauf. Dort warteten wir, während Blobel in Begleitung unseres Versorgungsoffiziers Strehlke zum Hauptquartier ging. Ein süßlicher, leicht ekelerregender Geruch mischte sich in den beißenden Rauch. Blobel kam schon bald zurück. »Alles in Ordnung. Strehlke kümmert sich um die Unterkunft. Kommen Sie mit.«

Das AOK hatte uns in einer Schule untergebracht. »Tut mir leid«, entschuldigte sich ein kleiner Wehrmachtsbeamter in zerknittertem Feldgrau. »Wir sind noch dabei, uns hier einzurichten. Aber wir schicken Ihnen die Rationen hinüber.« Unser stellvertretender Kommandeur von Radetzky, ein eleganter Balte, wedelte lässig mit einer behandschuhten Hand und lächelte: »Macht nichts. Wir bleiben nicht lange.« Es gab keine Betten, aber wir hatten Decken mitgebracht; die Männer setzten sich auf die kleinen Stühle der Schüler. Wir waren wohl an die siebzig. Am Abend bekamen wir tatsächlich eine fast kalte Kohlsuppe mit Kartoffeleinlage, rohe Zwiebeln und ein paar Klumpen dunkles, klebriges Brot, das schon beim Schneiden trocken wurde. Ich hatte Hunger, tunkte das Brot in die Suppe, bevor ich es aß, und biss in die Zwiebeln. Radetzky organisierte eine Wache. Die Nacht verlief friedlich.

Am nächsten Morgen sammelte unser Kommandeur, Standartenführer Blobel, seine Leiter um sich und begab sich mit ihnen zum Hauptquartier. Leiter III, mein unmittelbarer Vorgesetzter, hatte einen Bericht zu tippen und schickte mich als Stellvertreter. Der Stab der 6. Armee, das AOK 6, dem wir unterstellt waren, hatte sich in einem weitläufigen österreichisch-ungarischen Gebäude einquartiert, mit einer in heiterem Orange gehaltenen, mit Säulen und Stuck verzierten und von kleinen Splittern durchlöcherten Fassade. Ein Oberst, anscheinend ein Vertrauter Blobels, empfing uns: »Der Generalfeldmarschall arbeitet draußen. Folgen Sie mir.« Er führte uns in einen ausgedehnten Park, der sich von dem Gebäude bis zu einer Schleife des Bugs weit unten erstreckte. In der Nähe eines einzeln stehenden Baumes ging ein Mann in Badehose mit ausgreifenden Schritten hin und her, umgeben von einem summenden Schwarm Offiziere in durchschwitzter Uniform. Mit einem »Oh, Blobel! Guten Tag, meine Herren« wandte er sich uns zu. Wir salutierten. Es war Generalfeldmarschall von Reichenau, Oberbefehlshaber der 6. Armee. Seine gewölbte und stark behaarte Brust strotzte vor Kraft. In Fettpolstern steckend, in denen sich – trotz seiner athletischen Schultern – die preußische Feinheit seiner Züge verlor, glänzte sein berühmtes Monokel in der Sonne, unpassend, fast lächerlich. Ohne seine peinlich genauen Anweisungen zu unterbrechen, marschierte er stechschrittartig auf und ab. Wohl oder übel mussten wir ihm folgen, was nicht ohne Durcheinander abging; ich stieß mit einem Major zusammen und begriff nicht viel. Endlich blieb Reichenau stehen und entließ uns. »Ach ja! Noch etwas. Für einen Juden sind fünf Gewehre zu viel, die Zahl der Männer reicht nicht aus. Zwei Gewehre pro Verurteilten genügen. Wie viele für die Bolschewisten – das werden wir noch sehen. Bei Frauen können Sie ein vollständiges Erschießungskommando nehmen.« Blobel salutierte: »Zu Befehl, Herr Generalfeldmarschall.« Von Reichenau schlug seine nackten Hacken zusammen und hob den Arm: »Heil Hitler!« – »Heil Hitler!«, antworteten wir im Chor, bevor wir den Rückzug antraten.

Der Sturmbannführer Dr. Kehrig, mein Vorgesetzter, nahm meinen Bericht ziemlich mürrisch auf. »Ist das alles?« – »Ich habe nicht alles mitbekommen, Sturmbannführer.« Er verzog das Gesicht und spielte dabei zerstreut mit seinen Papieren herum. »Ich verstehe nicht. Von wem bekommen wir eigentlich unsere Befehle? Von Reichenau oder von Jeckeln? Und wo steckt Brigadeführer Rasch?« – »Ich weiß nicht, Sturmbannführer.« – »Sie wissen nicht gerade viel, Obersturmführer. Wegtreten.«