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Erdwelt am Rande des Krieges: Die Orks überschreiten die Grenze der Modermark. Die Menschen rüsten zum Angriff, um das Joch der Elfenherrschaft abzuschütteln. Doch die größte Gefahr droht durch einen gerissenen, unheimlichen Feind – den Dunkelelfen Margok, der noch immer nicht besiegt ist. Die drei jungen Zauberer Granock, Aldur und Alannah werden damit betraut, in einem zerstörten Tempel nach Hinweisen auf den Verbleib des Dunkelelfen zu suchen. Jenseits der tiefen Dschungel Aruns stoßen sie nicht nur auf ein uraltes Geheimnis und eine verschollene Zivilisation. Sie müssen auch erfahren, wo die Grenzen ihrer Freundschaft liegen. Und im Norden entbrennt die schicksalhafte Schlacht um die Zukunft von Erdwelt …
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MICHAEL PEINKOFER
DIE ZAUBERER
Die Erste Schlacht
Roman
Piper München Zürich
Entdecke die Welt der Piper Fantasy:
Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe
3. Auflage 2010
ISBN 978-3-492-95006-0
© Piper Verlag GmbH, München 2010
Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de
Umschlagabbildung: Alan Lathwell, London
Datenkonvertierung eBook: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
Zauberer
Semias
Vorsitzender des Hohen Rates
Farawyn
sein Stellvertreter
Syolan
Chronist von Shakara
Cysguran
Ratsmitglied
Tarana
Meisterin
Filfyr
Meister, Ratsmitglied
Maeve
Meisterin, Ratsmitglied
Gervan
Sprecher des rechten Flügels
Atgyva
Bibliothekarin von Shakara
Tavalian
ein heilkundiger Zauberer
Sunan
Zaubermeister
Rurak
ehedem Palgyr, abtrünniges Ratsmitglied
Elfen
König Elidor
Herrscher des Elfenreichs
Fürst Ardghal
sein oberster Berater
Alannah
Eingeweihte in Shakara
Aldur
Eingeweihter in Shakara
Mangon
Lordrichter von Tirgas Lan
Ogan
Aspirant in Shakara
Caia
Aspirantin in Shakara
Nimon
Novize in Shakara
Fürst Narwan
königlicher Berater
General Tullian
Oberbefehlshaber des Elfenheeres
General Irgon
sein Stellvertreter
Alduran
Aldurs Vater
Menschen
Fürst Ortwein
neuer Herr von Andaril
Lady Yrena
seine Schwester
Granock
Eingeweihter in Shakara
Ivor
Schwertführer Andarils
Kobolde
Argyll
Diener Farawyns
Ariel
Diener Granocks
Flynn
Diener Alannahs
Níobe
Dienerin Aldurs
Zwerge
Thanmar
Aufseher von Nurmorod
Dolkon
sein Folterknecht
Orks
Borgas
Häuptling der Knochenbrecher
Rambok
Botschafter in Shakara, Vorfahr zweier später sehr bekannter Orks
Das Goldene Zeitalter war vor langer Zeit zu Ende gegangen, nicht allmählich und in einem Jahrhunderte währenden Prozess des Verfalls, sondern schlagartig, in einem katastrophalen Ereignis, das als der »Große Krieg« in die Annalen Erdwelts eingegangen war … Schließlich konnte zu jener Zeit niemand wissen, dass ein noch verheerenderer Krieg folgen sollte, in dem das stolze Elfenreich im Rauch brennender Städte und in Strömen von Blut versank.
Dieser letzte Konflikt kündigte sich, so wie es alle Kriege tun, in vielen kleineren Ereignissen an, die unabhängig voneinander betrachtet das Ausmaß der Bedrohung kaum erahnen ließen. Die Menschen, die den Nordosten des Reiches bevölkerten, strebten zunehmend nach Unabhängigkeit; die Orks wagten sich erstmals seit Jahrhunderten wieder in größerer Zahl über den Kamm des Schwarzgebirges; in Tirgas Lan, der Hauptstadt des Reiches, saß mit Elidor ein schwacher König auf dem Thron; und in Shakara, der Ordensburg der Zauberer, war man sich uneins, wie man den Herausforderungen der neuen Zeit begegnen sollte.
Keine dieser Entwicklungen war für sich genommen bedenklich genug, als dass man in ihr den Auftakt zu Ereignissen gesehen hätte, die in der Lage waren, die Welt aus den Angeln zu heben. Erst die Verschwörung Palgyrs machte auch den Unbedarftesten unter uns klar, dass erneut ein Zeitalter im Begriff war, zu Ende zu gehen.
Palgyr war einer von uns gewesen. Ein Weiser, ein dwethan,oder, wie die Menschen uns nannten, ein Zauberer. Ein Angehöriger des Hohen Rates, der geschworen hatte, dem Elfenreich zu dienen und es kraft seines reghas zu beschützen, jener besonderen magischen Gabe, die ein jeder Zauberer sein Eigen nennt. Niemand von uns hatte geahnt, dass Palgyr im Geheimen dunklen, frevlerischen Künsten frönte und sein ganzes Streben darauf richtete, jenen zurückkehren zu lassen, der in alter Zeit das Reich gespalten und den Großen Krieg entfesselt hatte.
Margok.
Unter dem Namen Qoray war Margok einst ein angesehenes Mitglied des Ordens gewesen, bis er sich von diesem losgesagt hatte; in verbotenen Experimenten hatte er Orks gezüchtet und grässliche Chimären, die die Eigenschaften gleich mehrerer todbringender Kreaturen in sich vereinten. Und er hatte den Dreistern entdeckt, jene Verbindung, die das Reisen an weit entfernte Orte binnen eines Augenblicks möglich machte.
Nicht wenige behaupten bis zum heutigen Tag, dass Qoray der größte Zauberer gewesen sei, den Erdwelt jemals hervorgebracht hätte, aber er nutzte seine Fähigkeiten nicht zum Wohle aller, wie er geschworen hatte, sondern nur, um seinen eigenen Zwecken zu genügen. Besessen von dem Gedanken, die Welt zu beherrschen, stürzte er sie in einen blutigen Krieg, der viele Jahre währte und schließlich mit Margoks Niederlage endete; gefasst wurde er jedoch nie, und über all die Zeit, die verstrich, hielt sich das hartnäckige Gerücht, der Herrscher der Dunkelheit warte an einem entlegenen Ort darauf, ins Leben zurückzukehren und Erdwelt endgültig zu unterjochen.
Die meisten von uns gaben nichts auf derlei Gerede; wir verbrachten die Zeit damit, uns selbst zu genügen. Entsprechend blind waren wir gegenüber dem, was in der Welt geschah. An einem Richtungsstreit über die Zukunft des Ordens hatten sich unsere Gemüter erhitzt, und wir wähnten uns so sehr im Mittelpunkt des historischen Geschehens, dass wir nicht merkten, wie sich dieses an einen anderen, weit entfernten Ort verlagerte. Nach Arun, jenseits der Südgrenze des Reiches …
Dort, in einem verbotenen Tempel, warteten Margoks Überreste darauf, von neuer Kraft erfüllt und ins Leben zurückgeholt zu werden. Zwar gelang es, die Verschwörung des Verräters Palgyr, der sich nunmehr Rurak nannte und wie sein dunkler Meister vom Orden losgesagt hatte, zu vereiteln. Aber die Welt war danach nicht mehr dieselbe.
Verunsicherung hielt Einzug, Gerüchte machten die Runde, die Furcht vor einem neuen verheerenden Konflikt ging um. Palgyrs Verrat hatte Klüfte zutage treten lassen, deren Vorhandensein wir über die Jahrhunderte erfolgreich geleugnet hatten: Margoks Kreaturen hatten erstmals nach langer Zeit wieder die Modermark verlassen, und die Menschen waren offen als Feinde aufgetreten und hatten sich gegen den König gestellt, der sich als schwach und seinen Beratern hörig erwiesen hatte. Zwar wurden Strafexpeditionen in die Westmark durchgeführt, und man versuchte, die Rädelsführer unter den gywara zu fassen, doch sie waren halbherzig geplant und nur zum Teil erfolgreich; Palgyr jedoch, der Urheber der Verschwörung, wurde in die dunklen Kerker von Borkavor verbannt, wo er den Rest seiner Tage verbringen sollte, bis seine Bosheit und das Gift des Verrats ihn zerfressen hätten.
All dies warf kein gutes Licht auf die Zukunft des Reiches, aber wir alle, die wir dem Orden der Zauberer angehörten, trogen uns mit dem Schein einer friedlichen, unverdorbenen Welt. Wie Wanderer, die in einer mondlosen Nacht ihr Ziel verloren hatten, suchten auch wir am Firmament nach leuchtenden Fixpunkten, die uns den Weg weisen würden. Wir fanden sie in jenen, die in Arun dabei gewesen waren und die Pläne der Verschwörer vereitelt hatten, und wir nannten sie Helden.
Zuvorderst den Zauberer Farawyn, dessen Fähigkeit, in die Zukunft zu sehen, uns alle vor der Katastrophe bewahrt hatte. Nach dem gewaltsamen Tode des Ältesten Cethegar stand er nunmehr dem Orden vor, zusammen mit Vater Semias, der einst sein Meister gewesen war.
Als nächsten Aldur, den Spross eines stolzen Elfengeschlechts. Auf Geheiß seines Vaters war er nach Shakara gekommen, um der größte aller Zauberer zu werden.
Alannah, die Tochter der Ehrwürdigen Gärten, die lange nichts von ihren Fähigkeiten geahnt hatte und nur zum Orden gestoßen war, weil das Schicksal es so gewollt hatte.
Und schließlich Granock, den ersten Menschen, der jemals in unseren Reihen aufgenommen worden war, und dies auch nur, weil Farawyn allen Vorbehalten zum Trotz darauf bestanden hatte.
Als unwürdiger Verfasser dieser Chronik gestehe ich freimütig, dass auch ich zu jenen gehört habe, die die Anwesenheit eines gywar in Shakara als Frevel betrachteten, als Verstoß gegen die alten Werte und Traditionen, und dass ich noch immer eine gewisse Scheu dabei empfinde, seinen Namen zusammen mit den vorgenannten auf dieses Pergament zu bannen. Aber es steht außer Frage, dass Granock nicht weniger tapfer und mutig gekämpft hat als seine Verbündeten von elfischem Geblüt und dass auch er seinen Anteil an dem Sieg gehabt hatte, der in Arun errungen worden war.
Vielleicht war es der Blick auf jene Helden, der uns unsere Vorsicht vergessen ließ. Vielleicht auch nur unser Wunsch nach Frieden. Doch wir alle, die wir glauben wollten, dass die Gefahr gebannt und die Bedrohung beseitigt wäre, wurden schon bald eines Besseren belehrt …
Aus der Chronik Syolans des Schreibers
Anhang zum II. Buch, 8. Abschnitt
BUCH 1
SGRUTH DARAN
(Der Sturm beginnt)
Wenn es einen Ort gab, der von den hehren Werten und hohen Idealen, welche die Gesellschaft der Elfen im Lauf von Jahrtausenden herausgebildet hatte, am weitesten entfernt war, dann war es dieser.
Borkavor.
Die Zitadelle des Feuers.
In alter Zeit von Drachen angelegt, war die Festung, deren Eingang weit im Nordosten lag und die sich tief ins Innere von Erdwelt erstreckte, einst ein Hort des Lebens gewesen. Unter der Herrschaft der Elfen jedoch war daraus eine Sammelstätte des Bösen und des Lasters geworden, ein Ort, an dem sich ihre dunkelsten Ängste bündelten – verkörpert durch jene, die dem ach so vollkommenen Dasein und der angeblich so überlegenen Moral des Elfengeschlechts entsagt und einen anderen Pfad beschritten hatten.
Rurak kannte die Geschichte Borkavors besser, als die meisten Elfen es taten. Zum einen, weil ein Großteil der Söhne und Töchter Sigwyns sich nicht für derlei Dinge interessierte; die meisten Elfen zogen die lichten Seiten des Lebens vor, widmeten sich den Musen und Künsten und verschlossen die Augen vor der schlichten Tatsache, dass es auch andere Kräfte in Erdwelt gab, die in das Spiel der Mächte eingriffen.
Zum anderen aber auch, weil sich Rurak eingehend mit der Geschichte der Festung befasst hatte, als er noch ein geachteter Zauberer gewesen war, ein Mitglied des Hohen Rates. Palgyr hatten sie ihn genannt, weil seine Gabe darin bestand, kraft einer magischen, aus Elfenkristall bestehenden Kugel Dinge zu sehen, die sich an weit entfernten Orten ereigneten. Inzwischen konnte Rurak nicht einmal mehr die eigene Hand vor Augen erkennen, denn in den Tiefen Borkavors herrschte ewige Nacht.
Als der Rat der Zauberer seine Strafe verkündet hatte, war Rurak sofort bewusst gewesen, was ihm bevorstand, und er verfluchte sich im Nachhinein dafür, dass er sich die Blöße gegeben hatte, für einen kurzen Moment Entsetzen auf seinen Zügen zu zeigen. Allein die Nennung Borkavors hatte genügt, um eine Unzahl an Vorstellungen, Ängsten und Befürchtungen in ihm auszulösen – die sich allesamt bestätigt hatten.
Borkavor war die Hölle.
Ein Ort, den es in der vollendeten Welt der Elfen nicht geben durfte. Aber er existierte dennoch. Die Geschichtsschreiber mochten behaupten, dass es die Notwendigkeit gewesen war, die einen solchen Ort erzwungen hatte, dass es in den Tagen nach dem Krieg gegen den Dunkelelfen keine andere Möglichkeit gegeben hatte als diese, um all jene zersetzenden Elemente, die sich sowohl dem Reich als auch dem Elfentum gegenüber als derart abträglich erwiesen hatten, für immer verschwinden zu lassen.
Aber das entsprach nicht der Wahrheit.
In Wirklichkeit waren es Hass und Rachsucht, jene zerstörerischen Kräfte, die einem jeden Wesen innewohnten und die Existenz eines Ortes wie Borkavor erst möglich machten – nur dass sich Sigwyns Töchter und Söhne nicht zu ihrem niederen Erbe bekannten. Alle anderen Völker Erdwelts – ob Orks, Zwerge, Menschen oder Trolle – fanden nichts dabei, zu ihren natürlichen Trieben zu stehen. Nur die Elfen nahmen für sich in Anspruch, diese weit hinter sich gelassen zu haben. Dabei hatten sie kaum geringere Freude daran, wehrlose Kreaturen zu quälen und sich an ihrer Not zu ergötzen. Anders ließ sich ein Ort wie dieser nicht erklären.
Dunkelheit herrschte, die allgegenwärtig war und nur dann durchbrochen wurde, wenn hoch über dem Gitter von Ruraks Zelle eine einsame Fackel auftauchte (oder war sie in Wahrheit tief unter ihm?) und man ihm etwas zu essen und zu trinken brachte. Wasser und Brot, das aus minderwertigem Mehl gebacken war. Genug, dass er nicht verhungerte, aber zu wenig, um bei Kräften zu bleiben. Genau darum und um nichts anderes ging es in Borkavor: um ein langsames, allmähliches Sterben, von dem in der vollendeten Welt außerhalb der Felsenmauern niemand etwas erfahren sollte.
Die Dunkelheit und die unzureichende Nahrung waren eine Sache – die Furcht, die mit eiserner Klaue selbst nach den unerschrockensten Herzen griff und sich mit der Dauer des Aufenthalts in abgrundtiefe Verzweiflung steigerte, war ungleich schlimmer. Es war, als hätten die Angst und die Panik all jener, die in diesen Mauern eingeschlossen gewesen waren, in den Felsen Niederschlag gefunden, so als wären sie der steingewordene Beweis dafür, dass es aus Borkavor kein Entkommen gab. Wer hierherkam, der blieb für immer – und die Tatsache, dass Sigwyns Erben in gewisser Weise unsterblich waren, spendete in dieser Hinsicht wahrhaftig keinen Trost, sondern verlängerte die Qualen auf unabsehbare Zeit.
Rurak hatte Gefangene gesehen, die Jahrzehnte, Jahrhunderte in Borkavor verbracht hatten. Ihr lu war welk geworden wie Laub in der Sonne, ihre Haut bleich und die Augen blind, und schließlich hatten sie sogar ihren Verstand verloren, der ihre letzte Zuflucht gewesen war. Wer nach Borkavor kam, der verwirkte sein Recht darauf, einst die Welt zu verlassen, um nach den Fernen Gestaden zu ziehen. Er war dazu verdammt, wie ein Sterblicher zugrunde zu gehen und dem Vergessen anheimzufallen, in einem Tod, der sich über viele hundert Jahre erstreckte.
Wie lange er bereits an diesem Ort weilte, wusste der Zauberer nicht zu sagen. Wo es keinen Unterschied gab zwischen Tag und Nacht und die Jahreszeiten keine Rolle spielten, war Zeit ohne Bedeutung. Es mochte ein Jahr sein oder auch schon zehn, wahrscheinlicher war irgendetwas dazwischen. Rurak aß, wenn man ihm etwas zu essen brachte, und er schlief, wann immer er müde war. Und jedes Mal, wenn er die Augen öffnete, schwang die vage Hoffnung mit, dass sie etwas anderes erblicken würden als das undurchdringliche Dunkel. Eine Hoffnung, die ebenso vergeblich war wie töricht.
Die Dunkelheit war Ruraks ständiger Begleiter geworden. Sie war das Letzte, das er sah, wenn er die Augen schloss, und sie begrüßte ihn, wenn er erwachte. Und inmitten dieser Dunkelheit und der winzigen Zelle, in die man ihn gesperrt hatte, kreisten seine Gedanken um immer denselben Pol.
Rache.
Mit jeder Faser seines hageren, Tag um Tag alternden Körpers sehnte er sich danach, diesem Gefängnis den Rücken zu kehren und es jenen heimzuzahlen, denen er seinen Aufenthalt in dieser Verdammnis verdankte.
Der alte Narr Semias, der dem Zauberrat vorstand.
Sein oberster Günstling Farawyn, der Ruraks schärfster Gegner in Shakara gewesen war.
Der Mensch Granock, der auf Farawyns Betreiben hin als erster Vertreter seiner Art in den Orden der Zauberer aufgenommen worden war.
Und schließlich ein gewisser Unhold, der sich im entscheidenden Augenblick als Sandkorn im Mahlwerk der Verschwörung erwiesen hatte.
Ruraks Plan war vollkommen gewesen, bis in die letzte Kleinigkeit durchdacht. Zum Scheitern gebracht hatte ihn am Ende jenes Element des Zufalls, das sich nicht vorhersehen ließ. Ihn traf keine Schuld an dem, was geschehen war, deshalb suchte er die Gründe für sein Versagen nicht bei sich selbst, sondern bei seinen Gegnern, und mit jeder Stunde, die er im undurchdringlichen Dunkel des Kerkers zubrachte, wuchs sein Durst nach Rache und steigerte sich in maßlosen, alles zersetzenden Hass.
Rurak wusste, dass sein Hass ihn veränderte, dass er seine Energie schwächte, an seinen Kräften zehrte und ihn äußerlich altern ließ. Aber er hielt ihn auch am Leben.
Tag für Tag für Tag.
Bis zu jener Nacht, in der er die Stimme vernahm.
Komm.
Wie ein Echo hallte sie durch die Albträume, die ihn plagten, seit er den Fuß über die Schwelle der alten Drachenfeste gesetzt hatte. Die Schreie, die unentwegt durch die Stollen und Gewölbe Borkavors gellten – sowohl die laut geäußerten als auch jene, die nur in Gedanken ausgestoßen wurden –, bildeten die Untermalung der grausigen Bilder, die Rurak vor sich sah, sobald er die Augen schloss. Auch sie, so nahm er an, waren ein Teil der Strafe …
Komm.
Der Ruf wiederholte sich, übertönte den schaurigen Gesang des Kerkers, drang hart und deutlich in sein schlaftrunkenes Bewusstsein.
Rurak!
Allmählich erwachend, wurde ihm klar, dass die Stimme nicht zu seinem Traum gehörte – aber vernahm er sie tatsächlich? Oder war sie nur etwas, das sein von der Einsamkeit gepeinigter Verstand ihm vorgaukelte? War sein Geist es leid, unablässig um dieselben eintönigen Gedanken zu kreisen? Bezahlte er nun den Preis für die Dunkelheit und die Verzweiflung? Stand ihm der Absturz in den Wahnsinn bevor?
Komm!
Nein. Weder war es seine eigene Stimme, die ihn rief, noch etwas, das seine Vorstellungskraft ihm vorgaukelte. Es lag so viel Herrschsucht darin, so viel Bosheit und unbeugsamer Wille, dass selbst der abtrünnige Zauberer darunter erschauderte. Niemand, der eine gewisse Zeit in Borkavor verbracht hatte, war zu einer solchen Aufforderung fähig …
Sie sind auf dem Weg zu dir. Schon in Kürze werden sie bei dir sein…
Rurak war nun vollends erwacht. Auch wenn es inmitten der Schwärze keinen Unterschied machte, öffnete er die Augen und schaute sich um. Erkennen konnte er natürlich nichts. Aber anders als zuvor, wo ihn die Einsamkeit wie ein gefräßiges Monstrum umlagert und mit messerscharfen Zähnen nach ihm geschnappt hatte, um ihm das dünn gewordene Fleisch seines Verstandes zu entreißen, fühlte er, dass er nicht mehr allein war.
Eine Präsenz war zu spüren, die er lange nicht mehr wahrgenommen hatte … zuletzt an jenem Tag im Dschungel von Arun, als seine Pläne, den Dunkelelfen ins Diesseits zurückzuholen, vereitelt worden waren. Die Erinnerung an die schmachvolle Niederlage schmerzte ihn noch immer, und in den dunkelsten Stunden war ihm gewesen, als könnte er noch immer das Hohngelächter seiner Feinde hören. Nun jedoch war es verstummt, und alles, was der abtrünnige Zauberer vernahm, war die Stimme, die ein um das andere Mal in seine Gedanken drang.
Komm jetzt. Die Zeit ist reif, mein Diener. Du hast lange genug gewartet.
»Mein Diener?« Rurak sprach die Worte laut aus. Sie klangen hohl und fremd in der Leere seiner Zelle. »Wer spricht da?«
Ahnst du das nicht längst? Hat es dir dein Hass nicht längst verraten?
»G-Gebieter …?« Ruraks Stimme verblasste zu einem Flüstern.
Die Antwort war ein unheimliches Gelächter, von dem der Zauberer wiederum nicht wusste, ob es nicht doch seiner eigenen Einbildung entstammte.
»W-wie ist das möglich?«, fragte er dennoch, sich an den letzten Rest verbliebenen Verstandes klammernd. »Ihr seid tot …!«
Das Gelächter wurde nur noch lauter.
»Mit eigenen Augen habe ich euch zurücksinken sehen in die Grube, der ich Euch entreißen wollte«, bekräftigte Rurak flüsternd. »Wie kann es da sein, dass …?«
Durch heldenhaftes Opfer, lautete die Antwort. Noch ist die Zeit des Dunkelelfen nicht angebrochen, aber er ist ins Diesseits zurückgekehrt und ruft seine Getreuen. Und dir, Rurak, den sie einst Palgyr nannten, ist es vergönnt, der Erste unter seinen Dienern zu sein.
»A-aber Gebieter, wie kann ich das?« Rurak schüttelte den Kopf. Trotz der Finsternis, die ihn umgab, fühlte er sich plötzlich beobachtet. »Wisst Ihr denn nicht, wo ich bin?«
An dem Ort, an den auch ich einst gebracht werden sollte. An dem so vielen meiner Anhänger ein unrühmliches Ende widerfahren ist. Aber nicht dir, Rurak, denn du hast mir die Treue gehalten in all den Jahren, hast dich nicht von den Irrlehren des Ordens verleiten lassen.
»Nein, Gebieter, niemals«, versicherte Rurak beflissen. Es war ihm inzwischen egal, ob die Stimme tatsächlich zu ihm sprach oder doch nur aus seinem Inneren kam. Ihm gefiel, was sie sagte, denn es war wie Balsam auf seine von Rachsucht geschundene Seele.
Und willst du mir auch weiterhin dienen?
»Mehr als je zuvor. Mit meiner ganzen Zauberkraft will ich Euch dienen und Euch helfen, jene zu vernichten, die Euren Plänen im Weg stehen.«
Ich habe nichts anderes erwartet. Also verlasse deinen Kerker und tu das, was ich dir sage.
»Meinen Kerker verlassen?« Plötzlich war sich Rurak sicher, dass es doch nur sein eigener angeschlagener Verstand war, der zu ihm sprach.
Du wirst Hilfe erhalten, sagte die Stimme. Schon sehr bald. Und zweifle nicht an meinen Kräften, denn sie erstarken mit jeder Stunde, die ich länger auf Erden weile. Bald schon werden sie groß genug sein, um unsere Feinde zu vernichten…
Die Stimme verhallte in der Finsternis der Zelle, und drückende Stille kehrte ein. Nicht einmal die allgegenwärtigen Schreie waren mehr zu hören.
»G-Gebieter?«, fragte Rurak zaghaft. »Gebieter …?«
Er erhielt keine Antwort mehr, und schon Augenblicke später fragte er sich, ob das eigentümliche Gespräch je wirklich stattgefunden hatte. Vielleicht war er ja eingenickt und hatte geträumt. Oder sein Verstand hatte als Folge der langen Kerkerhaft entschieden, eigene Wege zu gehen und sich von seinem Körper zu trennen.
Natürlich, so musste es sein.
Margok konnte unmöglich zu ihm gesprochen haben. Zum einen weilte der Dunkelelf nicht mehr im Diesseits, und selbst wenn noch ein Funke Leben in ihm gewesen wäre, wäre er wohl kaum stark genug gewesen, um an einen Ort wie diesen vorzudringen und die unzähligen Barrieren zu überwinden, die Borkavor von der Außenwelt trennten.
Ruraks Mut sank mit jedem Atemzug. Plötzlich jedoch glaubte er über dem Deckengitter seiner Zelle ein helles Funkeln wahrzunehmen. Oder täuschten ihn seine von der ständigen Dunkelheit träge gewordenen Augen? Er rieb sie sich, bis sie schmerzten, dann spähte er noch einmal empor – und sah fernen Fackelschein.
Jemand hatte den caras betreten, wahrscheinlich Elfenwächter mit anadálthyra vor den Gesichtern, die ihre Kameraden ablösen sollten. Der Zauberer sah, wie sich der Zug hoch über ihm in Bewegung setzte, der Wölbung der Kuppel folgte und schließlich im toten Winkel seines eingeschränkten Blickfelds verschwand.
Eine Weile lang war nichts zu hören. Dann ein leises Zischeln und Schnauben, und Rurak fühlte abermals eine Anwesenheit, die er so lange nicht mehr gewahrt hatte, dass sie ihm im Laufe seiner Kerkerhaft wie ein Traum erschienen war. Er setzte sich auf der steinernen Pritsche auf und blickte erwartungsvoll zum Gitter empor.
Etwas, das konnte er deutlich fühlen, hatte sich verändert. Die Schwärze in seinem Inneren schien zu weichen, seine Verzweiflung nicht mehr ganz so übermächtig, sein Ansinnen auf Rache nicht mehr ganz so aussichtslos zu sein. Womöglich würde er schon bald – sehr bald – Aufschluss darüber erhalten, ob der Dunkelelf tatsächlich noch am Leben war und inmitten dieser undurchdringlichen Mauern zu ihm gesprochen hatte. Oder ob Rurak der Zauberer wahrhaftig dabei war, den Weg all jener zu beschreiten, die vor ihm in den Kerkern Borkavors gesessen hatten …
Fackelschein erschien oberhalb der Gitteröffnung, der flackend und unstet in die Zelle fiel und Rurak blendete. Es war eine der seltenen Gelegenheiten, bei denen er das karge Innere seiner Zelle zu sehen bekam: kahle Wände aus nacktem Fels, ein steinernes Lager und eine Öffnung im Boden. Nicht gerade angemessen für einen Zauberer, dessen Pläne dahin gegangen waren, als Margoks Helfer über Erdwelt herrschen zu wollen.
Mit kriechenden Schritten, die wenig Elfisches an sich hatten, traten die Träger der Fackeln in sein Sichtfeld. Im ersten Augenblick glaubte Rurak, dass es Trolle wären, aber auch das war nicht der Fall.
Was sich dort oberhalb der Gitteröffnung versammelte, waren weder Elfen noch Trolle. Genau genommen waren es noch nicht einmal Kreaturen im herkömmlichen Sinn, denn sie waren nicht aus der natürlichen Schöpfung hervorgegangen, sondern künstlich gezüchtet worden – in verbotenen Experimenten, die jedes geltende Gesetz missachteten, jedoch das Genie ihres Urhebers offenbarten.
»Dinistrio!«
Rurak flüsterte den Namen, worauf einer der muskulösen und am ganzen Körper von Schuppen bedeckten Krieger über das Gitter trat und sich herabbeugte. Rurak konnte den nach vorn gewölbten Schädel sehen, die Fangzähne und die kleinen, kalten Reptilienaugen – und er wusste, dass er keiner Täuschung erlegen war.
Es war dem Dunkelelfen tatsächlich gelungen, allen Mauern und Barrieren zum Trotz nach Borkavor vorzudringen!
Er hatte ihm Helfer geschickt, die ihn befreien und zurückholen sollten in die Welt der Lebenden. Der Weg dorthin, das ahnte Rurak, würde nicht einfach sein und ihn nicht nur Schmerzen, sondern auch weitere Jahre seines Daseins auf Erden kosten. Er würde sein lu schwächen und einen Greis aus ihm machen, doch er hatte keine andere Wahl.
»Was ist mit den Wachen?«, fragte Rurak flüsternd hinauf.
Zur Antwort hielt der Echsenkrieger seine linke Klaue hoch – und Rurak blickte in das Gesicht eines Elfen.
Der Kopf war vom Rumpf getrennt worden, der Mund zu einem stummen Schrei weit aufgerissen.
Die Schrecken von Borkavor, dachte Rurak voller Genugtuung, während schuppenbesetzte Klauen das Zellengitter öffneten, hatten eine neue Bedeutung bekommen.
»Und vorwärts! Nicht so langsam! Das Gewicht gleichmäßig auf beide Beine, verstehst du?«
Granock hörte seine eigene Stimme von der Kuppeldecke der Arena widerhallen und konnte es selbst kaum glauben: Noch vor zwei Jahren war er selbst einer der Novizen gewesen, die in endlosen Übungsstunden im Umgang mit dem flasfyn unterrichtet wurden; nun erteilte er selbst die Lektionen. Ein wenig befremdet stellte er fest, dass er sich dabei kaum anders anhörte wie seinerzeit der gestrenge Meister Cethegar …
»Auf beide Beine, habe ich gesagt!«
»Warum?«, fragte der Novize unbedarft zurück.
Die Antwort folgte auf dem Fuß, und zwar im wörtlichen Sinne. Anstatt dem vorlauten Jungen zu erklären, weshalb man beim Kampf mit dem Zauberstab stets mit beiden Beinen auf dem Boden zu stehen hat, rempelte Granock ihn kurzerhand an, worauf der Novize das Gleichgewicht verlor, mit den Armen ruderte und – zur Belustigung seiner Mitschüler – auf dem Hinterteil landete. Schon für einen Menschen war dergleichen eine entwürdigende Erfahrung. Für einen Elfen kam es einem Frevel gleich.
»Deshalb«, erklärte Granock grinsend, wobei er sich sicher war, dass keiner der anwesenden Schüler diese Lektion je vergessen würde. »Es ist wichtig, dass ihr im Kampf stets das Gleichgewicht behaltet, und das könnt ihr nicht, wenn ihr das Gewicht auf ein Bein verlagert. Geht das in deinen Schädel?«
»J-ja«, versicherte der Novize, ein junger Elf aus dem Südreich, der auf den Namen Nimon hörte. Granock streckte ihm die Hand entgegen und zog ihn wieder auf die Beine. Zumindest in dieser Hinsicht unterschied er sich von Meister Cethegar.
»Machen wir eine kurze Pause«, schlug er vor, zur hellen Freude seiner Schüler. Erleichtert stellten sie die Übungszauberstäbe an der Wand ab und setzten sich mit verschränkten Beinen auf den Boden.
Sie alle waren erst wenige Wochen in Shakara und mit den Gepflogenheiten noch nicht vertraut. Granock erinnerte sich lebhaft an seine erste Zeit im Orden der Zauberer. Nicht nur, dass er die Elfensprache mühsam hatte erlernen müssen; ein junger Mitschüler namens Aldur hatte keine Gelegenheit ausgelassen, ihm, dem ersten Menschen in diesen Hallen, das Leben zur Hölle zu machen.
»Wollt Ihr uns eine Geschichte erzählen, Eingeweihter Granock?«, erkundigte sich ein Mädchen, das dem Aussehen nach kaum älter als sechzehn Jahre sein mochte. Granock hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass dieser Eindruck bei Elfen täuschen konnte.
»Was für eine Geschichte?«, hielt er dagegen.
»Ist es wahr, dass Ihr den Eingeweihten Aldur mit einem Zauberstab verprügelt habt?«, erkundigte sich Nimon vorlaut, der sich von seiner Lektion schon wieder erholt zu haben schien.
»Wer hat euch das erzählt?«, wollte Granock wissen, aber eigentlich erübrigte sich die Frage. Er blickte an den Neuzugängen vorbei zu den beiden Gestalten, die drüben am Eingang standen und für die Wartung und Instandhaltung der Übungszauberstäbe verantwortlich waren.
Ogan und Caia.
Die beiden waren zusammen mit Granock nach Shakara gekommen, aber anders als bei ihm war ihre Ausbildung noch im Stadium des garuthan begriffen. Die erste Prüfung hatten sie schon abgelegt und den safailuthan, den theoretischen Teil der Ausbildung zum Zauberer, erfolgreich hinter sich gebracht. Aber sie waren noch keine Eingeweihten, und zumindest Ogan bezweifelte ernstlich, dass er diesen Grad der Reife jemals erlangen würde. Denn darüber entschied keine Prüfung, sondern ganz allein der Hohe Rat; nur wer sich in besonderer Weise um den Orden verdient gemacht hatte, trat in den dritten und letzten Abschnitt der Ausbildung ein.
Granock warf dem untersetzten Elf, der zu seinen besten Freunden gehörte, einen tadelnden Blick zu. »Gewissermaßen«, gestand er dann.
»Wie ist das passiert?«, wollte Nimon wissen.
»Nun ja, ich …« Granock suchte nach Worten, um die Angelegenheit möglichst harmlos klingen zu lassen – er konnte ja schlecht erzählen, dass Aldur keine Gelegenheit ausgelassen hatte, um ihm zu schaden, und er sich deshalb mit allen Mitteln hatte verteidigen müssen. »Ich war noch jung damals und ziemlich ungestüm«, erklärte er dann. »Meister Cethegar, der unsere Ausbildung leitete, ließ uns mit dem flasfyn gegeneinander antreten. Und da ich bis zu diesem Zeitpunkt nicht wusste, dass ein Stab auch zu anderen Zwecken dienen kann als dazu, einfach zuzuschlagen, habe ich eben zugeschlagen.«
Die Novizen lachten meckernd, auch Ogan und Caia grinsten breit. Die Erinnerung schien ihnen noch immer zu gefallen.
»Cethegar ist der Meister, der damals in Arun gefallen ist, nicht wahr?«, fragte ein anderer Novize, und das Gelächter erstarb.
»Ja«, bestätigte Granock leise.
»Wie ist das damals gewesen? Es muss furchtbar sein, seinen Meister zu verlieren …«
Granock schloss einen Atemzug lang die Augen. Fast schien es ihm, als wäre er rings von dichtem Grün umgeben. Er roch den Moder und die Fäulnis, sah die steinerne Bestie und hörte gellende Schreie …
»Das ist es«, versicherte er nickend. »Allerdings ist Cethegar nicht mein Meister gewesen, sondern der der Eingeweihten Alannah. Aber ich bitte euch, sie nicht danach zu fragen, denn die Erinnerungen sind für sie noch immer schmerzlich, trotz all der Zeit, die vergangen ist.«
»Und ist es wahr?«, erkundigte sich Nimon. »Stimmt es, was man im Südreich erzählt? Dass der Dunkelelf ins Leben zurückkehren wollte?«
Die Heiterkeit, die vorhin noch die Kuppel erfüllt hatte, war mit einem Mal nur noch eine ferne Erinnerung. Wie immer, wenn die Rede auf derlei Dinge kam. Granock konnte die Furcht der jungen Novizen beinahe körperlich spüren, ihre Neugier und ihre Unsicherheit. Gebannt schauten sie ihn an.
»Es ist wahr«, gestand er. »Ein Zauberer, der diesem Orden angehörte, wandte sich von seinen Brüdern ab und versuchte, die sterbliche Hülle Margoks wieder zum Leben zu erwecken. Glücklicherweise konnten wir ihn daran hindern, aber ich …«
Granock biss sich auf die Zunge. Die blassen Gesichter, in die er blickte, waren auch so schon verängstigt genug – ohne dass er Einzelheiten preisgab und ihnen vom Verrat der Meisterin Riwanon erzählte oder davon, dass es in den vergangenen zwei Jahren kaum eine Nacht gegeben hatte, in der er nicht von jenen grässlichen Ereignissen geträumt hatte und schweißgebadet aus dem Schlaf geschreckt war. Sein menschliches Naturell schien einfach nicht mit den Schrecken fertig zu werden.
Nimon und die anderen starrten ihn wissbegierig an und warteten darauf, dass er seinen Satz zu Ende brachte. Entsprechend froh war er, als die Tür zum Übungsraum aufglitt und genau jener Elf erschien, dem er vor etwas mehr als zwei Jahren tatsächlich just an dieser Stelle eine Tracht Prügel verpasst hatte.
»Was denn?« Über die schmalen, fast asketisch wirkenden Züge huschte ein Lächeln, seltene Heiterkeit sprach aus den stahlblauen Augen. »Gibst du schon wieder mit deinen angeblichen Heldentaten an?«
»Aldur!«
Das unverhoffte Auftauchen des Freundes ließ Granock für einen Augenblick alles andere vergessen. Er wandte sich von seinen Novizen ab und ging dem Elfen entgegen, umarmte dessen hagere Gestalt. Früher wäre es Aldur niemals in den Sinn gekommen, eine solch bäuerische Bekundung menschlicher Zuneigung über sich ergehen zu lassen, doch inzwischen erwiderte er sie sogar.
»Seit wann bist du wieder hier?«
»Eben erst angekommen.«
»Und? Wie war es draußen in der yngaia? Du musst mir alles erzählen.«
»Das werde ich«, versicherte Aldur ruhig, jetzt wieder ganz ein Sohn seines Volkes. »Wie ich sehen kann, arbeitest du mit den Novizen.«
»Meister Farawyn hielt es für eine gute Idee«, erklärte Granock ein wenig verlegen. »Er meinte, ich könnte ihnen ein paar besondere Tricks beibringen.«
Aldur grinste. »Davon bin ich überzeugt. Hast du ihnen auch von der Lektion erzählt, die ich dir im Umgang mit dem flasfyn erteilt habe?«
»Du mir?« Granock hob die Brauen. »Wenn ich mich recht entsinne, bin nicht ich es gewesen, der am Ende mit brummendem Schädel auf seinem Hintern saß.«
Beide lachten und umarmten einander erneut, was zumindest einige der Novizen mit Befremden zu erfüllen schien. »Eingeweihter Aldur?«, fragte einer von ihnen. Die Ehrfurcht war seiner Stimme deutlich anzumerken.
»Ja, Novize?«
»Warum unterrichtet Ihr uns nicht im Umgang mit dem flasfyn?«
»Weil ich dazu nicht beauftragt wurde, Novize«, erklärte Aldur kurzerhand.
»Ich verstehe«, räumte der junge Elf ein, aus dessen Blick grenzenlose Bewunderung sprach. »Aber wärt Ihr nicht die bessere Wahl? Könntet Ihr uns nicht sehr viel mehr beibringen als ein Mensch?«
Granock zuckte noch nicht einmal innerlich zusammen. Er hatte sich längst daran gewöhnt, dass Elfen ihm zunächst mit Misstrauen begegneten. Selbst sein Anteil an der Aufdeckung von Palgyrs Verschwörung hatte daran nicht allzu viel geändert. Angesichts der Tatsache, dass es in den von Menschen besiedelten Ostlanden wiederholt Unruhen gegeben hatte und einige Clansherren sich mehr oder weniger offen gegen die Krone stellten, konnte er es ihnen nicht einmal verübeln.
Anders als Aldur.
Der Eingeweihte straffte sich, und seine ohnehin schon schmalen Elfenaugen verengten sich zu Schlitzen, durch die er den Novizen durchdringend taxierte.
»Wie heißt du?«, wollte er wissen.
»Eoghan«, drang es leise zurück.
»Eoghan«, wiederholte Aldur. »Somit trägst du einen großen, königlichen Namen – den du soeben mit Unehre beschmutzt hast.«
»Mit Unehre?« Der Novize schnappte erschrocken nach Luft. »Aber ich …«
»Dieser Mann«, verkündete Aldur, auf Granock deutend, »ist ein Mitglied unseres Ordens, und er ist ebenso mein Bruder, wie es jeder Sohn Sigwyns ist, der in diesen Hallen wandelt. In dunkelster Stunde habe ich Seite an Seite mit ihm gekämpft und würde ihm jederzeit mein Leben anvertrauen. Wer sich erdreistet, seine Fähigkeiten anzuzweifeln oder seine Loyalität infrage zu stellen, der muss mir persönlich Rede und Antwort stehen. Habt ihr das verstanden?«
Er ließ seinen Argusblick über die Novizen streifen und erntete eifriges Nicken. Granock, der ebenso geschmeichelt war wie peinlich berührt, senkte den Blick.
»Es tut mir leid, Eingeweihter Aldur«, beeilte sich Eoghan zu versichern. »Ich wollte nicht …«
»Für Entschuldigungen ist es zu spät, Novize«, stellte Aldur klar. »Wer meinen Bruder beleidigt, der beleidigt auch mich, und das werde ich nicht ungestraft hinnehmen. Du wirst den dysbarth verlassen und dich umgehend bei Meister Duran melden. Du wirst dich aller deiner Kleider entledigen und zehn Tage und zehn Nächte in einer der Eiskammern verbringen. Dort wirst du darüber nachdenken, was es bedeutet, einen Mitbruder zu beleidigen.«
»J-ja, Eingeweihter Aldur«, bestätigte der Junge stammelnd. Das Entsetzen war seinen kreideweißen Zügen deutlich anzusehen.
»Aldur«, raunte Granock. So dankbar er seinem Freund dafür war, dass er für ihn Partei ergriff, so überzogen fand er die Strafe. Er hatte andere Mittel und Wege gefunden, um aufsässige Novizen dazu zu bringen, ihre Nase weniger hoch zu tragen.
»Du ergreifst für ihn Partei?«, fragte Aldur ihn in einer Mischung aus Wut und Erstaunen. »Obwohl er deine Fähigkeiten als Lehrer öffentlich angezweifelt hat?«
»Nur weil er meine Fähigkeiten öffentlich anzweifelt, bedeutet das nicht, dass ich keine habe«, konterte Granock gelassen. »Außerdem kannte ich einst einen jungen Elfen, der ähnlich dachte und nicht weniger hart in seinem Urteil war …«
Was in Aldurs Innerem vorging, war nicht festzustellen, seine Miene blieb unbewegt. »Fünf Tage«, erklärte er schließlich. »Das ist mein letztes Wort. Und bedenke, Novize Eoghan, dass es Menschlichkeit war, die dir die Hälfte der Strafe erspart hat.«
»Ja, Eingeweihter Aldur.« Der junge Elf verbeugte sich tief und respektvoll.
»Und jetzt geh mir aus den Augen.«
Eoghan verbeugte sich abermals. Dann flüchtete er rasch aus der Halle. Seine Knie waren sichtlich weich dabei. Wahrscheinlich, so nahm Granock an, würde er sich übergeben, sobald er die Arena verlassen hatte. Manche Dinge änderten sich vermutlich nie.
Die übrigen Novizen vermieden es, ihrem menschlichen Lehrer in die Augen zu schauen. Die meisten blickten betreten zu Boden oder zur Kuppeldecke hinauf, andere kehrten zu ihren Übungszauberstäben zurück und taten so, als würden sie sie prüfen. Die restliche Unterrichtsstunde, da war Granock ganz sicher, würde ohne weitere Zwischenfälle verlau…
Da bist du ja!
Die helle Stimme, die durch sein Bewusstsein quäkte, unterbrach Granocks Gedankengang. Er wandte sich dem Eingang zu, wo eine untersetzte, nur eineinhalb Ellen große Gestalt erschienen war, die blattgrüne Kleidung trug und einen umgedrehten Blütenkelch auf dem Kopf. Als Granock den Kobold Ariel zum ersten Mal in dieser Montur erblickt hatte, hatte er sich ausgeschüttet vor Lachen. Inzwischen war Ariel sein persönlicher Diener, und an die Blütenmütze hatte sich Granock ebenso gewöhnt wie daran, dass Kobolde sich mittels Gedankenübertragung zu unterhalten pflegten. Und dass der ehemalige Hausmeister dabei gern einen flapsigen Umgangston anschlug …
Ist dir klar, was es heißt, die halbe Ordensburg auf Füßen absuchen zu müssen, die so klein sind wie meine?, maulte Ariel missmutig.
»Ich habe dir gesagt, wohin ich gehe«, konterte Granock. »Leider sind deine Ohren genauso klein wie deine Füße.«
Versuchst du jetzt auch noch, witzig zu sein? Als ob es nicht genügen würde, dass ein Mensch das Zaubern lernt!
Granock musste grinsen. Sich fortwährend über etwas zu beschweren, gehörte ebenso zu Ariel wie die dicken Pausbacken und die spitze Nase. Aber es änderte nichts daran, dass er ein treuer und zuverlässiger Diener war.
»Was gibt es?«
Meister Farawyn wünscht dich zu sprechen. Und den hochnäsigen Elfenbengel gleich mit.
Granock war froh darüber, dass Aldur von ihrer Unterhaltung nichts mitbekam. Die eigenen Gedanken abzuschirmen gehörte zu den Dingen, die einem als Erstes beigebracht wurden, wenn man nach Shakara kam. Ariel hatte nie ein Hehl daraus gemacht, dass er Aldur nicht besonders leiden konnte, auch wenn Granock keine Gelegenheit ausließ, die Vorzüge seines Freundes aufzuzählen.
»Verstanden«, bestätigte er nur.
»Gibt es Probleme?«, wollte Aldur wissen.
»Wir sollen zu Farawyn, alle beide«, erklärte Granock knapp. »Ogan?«
»Ja, Granock?« Der Freund näherte sich nur zögernd. Furcht stand in seinen Augen zu lesen, die fraglos Aldur galt. Wegen seines rundlichen Körperbaus und seiner vergleichsweise harmlosen Gabe, es regnen zu lassen, hatte Aldurans Sohn den armen Ogan schon häufig vorgeführt.
»Ich möchte, dass du mit dem Unterricht fortfährst.«
»Ich? Aber ich bin nur ein Aspirant …«
»Du weißt, wie man mit dem flasfyn umgeht, oder nicht?«
»Nun ja.«
»Dann lehre sie den Schattenkampf. Oder bring ihnen zur Not bei, wie man jemandem das Ding über den Schädel haut«, fügte Granock grinsend hinzu. »Kriegst du das hin?«
»Ich denke schon«, versicherte der Elf, und ein Lächeln plusterte seine ohnehin schon vollen Wangen.
»Dann immer zu«, forderte Granock ihn auf, während Aldur und er sich zum Gehen wandten.
Wenn der Älteste des Ordens zur Besprechung rief, ließ man ihn besser nicht warten.
Auf dem Weg zur Kanzlei hatten sie erstmals Gelegenheit, sich zu unterhalten. Níobe, Aldurs Koboldsdienerin, war damit beschäftigt, seine Sachen auszupacken, und Granock hatte Ariel gebeten, ihr dabei zur Hand zu gehen – nicht, weil sie Hilfe gebraucht hätte, sondern weil er mit Aldur allein sein wollte. Und weil er wusste, dass der gute Ariel insgeheim ein Auge auf die kesse Níobe geworfen hatte …
»Und?«, erkundigte er sich, während sie durch die von blauem Kristallfeuer beleuchteten Gänge schritten. »Wie ist es da draußen gewesen?«
»Kalt«, entgegnete Aldur nur. »Schnee und Eis, wohin man blickt. Man fragt sich, wie diese Kreaturen das aushalten.«
Granock schaute ihn von der Seite an. »Und? Bist du erfolgreich gewesen?«
»Soll das ein Scherz sein?« Aldur schüttelte den Kopf. »Du weißt, ich habe nichts mehr dagegen, auch Menschen in den Orden aufzunehmen. Aber Farawyn hatte schon bessere Ideen, als ausgerechnet unter den Eisbarbaren nach Begabten zu suchen. Diese Kerle können von Glück sagen, wenn sie sich aus Dummheit nicht alle gegenseitig erschlagen – das ist Gabe genug.«
Granock musste lachen. Trotz aller Vorbehalte hatten sich die Zauberer von Shakara bereit erklärt, außer Granock noch weitere Menschen in den Orden aufzunehmen. Voraussetzung dafür war allerdings, dass sie wie jeder andere Anwärter über reghas verfügten, jene einzigartige magische Gabe, die jeder Zauberer sein Eigen nannte. Eine rege Suche nach magischen Talenten hatte daraufhin eingesetzt, die sich nicht nur auf die Ostlande, sondern auch auf die Außenbezirke erstreckte, und es war Farawyn selbst gewesen, der darauf bestanden hatte, auch die Barbaren des Nordens einzubeziehen. Und das, obwohl es selbst unter den Menschen eine ganze Reihe gab, die behaupteten, die grobschlächtigen und am ganzen Körper behaarten Bewohner der südlichen yngaia gehörten nicht zu ihrer Art.
Dass ausgerechnet Aldur die zweifelhafte Ehre zugefallen war, die Eiswüste nach Anwärtern zu durchsuchen, war sicher kein Zufall gewesen. Noch war ihre Ausbildung zum Zauberer nicht abgeschlossen, und Granock nahm an, dass Farawyn Aldur eine Lektion hatte erteilen wollen – in Kälte, in Demut oder was auch immer. Er hatte schon vor langer Zeit damit aufgehört, die Handlungen seines Meisters zu hinterfragen.
»Und Alannah?«, fragte Aldur.
»Was soll mit ihr sein?« Granock zuckte mit den Schultern. »Sie ist noch immer in Tirgas Lan.« Er gab sich Mühe, unbekümmert zu klingen, damit sein Freund nicht merkte, wie sehr ihm Alannah fehlte, die ebenso schöne wie kluge Elfin, die das Dreigestirn ihrer Freundschaft ergänzte. Gemeinsam hatten sie die erste Prüfung bestanden, gemeinsam die Hölle von Arun durchlebt. Seither waren sie unzertrennlich.
Zumindest theoretisch …
»Noch immer?«, fauchte Aldur und sprach ihm damit aus der Seele. »Aber es sind nun schon vier Monate!«
»Du weißt doch, sie wollte alte Freunde besuchen, aus der Zeit, als sie noch ein Kind der Ehrwürdigen Gärten war«, brachte Granock in Erinnerung. »Schließlich erlässt Lordrichter Mangon nicht jeden Tag eine Amnestie.«
Unwillkürlich musste er an die dramatischen Ereignisse denken, die Alannah zum Orden geführt hatten. Als Elfin von hohem Geblüt war sie in der Obhut der Ehrwürdigen Gärten aufgewachsen. Eines Tages hatte Iwein, der jüngste Sohn des Fürsten von Andaril, sie dort beim Baden beobachtet, und Alannah, von Scham und Furcht überwältigt, hatte sich mit ihrer Gabe zur Wehr gesetzt, von der sie bis zu diesem Augenblick noch nichts geahnt hatte. Von einer Eislanze durchbohrt, war Fürst Erweins Sohn tot niedergesunken und Alannah des Mordes beschuldigt worden. Die Flucht nach Shakara war ihre einzige Möglichkeit gewesen, doch die Ereignisse von Arun und der wesentliche Anteil, den sie bei der Aufdeckung der Verschwörung gespielt hatte, hatten sie in den Augen des Lordrichters rehabilitiert.
»Ehrwürdige Gärten hin oder her«, murrte Aldur. »Wir sind ihre Freunde, hat sie das vergessen? Ihr Platz ist hier in Shakara und nicht in Tirgas Lan …«
Sein Lamento wäre wohl weitergegangen, hätten sie nicht in diesem Moment das Vorgewölbe der Kanzlei erreicht. Mehrere Meister – unter ihnen auch Syolan der Schreiber und Tarana von der Zauberstab-Kongregation – hockten an den länglichen Tischen und waren in das Abfassen von Berichten vertieft. Falun, eine noch junge Rätin des linken Flügels, begrüßte die beiden Eingeweihten und führte sie durch den Säulengang zur Kanzlei. Die mächtigen Pforten schwangen auf, und Granock und Aldur sahen sich den beiden Ältesten des Ordens gegenüber.
Semias und Farawyn.
Vater Semias trug den Titel nicht nur ehrenhalber; infolge seiner gebückten Gestalt, des schlohweißen Haars und des Bartes, der ihm fast bis zum Bauch hinabreichte, sah er tatsächlich so aus, als weilte er schon länger als jedes andere Ordensmitglied auf dieser Welt. Wer den sanftmütigen, stets auf Ausgleich bedachten Zauberer jedoch näher kannte, der wusste, dass die Verschwörung Palgyrs und noch mehr der Verlust seines Freundes Cethegar sein lu, die Lebensenergie, die jedem Elfen innewohnte, beträchtlich gemindert hatten.
Auch an Farawyn waren die Vorfälle von Arun nicht spurlos vorübergegangen, aber im Vergleich zu Semias war er von geradezu jugendlicher Kraft erfüllt. Anders als die meisten Mitglieder des Ordens trug er das grauschwarze Haar und den Kinnbart kurz geschnitten, und aus seinen dunklen Augen sprach ein eiserner, unbeugsamer Wille. Seine Robe war von dunkelblauer Farbe und trug den stilisierten Elfenkristall auf der Brust, den er sich als Siegel gewählt hatte.
Sowohl an der Miene seines Meisters als auch an der des alten Semias konnte Granock sofort erkennen, dass etwas nicht stimmte. Während Farawyn auf seinen Lindenholzstab gestützt auf und ab ging, saß Semias am Ende der langen Beratungstafel, zusammengesunken und das Kinn auf die knochige Hand gestützt. Weder gab es ein Willkommen für Aldur noch ein freundliches Wort für Granock.
»Gut, dass ihr gekommen seid«, war alles, was Farawyn zur Begrüßung sagte. Dann deutete er auf zwei freie Stühle an der Tafel. »Setzt euch. Bruder Semias und ich haben mit euch zu reden.«
»Falls es um die Handhabung der flasfyn-Ausbildung geht«, meinte Granock, während Aldur und er Platz nahmen, »so möchte ich dazusagen, dass ich …«
»Nein, Sohn.« Semias schüttelte den Kopf. Über seine faltigen Züge glitt der Anflug eines Lächelns. »Darum geht es nicht, obwohl ich es wünschte. Glückliche Zeiten sind es, in denen wir uns um Nichtigkeiten sorgen.«
Granock kannte den Ausspruch. Es war ein Zitat aus dem Prolog der »Geschichte des Großen Krieges der Völker«, die ein Meister mit Namen Nevian vor vielen Jahrhunderten verfasst hatte. Das Studium der alten Schriften gehörte ebenfalls zur Ausbildung eines Zauberers, und wenn Semias wörtlich daraus zitierte, so signalisierte er damit, dass bedeutsame Dinge vorgefallen waren. Dinge von möglicherweise historischen Ausmaßen …
Granock merkte, wie seine Kehle trocken wurde. Seine Hände krallten sich in die Stuhllehnen, bis die Knöchel weiß hervortraten. »Was ist geschehen?«, fragte er gepresst – obwohl Farawyn ihn unzählige Male deswegen ermahnt hatte, war er seine Gewohnheit, Fragen zu stellen, nie ganz losgeworden. Ein Elf hingegen pflegte geduldig zu warten, bis, wie es hieß, die Weisheit zu ihm kam.
»Zwei Jahre lang«, erwiderte Semias leise, »war uns eine Zeit der Ruhe vergönnt …«
»Der trügerischen Ruhe«, verbesserte Farawyn, der seinen Stab in die dafür vorgesehene Halterung an der Wand gelegt und sich dann ebenfalls gesetzt hatte. »Ich war immer der Ansicht, dass sie nicht ewig währen würde. Zu vieles sprach dagegen.«
»Ich habe deinen Ausführungen stets mit Interesse gelauscht, Bruder Farawyn«, versicherte Semias. »Dennoch hatte ich wie wohl so viele Schwestern und Brüder unseres Ordens gehofft, dass sich deine Befürchtungen als unbegründet erweisen, dass die Geschichte uns nicht noch eine weitere Lektion erteilen würde. Aber damit habe ich mich wohl geirrt. Auch wenn ich nicht weiß, welchen Fehler wir begangen haben.«
»Der Fehler«, sagte Farawyn unbarmherzig, »bestand darin, ihn am Leben zu lassen. Er hätte getötet werden müssen und verbrannt und seine Asche in alle Winde zerstreut. Nur dann wären wir sicher gewesen.«
Semias’ Mund klappte in namenlosem Schrecken auf und zu. Der Älteste wirkte hilflos, wie ein Fisch, der auf dem Trockenen lag und nach Atem rang. Die Todesstrafe war unter Elfen längst abgeschafft worden und wurde als unzivilisiert und barbarisch erachtet. Ihr so unverhohlen das Wort zu reden, wie Farawyn es gerade getan hatte, kam einem Frevel gleich. Dass Semias nicht widersprach, ließ jedoch darauf schließen, dass es bei der ganzen Angelegenheit nur um jene Person gehen konnte, die den Orden wie kaum eine andere getäuscht und hinters Licht geführt hatte …
»Palgyr«, sprach Granock seinen Gedanken laut aus. »Es geht um Palgyr, nicht wahr?«
»Nenne ihn nicht so«, wehrte Semias ab. »Unser Mitbruder dieses Namens existiert nicht mehr. An seine Stelle ist der Verräter getreten, der sich Rurak nennt.«
»… und der aus Borkavor entkommen ist«, fügte Farawyn ebenso leise wie düster hinzu.
»Was?« Während Aldur nach außen hin keine Regung zeigte, konnte Granock kaum an sich halten. »Das darf nicht wahr sein! Wann ist das geschehen?«
»Vor zwei Tagen«, erwiderte Farawyn knapp.
»Aber … wie?« Granock hatte Mühe, sich zu fassen. »Ich dachte, Borkavor wäre ein sicherer Ort!«, rief er. »Sagtet Ihr nicht, dass noch niemandem der Ausbruch gelungen wäre?«
»Das sagten wir, und so ist es auch gewesen«, stimmte Farawyn zu. »Aber wie ihr Menschen treffend zu sagen pflegt, gibt es für alles ein erstes Mal.«
Granock lachte freudlos auf. Farawyn hatte die Eigenart, auch bestürzende Wahrheiten gelassen auszusprechen. Dabei war zu diesem Zeitpunkt noch nicht annähernd abzuschätzen, was Ruraks Flucht zu bedeuten hatte. Unwillkürlich dachte auch Granock, dass es besser gewesen wäre, dem Verräter den Garaus zu machen und dafür zu sorgen, dass er keinen Schaden mehr anrichten konnte. Aber diese Möglichkeit gab es jetzt nicht mehr.
»Wisst Ihr schon, wie es geschehen ist, Vater?«, erkundigte sich Aldur.
»Nein.« Farawyn schüttelte den Kopf. »Ruraks Zelle befand sich im caras , dem am besten gesicherten Bereich des Kerkers, aus dem selbst ein Drache nicht zu entkommen vermag. Viele Klafter Fels, stählerne Gitter und auch zahlreiche magische Barrieren umgeben die Zellen. Sie zu umgehen, ist eigentlich unmöglich. Es sei denn …«
»Ja?«, hakte Granock nach.
»Es sei denn, man hat Hilfe«, führte Semias den Satz zu Ende. »Hilfe von außen, um genau zu sein.«
»Von außen?« Granock sah die beiden Ältesten forschend an. »Was wollt Ihr damit sagen, Vater?«
»Ich denke, du weißt sehr genau, worauf wir hinauswollen«, war Farawyn überzeugt.
»Aber … wie könnte das sein?« Granock schüttelte den Kopf. »Die Verschwörung wurde aufgedeckt, Ruraks Pläne vereitelt. Die Rückkehr des Dunkelelfen wurde verhindert, die Aufrührer unter dem Schutt des Pyramidentempels begraben.«
»All das ist wahr«, gab Farawyn zu. »Aber wir wähnten den Dunkelelfen bereits einmal besiegt – und es hätte nicht viel gefehlt, und er wäre zurückgekehrt.«
»Außerdem«, fügte Semias mit brüchiger Stimme hinzu, »wurden nicht alle Verschwörer beim Einsturz des Tempels getötet, wie ihr euch erinnern werdet.«
»Die neidora haben überlebt«, sagte Aldur gepresst. »Margoks grausame Leibwächter.«
Das Unbehagen, das ihn beschlich, als er an die zehn Echsenkrieger dachte, die vor langer Zeit aus einer frevlerischen Kreuzung von Elfen- und Reptilienblut hervorgegangen waren, war ihm deutlich anzusehen. »Sie waren nicht zugegen, als wir den Tempel zum Einsturz brachten, und unsere Versuche, sie ausfindig zu machen und zu vernichten, haben sich allesamt als fruchtlos erwiesen.«
»Ich dachte, dass die neidora ohne die Bosheit ihres Herrn nicht lange überleben könnten«, wandte Granock ein. »Dass sie schon bald wieder zu Stein erstarren würden.«
»Das nahmen wir an, zumal Rurak es uns gestanden hat«, stimmte Farawyn düster zu. »Aber es wäre nicht das erste Mal, dass er uns belogen hat.«
Granock holte tief Luft. Was er hörte, gefiel ihm nicht, und er hätte am liebsten noch weitere Einwände erhoben. Aber was nützte das, wenn selbst die Weisesten unter den Zauberen Shakaras ratlos waren?
»Trotz ihrer Grausamkeit und Stärke sind die neidora tumbe Kreaturen«, erhob Aldur an Granocks Stelle Einspruch. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie allein Rurak befreit haben sollen.«
»Dann sind wir schon zu zweit, mein junger Freund«, stimmte Farawyn zu. »Es gibt zu viele Rätsel und offene Fragen, als dass sie aus der Ferne beantwortet werden könnten. Bruder Semias und ich haben daher beschlossen, den Vorfall vorerst geheim zu halten und in aller Stille zu untersuchen. Ich werde noch heute Nacht die Ordensburg verlassen und nach Borkavor aufbrechen – und ich möchte, dass ihr beide mich begleitet.«
Granock und Aldur tauschten einen verwunderten Blick. Sie waren nur Eingeweihte; noch vor den Ratsmitgliedern über solch dramatische Vorgänge in Kenntnis gesetzt zu werden, war ohnehin schon mehr, als selbst mancher altgediente Meister erwarten konnte. Dass Farawyn sie bei der Untersuchung auch noch dabeihaben wollte, erfüllte sie mit Ehrfurcht.
»Selbstverständlich«, schränkte Semias ein, als er die zurückhaltende Reaktion der beiden jungen Männer bemerkte, »steht es euch frei, Farawyns Bitte nicht zu entsprechen. Ihr könnt auch in Shakara bleiben und weiter eurem Dienst …«
»Nein, nein«, beeilte sich Granock zu versichern.
»Wir sind dabei«, fügte Aldur in fast schon menschlicher Beflissenheit hinzu. »Wir haben uns nur gefragt …«
»… warum ich euch beide mitnehmen will und keinen Zaubermeister, keinen Angehörigen des Rates«, brachte Farawyn den Satz zu Ende.
Die beiden nickten.
»Das will ich euch sagen: Ich will euch bei mir haben, weil ihr auch damals dabei gewesen seid. Was in Arun geschehen ist, hat ein Band zwischen uns geschaffen, das stärker ist, als jeder Schwur und jeder Eid es jemals sein könnte. Für die meisten Zauberer in Shakara ist Margok nur ein Name aus der Vergangenheit und die Bedrohung höchst abstrakter Natur – ihr beide jedoch wisst, welchem Gegner wir gegenüberstehen. Denn genau wie ich habt ihr dem Bösen ins Auge gesehen und seinen Pestatem gerochen.«
Etwas hatte sich verändert, und es war schnell gegangen.
Von einem Augenblick zum anderen schien die Zeit über dem Tal stillzustehen. Der kalte Nordwind, der von den Hängen des Scharfgebirges herunterwehte und den nahenden Winter ankündigte, hatte plötzlich ausgesetzt. Die Schreie der Tiere im nahen Wald waren verstummt, kein Vogel war mehr am Himmel zu sehen. Die Welt schien den Atem anzuhalten, so als wolle sie sich gegen ein nahendes Grauen wappnen …
Hienan ließ die Harke sinken, und mit ihm alle anderen Bauern, die auf dem Dorfacker ihrem Tagwerk nachgingen. In schweißtreibender Arbeit hatten sie dem steinigen Boden, der nach Süden zur Ebene von Scaria abfiel, karge Früchte abgerungen, die sie und ihre Familien mit etwas Glück über den Winter bringen würden. Nun aber war all dies vergessen, denn Unheil lag in der Luft, das konnten die Bewohner von Hod an diesem Morgen ebenso spüren wie die Vögel und die Waldtiere.
Hienan warf einen Blick zu seinem Vetter Kurn, der nur einen Steinwurf von ihm entfernt den Boden beharkt und einen halb gefüllten Korb Rüben neben sich stehen hatte. Auch Kurn hatte die Arbeit unterbrochen, und in seinen von der Feldarbeit gegerbten Zügen stand dieselbe Unruhe, die auch Hienan empfand.
Aber aus welchem Grund? Was war anders als noch vor wenigen Augenblicken?
Plötzlich hörten sie das schaurige Geräusch.
Trommelschlag.
Die schweigende Natur sorgte dafür, dass er deutlich zu vernehmen war, dumpf und aus westlicher Richtung – und er kam rasch näher. Nur zu gern hätte Hienan sich eingeredet, dass es eine der Zwergenpatrouillen wäre, die das Land südlich des Scharfgebirges hin und wieder passierten, die Siedler jedoch unbehelligt ließen. Aber der wilde, unstete Rhythmus und das grässliche Geklirr, das ihn begleitete, machten deutlich, dass es keine Zwerge waren, die sich da näherten.
Hienan wandte sich um und wollte zum Dorf laufen, um die Menschen dort zu warnen, als sein Vetter einen gellenden Schrei ausstieß und mit zitternder Hand nach Westen deutete. Hienan fuhr herum – gerade rechtzeitig, um den bleichen Schädel über dem Hügelgrat auftauchen zu sehen.
Ob er einst einem Menschen, einem Elfen oder einem Zwerg gehört hatte, war nicht mehr festzustellen – jemand hatte ihn bunt bemalt und als grausige Trophäe auf die Spitze einer Standarte gesteckt, die in diesem Moment über den Bergrücken stieg. Voller Entsetzen sah Hienan den dunkelroten, mit Blut gefärbten Stofffetzen, der darunter flatterte und auf den mit ungelenker Hand das Zeichen eines zerbrochenen Knochens gemalt war. Das Geräusch der Trommeln und das Klirren der Rüstungen schwollen an, und noch mehr Standarten und grausige Trophäen kletterten über den Hügel und schoben sich vor den aschgrauen Himmel. Und im nächsten Augenblick erklang der furchtbare Schrei.
»Unholde!«
Einige der Bauern warfen ihre Werkzeuge weg und ergriffen die Flucht. Andere, unter ihnen auch Hienan und sein Vetter, blieben stehen. Nicht, weil sie entschlossen waren, dem herannahenden Feind Widerstand zu leisten, sondern weil sie vor Entsetzen wie erstarrt waren.
Der einzige Unhold, den Hienan je zu sehen bekommen hatte, war tot gewesen. Ein Kopfgeldjäger, den die Dorfgemeinschaft angeworben hatte, damit er den nahen Wald von Orks säuberte, hatte ihn an sein Pferd gebunden und hinter sich hergezogen. Damals war Hienan noch ein Junge gewesen, und er hatte angenommen, dass der Unhold deshalb so grässlich ausgesehen hatte, weil der Jäger ihn über Stock und Stein geschleppt hatte. Nun jedoch musste er erkennen, dass jeder einzelne der grünhäutigen Krieger einen solch grässlichen Anblick bot.
Grobschlächtige, muskelbepackte Körper, die mit rostigen Rüstungsteilen und Fetzen von Kettenhemden behangen waren. Darüber spannten sich breite Gürtel, an denen die Schädel und das Haar jener hingen, denen sie ein grausames Ende bereitet hatten. Am grässlichsten jedoch waren die Häupter der Unholde anzusehen: Die Unterkiefer waren nach vorn gewölbt, Hauer wie die eines Keilers staken daraus hervor, und aus den kleinen, gelb leuchtenden Augen sprach namenloser Hass. In ihren Pranken hielten die Unholde stählerne Äxte, die einst Zwergenkriegern gehört haben mochten, aber auch steinerne Kriegshämmer und riesige Keulen, sowie den saparak, den gefürchteten Kurzspeer mit den Widerhaken und der messerscharfen Klinge, der entsetzliche Wunden zu schlagen vermochte, die vom Biss eines Bären kaum zu unterscheiden waren; wo ein saparak hineinfuhr und wieder herausgerissen wurde, hinterließ er zersplitterte Knochen und zerfetztes Fleisch, die keines Heilers Kunst wieder zusammenzuflicken vermochte.
Die Schilde der Orks – so sie überhaupt welche hatten, waren von unregelmäßiger Form und aus allem zusammengeflickt, was die Unholde auf dem Schlachtfeld hatten finden können. Der Rost und das dunkle Blut, die sie überzogen, zeigte an, dass sie eine Weile nicht mehr im Kampf getragen worden waren, aber diese Zeit schien zu Ende zu sein. Hienan gab sich keinen falschen Hoffnungen darüber hin, was die Unholde wollten.
Menschenfleisch …
Immer mehr von ihnen tauchten auf der Hügelkuppe auf, und weitere Standarten gesellten sich zu der grausigen Phalanx. Zuerst war es nur ein halbes Dutzend Krieger, dann zwei Dutzend, dann vier – und schließlich standen so viele von ihnen auf dem Hügelgrat, dass Hienan sie nicht mehr zählen konnte. Der blecherne Ton eines Horns erklang, und noch bevor der schaurige Ruf verklungen war, setzten die Orks zum Sturm auf die Senke an.
Aus Dutzenden von Kehlen scholl schauriges Kriegsgebrüll, und endlich begriff Hienan, dass er fliehen musste, wenn er am Leben bleiben wollte.
»Lauft! So schnell ihr könnt!«, riefen jetzt auch die anderen, warfen ihre Harken fort und begannen zu rennen, während der Boden unter ihren Füßen vom Ansturm der Feinde erbebte. Wie eine Naturgewalt schwappten sie über den Grat und ergossen sich in das Tal. Grobschlächtige Klingen wurden geschwenkt, die grausigen Banner flatterten im Wind – und schon im nächsten Moment wurden die ersten Bauern vom Zorn der Unholde eingeholt.
Speere, mit furchtbarer Wucht geworfen, zuckten durch die Luft und suchten sich Opfer unter den Fliehenden. Aus dem Augenwinkel sah Hienan, wie Nerb, der Sohn des Pflugschmieds, mit derartiger Wucht in den Rücken getroffen wurde, dass die Spitze in der Brust wieder austrat. In einer Fontäne schreiend roten Blutes ging Nerb nieder, und Hienan verfiel in entsetztes Geschrei, während er immer weiterrannte, so schnell ihn seine mit Fell umwickelten Füße trugen.
Plötzlich schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf.
Kurn!
Im Laufen fuhr er herum, um sich nach seinem Vetter umzuschauen. Er erschrak, als er sah, dass sich der Hügel hinter ihm grün und schwarz verfärbt hatte. Schon hatten die ersten Unholde den Acker erreicht und trampelten auf ein versprengtes Häuflein Menschen zu, das den verzweifelten Entschluss gefasst hatte, dem Feind Widerstand zu leisten.
Hienan schrie entsetzt auf, als er unter ihnen auch Kurn entdeckte. Breitbeinig und mit erhobener Harke stand sein Vetter da und wartete tapfer auf den Gegner, der sich unaufhaltsam näherte.
Einen Kampf gab es nicht.
Die Orks überrannten Kurn und seine Kameraden kurzerhand. Ein Axthieb traf Kurns Hals mit vernichtender Wucht; noch einen Herzschlag lang hielt sich sein kopfloser Torso aufrecht, dann kippte er von den Beinen.
»Nein! Neeein!«, hörte Hienan sich selbst brüllen, während er sich umwandte und weiterrannte, zurück zum Dorf. Tränen schossen ihm in die Augen, Übelkeit stieg in ihm hoch, sein Herz hämmerte gegen seine Brust, als wollte es bersten.
Er konnte die Fachwerkhütten mit den strohgedeckten Dächern bereits vor sich sehen, nur noch rund zweihundert Schritte entfernt. Die Alarmglocke wurde geläutet, auf dem Dorfplatz herrschte helle Aufregung. Die Menschen kreischten vor Entsetzen und schrien wild durcheinander. Einige versuchten, eine Verteidigung zu organisieren, was zwar tapfer, angesichts des schrecklichen Feindes jedoch aussichtslos war. Andere – vor allem Frauen und Kinder – wandten sich zur Flucht in die nahen Wälder, wieder andere flohen in ihre Häuser, die ihnen vor dem Ansturm der Unholde jedoch keinen Schutz bieten würden. Gleichwohl schlug auch Hienan den Weg zum Haus seines Onkels ein, bei dem er lebte, seit er ein kleiner Junge war. Aber schon im nächsten Moment wurde ihm klar, dass er sein Ziel nicht mehr erreichen würde.
Die Unholde hatten den Acker bereits durchquert und eine Spur der Verwüstung hinterlassen. Jetzt rannten sie durch die Talsohle auf das Dorf zu; die Furcht ihrer Opfer, die sie wie Raubtiere zu wittern schienen, spornte sie nur noch mehr an.
Gehetzt blickte Hienan über die Schulter – die Orks waren jetzt nur noch einen guten Steinwurf entfernt! Noch deutlicher als zuvor konnte er ihre hässlichen grünen Gesichter sehen, die gelben Augen und die Hauer, von denen stinkender Geifer troff. Er hörte das Stampfen ihrer Schritte auf dem Gras und ihren schnaubenden, stoßweisen Atem.
Er rannte, so schnell er nur konnte, holte das Letzte aus seinen von der Arbeit erschöpften Muskeln heraus. Plötzlich merkte er, wie ihn etwas in das linke Bein biss.
Es war ein stechender Schmerz, der von der Wade aufwärts fuhr. Hienan stieß einen Schrei aus, und ohne dass er es hätte verhindern können, landete er bäuchlings im Gras. Hastig versuchte er, sich wieder aufzurappeln, aber es gelang ihm nicht – denn in seinem linken Bein steckte die Spitze eines saparak . Die Klinge hatte den Knochen verfehlt, aber die Widerhaken sorgten dafür, dass sie festhing und ihn am Weiterkommen hinderte. Auf allen vieren schleppte er sich weiter, den Hütten entgegen, die in unerreichbare Ferne gerückt waren.