Die Wokeness-Illusion -  - E-Book

Die Wokeness-Illusion E-Book

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Beschreibung

Wokeness ist ein Kampfbegriff geworden. Das gilt sowohl für die Befürworter wie die Gegner einer Einstellung, die sich selbst als »wach« oder »aufmerksam« bezeichnet. Es gibt wenig sachlich begründete Auseinandersetzungen, dafür umso mehr Empörung. In diesem Buch werden zentrale Elemente von Wokeness kritisch geprüft: der Vorwurf der kulturellen Aneignung, die Forderung nach geschlechtergerechter Sprache, die Rede von strukturellem Rassismus, das Instrument der Cancel Culture und die Einführung einer geschlechtlichen Diversität. Die Autoren dieses Buches sind sich einig, dass die so kritisierte Wokeness nicht zur Abschaffung oder Einebnung von Unterschieden beiträgt, sondern im Gegenteil diese untermauert.

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Alexander Marguier, Ben Krischke (Hg.)

Die Wokeness-Illusion

Ein Cicero-Buch

Alexander Marguier, Ben Krischke (Hg.)

Die Wokeness-Illusion

Wenn Political Correctness die Freiheit gefährdet

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2023

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Verlag Herder

E-Book-Konvertierung: Röser MEDIA GmbH & Co. KG, Karlsruhe

ISBN (Print): 978–3-451–39556–7

ISBN (EPUB): 978–3-451–82999–4

Inhalt

Wokeismus Vorwort von Alexander Marguier

Ich so, du so Die Anfänge der Identitätspolitik und die Erfindung des Selbst

Von Ralf Hanselle

Rassisten wider Willen Kritische Anmerkungen zur Theorie des „strukturellen Rassismus“

Von Mathias Brodkorb

Nicht die Biologie, sondern das Gefühl Auf dem Weg in ein postfaktisches Geschlechtersystem

Von Ben Krischke

Empörung und Neoliberalismus Über woke Wirtschaft

Von Bernd Stegemann

Woke Washing Blendwerk für den politisch korrekten Konsum

Von Philipp Fess

Gerechte Sprache, schwere Sprache Wie woke Gerechtigkeitsvorstellungen Sprache und Literatur verfälschen

Von Ingo Way

Identität ohne Klasse Wokeness privilegiert die Falschen

Von Stefan Laurin

Die Menschheitsfamilie wird getrennt Zur Debatte um „kulturelle Aneignung“

Von Ralf Hanselle

Über die Autoren

Wokeismus

Vorwort von Alexander Marguier

Im zurückliegenden Bundestagswahlkampf überraschte der SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz mit der Feststellung, er verstehe sich als „intersektionaler Feminist“. Hätte er sich lediglich dazu bekannt, konsequent für die Gleichberechtigung der Frauen einzutreten und sich als künftiger Regierungschef etwa dafür stark zu machen, geschlechtsspezifische Gehaltsunterschiede zu überwinden – jedem wäre seine Botschaft verständlich gewesen. Aber es reichte ihm offenbar nicht, Scholz erweiterte seine feministische Agenda um den Begriff der „Intersektionalität“. Die traditionelle Wählerschaft der Sozialdemokraten dürfte mit diesem Wort zwar wenig anfangen können, jedoch sollte sie mit dieser Ansage auch gar nicht adressiert werden. Es handelte sich vielmehr um eine Unterwerfungsgeste gegenüber den Kulturkämpfern des „Wokeismus“, denen es darum geht, vermeintliche Opfergruppen immer feiner auszudifferenzieren und entsprechende Schnittmengen herauszuarbeiten. Beim „intersektionalen Feminismus“ soll eine Benachteiligung von Frauen folglich nicht nur aufs Geschlecht zurückgeführt werden, sondern zudem auf Merkmale wie Ethnizität, Klasse, Religion oder sexuelle Orientierung. Die (westliche) Gesellschaft ist diesem Ansatz zufolge ein vielschichtiges, ausuferndes, allgegenwärtiges Unterdrückungssystem – eine Art jetztzeitige Höllenfahrt wie auf einem Gemälde von Hieronymus Bosch.

Kein Wunder, dass die identitätspolitischen „Social Justice Warriors“ der postmodernen Linken ihre Ziele mit nachgerade religiösem Eifer verfolgen wie hysterische Hexenjäger des 16. Jahrhunderts: Als nichtfarbiger, womöglich noch dazu heterosexueller Mensch männlichen Geschlechts steht man diesem Konzept zufolge praktisch qua Geburt unverrückbar auf der Täterseite – und nur regelmäßige antirassistische Bußübungen können diese Erbsünde ein wenig entlasten. Wenn überhaupt. Der erweckte („woke“) Zeitgeist ist somit keineswegs progressiv, wie dessen Anhänger und Vorbeter es selbstgewiss behaupten, sondern vielmehr ein in hohem moralischem Ton vorgebrachtes antiaufklärerisches Glaubensbekenntnis. Noch dazu mit einer vernehmbar misanthropischen Note.

Wirklich problematisch wird es aber, wenn selbst ein künftiger (und inzwischen amtierender) Bundeskanzler den Gesslerhut der identitätspolitischen Aktivisten glaubt grüßen zu müssen. Zumal gerade ein Sozialdemokrat wie Olaf Scholz eigentlich gewarnt sein müsste. Denn kein Geringerer als der wirkmächtige US-Politologe Francis Fukuyama ließ in seinem schon 2018 erschienenen Buch mit dem Titel „Identität“ keinen Zweifel daran, dass der kulturelle Fokus der Identitätspolitik von ernsthaften Überlegungen darüber abgelenkt habe, „wie der dreißig Jahre währende Trend in den meisten liberalen Demokratien zu größerer sozioökonomischer Ungleichheit umgekehrt werden kann“. Nichts anderes kritisiert übrigens die Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht, wenn sie ihrer eigenen Partei vorwirft, dem woken Wahnsinn zu frönen, anstatt sich ernsthaft auch um die materiellen Lebensumstände der „kleinen Leute“ zu kümmern.

Der Niedergang klassischer linker Parteien (in Deutschland kämpft Die Linke inzwischen sogar um ihr schieres Überleben) korreliert nicht ohne Grund mit dem identitätspolitischen Eifer ihrer Funktionärsschicht: Wer seiner potenziellen Wählerschaft unentwegt einredet, Transphobie oder ein binäres Geschlechtermodell wären die eigentlichen Herausforderungen unserer Gesellschaft, oder jeden unter Rassismusverdacht stellt, der als hellhäutiger Geringverdiener an seiner eigenen vermeintlichen Privilegiertheit zweifelt, braucht sich über mangelnden Zuspruch nicht zu wundern. Schlimmer noch: Der Erfolg eines rechtspopulistischen Demagogen wie Donald Trump wäre ohne die ideologischen Exzesse des woken Milieus mit seiner wenig verhüllten Verachtung gegenüber der weißen Arbeiterschaft kaum denkbar gewesen. Als die demokratische US-Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton im Wahlkampf des Jahres 2016 die Trump-Anhänger als einen „Korb voller Bemitleidenswerter“ („basket of deplorables“) bezeichnete, war damit das Ende ihrer politischen Karriere besiegelt. Der Berliner Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel warnt denn auch dringend vor der kulturellen Hybris der Linken: Ein „kosmopolitischer Geist mit überschießender Moralität“ wirke wie ein Wachstumstreiber für den Rechtspopulismus. Nun könnte man sich fragen, warum linken Kulturkämpfern trotz ihres zumeist akademischen Hintergrunds nicht auffällt, dass sie eigentlich das Geschäft ihrer rechten Antagonisten betreiben. Die naheliegende Erklärung: Intellektualität und ideologischer Furor schließen einander keineswegs aus.

Meine Kollegen bei Cicero und ich haben uns in den vergangenen Jahren immer wieder ausführlich mit dem Phänomen der Identitätspolitik auseinandergesetzt. Der Begriff selbst dient in diesem Zusammenhang als eine Klammer für unterschiedliche Ausprägungen dessen, was in Deutschland um die Jahrtausendwende herum als „politische Korrektheit“ Karriere zu machen begann. Es fing ursprünglich harmlos an und wirkte zunächst wie ein Gebot der Achtsamkeit im gesellschaftlichen Miteinander: Dass eine Minderheit nicht verächtlich zu machen sei (etwa indem Sinti und Roma gegen ihren expliziten Willen als „Zigeuner“ bezeichnet werden), bedarf keiner weiteren Erklärung und folgt schlicht den Regeln der Höflichkeit und des Respekts. Aber irgendwann lief die Sache aus dem Ruder, als Rassismus zu einem strukturellen Massenphänomen deklariert werden sollte, das jedem Migranten, jeder Person of Color das Leben in Deutschland angeblich zur Hölle macht. Ähnliches vollzog sich auf dem einst tabuisierten Feld des Geschlechtlichen und der Sexualität: Anstatt sich innerhalb einer Gesellschaft darauf zu verständigen, dass Schwule, Lesben oder Transpersonen als absolut Gleichberechtigte anzuerkennen sind und keine wie auch immer gearteten Nachteile erfahren dürfen, wurde ein vor allem medialer Hype um Sex und Gender vom Zaun gebrochen, der für viele Menschen nicht mehr nachvollziehbar war und inzwischen zu einer regelrechten Frontstellung geführt hat zwischen LGBTQ-Lobbyisten auf der einen Seite und auf der anderen Seite jenen, die vom permanenten Regenbogen-Bekenntniskitsch genervt sind und die sich nicht einreden lassen wollen, dass es mehr als zwei biologische Geschlechter gibt.

Bedrückend an diesem Kampf der Identitäten – seien sie ethnischer, geschlechtlicher, religiöser, milieubezogener oder jedweder anderen Art – ist nicht nur die (Selbst-)Viktimisierung ganzer Bevölkerungsschichten, sondern die Unversöhnlichkeit, in der er geführt wird. Wenn jemandem etwa das Recht abgesprochen werden soll, überhaupt seine Meinung zu artikulieren, nur weil er oder sie nicht einer bestimmten Minderheit angehört und damit nicht über entsprechende (potenzielle) Diskriminierungserfahrung verfügt, ist kein zielführender Diskurs mehr möglich. Und am Ende finden wir uns wieder in einer Situation, in der „die woke Ideologie persönliche Sensibilität mit der Logik des Ausnahmezustands“ verbindet und daraus „ein aggressives Auftreten gegen die von ihr identifizierten Feinde“ abgeleitet wird, wie es Bernd Stegemann in seinem Beitrag für dieses Buch so treffend formuliert. Es wäre eine Art Regression in den Hobbesschen Naturzustand unter den Vorzeichen einer vermeintlich progressiven Gesinnung.

Die identitätspolitische Agenda ist in diesem Zusammenhang nicht nur ein Vehikel für ökonomische Interessen in Form regenbogenbunter Marketingkampagnen etwa von Speiseeisherstellern wie „Ben & Jerry’s“ (Unternehmensslogan: „Wir nutzen Eiscreme, um die Welt zu verändern“) oder klassischen Rentseekings jener wie Pilze aus dem Boden schießenden Nichtregierungsorganisationen, die im Namen der von ihnen vertretenen Minderheiten finanzielle Unterstützung durch den Staat einfordern. Der Wokeismus hat mit seinem moralischen Absolutheitsanspruch vor allem das Ziel, sich die renitente Bevölkerungsmehrheit zu unterwerfen und Widerspruch dauerhaft zu unterbinden. Das beginnt beim Einsatz von Soft Power in Form der verordneten Gendersprache an Universitäten und zunehmend auch in Behörden und öffentlichen Einrichtungen. Und endet schließlich am Abgrund kontrafaktischer Regelungen wie dem geplanten „Selbstbestimmungsgesetz“, wonach jeder Mensch in Deutschland sein Geschlecht künftig selbst festlegen und in einem einfachen Verfahren beim Standesamt ändern können soll.

Eine Gesellschaft aber, die gefühlte Wahrheiten zum Maßstab ihrer Verfasstheit erhebt, wird schneller erodieren, als der Weg zum nächsten Standesamt weit ist.

Ich so, du so Die Anfänge der Identitätspolitik und die Erfindung des Selbst

Von Ralf Hanselle

Die Geburtsstunde linker Identitätspolitik?

Der Tag, an dem das abendländische Denken einen Salto mortale hinlegte, war ein Donnerstag. An den Fensterfronten der Buchhandlungen von Paris drückten sich die Studenten der École normale supérieure ihre hochgetragenen Nasen platt. Es war der 20. Februar 1975, drei Tage nach Ende der Pariser Winterferien. In den Auslagen befand sich ein druckfrisches Taschenbuch aus dem Verlag Gallimard. In den philosophischen Fakultäten sollte es wie eine Bombe einschlagen: Hinter einem schlichten weißen Cover mit geschwungenem Schriftzug in Rot und Braun verbarg es, so zumindest ein damals immer lauter werdendes Gerücht, eine revolutionäre Theorie über Macht und Identität. Ihr Titel: „Surveiller et punir“, zu Deutsch „Überwachen und Strafen“. Autor der über 350 Seiten umfassenden Analyse war ein gewisser Michel Foucault, Psychologe, Philosoph und als engagierter Intellektueller in der französischen Öffentlichkeit kein Unbekannter. Mit Büchern wie „Wahnsinn und Gesellschaft“ oder „Die Ordnung der Dinge“ waren dem linken Professor, Lehrstuhlinhaber für die „Geschichte der Denksysteme“ am renommierten Collège de France, einige Bestseller gelungen. Sein politischer Protest für die Rechte von Homosexuellen oder für die Insassen in den Gefängnissen von Toul oder Nancy hatten dem Dandy mit dem weißen Rollkragenpulli zudem einiges an medialer Aufmerksamkeit beschert.

„Überwachen und Strafen“ aber sollte noch einmal alles in den Schatten stellen, was man selbst in der Fünften Republik von einem Vertreter der Federhalterzunft gewohnt war. Denn diese „Geschichte der Gegenwart“, wie der Autor sein eigenes Buch nannte, stellte die Philosophie Platons von den Füßen auf den Kopf. Der antike Starphilosoph hatte einst behauptet, dass der Körper das Gefängnis unserer Seele sei, und mit dieser These einen scheinbar unverrückbaren Glaubenssatz im sogenannten Leib-Seele-Dualismus geprägt. Doch mit sophistischem Foulspiel drehte ihn Foucault einfach um: „Die Seele: Effekt und Instrument einer politischen Anatomie. Die Seele: Gefängnis des Körpers“, lautet einer der zentralsten Sätze in „Überwachen und Strafen“, einem Buch, das an vielen Stellen vor irrationaler Poesie nur so strotzt, das sich aber vielleicht gerade deshalb auch jenseits der Grenzen des Quartier Latin so gut verkauft hat. Wie wir uns fühlen, was uns ausmacht, wer wir sind, das ist für Foucault nicht mehr durch unsere Körperlichkeit, durch biologische Grundkonstanten definiert, sondern wird durch die Beschränkung bzw. Zurichtung des Denkens bestimmt – und dessen Überwindung. Der oft gezogene Umkehrschluss: Was und wer wir sind, können wir per Willensentscheidung festlegen. Und jedes äußere Herantragen von Definitionskriterien an uns ist ein Gewaltakt.

Allein in Deutschland ist „Überwachen und Strafen“ mittlerweile in der 22. Auflage erhältlich. Und im angloamerikanischen Raum avancierte es, obwohl vom Katheder lange als typischer „Frog Fog“ belächelt, zur Matrix der poststrukturalistischen Wende, wie sie später von Jacques Derrida, Judith Butler oder Chantal Mouffe weiterbetrieben worden ist. Mochte man in den Seminarräumen also die großen Klassiker rezipieren, unter der Bettdecke verfielen die Studierenden immer öfter den erotisierenden, zuweilen gar sadomasochistischen Grenzgängen der neuen französischen Kulturtheorie. Bereits 20 Jahre später war Foucault zum meistzitierten Autor der Gegenwart aufgestiegen.

Dass ein Text über Identitätspolitik in Paris im Jahr 1975 beginnt, mag verwundern. Er könnte an vielen Orten und zu ganz unterschiedlichen Zeiten einsetzen: im englischen Bristol etwa, wo Aktivisten der Black-Lives-Matter-Bewegung im Juni 2020 ein Denkmal des einstigen Sklavenhalters Edward Colston vom Sockel geholt haben, oder an der Berliner Alice Salomon Hochschule: Hier hatte sich der Asta über ein angeblich sexistisches Fassadengedicht des Schweizer Lyrikers Eugen Gomringer echauffiert – und das derart energisch und lautstark, dass das konkrete Poem 2018 übermalt wurde. Er könnte auch in Manchester beginnen, wo 2018 ein Nymphenbild des Fin-de-Siècle-Künstlers John William Waterhouse vorübergehend abgehängt wurde, in Frankfurt, wo 2019 eine Gruppe namens „Frankfurter Hauptschule“ gegen eine angebliche Vergewaltigungsszene in einem Goethe-Gedicht protestierte, ja vielleicht sogar vor der Küste Libyens, wo 2017 Mitglieder der rechten Identitären Bewegung ein Boot gechartert hatten, um mit einer menschenverachtenden Aktion unter dem Titel „Defend Europe“ Flüchtlinge an der Überfahrt über das Mittelmeer zu hindern. Immer wieder ist in den zurückliegenden Monaten und Jahren der Begriff Identitätspolitik in den Debatten über die Phänomene unserer Gegenwart aufgetaucht. Meistens ging es um skurrile Symbolhandlungen an der Schwelle zwischen Kunst und Politik, die zuweilen tief in die Kunst- oder Meinungsfreiheit eingegriffen haben.

Cancel Culture heißt mittlerweile das Schlagwort, mit dem sich solcherlei Identitätspolitik verbrüdert hat. Doch will man diese Kette der kaum noch zählbaren Einzelfälle wirklich verstehen, so muss man hinter die Phänomene schauen. Und am Ende wird man dann vielleicht wirklich hier landen: im Pariser Winter von 1975, an jenem milden Februartag, als Foucaults Bestseller „Überwachen und Strafen“ und somit das gesamte poststrukturalistische Lehrgebäude seinen unaufhaltbaren Siegeszug durch das westliche Denken antrat.

Für den Duisburger Soziologen Robert Seyfert hat diese Erfolgsgeschichte viel damit zu tun, dass Foucaults Buch bis heute zahlreiche Anknüpfungspunkte zu Problemen unserer Gegenwart bietet: „Foucault hat eigentlich eine Geschichte der Formen der Subjektivierung geschrieben, er hat sich also mit der Frage beschäftigt, wie man als Mensch zum Subjekt gemacht wird. Das passt sehr gut zu den Problemstellungen des Feminismus oder der Gender Studies, also etwa zu der Frage, wie man in der Gesellschaft zur Frau gemacht wird.“

Die Antworten, die Foucault dazu geliefert hat, mögen überraschen: Indem er sich zunächst nämlich mit der Geschichte der Gefängnisse sowie mit den Methoden von Disziplinierung und Überwachung auseinandergesetzt hat, kommt er zu dem Schluss, dass der Mensch in sich das Resultat einer Unterwerfung sei, die viel tiefer ginge als er selbst. „Eine Seele wohnt in ihm und schafft ihm eine Existenz, die selbst ein Stück der Herrschaft ist, welche die Macht über den Körper ausübt.“

Fast fünf Jahre lang hatte sich Foucault zuvor Gedanken über die oft gnadenlosen Zustände in den französischen Gefängnissen gemacht. Er hatte mit Häftlingen gesprochen, Archive durchforstet, historische Abhandlungen gewälzt. Fazit: Der Gefängnisinsasse gehorcht nicht, weil er körperlich unterdrückt würde, er habe sich seine Seele und seine Persönlichkeit vielmehr selbst in einer komplexen Prozedur aus Bestrafung, Überwachung, Züchtigung und Zwang erschaffen. Identität, das ist für den engagierten Professor am Ende nur noch die Verinnerlichung von Vorgaben aus Amtsstuben und Behörden. Wir haben die „Technologien der Macht“ verinnerlicht; aus dem engen Bereich der Gefängnisse sind sie innerhalb der letzten Jahrhunderte in die Kasernen, die Schulen, die Fabriken eingedrungen und haben dort den Bewohner der Moderne hervorgebracht; jenen eigenartigen Typus Mensch, der keine fest umrissene Identität mehr mitbringt, sondern dessen Persönlichkeit in den Ordnungen und Strukturen der herrschenden Diskurse erst zugerichtet wird.

Es sind Sätze, wie sie seiner eigenen Autobiografie hätten entnommen sein können. Denn Michel Foucault blieb sich zeitlebens wohl selbst ein Fremder. Hinter seiner mönchischen Erscheinung verbarg sich nicht selten neurotische Einsamkeit. Getrieben von einem herrschsüchtigen Vater, unternahm er mit 22 Jahren einen ersten Selbstmordversuch, durchlief Therapien und Aufenthalte in psychiatrischen Anstalten. Doch die Identitätsfrage blieb die Sollbruchstelle seines Lebens: „Man frage mich nicht, wer ich bin, und man sage mir nicht, ich solle der gleiche bleiben: das ist eine Moral des Personenstandes; sie beherrscht unsere Papiere. Sie soll uns frei lassen, wenn es sich darum handelt, zu schreiben.“

Auf dem zu kurzen Weg bis zu seinem frühen Aids-Tod hat er seine Identitätszuschreibungen permanent gewechselt. Mal bezeichnete er sich als „nietzscheanischen Kommunisten“, dann wieder als „linken Anarchisten“, mal war er Maoist, mal „Sprengmeister der abendländischen Kultur“. Kurz: Michel Foucault war alles und nichts; vielleicht am ehesten ein Kunstwerk, wie er es in einem späten Interview einmal gesagt hat. Doch gerade dieser ständige Purzelbaum der Identitäten, die Leugnung eines tieferen Wesens zugunsten eines Spieles mit den Machtdiskursen, die uns als Mensch angeblich erst hervorgebracht hätten, hat den französischen Philosophen zu dem Vordenker moderner Identitätspolitik werden lassen – und das zunehmend bei Linken wie Rechten, in der Hoch- wie in der Subkultur.