Die Wolkenjäger - Zondra Aceman - E-Book

Die Wolkenjäger E-Book

Zondra Aceman

4,6

Beschreibung

Helena wurde als Kind von einem Schönheitswettbewerb zum nächsten gejagt und hasst deswegen ihre Schönheit. Sie empfindet diese sogar als Fluch. Lange Zeit nimmt sie männliche Blicke nur mit Abscheu wahr. Das ändert sich als sie Heiko trifft. Helena fühlt sich das erste Mal von einem männlichen Wesen verstanden und so entsteht schnell eine ungezwungene Freundschaft . Doch dann bricht Helena beim Eislaufen auf einem See ein und ertrinkt. Als sie die Augen öffnet, findet sie sich an einem magischen Ort wieder. Dem NieMannsland. Dort leben die Engel in einer Welt mit eigenen Gesetzen. Zum ersten Mal fühlt sich Helena nicht als Objekt, sondern angenommen und normal. Ihr Schutzengel Sebastian regt zudem noch ganz andere Gefühle in ihr. Doch wenig später ist ihr Glück und ihre neue Liebe schon wieder gefährdet. Sebastian eröffnet ihr, dass ihr „Unfall“ alles andere war als das. Außerdem ist ihr neues Leben im NieMannsland in Gefahr, da ein Verräter die Engel einer nach dem anderen vernichtet. Doch Helena hat zu stark nach der perfekten Liebe gesucht, als dass sie nun einfach aufgeben würde…

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Inhaltsverzeichnis

Die Wolkenjäger-Das NieMannsland von Zondra Aceman

Impressum

Für Susann

Nun kann ich Dich nicht mehr sehen, da Du selbst ein Engel bist,

aber ich bin wahnsinnig froh, Dir begegnet zu sein.

Ich vermisse Dich!

1

Liebste sag´, was blendete mich so, dass ich denken konnte, es sei die Sonne?

So sah ich dich an und mir wurde ganz warm.

Drum sag: War es wirklich die Sonne, die da schien auf mein Haupt?

Doch blickte ich zum Himmel, sah ich finstere Nacht.

Sag Liebste, warum blendetest du mich so, dass ich dachte du seist die Sonne?

Denn es umschloss mich das Grauen, trotz wärmender Strahlen, hält mich immer noch gefangen und lässt mich nicht mehr los!

Liebste sag, warum ließ ich mich von dir so blenden? Die Sonne sah ich niemals mehr … nur die Finsternis blieb!

Aus dem Tagebuch von Helena Amore

Der Mensch beurteilt Situationen immer mit der eigenen Wahrnehmung, und manche weichen von denen der anderen komplett ab.

Meine Empfindungen bringen die Leute im näheren Umfeld stets zum Kopfschütteln.

Das Wort Schönheit springt einem bei meinem Anblick entgegen. Dieser Begriff, der einem buchstäblich Tür und Tor öffnet, und über den jeder, der sie besitzt, eigentlich glücklich sein müsste! Doch für mich ist dieses Wort nur Illusion. Meine ganze Anmut gleicht einer Fantasiedarstellung. Unsere Sinne zeigen nur den äußeren Schein.

Die duftende Rose ist so wunderschön, doch ihre Dornen stechen. Ein Detail, das viele beim verliebten Betrachten oft vergessen. Der zarte Apfel, rot und pausbäckig, hat seine ganz eigene Attraktivität, doch auch die nur an der Oberfläche. Beißt du hinein, kannst du nie sicher sein, was dich erwartet, ferner, für was er missbraucht wurde.

„Meide den Schein“, hat Ignaz Klang einst gesagt! Und was haben wir daraus gelernt? Nichts!

„So sind wir eher wie Tiere“, offenbarte uns auch Douglas Coupland, „unser erster Instinkt, wenn wir etwas Schönes sehen, ist, es zu fressen.“

Und so ließ ich mich täglich verschlingen.

Mein Blick in den Spiegel empfing stets ein Gesicht mit makellosen Zügen: Hohe Wangenknochen, volle Lippen und große, grüne Augen mit langen, dunklen Wimpern. Die langen, kräftigen, dunkelblonden Haare dienten rein zur Zierde meines perfekten Aussehens. Mein wohlgeformter Körper hatte wohl alles zu bieten, was eine Frau sich erträumte und jeder Mann sich erhoffte. Selbst mein Name war zum Dahinschmelzen: Helena Amore.

Doch wollte ich das alles? Nein!! Früh machte ich mir Gedanken über die oberflächlichen Empfindungen, die ein jeder besaß, wenn er mich ansah!

Ging es denn wirklich für alle immer nur darum, wie gut man aussah? Interessierte es keinen, was man als Person darstellte? Vielleicht steckte ja eine Mörderin in mir, oder eine Hexe?

Was bedeutete schon gutes Aussehen, wenn man eine schwarze Seele besaß? Nicht, dass ich eine hatte, aber wenn es so wäre, hätte es keinen interessiert.

Ich litt unter dieser perfekten Hülle, doch keiner verstand mich! Wenn ich mir selbst eine Erklärung im Kopf zurechtlegte, dann kam ich immer nur zu einem Entschluss: Der Komplex meines Aussehens lag in meiner Kindheit begraben.

Schon mit drei steckte meine Mutter mich in süße Kostüme, um diverse Preise abzusahnen - und bis ich sechzehn war, hatte ich alles an Schönheitspreisen ergattert, was man nur haben konnte. Meine Mutter war so stolz auf ihr hübsches Mädchen und ich funktionierte nur für sie. Wir waren ja schließlich beide allein. Mein Vater starb sehr früh und ich wusste, für meine Mutter war ich jetzt ihr ein und alles, und gerade deswegen habe ich nie widersprochen. Eine normale Kindheit habe ich deshalb gar nicht wirklich gehabt. Es ging damals schon immer nur um mein Äußeres.

Ich glaube, keiner kann verstehen, wie man sich fühlt, nur als Hülle betrachtet zu werden! Zugegeben, ich hatte eine einwandfreie Verpackung, aber mein innerer Kern war völlig bedeutungslos. Es könnte totaler Müll in mir stecken und es würde keinen wirklich interessieren.

Okay, manche hassten auch das Schöne an mir. Wenn ich nicht auf ihre Blicke achtete, war ich arrogant und tat ich es doch, unterstellte man mir Eitelkeit. Gehüpft wie gesprungen, ich empfand es als Teufelskreis, in dem ich gefangen war. Normalsein war mein eigentliches Ziel. Doch ich wusste einfach nicht, wie ich das bewerkstelligen sollte. Ich kleidete mich privat nicht modisch, dennoch sah man mir hinterher. In einem Wahn hatte ich mir mal die Haare raspelkurz geschnitten und gedacht, ich könnte sie somit alle schocken, aber das Einzige, was wirklich geschah war, dass Kurzhaarschnitte plötzlich extrem „in“ waren. Und ich gab auf und ließ sie wieder wachsen, ganz nach dem Motto - schön lang und langweilig! Aber auch das half nicht wirklich etwas! Ich war und blieb verflucht!

Als gute Abiturientin lag mir eine berufliche Karriere offen. Böse Zungen sagten mir nach, ich hätte die guten Noten nur meiner Schönheit zu verdanken, natürlich… Doch diesen Ruf konnte ich dank meines beachtlichen Wissens immer wieder im Keim ersticken.

Ärztin war mein Traum-Beruf. Ich wollte anderen helfen und mich hinter dem Kittel und der Maske verstecken. Das hörte sich echt bescheuert an, vielleicht auch, weil ich es ernst meinte.

Und so landete ich tatsächlich in Kiel, um Ärztin zu werden. Zum Studienauftakt ging es zu einer Informationsveranstaltung.

Ein Glück, es war bereits Oktober. Ich hasste nämlich den Sommer, die Jahreszeit, wo man mich komplett wahrnahm.

Von weiter Ferne sah ich bereits zwei winkende Hände - meine Freundin Luzi Jahns, die ebenfalls 18 Jahre alt war. Wir waren schon früh eingeschult worden und hatten es tatsächlich geschafft, gemeinsam einen Studienplatz zu bekommen. Ich musste lachen, denn Luzi hatte es wieder einmal fürchterlich eilig.

Sie nannte mich immer ihre Glücksmarie. Sie konnte überhaupt nicht verstehen, dass ich es hasste, wie die Leute auf mich reagierten. „Eigentlich musst du doch nicht viel tun!“, hatte sie einmal gesagt, „du musst dich einmal am Tag melden und der Lehrer nimmt dich sofort dran, und natürlich weißt du dann auch die Antwort. Dann ist es so, als hättest du dich immer gemeldet, obwohl es gar nicht so ist!“

Und das Ding war, sie hatte recht! Luzi litt an ständigen Selbstzweifeln und unsere Freundschaft schien dies leider noch zu verstärken. Dabei war sie eine wirklich schöne Frau. Ihre fast schwarzen Haare trug sie zum Bob, und ihre funkelnden dunklen Augen waren immer voller Feuer und Leidenschaft. Sie selbst fand ihre Beine zu kurz, aber da ihre Körpergröße auch nicht der eines Modells entsprach, passte alles hervorragend zusammen. Luzi hatte eine sehr weibliche Figur und war seit zwei Jahren fest liiert. Ich hingegen war immer noch solo. Um ehrlich zu sein, ich hatte noch nie einen Freund, was Luzi einfach nicht verstand.

Nun, ich machte es den Männern auch nicht unbedingt leicht, denn irgendwie interessierte mich keiner von ihnen so richtig. Die meisten waren einfach zu sehr darauf bedacht mir zu gefallen, als sie selbst zu sein. Und die Verführer-Tricks einiger fand ich einfach nur lächerlich. Bis dato war mir keiner untergekommen, für den es sich wirklich lohnte zu kämpfen. Obwohl ich innerlich hoffte, dem Mann endlich zu begegnen, der mich liebte.

Egal! Jetzt hieß es erst einmal zur Uni gehen. Also lief ich weiter auf Luzi zu und wir fielen uns in die Arme.

„Mensch, ich kann es nicht glauben. Wir in der Uni!“, plapperte sie aufgeregt. Und wir hüpften wie kleine Mädchen im Kreis herum.

„Wir haben es uns verdient!“, sagte ich und kicherte.

„Meinst du, Amors Pfeil trifft dich nun endlich auch mal? Ich meine, Kevin und ich könnten ein weiteres Paar für unser Bowlingteam gut gebrauchen!“

Ich verdrehte die Augen: „Luzi, fang nicht schon wieder an.“

Sie lachte: „ War doch nur ein Scherz. Ich weiß ja, wie schwer du es dir machst.“ Sie seufzte laut und zog mich mit sich.

Unser erster Programmpunkt fand in der Universitätskirche statt. Eine ökumenische Andacht. Wir waren gerade auf dem Weg dorthin, als Luzi mich von der Seite anknuffte; „Hey, auf halb acht steht ein gutaussehender, wirklich nett wirkender Mann, der mustert dich schon die ganze Zeit! Und ich meine nicht die anderen zehn, die das auch tun.“

Ich verdrehte die Augen und Luzi schob mit ihrer Hand meinen Kopf in die Blickrichtung ihres „netten Mannes“.

Okay, er sah wirklich ganz gut aus, hatte dunkelblonde, glatte Haare mit einem neckischen Kurz-Haarschnitt. Seine Augen waren groß, sein Gesicht kantig. Der Blick, den er mir zuwarf, wirkte verlegen und überhaupt nicht angriffslustig, wie die einiger anderer Exemplare.

Ich nickte ihm zu und drehte mich dann wieder zu Luzi um. „Du hast recht, er sieht wirklich nett aus! Bist du nun zufrieden?“, flüsterte ich. Sie kicherte, als hätte ich gerade gesagt, dass ich mich verliebt habe und ich verdrehte erneut meine Augen.

Dann spürte ich eine Hand auf meiner Schulter. Ich wirbelte herum und blickte in ein braungebranntes Gesicht. Ein schönes Männergesicht, das typische Macho-Männer-Gesicht!

„Na Schönheit!“, sagte er cool, „Das ist doch mal angenehm, dass es nicht nur Fratzen unter den Neuankömmlingen gibt! Ich bin übrigens Markus von Gasseln.“

War der Kerl etwa echt? Ich sah erschrocken rüber zu Luzi und dieses Mal war sie es, die ihre Augen verdrehte. Dieser Typ war arrogant und total überheblich.

Er musterte mich unverschämt und seine Blicke wanderten ungeniert über meinen gesamten Körper. „Ich bin im vierten Semester“, sagte er und pfiff durch die Zähne, „Anatomie ist wirklich unglaublich, wenn man so etwas vor sich hat.“

Ich kam mir vor wie ein Stück Vieh und blähte meine Nasenflügel wütend auf. ‚Was bildete sich dieser dämliche Kerl eigentlich ein? ‘

„Helena komm!“, sagte Luzi nun laut, nahm meine Hand und drückte sie vorsichtig.

„Helena, die Schöne! Das passt ja…“, lachte der Schnösel. Na toll, jetzt wusste er auch noch meinen Namen.

„Was meinst du…“, fing er an, doch ich unterbrach ihn „Ähm, schön, dich kennengelernt zu haben. Wir müssen dann mal in die Kirche. Tschüss denn!“ Und dann drehte ich mich auf dem Absatz um und zog eine kichernde Luzi hinter mir her.

„Er ist immer noch verdutzt!“, lachte sie „Wahrscheinlich denkt er: Hey, hat die Kleine mich stehen lassen? Ich meine MICH, den Schönling, der jede haben kann! Mit der stimmt etwas nicht!“, unterstellte sie ihm ironisch.

„Du hättest lieber Schauspielerin werden sollen!“, lachte ich.

„Das wollte ich ja auch, aber meine Eltern meinten: Erst lernst du etwas Vernünftiges!“ Beim letzten Satz imitierte sie ihre Mutter.

Ich schüttelte mich vor Lachen über diese Ähnlichkeit. Ihre Eltern waren wirklich schwierig und ständig darauf bedacht, ihre Tochter zu trimmen. So vergaßen sie, komplett darauf zu achten, was Luzi eigentlich wollte. Genau wie bei meiner Mutter, die mich am liebsten nur als Model gesehen hätte. Dazu hatte sich Luzi eine lustige Weltfrieden-Parodie einfallen lassen, die mich jedes Mal zum Schreien brachte. Doch jetzt waren wir hier und folgten eigentlich beide meinem Wunsch.

Wir gingen also in die Kirche und standen ganz weit hinten, da alle Plätze belegt waren.

Schweigend spielte ich mit meinem Handy. Ich war so vertieft, dass ich gar nicht merkte, dass jemand sich neben uns gesellte. Erst als er mich ansprach, sah ich ihn an. Es war der nette junge Mann. Er wirkte total verunsichert.

„Hallo, ich bin Heiko!“, sagte er leise und reichte mir seine Hand.

„Hi, Heiko. Ich heiße Helena!“ Ich lächelte ihn an, packte mein Handy in die Tasche und erwiderte seinen Händedruck. Ich konnte mir nicht helfen, aber ich fand ihn sympathisch. „Auch dein erster Tag heute?“, fragte ich ihn leise zurück.

„Ja! Alles ist hier ziemlich unübersichtlich!“, grinste er irritiert.

„Wir haben uns vorher im Internet schlaugemacht“, verriet ich ihm.

Sein Grinsen war jetzt sicherer: „Das war clever! Hätte mir mal einfallen sollen.“ Er lachte und es kamen ein paar schöne weiße Zähne zum Vorschein. „Ich tue mich immer schwer mit neuen Begebenheiten.“

„Das geht mir genauso“, bestätigte ich. „Deswegen bin ich froh, nicht alleine hier zu sein. Darf ich dir meine beste Freundin vorstellen?“

„Gerne!“

„Das ist Luzi Jahns!“

Heiko ergriff nun auch ihre Hand und schüttelte sie. „Freut mich, dich kennenzulernen. Ich bin Heiko Peschke!“, stellte er sich ihr freundlich vor.

„Auch nett, dich kennenzulernen. Wo wir gerade bei Förmlichkeiten sind: Helenas Nachname ist übrigens Amore.“ Sie zwinkerte mir zu und ich rollte mit meinen Augen. „Studierst du Human-, oder  Zahnmedizin?“, fragte Luzi neugierig.

„Human-Medizin. Ich möchte Chirurg werden. Ich muss also nach dem Medizinstudium noch eine Fachausbildung absolvieren. Tja, ist noch ein langer Weg.“ Er sah wieder verlegen aus und kratzte sich am Kopf.

„Ach, das schaffen wir schon!“, behauptete ich leichthin.

„Wo nimmst du nur immer deine Selbstsicherheit her?“, sagte Luzi zu mir.

„Ich weiß es auch nicht, es ist mir wohl in die Wiege gelegt worden!“, frotzelte ich.

Sie seufzte: „Wie wahr!“ Dann versicherte sie. „Klar, werden wir das schaffen. Wir sitzen wohl alle im selben Boot.“

Heiko grinste: „Das ist doch schön!“ und erzählte uns dann, dass er nebenbei noch in einem Sportgeschäft arbeitete.

Ich hatte zwar genügend Geld zusammengespart, doch das war für Notzeiten. Ich hatte alles auf die Bank gebracht. Eisern hielt ich mich daran, meine Notreserven nicht anzurühren. Schließlich konnte man ja nie wissen. So arbeitete ich jetzt noch nebenbei als Modell - dank meiner lieben Mutter.

„Du könntest auch als Fotomodell arbeiten!“, warf Heiko nun ein und Luzi grinste „Das tut sie auch, wenn auch ziemlich widerwillig! Und ich bin wohl die Einzige in unserem Trio, die das Studium finanziert bekommt. Meine Eltern wollen es eigentlich mehr als ich!“ Sie verdrehte die Augen.

„Und ich weiß, du schaffst es mit links!“, beteuerte ich überzeugt.

„Und wenn nicht, dann hast du ja immer noch Plan B!“

„Ach, das sagst du immer. Du bist ja auch in allen Fächern gut.“ Sie zog eine Schnute.

Ich musste wieder lachen. „Du hast es nicht hierher geschafft, weil du schlecht warst, Luzi!“, erinnerte ich sie.

„Das war alles nur Glück!“, rechtfertigte sie sich.

„Können!“, verbesserte ich.

„Oder beides?!“, schlug Heiko uns vor.

Nun mussten wir alle kichern. Heiko war angenehm und er passte genau in unseren Kreis. Dann tat sich etwas. Um uns herum wurde es unruhig. Überrascht schauten wir auf die Studenten, die jetzt alle nach draußen strömten. Wir hatten soeben die komplette Andacht verpennt.

„Okay! Die Andacht können wir vergessen, jetzt ist die Begrüßung dran. Aber vorher spielt noch eine Big Band. Na, da bin ich ja mal gespannt“, meinte Luzi.

Heiko folgte uns. „Armer Kerl, ich weiß nicht, ob ich in deiner Haut stecken möchte!“, flüsterte Luzi ihm zu.

„Wieso?“, fragte er ganz leise.

Verschwörerisch neigte sie sich zu ihm und wisperte: „Na, die meisten bewundern es, dass du hier  mit der göttlichen Schönheit - vorbeieilst, aber der andere Teil wirkt eher kampfbereit.“ Sie nickte zu einigen Männern, die sehr eifersüchtig aussahen.

„Luzi!“, warnte ich sie. Sie wusste genau, dass ich es hasste, wenn man über mein Aussehen redete.

Sie zuckte jedoch nur mit den Schultern und sagte zu Heiko: „Sie will nicht nur als Schönheit gesehen werden!“

„Luzi!“, schrie ich jetzt wirklich sauer.

„Aber was denn, meinst du, Heiko hat es noch nicht bemerkt?“, erklärte sie leicht genervt.

Heiko wurde rot. Es war natürlich total albern, aber mich wurmte der Gedanke, dass er wegen meines Aussehens zu uns Kontakt aufgenommen hatte.

Schweigend gingen wir in den Hörsaal. Der Raum war so aufgebaut wie ein Kino. Unten war die Tafel mit Pult und nach oben weg gingen noch einige Tische hoch. Wir setzten uns in die oberste Stuhlreihe. Unten spielte die Bigband. Sie war wirklich gut. Danach wurden wir begrüßt. Es dauerte ziemlich lange, denn diese Veranstaltung bezog alle Studierenden der verschiedensten  Bereiche mit ein. Mir gefiel der lockere Ton und ich hoffte, dass es immer so spontan und nett weiterginge. Es folgte eine Beratung in der medizinischen Fakultät und dann ging es weiter mit einer Stadt- Rallye durch Kiel. Da wir sehr wohl mit dem Standort Kiel vertraut waren, beschlossen wir uns stattdessen in ein Café zu setzen, um zu plaudern. Neugierig verfolgt von einer Handvoll männlicher Wesen, gingen wir in eine Studentenkneipe um die Ecke.

Die „Bazille“, so hieß das Lokal, war ziemlich voll. Als ich die Räumlichkeiten betrat, ging ein Raunen durch den Raum. Ich war es schon gewohnt und auch Luzi versuchte, es zu ignorieren. Heiko jedoch blickte sich unsicher um.

Wir steuerten auf den einzigen freien Tisch direkt neben dem Eingang der Toiletten zu. Als wir uns gerade hinsetzen wollten, kam die Kellnerin zu uns und sagte. „Hey, die drei Typen haben noch drei Plätze an ihrem Tisch frei und fragen, ob sie euch einladen dürfen?“ Sie wartete auf eine Antwort.

„Nein“, wollte ich rasch erwidern, aber Luzi kam mir wie immer zuvor. „Gerne!“, sagte sie bestimmt und zog mich mit. Heiko sah enttäuscht aus und folgte uns ebenfalls. Ich seufzte übertrieben laut. Luzi wusste genau, dass ich das alles hasste.

Die drei Männer musterten mich, als wir an ihren Tisch kamen und grinsten um die Wette. Wir setzten uns dazu und stellten uns vor. Dann ging es los. Gegenseitig protzten die Männer jetzt vor mir, sie absolvierten ein Sportstudium und waren alle drei sehr durchtrainiert, was sie mir unbedingt beweisen wollten.

„Pfauenalarm“, schrie ich innerlich.

Der erste erzählte vom Kampfsport und wollte mir gerne zeigen, dass er Spagat zwischen zwei Bänken machen konnte. „Ein andermal“, vertröstete ich ihn.

Der andere, ein breiter Kerl, war Bodybuilder und zeigte mir sein Sixpack. Er trainierte jeden Tag drei Stunden, um seinen Körper so zu stählen. Ich fand das eintönig. Es gab sicherlich Interessanteres, als ständig im Fitnessstudio zu hängen. Dennoch wollte er gerne, dass ich bei irgendeinem Wettbewerb zusah. Ich blieb ihm eine Antwort schuldig und lächelte nur.

Der letzte war Fußballstar in der Regionalliga. Er zitierte freudig seine Zeitungstexte. Ohne ihn lief natürlich nichts. Ich stöhnte innerlich. Warum konnten sie nicht einfach normal sein? Heiko bekam das schließlich auch hin. Dankbar schaute ich zu ihm herüber. Wir tranken noch einen Cappuccino und irgendwann verabschiedeten wir uns. Ich war belagert mit drei neuen Telefonnummern und steckte diese emotionslos in die Tasche.

 Es war irgendwie kälter geworden und ich zog den Reißverschluss meiner Jacke nach oben. Ich bemerkte Heikos verdutzten Blick.

„Geht das bei dir immer so?“, fragte er und zog sich seine Mütze auf. Er hatte in der „Bazille“ wenig geredet, jetzt wollte er es anscheinend nachholen.

„Ja!“, seufzte ich.

„Ist das nicht ganz schön… nervig?“, fragte er langsam weiter.

„Es ist ein Fluch!“, bemerkte ich leise und sah ihm ernst in die Augen.

Luzi lachte: „Ich will auch so einen Fluch - Los, sprecht einen aus!“ Enttäuscht blickte ich sie an. Sie konnte es einfach nicht verstehen, auch nicht nach all den Jahren, die wir uns jetzt schon kannten. Auch Heiko sah mich mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck an. Ich drehte mich abrupt um und schwieg den weiteren Weg bis zur Bushaltestelle.

„Mit welcher Linie musst du fahren?“, fragte Heiko plötzlich.

„Mit der drei, ich habe eine kleine Studentenbude in der Bangelstraße!“, verriet ich ihm.

„Echt … Ich auch!“, lachte er und griff unsicher an seine Mütze.

„Das nennt man wohl Schicksal!“, Luzi stupste mich an und ich stöhnte genervt. „Na denn, ihr Beiden, ich fahr dann mal mit meinem Auto - in die andere Richtung.“ Luzi umarmte mich:  „Sei nicht böse, ja?“

„Bin ich doch nie!“, beteuerte ich und löste dann die Umarmung.

„Grüß Kevin von mir!“

„Mach ich!“, rief sie im Davonlaufen und spurtete über die Straße. Sie war wieder am Rennen. Typisch Luzi. Immer hektisch.

2

Springt das Schöne in deine Augen und macht dich tatsächlich blind? Dann hoffe ich, du bist der, der auch im Dunkeln sehen kann!

„Warum seid ihr nicht zusammen gezogen?“, fragte Heiko, als wir auf den Bus warteten. „Ich meine, das wäre doch sicherlich billiger gewesen?“

Das war sicherlich keine Absicht von ihm, aber er traf einen wunden Punkt. Denn bevor es Kevin gab, wollten Luzi und ich immer zusammen eine Studentenwohnung beziehen. Aber mit ihrem Freund änderte sich alles. Zuerst wollten wir zu dritt zusammenziehen. Unser Studienplatz wurde Kiel. Und als es dann fast so weit war, nahm mich Luzi zur Seite und erklärte, dass sie es nicht ertragen könnte, wenn ich mit ihrem Kevin unter einem Dach wohnen würde. Sie würde sich dann immer fragen, warum er mit ihr zusammen wäre, statt mit der schönen Helena. Das hat mich ganz schön verletzt. Ich gab es nicht zu, sondern sagte freundlich, dass man junges Glück nicht stören dürfte. Ich ließ sie in dem Glauben, ohnehin eine andere Bleibe im Sinn gehabt zu haben, seit feststand, dass Kevin mit nach Kiel gehen wollte.

Das war zwar komplett gelogen, aber das war mir egal. Sie umarmte mich und versprach, immer für mich da zu sein. Übers Internet fand ich dann eine Ein-Zimmer-Wohnung. Ich meldete mich widerwillig bei der Fotoagentur an, um noch ein wenig Extra- Geld zu haben und meine Mutter war glücklicher denn je. Sie verstand überhaupt nicht, dass ich mir mit einem Studium das Leben so schwermachte. „Wenn man so gut aussieht wie du, dann kann man ganz andere Beträge kassieren. Schönheit zahlt sich immer aus, Helena!“, belehrte sie mich stets.

Heiko räusperte sich und holte mich damit in die Wirklichkeit zurück. „Luzi wollte lieber mit ihrem Freund zusammenziehen. Junge Liebe eben!“, antwortete ich schließlich und lächelte, ohne es zu meinen.

Er stutzte und machte den Mund auf, als wenn er etwas sagen wollte, dann stockte er kurz und erwiderte schließlich: „Das ist bestimmt nicht leicht … so ganz alleine!“

„Ach, das macht mir nichts aus!“, log ich. Woraufhin er mich wieder musterte und schwieg.

Endlich kam der Bus. Wir stiegen ein und er setzte sich neben mich. Zwei Kerle standen da und stießen sich an. Eine Frau neben uns, begutachtete mich ebenfalls. In ihrem Blick stand blanker Neid.

„Du willst sicher nicht mit mir tauschen“, dachte ich nur. Heiko schluckte laut neben mir. „ Alles klar mit dir?“, fragte er leise, „Ich meine, es ist doch bestimmt ätzend, wenn man immer so angegafft wird, oder merkst du das nicht mehr?“

„Doch, ich merke es schon, aber was soll ich machen? Einen Sack über den Kopf ziehen? Oder ein Schild tragen: Gucken verboten!“, bemerkte ich trocken.

„Es nervt dich also wirklich. Ich meine … du wirkst äußerlich gelassen, aber deine Augen sagen etwas ganz anderes“, sagte er vorsichtig.

„Du wirst bestimmt ein guter Mediziner. Du blickst hinter alles, oder?“, lenkte ich ab. „Ich merke nur, wenn man mir etwas vormacht. Glaub mir, meine Eltern waren jahrelang Experten darin, mir etwas vorzumachen.“ Nun sah er geknickt aus.

„Oh!“, fiel mir nur ein.

„Was erhoffst du dir vom Leben? Was nervt dich?“, fragte er. Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte.

Insgeheim wartete ich auf jemanden, bei dem ich mir sicher war, dass er mich liebte, die innere Helena, und nicht die schöne Hülle. Und es sollte natürlich nicht erst passieren, wenn ich grau und alt war. Das laut zu sagen, kam natürlich gar nicht in Frage.

Er sah mich weiterhin an „Sind die Fragen zu schwierig, um sie zu beantworten?“, fragte er geduldig.

Hinter uns pfiffen jetzt die Typen. „Idioten!“, wisperte Heiko leise. Ich schaute ihn an: „Ich will einfach nur ernst genommen werden. Es ist schwer für mich. Mich nerven im Prinzip alle, die mich ansehen, als sei ich ein Affe im Zoo!“

Meine Worte ließen ihn rot werden. Und das ließ mich hochschrecken. „Oh, ich meinte jetzt nicht dich“, erklärte ich ihm deshalb schnell wegen seiner Reaktion. Doch damit machte ich es nur noch schlimmer.

Er drehte sich um und sagte beleidigt „Hättest du doch gleich sagen können, dass ich dich nerve!“

„Heiko, so war das nicht gemeint“, versuchte ich, ihn zu überzeugen.

Er drehte sich wütend zu mir;  „Wer sagt, dass ich dich nicht auch wie einen Affen im Zoo betrachtet habe … ich meine, du bist wirklich unglaublich hübsch. Und jeder sieht es. Du selbst siehst es doch auch…“

„Ich habe nie darum gebeten, so angestarrt zu werden“, unterbrach ich ihn. „Ich will nur ein normales Leben führen. Einen Mann an meiner Seite haben, der mich meiner selbst wegen liebt und nicht wegen meines Äußeren, aber das verstehst du sicher nicht. Du siehst auch nur meine Fassade!“, schleuderte ich ihm enttäuscht entgegen und stand auf. Es ärgerte mich, dass ich so die Fassung verlor. Ich lief in Richtung des hinteren Ausgangs. Die beiden Typen grinsten mir im Gang entgegen und bauten sich nun mit der Brust voraus vor mir auf. „Na, Süße, können wir dich ein Stück begleiten?“, fragte der Braunhaarige mit der Lederjacke und grinste schief. Er hielt sich wohl für unwiderstehlich. Der andere kicherte… Der mit der Lederjacke legte sogar die Arme um mich. Sauer schob ich sie wieder zurück. „Zier dich nicht so! Dein Freund ist doch ziemlich langweilig, im Gegensatz zu mir.“ Lederjackenboy grinste wieder schief. Dann versuchte er wieder, seine Arme um mich zu legen, hielt aber plötzlich inne, weil Heiko von vorne schrie:

„Helena … warte doch!“

Ich ignorierte ihn. Wütend kämpfte ich gegen die Tränen an. Der Bus hielt, auch wenn es nicht meine Haltestelle war, stürzte ich an den beiden Typen vorbei hinaus ins Freie. Dann begann ich zu laufen.

Hinter mir hörte ich Heikos Rufen. „Helena, entschuldige bitte“, rief er mir laut hinterher.

„Lass mich einfach in Ruhe!“, forderte ich ihn abwehrend auf und die Tränen liefen mir nur so über mein Gesicht. Ich lief weiter. Zwei Blöcke noch bis nach Hause. Keuchend versuchte Heiko mich einzuholen, doch ich war eine gute Läuferin.

Endlich erreichte ich die Straße zu meinem Apartment und rannte zur Haustür. Blindlings stocherte ich im Schlüsselloch herum. Ich war jetzt richtig am Heulen. Als ich gerade die ersten Schritte in die geöffnete Tür tat, fasste mich jemand keuchend von hinten an die Schulter.

„Helena“, hörte ich Heiko, „Es … tut mir echt leid, ich wusste nicht, dass du so … empfindlich bist … ich meine … wer will nicht … schön sein?“ Er versuchte erneut, Luft zu sammeln.

Ich wollte ihn nicht ansehen und versuchte, seine Hand von mir zu lösen, die mich immer noch festhielt.

„Würdest du mich bitte loslassen?“, bat ich, mit meiner Selbstbeherrschung kämpfend.

„Ich … gehe nur, wenn du … dich umdrehst … Und mir sagst, dass… du nicht sauer bist!“ Er japste noch immer.

Also drehte ich mich um, senkte meinen Blick und schaute auf den Boden. Dann sagte ich: „Alles ist gut, ich bin nicht sauer!“

Ich wollte mich schnell wieder umdrehen, aber er verhinderte das.

„Hast du … geweint!?“, fragte er erschrocken.

„Nein!“, gab ich viel zu schnell zurück „Das ist nur der Fahrtwind … ähm … vom Laufen!“, stotterte ich.

„Du lügst!“, sagte er und hob meinen Kopf „Ich wollte dir echt nicht wehtun. Wer konnte denn ahnen, dass du so empfindlich bist.

Ich meine, schau dich doch mal an…“ Sein Atem hatte sich mittlerweile beruhigt und er sah mir jetzt in die Augen.

„Okay!“, meinte ich ruhig. Er verstand absolut gar nichts, wie alle anderen auch. Doch irgendwie wollte ich, dass er mich verstand. Ich weiß auch nicht, aber er war nett und hatte etwas an sich, das mir sagte, dass er ein guter Freund werden könnte. Ich holte tief Luft und sagte: „Ich lade dich ein, mit mir den nächsten Tag zu verbringen. Stell dich drauf ein, dass wir sehr viel unter Menschen sein werden. Und wenn du mich dann immer noch nicht verstehst, dann weiß ich auch nicht.“

„Abgemacht!“, sagte er schnell und strahlte mich an.

„Gut, dann lass mich jetzt los. Nach der letzten Vorlesung geht es los! Bis morgen!“ Ich drehte mich um.

„Bis morgen!“, wiederholte Heiko. „Einen schönen Tag, Helena!“, fügte er noch hinzu und verschwand zögernd.

Ich schleppte mich in mein winziges Zimmer und legte mich aufs Bett. Für viele war es einfach unbegreiflich, wie ich agierte. Nehmen wir zum Beispiel Luzi. Sie hielt mich für komplett verrückt. Die Aufmerksamkeit, die ich verursachte, wenn ich unterwegs war, empfand sie als angenehm, denn sie wurde ebenfalls angesprochen.

Obwohl sie oft meckerte, dass die Jungs ja sowieso nur mit ihr redeten, weil sie mich kennenlernen wollten. Dennoch genoss sie ihr Interesse. Und so hatte sie ja auch Kevin kennengelernt. Seitdem waren sie unzertrennlich. Doch für mich war es eine Tortur unter Menschen zu sein. Ich meine, seit ich drei Jahre alt war, gab es schließlich nur ein Ziel: Meine Schönheit zu vermarkten. Vielleicht war es deshalb so schwer für mich zu sehen, wer Helena - die Denkende - sah, und wer nur die Hülle mochte. Heiko zumindest hatte erst nur mein Äußeres gesehen, wie alle, das hatte er selbst zugegeben. Ohne mein Aussehen hätte er mich niemals so schnell angesprochen. Meine Schönheit würde jeder Freundschaft im Wege stehen, dachte ich, und fing erneut an zu heulen.

Am nächsten Tag sah ich Heiko morgens am Bus stehen. Er wartete auf mich und begrüßte mich vorsichtig. Ich grüßte freundlich zurück. Ich trug meine Haare offen und nicht unter einer Mütze versteckt, wie ich es am liebsten tat, denn ich wollte etwas demonstrieren - und das konnte ich so am besten.

„Na, hattest du wenigstens noch einen schönen Nachmittag?“, fragte Heiko.

Ich biss mir auf die Unterlippe. „Ich hatte noch einiges zu tun“, log ich, dann bat ich ihn darum, eher im Hintergrund zu bleiben, denn ich hoffte, er würde so besser sehen und verstehen, was ich jeden Tag erleben musste.

An der Bushaltestelle warteten noch andere Studenten. Wie immer traktierten sie mich mit ihren Blicken. Heiko sah es und schien nicht verwundert zu sein, dass sie mich von oben bis unten musterten und aufgeregt miteinander tuschelten.

Einer kam schließlich rüber und fragte mich, ob wir uns nicht kennen würden, was ich verneinte. Jeder Zweite versuchte diese Art von Anmache. Er ging zurück und zuckte mit den Schultern.

Das brachte den Freund von ihm in Wallungen und dieser kam  ebenfalls selbstsicher herüber und fragte, ob ich mit ihm am Abend Essen gehen wollte. Wieder sagte ich höflich: „Nein, danke.“

Ein anderer setzte sich im Bus neben mich und griff mir gleich ans Bein. Ich trat ihm sauer auf seinen Fuß und stand auf.

Dann setzte ich mich woanders hin. Heiko verfolgte alles und sah nun schon geschockt aus.

Nachdem wir wieder aus dem Bus ausgestiegen waren, gingen wir schweigend nebeneinander her.

Auf der anderen Straßenseite wurde Gejohle laut. Eine Gruppe Jugendlicher zeigte auf mich und deutete an, was sie gerne mit mir machen wollten. Sie schoben ihr Becken nach vorne und stöhnten laut, dabei lachten sie. Heikos Gesicht bekam vor Wut eine rote Färbung.

„Willkommen, in meiner Welt!“, bemerkte ich gleichmütig.

„Was, zum Henker, denken sich diese Kerle bloß?“, fragte er immer noch sauer.

Ich sagte nichts dazu, sondern starrte zurück zu den Jugendlichen, die immer noch zu mir rüber sahen. Ich seufzte laut und drehte mich zu Heiko. „Aber es ist doch nicht immer so?“, fragte er.

„Dieser Tag beginnt heute noch recht harmlos“, antwortete ich kurz. Er schüttelte den Kopf, als wenn er das nicht glauben konnte.

In der Aula wartete Luzi schon und auch der braungebrannte Markus. Wahrscheinlich sah er mich als ein Statussymbol, das zu ihm passte. Er strahlte mich an: „Na, Schönheit, heute ist dein erster offizieller Tag, nicht wahr?“, fragte er honigsüß.

„Ja!“, bestätigte ich knapp. Ich konnte Männer, die sich keine Namen merken konnten, nicht leiden.

„Wollen wir beiden Hübschen nachher noch einen Kaffee trinken?“ Er legte seine Hand wie selbstverständlich auf meine.

Heiko sah es und blitzte ihn an: „Sie hat sich schon mit mir verabredet!“

„Was bist du denn für einer?“, lächelte er ihm nun süffisant zu und hielt mich weiter fest.

„Er ist der, der heute mit mir den Tag verbringt! Das hat er doch bereits gesagt“, erinnerte ich ihn und versuchte mein süßestes Lächeln. Markus ließ mich los. Heiko plusterte sich auf und sah wirklich aus, als ob er dem Schönling gleich eine reinhauen wollte.

„Na dann! Vielleicht morgen!“, sagte dieser und machte sich schleunigst davon. Wahrscheinlich hatte er Angst um sein Gesicht. Ich sah ihm amüsiert hinterher.

„Arroganter Affe!“, brummte Heiko und ich musste lachen.

„Spar deine Kräfte lieber auf, der Tag hat gerade erst angefangen!“, sagte ich und ging Richtung Klassenzimmer.

„Na, dann hoffe ich mal, dass die sich jetzt alle besser benehmen!“, murmelte Heiko und folgte mir.

Die erste Vorlesung war super langweilig, wir hatten einen Professor, der wirklich ermüdend war. Ich musste mich zusammenreißen, um nicht laut zu gähnen.

„Niemand hat gesagt, dass Lernen Spaß machen soll“, zwinkerte mir ein sommersprossiger junger Mann zu.

Gelangweilt verdrehte ich die Augen „Ja, aber es könnte Spaß machen!“, flüsterte ich zurück.

Er beugte sich näher zu mir und murmelte „Vielleicht gehen wir nachher noch in die „Bazille“, willst du mitkommen? Danach können wir sicher Spaß haben. Du und ich! Alleine!“ Er blinzelte nun verschwörerisch. Was Männer damit meinten, habe ich noch nie begriffen. „Ich hab´ leider schon was vor“, gab ich zurück.

„Oh, schade! Wir beide wären bestimmt fantastisch zusammen … was meinst du?“ Ich antwortete nicht mehr, sondern versuchte nun angestrengt dem Professor zu folgen. Heiko grummelte etwas hinter uns.

Als die Vorlesung zu Ende war, trafen wir uns im Foyer. Luzi verabschiedete sich schnell, denn sie wollte mit Kevin in die Saunalandschaft verschwinden.

„Und nun?“, fragte Heiko und sah mich erwartungsvoll an.

„Jetzt fahren wir in die Innenstadt“, antwortete ich. Eigentlich hasste ich die City, aber um ihm etwas zu demonstrieren …, dafür war sie gut genug.

Er folgte mir und wir gingen zu Fuß in Richtung Stadtmitte. Ein Auto hupte, als ich über den Zebrastreifen ging. Als ich rüber blickte, winkte mir ein älterer Mann freundlich zu. Er kurbelte die Fensterscheibe runter und schrie: „Soll ich sie irgendwohin mitnehmen?“

Heiko schluckte hörbar hinter mir und schrie zurück: „Das hättest du wohl gerne, du alter Sack! Sie geht mit mir …“

Ich musste lachen. Man merkte, dass er richtig wütend war. Ein erneutes Hupen ließ ihn herumfahren. Ein Mann winkte mir zu und zwinkerte. „Seid ihr alle total bescheuert, sie ist doch kein Freiwild!“, schimpfte er jetzt aufgebracht.

„Beruhige dich, es ist heute noch gar nichts Schlimmes passiert. Am schrecklichsten sind die Discobesuche, denn da sind sie alle besoffen und kommen so richtig aus sich raus.“ Das war auch der Grund, warum ich nie in diese Tanzlokale ging. Die Betrunkenen hatten überhaupt keine Scheu mehr und waren zu allem bereit.

„Ich möchte gar nicht mehr in die Stadt“, sagte Heiko plötzlich.

„Ich habe es jetzt schon verstanden! Und wenn das noch harmlos war, möchte ich nicht wissen, was noch alles passieren könnte.“ Wir waren gerade auf der anderen Straßenseite angekommen und standen uns gegenüber.

Plötzlich wurde ich von hinten geschubst und ein Mann packte meinen Arm. „Entschuldigen Sie, hübsches Fräulein!“, säuselte er und ließ meinen Arm nicht los, sondern glotzte an mir herunter. „Sind sie Schauspielerin?“

Heiko entfernte den Arm mit hochrotem Gesicht und sagte aufgebracht:„ Nein, sie ist keine Schauspielerin und wenn, dann gibt es Ihnen noch lange nicht das Recht sie anzufassen … lass uns in einem Supermarkt was zu essen kaufen und bei dir oder mir was kochen. Dann können wir reden. Nur weg von diesen ganzen ekligen Gaffern!“, schlug er vor und ich nickte dankbar. Wütend blickte Heiko hinter dem Mann her, der sich jetzt schleunigst davonmachte.

„Einverstanden!“, sagte ich ruhig.

Wir holten alle Zutaten für eine Gemüsepfanne. Heiko wehrte noch ein paar Männer mehr ab, die dreist wurden und dann nahmen wir den Bus nach Hause. Wir fuhren zu mir, denn Heiko gestand mir, dass er nur einen Raum hatte mit Kochplatte. Ich hingegen besaß zumindest eine Küche mit Esstisch. Wenn auch nur eine kleine! Heiko entpuppte sich als guter Koch. Er hantierte mit dem Messer so geschickt, dass ich neidlos zugeben musste, ihn als guten Chirurgen zu sehen. Die Paprika, Möhren, Auberginen und Zwiebeln waren hauchdünn geschnitten und dünsteten nun in der Pfanne. Es roch lecker und ich sah zu, wie er Tomaten und Gewürze ebenfalls in die Pfanne gab.

„Wo kommst du eigentlich her?“, fragte ich ihn.

„Aus Hamburg“, antwortete er kurz.

„Was ist mit deiner Familie? Vermisst du sie?“ Er antwortete nicht, sondern konzentrierte sich intensiv auf das Rühren. „Sprichst du nicht gerne über deine Familie?“, fragte ich und musterte ihn.

„Nein … Das Verhältnis zu meinen Eltern ist ziemlich kompliziert!“ Seine Worte klangen bitter.

„Du hattest gestern schon so etwas angedeutet!“ Ich sah ihn lange an und erinnerte mich an das, was er mir erzählt hatte „Was meintest du damit, dass sie dir jahrelang etwas vorgemacht haben?“

„Ich will nicht darüber reden!“, sagte er plötzlich barsch. Geschockt über seinen Ton, hielt ich meinen Mund und sah nach unten. Dann spürte ich plötzlich seine Hand auf meinen Arm. Als ich hochguckte, sah ich einen gequälten Gesichtsausdruck und traurige Augen. „Entschuldigung Helena, ich wollte dich nicht so anfahren. Aber ich möchte einfach nur vergessen, verstehst du?“ Natürlich verstand ich das! Meine Kindheit war auch nicht gerade berauschend und ich hasste es, daran zu denken. Ich sah ihn also an und lächelte.

Er atmete erleichtert aus und widmete der Pfanne erneut seine volle Aufmerksamkeit. Was er wohl selbst erlebt hatte? Es musste ihn wirklich bedrücken. Es sah so aus, als ob wir doch mehr gemeinsam hatten, als ich bisher ahnte.

Das brachte mich zum Schmunzeln. Er sah es und griente ebenfalls.

„Essen ist fertig!“, kündigte er schließlich an. Mit zwei Tellern und Gabeln setzte ich mich zu ihm an den Tisch. Kauend lobte ich sein Essen.

Wir sprachen noch über dies und das und ich bemerkte, wie einfach es war, mit Heiko zu reden. Es war verwunderlich, denn ich hatte noch nie mit einem Jungen so intensiv geredet. Keine Angeberei, keine Anmache. Nichts!

Ich relaxte immer mehr und fühlte mich super wohl. Schließlich redeten wir vom heutigen Tag.

„Ich bin echt geschockt darüber, wie sie dich behandeln. Ich habe gewiss schon schöne Mädchen – oder vielmehr Frauen kennengelernt, aber dass sie so behandelt worden sind, das war noch nie der Fall“, bemerkte er.

Ich nickte „Es ist schon ätzend, nicht? Ein Fluch, das sagte ich ja bereits.“

„Es scheint fast so. Ich habe so etwas noch nie so extrem erlebt … es ist einfach unglaublich. Das ist, als wenn Motten ins Licht fliegen würden … irgendwie scheinst du sie alle zu animieren. Ich habe sogar nach Anzeichen gesucht, ob du Signale aussendest, aber ich habe keine gefunden.

Es ist für mich einfach unerklärlich.“ Er sah plötzlich verlegen aus und ich wunderte mich warum.

„Kannst du dir vorstellen, wie es ist, so angestarrt und behandelt zu werden?“

„Nein, ich finde es wirklich einfach nur grauenhaft.“ Er schüttelte angewidert den Kopf.

„Ich finde es auch schrecklich. Ich freue mich, dass du es genauso siehst, und dass du mich verstehst und auch, dass du mit mir normal redest…“

Heikos Gesichtsausdruck änderte sich und er sah entschuldigend zu mir herüber: „ Sorry, aber ich denke, man kann sich dir irgendwie nicht entziehen … Es soll nicht wie eine Anmache klingen, aber ich muss sagen, ich habe noch nie jemanden so attraktiv gefunden!“ Er senkte schnell seine Augen, als wenn ihm das alles schrecklich unangenehm wäre und ich begriff auf einmal seinen verlegenen Blick von vorher. Ich seufzte übertrieben laut: „Na toll! Wieder einer mehr. Dabei kennst du mich doch gar nicht richtig!“

„Da hast du recht, aber lernt man nicht immer erst ein Gesicht kennen und dann den Menschen?“, entschuldigte er sich nochmals.

„Ich weiß nicht. Ich bin immer nur nach meinem Äußeren beurteilt worden“, bemerkte ich.

„Quatsch, das ist vielleicht dein Empfinden, aber es ist nicht so!“, versuchte er, mich zu überzeugen.

„Ach nein …“ Die Zeit war gekommen, ihm von meiner Kindheit zu berichten, also erzählte ich von meiner Mutter und den Modellshows, zu denen sie mich hingeschleppt hatte. „Ich wurde immer nur auf das Wort „schön“ reduziert. Nicht nur auf der Bühne! Und jetzt sag mir bitte nicht, du würdest keine Komplexe kriegen!“, endete ich und sah ihn erwartungsvoll an.

„Du hast Komplexe? Aber … Du musst gar keine haben!“ Heiko war nun wirklich verdattert.

„Ach nein, warum darf ich keine haben?“

„Weil du dafür zu hü…“ Er stockte im Wort, als er mein saures Gesicht sah.

„Ich bin also zu hübsch für Komplexe? Na Klasse! Das ist ja gerade mein Problem. Dich fragt sicherlich keiner, ob du deine Lorbeeren für die Uni selbst gepflückt hast. Bei mir heißt es immer nur: Das hat sie nur erreicht, weil sie schön ist!“, zickte ich ihn nun an.

„Das ist doch ganz egal, was andere denken“, gab er kleinlaut zurück.

„Ach ja, warum hast du denn dann die Leute heute angemacht?“ Meine Augenbrauen zogen sich hoch.

„Weil sie dir keinen Respekt gezeigt haben. Sie sahen dich irgendwie nur als Freiwild“, erklärte er geknickt.

„Siehst du - und so ist es jeden Tag. Und jetzt sag noch einmal, ich solle mit der Situation zufrieden sein!“, ärgerte ich mich.

„Okay, ich verstehe, was du meinst.“ Er senkte den Kopf und schwieg bedrückt. Jetzt tat er mir plötzlich leid.

„Ist schon gut“, sagte ich versöhnlich. „Du bist der Erste, der mit mir überhaupt darüber diskutiert und mir Kontra gibt. Das gefällt mir wirklich gut. Außerdem hast du mich nicht angefasst, das sind also alles Pluspunkte.“

Heikos Mundwinkel zuckte und er grinste schließlich.

„Mich interessiert wirklich, warum du dennoch als Modell arbeitest, wenn dich das Ganze so sehr nervt?“, fragte er dann.

Ich seufzte laut: „ Glaub es oder nicht, aber es ist die einfachste Art, schnell viel Geld zu verdienen und ich finanziere so mein Studium.

Ich bin sowieso so voll gekleistert, dass man gar nicht mehr erkennt, dass ich das bin …“ Heiko hob die Brauen.

„Ich weiß … es ist eigentlich ein Verrat an mir selbst. Nicht?“

Es musste in seinen Ohren wirklich bescheuert klingen. Da hasste ich das Theater um meine Person so sehr - und dennoch hörte ich nicht auf mit dem, was mir diese Aufmerksamkeit einbrachte. Aber es war so einfach, damit Geld zu verdienen und ich wusste, was ich  von den Leuten dort zu halten hatte. Sie machten natürlich Geld  mit mir, wie meine Mutter auch. Verdammt! Ich hatte noch nie so richtig darüber nachgedacht.

„Aargh, ich bin ja echt doof!“, ärgerte ich mich über meine plötzliche Erkenntnis.  „Wenn meine eigene Mutter an mir verdient hat, tja, warum sollen nicht auch Fremde  an mir verdienen? Vielleicht finde ich irgendwann einen Freund, der mich dann mit ehrlicher Liebe bezahlt …“, giftete ich.

„Helena, beruhige dich wieder. Ich wollte mit meiner Frage nicht eine Lebenskrise auslösen“, mahnte mich Heiko. „Ich sehe schon, es wird schwer, dir zu zeigen, dass man dich um deiner selbst willen … mag!“

„Ja, das ist wohl wahr!“, bestätigte ich ihm. Ich war einfach durchgehend misstrauisch. Immer wenn ich jemanden kennenlernte, schrillten die Alarmglocken und sagten mir: Na der mag doch bestimmt nur deine äußere Erscheinung? Was du denkst, ist dem doch vollkommen egal! Ich wusste, dass dies nicht immer zutraf, aber es war fest in meinem Gehirn verankert, also lag Heiko mit seiner Behauptung goldrichtig. „Vielleicht lernen wir uns erst einmal kennen? Ich denke, das ist doch ein Anfang, oder?“, fragte er grinsend und reichte mir seine Hand.

„Ja, das ist ein Anfang!“, grinste ich zurück und nahm seine Hand.

„Na dann, auf ein freudiges Kennenlernen“, sagte er erleichtert.

„Ich schätze dich jetzt schon als überaus kompliziert ein, es kann also nur noch spannender werden.“

Ich lachte laut: „Ich werde mir Mühe geben, deine Erwartungen zu erfüllen.“

Er verdrehte gespielt die Augen: „Na, das glaube ich dir gerne … Dramaqueen!“

Ich lachte noch lauter. Ich konnte mir Heiko als Kumpel wirklich gut vorstellen und freute mich darauf, ihn näher kennenzulernen.

„Ich frage mich, ob bei dir im Sportgeschäft noch eine Stelle frei ist? Wenn ich tatsächlich einen Neuanfang wagen sollte…“, fing ich langsam an. „Ich könnte einen Kumpel gebrauchen, der mir hilft auf dem neuen Terrain…“

„Ein Neuanfang ist gut! Im Sportgeschäft noch besser. Es gibt auch ein Lager, da kannst du dich verstecken, da brauchst du dir keinen Sack über den Kopf zu ziehen - und du verdienst dennoch Geld“, grinste er und fügte hinzu: „Als Kumpel kann ich dir sagen, dass ich dich auf jeden Fall auf andere Gedanken bringen werde!“

„Andere Gedanken sind gut!“, gab ich schelmisch zurück.

„Das habe ich mir gedacht, dann fang mir bitte mal an zu erklären, warum du Ärztin werden willst??“

An diesem Abend redeten wir noch bis tief in die Nacht hinein und er stellte mir eine Menge Fragen, die ich alle sehr gern beantwortete. Auch ich hatte eine Menge Sachen, die ich wissen wollte und bis zu einem gewissen Punkt war Heiko sehr redselig, doch bei Fragen nach seiner Familie winkte er immer ab. Es gab also tatsächlich Geheimnisse, die es für mich zu ergründen galt. Und ich freute mich auf diese Herausforderung.

3

Ich liebte dich bevor ich dich kannte, doch ich werde nicht nach dir suchen, denn du wirst mich finden. Denn du alleine siehst mein inneres Ich!

Zwischen Heiko und mir entstand in kürzester Zeit eine richtige Freundschaft und ich fühlte mich zum ersten Mal sogar ein wenig verstanden. Heiko war nett, freundlich und hilfsbereit und schottete mich komplett von den ekligen Typen ab.

Dennoch wusste ich innerlich, dass Heiko sich ausmalte, mehr zu sein als nur ein Freund. Doch ich hielt ihn auf Abstand. Als Kumpel war er in Ordnung, aber mehr nicht. Und tatsächlich gab er sich damit zufrieden.

So vergingen zwei Jahre. Meine Freundschaft zu Luzi war lange nicht mehr so intensiv wie zuvor. Stattdessen wurde Heiko nun  mein ständiger Begleiter. Wir lernten nicht nur zusammen, sondern verbrachten viele Stunden miteinander. Auf Heiko konnte ich mich immer verlassen. Beharrlich zeigte ich ihm nette Mädchen, aber er winkte ab. Wenn ich ihn fragte, warum er sich nicht mit anderen verabredete, kam stets zurück, ich täte das ja auch nicht. Und die Sache war für ihn damit erledigt. Es war dennoch wichtig für mich, dass er sich keine Hoffnung machte und ich weiß nicht, wie oft ich ihm dies mitteilte.

„Sind wir nun gute Freunde, oder nicht?“, blitzte er mich dann an. Und ich war erleichtert.

Der Winter war ins verschneite Kiel eingekehrt und wir feierten mit einigen Kommilitonen an dem 30 Kilometer entfernten Wittensee. Frei nach unserem selbst ernannten Motto „ Holiday on ICE“ liefen wir Schlittschuh auf dem zugefrorenen See.

Zwei Zelte mit Heizlüftern luden dort zum Tanz ein und außen hatten wir einige Buden mit Punsch, Bratwurst und diversen anderen Leckereien aufgebaut. Mit einigem Sekt intus kurvte ich über die gefrorene Eisfläche.

Die sicheren Bereiche waren extra gekennzeichnet, denn nur der vordere, sehr flache Teil bot wirkliche Sicherheit vor dem Einsturz. Vorsichtig wie ich war, hielt ich Abstand.

Plötzlich jedoch sah ich auf dem Eis einen Mann, der zu mir herüber blickte. Ich war erschrocken. Nicht über die Art, wie er mich ansah, sondern, dass er die sichere Zone so weit hinter sich gelassen hatte.

Ich lief auf ihn zu und schrie: „Hey, komm zurück!“ Doch er reagierte gar nicht.

Heiko hörte mich schreien und kam im Slalom zu mir gefahren. Er hatte sehr mit seinem Gleichgewicht zu kämpfen.

„Was schreist du denn so?“, fragte er angetrunken.

„Der Mann dahinten ist nicht mehr im sicheren Bereich“, sagte ich und wollte auf ihn zeigen. Doch er war verschwunden! Panik machte sich in mir breit. War er etwa eingestürzt? Vorsichtig lief ich auf die rote Kennzeichnung zu und spähte über die Eisfläche. Aber das Eis war heil. Es waren keine Einbruchsspuren zu sehen. Heiko kam hinterher und blickte nun auch über das Eis.

„Ich glaube, wir haben beide schon zu viel getrunken! Du siehst schon Gespenster!“, lallte er und setzte sich auf seinen Hosenboden. Lachend zog ich ihn hoch. „Es ist besser, wenn du wieder vom Eis herunter gehst!“, bemerkte ich entschieden und rief nach Luzi. Die knutschte jedoch gerade vor dem Punschstand mit Kevin - und hörte mich nicht.

Also brachte ich Heiko wieder ans Ufer. Wir gingen in eines der Zelte und ich setzte ihn vorsichtig an einen Tisch. Er legte seinen Kopf auf die Tischkante und bald schon hörte ich sein seliges Schnarchen. Lachend und froh darüber, dick und unkenntlich eingemummelt zu sein, stand ich auf. Zufrieden holte ich mir noch einen Sekt, dann suchte ich in der Menge nach dem Mann vom Eis. Irgendwie war ich neugierig und außerdem wollte ich ihn belehren.

Doch so sehr ich auch suchte … ich fand ihn nicht.

Also blickte ich wieder zur Eisfläche. Ein mulmiges Gefühl ergriff mich. Er würde doch nicht wieder so weit draußen fahren, oder? Und als ich hinaussah, bemerkte ich ihn tatsächlich wieder. Wieso hatte ich ihn eben nicht mehr gesehen?

Er flitzte galant über die riskante Eisfläche - ziemlich weit draußen. Er schien gar keine Angst zu haben und die Gefahr auch nicht zu bemerken.

Entgeistert lief ich zurück auf das Eis und winkte ihm zu zurückzukommen.

Erneut trafen sich unsere Blicke. Ich hielt kurz mit meinem Winken inne. Er kam mir seltsam bekannt vor, doch ich hätte in diesem Augenblick nicht sagen können, woher ich ihn kannte.

Mein Herz schlug plötzlich schneller und ich hatte nur noch einen Gedanken: Er war in Gefahr und ich musste ihn schnellstens warnen! Es war rein intuitiv.

Ich bemerkte gar nicht, dass ich die sichere Linie bereits überfahren hatte. Mir war nur eines wichtig: Ihm so schnell wie möglich zu sagen, dass er zurückkommen sollte. Ich war verwirrt über meine Gefühle, denn ich machte mir tatsächlich Sorgen - um einen fremden Mann. Unerwartet blieb er stehen und grinste mich an. Ein Grübchen kam zum Vorschein und ich sah in ein wunderschönes Gesicht.

Ich wollte das nicht denken! Ich wollte ihn nicht auf „schön“ reduzieren, aber es war einfach in meinem Kopf. Ich konnte nichts dagegen tun. Insgeheim ärgerte ich mich über mich selbst. Verlegen blickte ich weg.

Wie konnte ich nur so oberflächlich sein? Gerade ich!

Doch nicht lange nach diesem Gedanken sah ich wieder zu ihm hin. Unhörbar stieß ich einen Seufzer aus. Solche attraktiven Augen hatte ich noch nie gesehen. Diese musterten mich von oben bis  unten und dann auf einmal wirkte er irgendwie verdutzt. Was ging bloß in seinem Kopf vor? Kannte er mich etwa? Woher nur?

Und als diese ganzen Fragen in meinem Hirn arbeiteten, hörte ich einen lauten Knall … und wir beide krachten ins eiskalte Wasser. Die Kälte überkam mich blitzartig und lähmte mich für einen kurzen Augenblick. Meine Augen waren weit aufgerissen und mein Kopf unter Wasser.

Dann sah ich ihn. Er schien jedoch ganz gelassen. Langsam und ohne Gegenwehr ließ er sich sinken - immer tiefer. Ich war entsetzt. War er etwa im Begriff sich umzubringen? Ich zappelte aus Leibeskräften und war endlich wieder an der Oberfläche. Schreiend machte ich auf mich aufmerksam. Die Kälte war unerträglich. Dann sah ich Luzi, sie kam angerannt. „Oh mein Gott, Helena, ich bin gleich da!“, schrie sie hysterisch.

„Der Mann … rettet ihn auch“, rief ich zitternd zurück und versuchte auf die Eisfläche zu kommen, doch ich rutschte immer wieder ab.

Sie mussten ihn retten! Er durfte nicht sterben.

Ich schrie also noch einmal: „Luzi bitte … der Mann… ihr müsst ihn rausholen, er ist immer noch unter Wasser!“ Erneut glitt ich vom Eis bei dem Versuch mich hochzuziehen.

„Welchen Mann meinst du?“, sie blickte hilflos zu mir. „Süße, ich bin gleich da! Du bist da echt an einer tiefen Stelle. Warum bist du da nur hingefahren? Hey, hat jemand die dämliche Leiter gesehen?!“, hörte ich sie in Panik schreien.

Von hinten sah ich zwei Gestalten mit einem silbernen Etwas auf mich zu rennen. Sie durchbrachen die Absperrung und robbten sich den Weg zu mir entlang.

„Nimm die Leiter!“, befahl der eine aufgeregt.

Doch als ich gerade zugreifen wollte, erfasste mich etwas unter mir und zog mich hinab in die eisige Tiefe. Immer tiefer. Ich sank und sank. Wenig später war ich wieder frei!

‚Ich kriege keine Luft‘, dachte ich angsterfüllt und sah mich nun suchend um. Das Wasser stach immer noch wie hundert Pfeilspitzen auf meinen Körper ein.

Jetzt sah ich das Einsturz-Loch nicht mehr. Wo zum Teufel war es hingekommen? Ich blickte mich suchend um. Ich war völlig orientierungslos.

Dann sah ich ihn wieder. Der wunderschöne Mann! Ich schwamm in seine Richtung, ohne zu wissen, ob es nach oben oder nach unten ging.

Er sah mich mit großen Augen an und grinste. Ich konnte es nicht fassen! Wir kämpften um unser Leben und er grinste? Seine etwas längeren dunklen Haare umspielten nun sein Gesicht. Ohne Widerstand zu leisten, blieb er einfach unten im eiskalten Wasser! Verzweifelt reichte ich ihm meine Hand und er ergriff sie. Suchend blickte ich wieder dorthin, wo ich der Meinung war, dass da Oben sein könnte und schwamm, seine Hand immer noch fest umklammernd, drauflos. Dann hatte ich keine Luft mehr. Hustend füllte sich mein Mund mit immer mehr Wasser, meine Brust schmerzte.

Ein goldenes Licht kam auf uns zu. Es schien zu sagen: Folgt mir. Mit letzter Kraft schwamm ich mit ihm darauf zu.

„Das Jenseits ist wirklich schön!“, dachte ich entzückt.

Dann jedoch blendete mich ein anderes Licht. Ein Aufdringliches! Erschrocken ließ ich seine Hand los.

Ich spürte nun einen festen Griff, an meinen Schultern. Es tat weh. Luzis Stimme schrie immerzu „Nein!“ Und da waren noch so viele andere Geräusche. War das nicht ein Signalhorn der Feuerwehr oder ein Krankenwagen?

Heiko und Kevin redeten auf mich ein und sagten, ich wäre bald wieder fit? Doch der andere sagte, dass ich eigentlich tot bin! Ja! Das sagte er gerade zu irgendjemandem. Und dann waren da diese Schläge. Irgendwer hämmerte brutal gegen meinen Brustkorb. Erneut hörte ich Luzi schreien, es klang noch schriller als zuvor.

Wieder schlug mich jemand … Das war nicht nett … Das tat weh … Es sollte aufhören.

„Lass das“, schrie ich innerlich.

Doch es hörte nicht auf. Die Stimmen wurden fassungsloser. Sie weinten jetzt alle um mich herum. Ich war ärgerlich, dass sie mir wehtaten. Wie konnten sie das zulassen …

Plötzlich sah ich das goldene Licht wieder. Mein Blick wandte sich komplett von dem gleißenden Licht ab, es gefiel mir sowieso nicht, wie es so in meinem Gesicht brannte. Ich folgte dem goldenen Schein und ich fühlte mich geborgen.

Wie ein Embryo, der zum ersten Mal die Liebe seiner Mutter spürt. Eine Ruhe und Zufriedenheit machte sich in mir breit. Eine wohlige Wärme empfing mich. So wundervoll!

Das goldene Licht verzauberte meine Sinne, es war so befreiend und heimelig wie die wärmenden Sonnenstrahlen an einem kalten Herbsttag. Ich erinnerte mich an all die bunten Blätter, die in der Sonne leuchten. Rot, gelb, braun, Gold … Seufz!

Ein Gefühl des traumlosen Schwebens erfasste mich. Es fühlte sich so an, als massierte jemand meinen Körper bis zur totalen Entspannung. Ich wollte nie wieder die Augen aufmachen. Minuten, Stunden und Tage verstrichen. Ich wusste es nicht!

Doch irgendwann wurde das goldene Licht heller und brannte in den inneren Augäpfeln. Ich stöhnte. Das war jetzt echt unangenehm. Es sollte aufhören. Also versuchte ich, meine Lider zu öffnen und blinzelte.

Ringsum fühlte es sich angenehm warm an, obwohl meine letzte Erinnerung doch das Eis war. Rücklings lauschte ich den Geräuschen. Meine Augen waren noch nicht bereit, sich vollends zu öffnen.

Ich hörte Wellen und stutzte: Kann gefrorenes Wasser überhaupt Wellen schlagen? Nun zwang ich mich, meine Augen zu öffnen und setzte mich auf. Ich fühlte kurz Panik in mir.

Wo war ich? Was war passiert?

Ich blinzelte über ein scheinbar endloses blaues Meer. Meine Hände gruben sich in warmen, weichen Sand. ‚Ich war definitiv tot‘, dämmerte es mir langsam.

Entsetzt erinnerte ich mich an den jungen Mann. Ich hatte ihn losgelassen, doch er war sicherlich auch hier! Ich sah nach links, dort waren riesige weiße Dünen. Wunderschön! Aber kein Mensch war in Sicht. Dann sah ich zur anderen Seite. Auch dort gab es außer den Sanddünen nichts weiter zu sehen.

Hatte er etwa überlebt und ich war alleine gestorben? Ein Gefühl der Leere ergriff mein Herz. Wer war er? Würde ich das jetzt nie erfahren? Warum traf es mich nur so sehr?

Während ich noch hin und her überlegte, streifte mich ein Windhauch hinter mir. Abrupt drehte ich mich um. Verwirrt blickte ich in zwei prächtige Männergesichter. Sie trugen weiß- goldene Helme und hatten lange Haare, die zu Zöpfen geflochten herunterhingen. Der eine hatte braune Zöpfe, der andere rotblonde. Sie musterten mich total entsetzt.

Immer noch sitzend, blickte ich zu ihnen hoch. Die weißen Uniformen, die sie trugen, wirkten auf mich wie aus einem Gladiatoren-Film. Nun musste ich unwillkürlich grinsen. Ein Filmset am Strand? Die beiden fanden dies überhaupt nicht komisch und sahen ziemlich verwirrt, aber auch wütend aus.  War es etwa ein Fehler, dass ich hier gelandet war? Bei dem Gedanken musste ich laut schlucken. Der Mann mit den braunen Zöpfen wurde jetzt richtig sauer und holte ein kleines glitzerndes Teil aus einer goldenen Umhänge-Tasche. Er tippte darauf herum und zeigte es genervt dem anderen.

„Aber, wie ist das möglich?“, fragte dieser erschüttert, seine Stirn zog sich in Falten. Er ging mit einem anderen Gerät auf mich zu und fuhr mir damit über meine Brust. Es machte laut Peep-Peep-Peep.

Es hörte nicht auf. Verstört steckte er es in seine Tasche und sah wieder zu dem anderen. Der wurde ganz bleich.

„Er hat gegen die Regeln verstoßen“, schimpfte der mit den braunen Zöpfen nun sauer.

„Das würde er nicht wagen! Warum sollte er so etwas tun? Meinst du, er hat sie dann bewusst hier liegen gelassen?“ Der mit den rotblonden Zöpfen guckte ungläubig.

„Wer sonst sollte es getan haben?“, fragte der mit den braunen Zöpfen und zuckte mit den Schultern.

Ich verstand nichts, sondern blickte beide nur verwundert an. ‚Mir geht es gut, ich fühle mich super‘, wollte ich sagen. Komischerweise schon allein deshalb, weil man nicht gleich entzückt war, mich zu sehen. Inständig hoffte ich, dass man mich nicht woanders hinschicken würde. Es gefiel mir hier.

War ich vielleicht wirklich nur versehentlich hier gelandet? Die Männer hatten sich irgendetwas zugeflüstert und dann nickte der braunzopfige Mann.

Er holte ebenfalls eine Art Handy aus seiner kleinen goldenen Tasche.

Dann hörte ich wie er sagte:„ Sebastian, du solltest mal schleunigst kommen. Wir müssen mit dir reden!“ Er hörte diesem Sebastian am anderen Ende zu und sein Gesicht verdunkelte sich.

„Nein, sofort!“, schnauzte er dann ins „Telefon“ und drückte einen Knopf. Dann beugte er sich zu mir rüber. „Helena Amore?“, fragte er wissend.

Ich sah ihn mit großen Augen an. Er wusste meinen Namen? Meine Angst wuchs, dass er mir nun erzählte, dass ich hier falsch war. Also nickte ich nur furchtsam.

Er sah es und seufzte: „Keine Angst, wir tun dir nichts!“ Er kratze sich im Gesicht: „Das wird schwierig.“

„Frag sie, wie sie hierher kommt…“, flüsterte der mit den rotblonden Zöpfen leise. Wieder war ich erschrocken. Sie wollten mich also tatsächlich nicht hier haben, weil es wohl irgendwie ein Irrtum war.

Der Braunzopfige beugte sich ernst zu mir runter und fing an zu reden: „ Es ist etwas kompliziert mit dir…“, seine Stirn runzelte sich „… Wir haben ein paar Fragen und würden…“

Mitten im Satz wurde er unterbrochen. Jemand rief laut und fröhlich von oben: „Na, Hermes,  was gibt es denn so Dringendes?“ Hermes sah auf den Mann in der Luft und schien verblüfft. „Sebastian?“, murmelte er.

Ich blinzelte nach oben und sah verwundert auf den jungen Adonis, der mit einem weißen Jogginganzug in der Luft schwebte. Er hatte wunderschöne elfenbeinfarbige Flügel und mein Herzschlag setzte für einen Moment aus. Es war der Mann vom Eis! Er landete genau zwischen den beiden anderen und grinste mich an. Seine Flügel klappten nach hinten und verschwanden.

‚Ein Engel‘, dachte ich verzückt.

Hermes beobachtete mich die ganze Zeit, um zu sehen, wie ich wohl reagierte. Instinktiv wusste ich, dass hier irgendetwas nicht in Ordnung war und auch, dass dieser Sebastian damit zu tun hatte.

Wie auch immer … ich hatte ihn auf dem Eis gesehen, da war ich mir ganz sicher. Er war also gar nicht mit mir gestorben, oder? Nein, natürlich nicht. Er gehörte allem Anschein nach sogar hierher! Sie hatten ihm ja Bescheid gegeben. Seltsam!

Irgendwie wollte ich nicht, dass er Ärger bekam, also fragte ich laut: „Bin ich wirklich ertrunken?“ Und sah dabei so verständnislos aus, wie ich konnte.

Hermes beäugte mich nachdenklich und schüttelte den Kopf „Du bist noch nicht ganz tot … sie haben dich zurückgeholt. Du liegst nun im Koma! Auf der Erde! Und ich weiß nicht, warum du dennoch hier bist.“ Bestürzt sah er mich an und blickte dann zu Sebastian. Dieser sagte nichts.

Das klang alles so verwirrend. Ich sah von einem zum anderen und hoffte auf eine kleine Erklärung. Doch nichts passierte.

Stattdessen stürzte sich Hermes jetzt fragend auf den jungen Mann: „Sebastian, du weißt nicht zufälligerweise, wie es dazu kommen konnte? Ich meine … sie sollte dir doch nachher unterliegen, nicht?“

Sebastian zuckte mit den Schultern: „Woher soll ich das denn wissen? Ihr seid doch die wichtigen Wachposten, ihr müsst die Wolkenreiter prüfen…“

„Du willst mir also sagen, dass du nicht weißt, wie sie hierhergekommen ist?“, unterbrach Hermes Sebastian.

„Nein, wie sollte ich? Was unterstellst du mir da?“, giftete Sebastian ihn an.

„Okay, dann fragen wir doch ganz einfach Helena!“ Von der Seite sah ich es in Hermes Augen blitzten, er schien offensichtlich wütend zu sein. Dann drehte er sich wieder zu mir um und schaute mich interessiert an: „An was kannst du dich überhaupt erinnern?“

Ich überlegte kurz, ob ich die Wahrheit sagen sollte und schielte zu Sebastian rüber. Dieser musterte mich voller Wissbegierde. Ich meinte, eine gewisse Angst in seinen Augen zu sehen, also sagte ich:

„ Ich erinnere mich an eine Sylvester-Party am See und wie wir Schlittschuh gelaufen sind … ich bin irgendwie auf die blöde Idee gekommen, über die Absperrung zu fahren. Muss am Alkohol gelegen haben.

 Und dann brach das Eis plötzlich … ich versuchte, das Loch zu finden, aber ich habe es nicht gefunden. Dann wurde ich ohnmächtig.“

„Und weiter…“ Hermes schielte zu Sebastian.

„Das war es … an mehr kann ich mich nicht erinnern … außer an ein goldenes Licht…“ Ich seufzte verzückt.

„Du bist also dem goldenen Licht gefolgt?“, bohrte er.

„Ja, das sagte ich doch bereits. War das ein Fehler?“

Ich hörte ihn aufseufzen: „Nein! Das war kein Fehler…“ Sebastian fragte neugierig: „Was soll denn jetzt mit ihr werden? Gibt es dafür ein Protokoll???“

Hermes sah ihn grimmig an:„ Nein, Sebastian und das weißt du genau. Du kannst sie fürs erste mitnehmen … aber glaube mir, wir behalten euch im Auge! Du hast jetzt kein Recht mehr, zur Erde zu gelangen, aber das weißt du ja“, warnte er.

„Ich verstehe echt nicht, dass du es nicht bemerkt haben willst“, flüsterte er dann noch leise, aber laut genug, dass ich es hören konnte.

Sebastian sah ihn forsch an: „Willst du mir irgendetwas sagen?“ Sie blickten sich lange an.

„Nein!“, seufzte Hermes schließlich. „Ich sagte ja bereits, dass dies eigentlich nicht möglich sein kann…“ Er musterte mich, dann sah er wieder zu Sebastian und sagte nachdrücklich: „Eventuell verlierst du sie dadurch auch ganz. Das ist dir doch wohl klar, oder?“

 Zwei Pokergesichter standen sich wieder gegenüber und starrten sich wortlos an.

Ich verstand absolut nichts von dem, was hier passierte. Doch was mich wie ein Schlag traf, war das, was ich im Gesicht von Sebastian las, als Hermes sich schließlich wegdrehte.

In ihm lag totaler Schmerz und Hilflosigkeit. Was ging hier bloß vor?

„Komm, Johann!“, sagte Hermes säuerlich. Beide drehten sich um und flogen, ohne Auf Wiedersehen zu sagen, davon.

Es sah unglaublich elegant aus. Ich war echt beeindruckt und vergaß, dass ich eigentlich nach Klärungen suchte.

Dann waren sie nicht mehr zu sehen. Sebastian beäugte mich vorsichtig und sagte leise: „Danke!“

Er wirkte furchtbar geknickt, also entschied ich mich für einen lockeren Ton. „Wofür?“, fragte ich scheinheilig.

„Für alles!“ Er beugte sich vor und zog mich an den Armen hoch. So standen wir uns nun gegenüber. Seine Augen waren aus der Nähe betrachtet noch viel schöner und mein Herz hüpfte vor Aufregung. So etwas hatte ich in meinem ganzen Leben noch nie gefühlt. Erwartungsvoll sah ich ihn an und wartete, ob er noch etwas sagen oder erklären würde. Doch er schwieg und hing wohl seinen eigenen Gedanken nach. Also sah ich mich nun ganz um und ließ ein lautes „Wow“ los.

Es waren unendliche Dünenlandschaften rings um uns herum zu sehen. Feiner Sand wie aus der Südsee erstreckte sich soweit das Auge reichte. In der Ferne sah ich links und rechts zwei gigantische weiße Türme.

Sebastian folgte meinem Blick und sagte freudestrahlend: „Das sind die Wachtürme für das NieMannsland.“

„Wozu braucht ihr die?“, fragte ich voller Interesse.

„Damit keiner hier landet, der nicht auch hierher gehört“, erklärte er verschwörerisch.

„Oh!“ Ich war doch jemand, der eigentlich nicht hier sein durfte, aber warum war ich dennoch hier?

 „Du hast bestimmt eine Menge Fragen, oder?“, vermutete er und sah mich eindringlich an. Das machte mich ganz kribbelig, deshalb nickte ich nur.

„Ich beantworte alles, aber nicht jetzt und hier. Versprochen! Und du musst mir auch etwas … versprechen!“ Er sah sehr ernst aus, als er dies sagte, und wieder musterte er mich beschwörend.

„Okay!“, beteuerte ich schnell und wunderte mich über mich selbst. Wie konnte ich einem Fremden alles zusichern? Ein schönes  Gesicht bedeutet nicht unbedingt Gutes, maßregelte ich mich selbst.

Doch irgendetwas sagte mir, dass es richtig war, was er tat. Nannte man das nun Intuition -  oder Blödheit?

Dieser Mund durfte alles sagen, dachte ich insgeheim und ärgerte mich erneut über meine Unzurechnungsfähigkeit in seiner Nähe. Sebastian jedoch sah mich noch ernsthafter an: „Sag mir immer, was du träumst und verschweige nichts. Halte dich von den grellen Lichtern fern und bitte, bleibe immer in meiner Nähe!“

„Das sind aber drei Versprechen auf einmal, die ich halten muss“, platzte ich heraus.