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Nachdem die Familie an dem Verlust der kleinen Fiona zerbrochen ist, gehen die Schwestern Diana und Ilona getrennte Wege und versuchen - jede auf ihre Weise - ihr Trauma zu verarbeiten. Zehn Jahre später kommt Diana zurück in ihre Geburtsstadt und lebt vorübergehend im Haus ihrer Schwester Ilona. Doch was wie der Traum einer gemeinsamen Zukunft beginnt, entpuppt sich als zäher Albtraum, der die Vergangenheit überlebt hat und nun noch einmal unerbittlich nach den beiden Schwestern greift. Unversehens lässt das Netz aus Leidenschaft und Lügen, aus Angst, Hass und Zwietracht die reale Welt aus den Fugen geraten. Kann nur ein Mord die beiden Schwestern vor der Katastrophe retten?
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Seitenzahl: 394
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Ruth Kirmaier
Die Zeit nach der Unschuld
AQUENSISR o m a n
Ruth Kirmaier
Die Zeit nach der Unschuld
Copyright by AQUENSIS Verlag Pressebüro Baden-Baden GmbH 2013
Alle Rechte vorbehalten. Jede Verbreitung, auch durch Film, Funk, Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe jeder Art, elektronische Daten, im Internet, auszugsweiser Nachdruck oder Einspeicherung und Rückgewinnung in Datenverarbeitungsunterlagen aller Art ist verboten.
Titelgestaltung, Layout, Satz: Karin Lange, www.seeQgrafix.de
Titelbild: © lapas77/fotolia
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014
Alle Personen, Institutionen und Handlungen sind frei erfunden; Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen oder tatsächlichen Institutionen und Einrichtungen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
ISBN 9783954570942
www.aquensis-verlag.de
www.baden-baden-shop.de
Cover
Titel
Impressum
PROLOG
Diana
Ilona
Diana
REGINA WALLNER
Ilona
Diana
Ilona
Diana
Ilona
Diana
Ilona
Diana
Ilona
Diana
Ilona
REGINA WALLNER
Diana
Ilona
Diana
Ilona
Diana
REGINA WALLNER
Diana
Ilona
Diana
Ilona
Diana
Ilona
Ilona
Diana
Ilona
Diana
Ilona
Diana
Ilona
Diana
EPILOG
Über die Autorin
Bald kam er nahezu jede Nacht zu ihr, dieser Traum. Oder hielt sie ihn fest, in selbstquälerischer Verbissenheit, um Buße zu tun, um auf Vergebung zu hoffen, wo gar keine Vergebung möglich war?
Von Anfang an ließ ihr das Entsetzen, das sie den Tag über bis zur Erschöpfung mit sich schleppte, keinen erholsamen Schlaf mehr in der Nacht. Manchmal, wenn sie mit ihrer Kraft am Ende war, lehnte sie sich gegen ihr Gewissen auf, hoffte vergeblich auf den Faktor Zeit. Schuld lässt sich nicht aufrechnen gegen Zeit, im Gegenteil, ihr langes Schweigen legte Gewicht um Gewicht auf die verflossenen Jahre; schon lange tat sie keinen Atemzug mehr ohne diese Last.
Natürlich hatte sie die Wahl gehabt, sie hätte sich anders entscheiden können, gleich am Anfang, doch damit wäre eine weitere Zerstörung angerichtet worden, die sie mit zu verantworten gehabt hätte. So also musste sie ihre Bürde alleine tragen, ihr ganzes Leben lang, das war ihr wohl bewusst.
Die Kunst des Verdrängens, ein langer Prozess, der Herz und Hirn erkalten lässt, beherrschte sie nicht, auch wünschte sie das nicht für sich. Sie hatte jedes Recht auf Schonung verwirkt.
Die Pflichten des Tages hielten sie zwar manchmal ein wenig auf Abstand von ihrer Mitte, von der dunklen Brut in ihrem Innersten, aber auch der Tag ließ sich nicht wirklich betrügen; Fäulnis zersetzte ihn immer mehr.
Die Nacht war noch schlimmer beschaffen, ihr dunkles Auge war unerbittlich auf sie gerichtet: Dann war sie der Kälte vollends ausgeliefert, zitternd und starr lag sie in ihrer Stille, bis eine lange Reihe heller Töne, nur unterbrochen vom Echo der Verzweiflung, sich in ihr Gehirn sägte Nacht für Nacht. Und sie war ihnen ausgeliefert, diesen Tönen, die sich stets bündelten zu einem Schrei.
Es war der Todesschrei eines Kindes.
Seit damals, als das Grauen eine Gestalt bekam, seit dieser unendlich quälenden Zeit, vermochte sie nie mehr die Augen zu verschließen vor dem hellen Körper im nächtlichen Schilf. Ein Mädchen, ein Kind noch, nackt, in seiner engelsgleichen Reinheit wie von einer heiligen Aura umgeben. Sanfte Unschuld auf rosigen Wangen, die bald welken werden im ewigen Schlaf.
Nie hätte ich es für möglich gehalten, jedenfalls bis vor Kurzem nicht, hierher zurückzukommen, im Jahr zweitausendzehn, in diese Stadt.
Wo die langen Schatten der Vergangenheit wie kalte Finger nach mir greifen, wo all die Leben, unvollendete Sinfonien, abrupt beendet wurden mit einem Misston, dessen Klang noch immer in diesen Straßen widerhallt.
Rosenheim, eine helle Stadt, geschäftig und bewohnbar, umgeben von einem Meer aus Grün, dem die Bergkette im Süden ein imposantes Ende setzt. Mit Biergärten, Blasmusik und wohl geartetem Bürgersinn. Für mich eine dunkle Stadt, in der das Böse bis heute keinen Namen hat, nur sein giftiger Atem ist allgegenwärtig, umwabert heimtückisch jeden Stein dieser Stadt.
Und das Böse grinst mich an und wähnt sich in Sicherheit.
Die Siedlung hat meiner Erinnerung standgehalten – Reihenhäuser in bewährter Monotonie aneinandergeschmiegt oder besser: in Gedeih und Verderb aneinandergekettet. Hier, wo die Regel möglichst ohne Ausnahme gilt, verweigern auch die Vorgärten in selbstgefälliger Ordnung jeden Hauch von Kreativität. Man will gleich sein unter Gleichen nach außen, das gilt auch für die Bewohner und garantiert ein störungsfreies Innenleben hinter Zäunen und Jalousien.
Doch durch die Ritzen fremder Jalousien riskiert man schon gern einen Blick, hier wie überall. Ganz im Geheimen natürlich. Das ist nur menschlich und beinahe so alt wie der Sündenfall.
Leider trug meine Familie, um diesen uralten Trieb zu bedienen, ihren Teil bei.
Ein unerklärliches, ein schreckliches Ereignis war der Zersetzung unserer Familie vorausgegangen, tagtäglich aufbereitet von der Presse für ihre Leser, auch schon zum Morgenkaffee. In der Folge wurden wir mit Anteilnahme, gelegentlich auch mit Misstrauen und nicht zuletzt mit den aberwitzigsten Spekulationen bedacht. Gleich zu Anfang waren sie da, erst in Scharen, später nur noch vereinzelt, mit dem wohligen Schauer ausgerüstet, wenn das Leid andere trifft. Sie begafften unser Haus in der Erwartung geheimer Zeichen oder Hinweise, zogen den Duft unserer Verzweiflung in ihre Nasen ein und später den Geruch des Verfalls.
Jetzt bin ich zurückgekommen, nach Hause – ein Begriff, der für eine ganze Häufung von Werten steht. Das war in den Schulbüchern nachzuschlagen, auch unser Pfarrer tat dies nimmermüde von der Kanzel kund, und ich gab ihm damals in kindlicher Ehrfurcht Recht.
Doch in meinen letzten Jahren im Elternhaus sind mir eben diese Werte verloren gegangen. Die Frage, warum ich zurückgekommen bin, bringt mich ein wenig in Erklärungsnot. Vielleicht war Ilonas Drängen, das in mir wider Willen ein diffuses Gefühl von Heimweh erzeugte, der Grund dafür, oder doch mehr der Wunsch, mich selbst wieder zu finden, weil ich auf der Flucht verloren gegangen bin, niemals Fuß fassen konnte auf gewachsenem Grund. Der Boden unter mir war mir nie sicher genug, die Kraft des Unheils macht aus jedem Boden Schlamm.
Wie kann man mit dieser Erfahrung irgendwo Wurzeln schlagen? Meine kleine Welt war aus den Fugen geraten in dieser Schicksalsnacht, und sie befand sich für mich, ja für uns alle danach nicht mehr in unserer engen, aber doch gesicherten Bahn. Als ich wegging von hier, trug ich die Illusion mit mir fort, eine räumliche Distanz gäbe mich frei von der Last, die ich nicht länger tragen wollte, aber sie war im Gepäck, sie blieb mein Begleiter, wohin ich auch ging. Manchmal eilte ich ihr voraus, dann hatte sie fast meine Spur verloren, doch sie holte mich immer wieder ein. Also konnte ich mich nie wirklich lösen von Rosenheim, von dem Ort, der meine Wiege, mein Mittelpunkt und mein Schrecken war. Diese Stadt hat sich eingenistet in meinem Kopf, sie schleicht durch meine Adern, drückt mir ihr Gewicht aufs Herz. Sie ist mein Hort, ein Riesentiegel, ein Schmelztopf, vollgestopft mit den Gefühlen meiner dort gelebten einundzwanzig Jahre. Darum fühle ich mich noch von ihr umklammert, und das ist ein gewichtiger Grund für meine Rückkehr: Ich muss ihren Anblick ertragen können ohne den alten Schmerz, ihre Straßen und Plätze betreten können ohne Scham. Ich will Fionas Mörder finden, wenn es mir irgend möglich ist, um endlich meine Schwester in ein Grab zu legen. Für mich steht außer Frage, dass Fiona nicht mehr lebt. Vielleicht weil ich sie nicht ausgeliefert sehen will an ein wie auch immer geartetes Subjekt. Lieber sehe ich unseren kleinen Engel in Frieden ruhen an einem unbekannten Ort. Ein weiterer Grund, warum ich München den Rücken gekehrt habe, lässt mich unablässig rätseln darüber, ob mein Verstand oder mein Gefühl den Ausschlag gab. Mit dem nötigen Abstand, der mit diesem Ortswechsel erfolgt, hoffe ich, die Antwort darauf zu finden. Ilonas Angebot kann sich somit als sehr nützlich erweisen für mich. Meine Ankunft hier war jedenfalls eine Art Eröffnungszug für ein Spiel mit reichlich verwirrenden Regeln. Hätte ich die Gabe, in die Zukunft zu sehen, wäre ich besser gleich wieder umgekehrt.
Die kurze heroische Phase, von der ich heimgesucht worden war, lieferte mir den Mut, der mich jetzt schon fast wieder verlassen wollte, hier an diesem Ort, so nah gerückt an die Erinnerung. Wie sollte sie mir gelingen, diese schier ausweglose Suche, erschwert noch durch die zeitliche Distanz? Wie kann ich eine Spur finden in dem Dickicht aus Lügen und Vergessen, das ich durchdringen will für Fiona, die nur neun Jahre ihres Lebens bei uns war? Und doch werde ich alles daransetzen, dieses Ungeheuer zu finden, das sehr wahrscheinlich aus unserem damaligen Umfeld kam. Aus dem tiefsten Hassgrund meines Herzens hoffe ich, dass diese grausame Tat doch noch ans Licht des Tages kommt, aufbricht wie ein überreifes Geschwür und das freigesetzte Gift sich mit brennendem Schmerz in die Eingeweide ihres Mörders frisst. An keinem Tag seines Lebens dürfte noch freie Luft durch seine Nase ziehen! Tief in meinem Innersten befürchte ich aber, dass dieser Wunsch gegen die Realität keine Chance hat, ich kaum in der Lage sein werde, Fionas Verschwinden aufzuklären.
Es war ein Tag Mitte Mai, Gewitterwolken schoben sich über die drückende Schwüle der Stadt, verdunkelten die Straßen, die bald dampfen würden im Regenguss, und eine düstere Ahnung überfiel mich, dass meine Entscheidung, hierher zurückzukommen, mir noch mehr Kummer aufladen könnte, doch ich schob diese Gedanken gewaltsam beiseite.
Bevor die ersten Tropfen fallen, würde sie doch endlich kommen, hoffte ich. Für meine Schwester Ilona war Pünktlichkeit nie eine Tugend gewesen, daran hielt sie wohl noch immer fest. Nellys kleine Stirn legte sich in Sorgenfalten; ihre Hand schob sich noch tiefer in meine Hand. Ob Tante Ilona uns vielleicht vergessen hat? Sie sah mich fragend an und zog die Schultern hoch. Die Trutzburg der Wallners erstrahlte im letzten Sonnenlicht, während die Wolken schon rasende Schatten auf den Garten warfen. Trutzburg, Ilona hatte das Haus stets so genannt, früher neidvoll erschauernd, jetzt, seit sie es selbst bewohnt, mit spöttischem Stolz. Der alte Wallner hatte es gebaut, für eine ganze Dynastie wie auch für die Ewigkeit. In letztere ist er gerade hinübergeglitten, sanft, nach einem Herzanfall.
Sein Spross, verkörpert durch Sebastian, macht vielleicht durch Masse wett, dass er der Einzige geblieben war.
Er ist ein Riesenkerl, mit breiten Schultern und Händen wie Baggerschaufeln.
Sebastian hatte Ilona schon früh umworben. Sie hatte ihn eine Weile zappeln lassen und dann doch genommen. Ich bin nicht sicher, was den Ausschlag gab: seine Beharrlichkeit, ihr Schutzbedürfnis oder etwa ganz schnöde sein Geld? Ein wenig von allem, das mag zutreffend sein, ohne Ilona Unrecht zu tun. Ich kannte Sebastian nicht gut genug, um mir eine Meinung über ihn zu bilden, nur seine Augen, grau und kalt wie ein Bergsee im Winter, gaben schon Anlass zu der Sorge, Ilona könnte frieren an seiner Seite. Doch wenn er lacht, ist es, als würde das Eis schmelzen in seinen Augen, und Freude überstrahlt sein breites Gesicht.
Dann hatte sie ganz plötzlich vor mir gestanden, Ilona, mit verwehtem Haar, atemlos wie immer. Ich war in meine Gedanken versunken gewesen, auch das Donnergrollen hatte zugenommen, sodass ich sie weder hörte noch kommen sah. Nun kniete sie neben mir, nachdem ich mit einem flüchtigen Kuss gestreift worden war, hielt Nelly fest umschlugen und presste ihren ziegelroten Lockenwust in das kleine Gesicht. Ein wenig theatralisch fand ich den Auftritt schon, aber Ilona hatte immer schon große Gesten geliebt.
Unvermittelt setzte der Regen ein. Dicke Tropfen zerplatzten mit lautem Knall auf den Autodächern, die Welt verdüsterte sich in Sekundenschnelle, dünne Rinnsale liefen uns über die Haut. Ließ diese Rückkehr in meine alte Welt eine gewisse Symbolik erkennen? Die ganze Lächerlichkeit dieses Gedankens floss mit dem Regenwasser an mir ab, als ich, noch keuchend vom Lauf, mit Nelly in der Diele stand.
Die Weitläufigkeit ihres Wohnbereichs, den Ilona uns durch das Öffnen zweier Flügeltüren erschloss, war konsequent durchdrungen von bayrisch barocker Schnörkelpracht; Ilona nahm sich dagegen aus wie ein verirrter Kolibri. Nelly drehte sich verzückt, Karla unter den Arm geklemmt, im Kreis. Sie hatte den gleichen staunenden Ausdruck wie ihre Puppe im Gesicht. Ilona kam hereingeschwebt – anders lässt sich ihr leicht tänzelnder Gang nicht beschreiben -, ein Tablett in den Händen. Ihr Lächeln täuschte aber nicht über den angespannten Zug um den Mund hinweg. Sie ist eine elegante Erscheinung, meine Schwester, Haar und Kleidung waren, wie immer, farblich perfekt aufeinander abgestimmt. Sie erinnert an die Frauenportraits von Gustav Klimt und passt optisch wenig zu Sebastians derber Statur. Tatsächlich aber hat Ilona sich immer schon gern mit Stärke umgeben. Im Gymnasium wurde Peter Bürger, der Größte in ihrer Klasse, dazu auserkoren, die Beschützerrolle für sie zu spielen. Wobei ich ganz sicher war, dass er nie den erhofften Lohn bekam, denn Ilona grauste vor seinem Pickelgesicht. Und kurz vor dem Abitur hatte sie sich für eine Weile in Geleitschutz gegeben von einem Bodybuilder mit Kaninchenhirn. Er hieß Max und muss sich, unter Ausschluss aller Gehirnaktivitäten, dem Fitnesskult mit Leib und Seele verschrieben haben. Bei meinem ersten und einzigen Zusammentreffen mit ihm bekam ich ausreichend Kostproben aus seinem umfassenden Repertoire an Machosprüchen, gewürzt mit albernen Lachanfällen aus gestählter Brust. Nach etwa drei Monaten hat Ilona ihn abserviert. Seine imposante Testosteronverpackung hat wohl nicht allzu lange über den kläglichen Inhalt hinweggetäuscht. Ilona bevorzugt wohl große, raumfüllende Männer, vielleicht weil dies – und zwar nicht ohne eine gewisse Koketterie – ihre Zartheit besser unterstreicht. Oder aber es ist ganz schlicht der Wunsch nach Kompensation für eine Jugend, in der jede Stütze abhanden gekommen war.
Oben in der kleinen Wohnung unter dem Dach sei alles für Nelly und mich vorbereitet, das Gepäck würde mir Josef, wenn der Regen nachließe, aus dem Auto holen und sie hoffe, wir würden uns bei ihr ganz wie zu Hause fühlen, bis meine eigene Wohnung bezugsfertig sei. Ilona hielt abrupt inne, ihr Rücken versteifte sich leicht und ihre Augen streiften mich wie ein kühler Wind.
»Ich hoffe aber, du lässt die Vergangenheit ruhen, Diana, ich meine natürlich die Eltern und alles, was damit zusammenhängt. Du schürfst nicht in alten Wunden, nicht wahr? Ich für meinen Teil will nichts mehr von den Geschichten hören.« Sie schüttelte ihr Haar nach hinten, eine herrische Geste der Ungeduld, begleitet von einem frostigen Blick, um Sekunden später ein Lächeln wie ein Wetterleuchten auf ihr Gesicht zu zaubern. Kurz, strahlend und ungewiss, eine Spannung, die sich entlädt.
Ich ging nicht auf ihre Worte ein und erkundigte mich nach Sebastian.
»Er kommt später heute«, antwortete sie ein wenig brüsk. Meinen fragenden Blick ignorierte sie.
So war Ilona schon immer gewesen. Das Tempo ihrer Stimmungsschwankungen konnte einem den Atem rauben. Mit betörender Hingabe konnte sie sich in Köpfe und Herzen reden und zog dann, wenn es ihr passte, urplötzlich andere Saiten auf. So hat sie schon in ihrer Jugend viele Freunde vor den Kopf gestoßen, die sich eben noch ihrer Gunst sicher waren, und die sie im nächsten Moment den kalten Guss ihres Zornes oder ihrer Verachtung spüren ließ. Ilona wollte Verwirrung stiften, das war ihre Methode, sie verfolgte immer ein Ziel damit. Lange genug bin auch ich zuverlässig darauf reingefallen. Erst viel später habe ich begriffen, dass dies ihre Antwort auf das Vakuum war, in dem sie sich befand. Die Aufmerksamkeit, die ihr versagt geblieben war, hatte sie eingefordert auf ihre Weise. Was nicht heißen soll, dass Roland und ich mit Elternliebe überschüttet wurden, doch ganz offensichtlich hatten wir Ilona gegenüber eine bessere Position. Fionas Ankunft veränderte allerdings für uns den Proporz. Seit dem ersten Schrei, mit dem Fiona diese Welt bedachte, war sie Mutters Herzschlag und das Licht in ihren Augen. Vielleicht war unser Anteil an Liebe nicht wirklich kleiner geworden, nur im Verhältnis zu dem, was Mutter Fiona zukommen ließ, sah es für uns so aus, als wäre er geschrumpft. Besonders für Roland, mit seiner ungesunden Neigung, sich als entbehrlich für die Menschheit zu betrachten, war Fionas Bevorzugung offensichtlich ein Beweis für seine Theorie.
Fiona war mit Sicherheit das schönste Baby, das je in den Armen einer Mutter lag, und nicht nur Edith Riemann, das ganze Universum war entzückt von ihr. Mit dem taufrischen Glanz am Familienhimmel konnten wir anderen, durch die Gewohnheit der Jahre auch schon leicht abgenutzt, nicht wirklich konkurrieren. Wir Kinder hatten im Wesentlichen zu parieren, immer schon und seit Fionas Geburt erst recht, ohne dass Mutter es der Mühe für Wert befunden hätte, ihre Anordnungen zu erläutern. Zuneigung wurde auf Raten erteilt und an unserem Wohlverhalten abgemessen. Ich kompensierte meine daraus entstandenen Defizite mit einer Nebenrolle, in der ich die Ersatzmutter für Fiona war. Roland dagegen verzog sich noch tiefer in seinen imaginären Bau. Klaglos und schweigend ertrug er seine Zurücksetzung, allerdings mit meist bitterer Miene. Bei Tisch sprach er kaum ein Wort, aß mit gesenktem Kopf, nur dann und wann bedachte er Fiona, an der Mutters strahlende Augen hingen, mit einem neidvollen Blick. Nie hatten die Eltern ernstlich erwogen, Roland zu einem Psychologen zu schicken. Neureiche Neurotiker und Verrückte, die kurz vor der Einweisung in die Klapsmühle stehen, so Vater, legen sich auf die Couch. Roland dagegen sei nur ein wenig versponnen, das Leben und sein Gene brächten ihn schon noch in die richtige Spur. Für unseren Vater war die Erziehung seiner Kinder eine Vertrauenssache, die er nur allzu bereitwillig in Mutters Hände legte. Sein mangelndes pädagogisches Talent war sein unwiderlegbares Argument. Nur die arme Ilona ging auffällig leer aus in der elterlichen Gunst, obwohl ihre Anmut uns, zumindest was Roland und mich betraf, in den Schatten stellte. Allerdings wog ihre Zurücksetzung, soweit wir dies in unseren frühen Jahren überhaupt empfanden, für Roland und mich nicht sonderlich schwer, sie hatte ihre Berechtigung eben in der unanfechtbaren elterlichen Autorität. Und wir glauben ja auch schon gern von Kindheit an, dass nicht das Glück oder der pure Zufall uns begünstigen, sondern wir um unserer Vorzüge willen das bessere Los verdienen. Manchmal ging ich noch ein wenig weiter in meiner kindlichen Grausamkeit und stellte mir die Elternliebe als einen Kuchen vor. Mit Ilona teilen zu müssen, hätte in der Konsequenz bedeutet, dass neben Fionas Riesenstück für Roland und mich noch weniger übrig geblieben wäre.
Ilona also fand wenig Beachtung, war zum Mitesser degradiert, und unsere Eltern schienen zu glauben, mit der Sorge um ihr leibliches Wohl ihre Pflicht erfüllt zu haben. So kann ich mich auch nicht an einen einzigen Anlass erinnern, zu dem Mutter Ilona einmal liebevoll in ihre Arme nahm. Fiona allerdings, unser elfengleiches Hätschelkind, fühlte sich zu Ilona mehr und mehr hingezogen in kindlicher Bewunderung.
Zwischen Roland und mir bestand ein verlässliches Band, das keiner großen Worte bedurfte, und das Vertrauen schuf, vielleicht auch nur, weil ich die Grenze wahrte, die Roland um sich zog.
Verträumt und introvertiert, wie er war, hielt ich mit instinktiver Scheu den Abstand ein, den der Ring seiner Schweigsamkeit um ihn schuf. Ilona wollte sich nie abfinden damit. Von dem Bruder, der sich, oft ganz unvermutet mitten im Spiel, verschloss, abwandte und sich ohne ein weiteres Wort in der Zimmerecke in ein Buch vertiefte, fühlte sie sich nicht richtig wahrgenommen. Für sie kam sein Verhalten einer Herausforderung gleich. Ilona war dann verletzt und schlug zurück. Sie konnte erbarmungslos sein mit ihren quälerischen Sticheleien, mit ihrer penetranten Gegenwart, die sie einsetzte gegen seinen Rückzug, gegen seine selbst gewählte Stille.
Gewalttätig war Roland nicht, aber unbeholfen in seiner Reaktion. Sein Zorn konnte sich nicht verbal entladen, er schaufelte seinen Frust in sich hinein, ohne ein Wort der Erwiderung, saß mit geschlossenen Augen, die Hände zwischen die Knie gepresst, so lange es ging. Doch irgendwann brach etwas in ihm auf, dann flog die Faust. Niemals zu fest, und auch nicht in der Absicht zu verletzen schlug Roland zu, nur ein Ende machen wollte er, endlich seine Ruhe wieder haben.
Ilona hat es wohl nie verstanden, aber ich habe auch ohne viele Worte gespürt, dass Roland litt. Der neue Mensch kommt nackt zur Welt, und seine erste Empfindung wird wohl die Kälte sein, mit der ihn seine Umgebung empfängt. Ich glaube, Roland hat diese Kälte nie verloren, er schleppt sie vielleicht ein Leben lang mit sich herum.
Er schlüpft weg, von außen nach innen, ganz in sich hinein, dort erst hat er es richtig warm, das war das Ergebnis dessen, was ich von ihm verstand. Damit hatten wir ein Einvernehmen, das uns verband, vage zwar und unausgesprochen, von dem Ilona aber ausgeschlossen war.
In unseren letzten gemeinsamen Jahren unter einem Dach waren wir jedoch ganz anderen Zerreißproben ausgesetzt, die wahrhaft über unsere Kräfte gingen. Wobei ich von uns Schwestern die Hauptlast trug, da ich mit einem Wissen ausgestattet war, auf das ich liebend gern verzichtet hätte. Weder Ilona, die zu jung war und auch nicht verlässlich genug, noch sonst jemandem konnte ich mich anvertrauen. Ich blieb allein mit meinem Konflikt, ich war ein Knäuel aus Angst, Scham und erbitterter Loyalität, von wackligen sechzehnjährigen Beinen getragen. Diese Last forderte ihren Tribut. Welches Maß an Kaltblütigkeit und Kraft hätte ich wohl gebraucht, um weiter die zu sein, die ich vorher war? Vor dieser grauenhaften Nacht und dem Wahnsinn danach, der kein Ende nahm. Ich war eine andere geworden, eine Fremde hatte sich eingenistet in mir, und mit der kam ich nicht zurecht. Gerade hatte ich mich neu geordnet, mein Innenleben so einigermaßen sortiert nach den Kämpfen der Pubertät, und meine Kindlichkeit abgestreift wie eine alte Haut, um stolz in die ersehnte Weiblichkeit hineinzuwachsen, da wäre ich am liebsten zurückgekrochen in den schützenden Kokon, der mir zu eng geworden war. Das Gewicht meiner Bürde war zu schwer für meine sechzehn Jahre. Alt fühlte ich mich, desillusioniert und verbraucht. Darauf, dachte ich damals, hat man frühestens am Ende eines langen Lebens ein trauriges Recht. Oft stand ich in jener Zeit vor dem Spiegel, starrte mir bange Minuten ins Gesicht in der Befürchtung, die innere Zerstörung würde in Bälde auch an der glatten Oberfläche ihre Zeichen setzen.
Ilona war die Einzige von uns gewesen, die sich danach langsam zu erholen schien, deren schöner Sopran gelegentlich wieder zu hören war, die ihren noch kindlichen Übermut über die Schicksalsnacht siegen ließ. Oder war ihr Fionas Verschwinden am Ende nicht so nahe gegangen? Wir anderen jedenfalls waren danach zur Sprachlosigkeit verdammt, wir hatten keine Worte des Trostes füreinander, und jeder Versuch einer Kommunikation geriet schnell aus den Fugen. Unser aller Haut war dünn geworden, eine Fieberhaut, die jede Berührung schreckte.
Auch nachdem die offizielle Suche nach Fiona eingestellt worden war, durchstreifte Vater weiter wochenlang Wiesen, Wälder, Wohngebiete mit und ohne Helfer, in stummer, verbissener Verzweiflung; mit leeren Augen und müdem Rücken kam er abends heim.
Aus Mutter hatte sich das Leben fortgestohlen. Jeder Tag, der ihr wieder ein wenig Hoffnung nahm, ließ sie mehr erstarren. Grau war ihr Gesicht geworden, zerknittert wie altes Pergament. Dunkle Schatten rahmten ihre Augen ein, die wie kleine erloschene Krater in den Höhlen lagen. An manchen Tagen, ganz unerwartet, entwickelte sie eine hektische Betriebsamkeit, putzte sich schier die verletzte Seele aus dem Leib, um danach wieder wartend am Fenster zu sitzen, die mageren Finger ineinander verkrampft. Oder sie betete den Rosenkranz, Stunde um Stunde in dumpfer Demut um Wiedergutmachung bemüht, da sie ihren Gott so lange vernachlässigt hatte. Die Nacht dagegen riss die Wunde auf, die sie am Tag so sorgsam unter einem Verband aus Hoffnung und Gebeten verbarg. Dann ließ sie sich gehen, wenn die Qual übermächtig war, und wir zogen die Decke über den Kopf, um zu dämpfen, was weithin auf die Straße drang. Doch die auffälligste, ja die dramatischste Veränderung war mit Vater geschehen. Zuerst verfiel er seiner Gewissensqual, nicht viel später dann dem Alkohol. Er hatte sich der Rechtschaffenheit verschrieben, mit Leib und Seele, darum war er Polizist geworden, im Glauben fest. Doch all seine Glaubenssätze sind über Bord gegangen, er ist sich selbst untreu geworden durch seine Tat nach jener Nacht. Und mag er sich noch so oft vorgehalten haben, dass er nicht anders handeln konnte, so wird ihm das kein Trost gewesen sein. Zusehends verlor er seine straffe Rundlichkeit, die Wangen wurden schlaff, durchzogen von Kummerfalten, seine Haut blühte ungesund rot auf im Gesicht. Bald nahm er kaum noch feste Nahrung zu sich, dafür trank er umso mehr. Kurzum: Der Alkohol zehrte ihn langsam aus. Der stiere Glanz seiner Augen, wenn er getrunken hatte, war furchterregend in seinem Gesicht, in dem alles Lachen erloschen war. Die Unerträglichkeit, die er gegen sich empfand, hatte ihm ihren Stempel aufgedrückt. Konsequent vernachlässigte er dann auch das Äußere seiner Person. All das, was ihn ausgezeichnet hatte, was seiner Vorstellung nach unerlässlich war für ein geordnetes Menschenleben, hatte für ihn keine Bedeutung mehr. Wenn das Innere verrotte, verdiene auch das Äußere keine Beachtung mehr, hat er einmal zu mir gesagt, als ich ihn bat, doch ein wenig mehr auf sein Aussehen zu achten. Hatte er geahnt, dass ich Zeuge seiner Auseinandersetzung mit Roland war? Ganz sicher ist er zu hart mit sich verfahren, soviel Buße war meiner Meinung nach sein Vergehen nicht wert. Zumindest hat er sich damit auch an uns vergangen, der verbliebene Teil der Familie hat seine Rechnung mit bezahlt. Erst später, mit einer gewissen Distanz, habe ich mich gefragt, ob er nicht nur an seiner Schuld unsäglich litt, sondern auch in seinem Selbstmitleid ertrunken ist.
Möglich, dass dies, was wir früher für Stärke hielten, nur sein Stützkorsett war, in seiner geregelten, geordneten und nicht zu erschütternden Welt.
Einem Dienstplan gleich war sein Leben gewesen, eingeteilt zwischen Arbeit und Ruhe, Verantwortung und Pflicht, alles mit Hingabe gut dosiert.
Es war nicht nur der Kummer über den Verlust, dessen bin ich sicher, eine unverschuldete Katastrophe hätte ihm nicht das Rückgrat gebrochen, etwas anderes hat ihn aus seiner Bahn gebracht, das, was nicht vorgesehen war in seiner Welt: die Lüge, der Verrat.
Darum hat er nicht nur sich, sondern auch das, was von unserer Familie noch übrig war, zerstört.
Jetzt werden sie also wieder länger, die Schatten der Vergangenheit. Die Bilder von damals, sie schieben sich vor die Zeit, die zwischen uns liegt, mit einer Intensität, die mich nicht schlafen lässt in dieser ersten Nacht in Ilonas Haus. Die Erinnerung greift jetzt wieder verstärkt nach mir, hier in dieser Stadt können mich ihre Tentakeln erneut umschlingen, und ich lasse es zu, ich lasse mich hinüberziehen in meine alte Welt in dieser schlaflosen Nacht, in der die letzten zehn Jahre zusammenschmelzen zu einem Nichts.
Sie ist wieder hier, Diana, die große Schwester, die Unfehlbare, das korrekt gescheitelte Vorzeigekind von damals. Ich, Ilona die Wilde, die Ungebändigte, stand immer im Schatten der elterlichen Gunst. Ein Karottenkopf, aus der Art geschlagen, so ganz und gar angelegt, die Scham zu konservieren, die Mutter durch mich empfand. Ich war ein Kuckucksei, widerrechtlich ins Nest gelegt, das Resultat einer vergessenen Nacht. Mutter war zur Kur gewesen und sie, die sonst kaum Alkohol zu sich nahm, weil sie ihn ganz einfach nicht vertrug, war nach dem dritten Glas dem Liebeswerben eines drahtigen Rotblonden erlegen und hatte in einer lauen Sommernacht im Heu die Beine breit gemacht. So die Kurzversion ihrer Schilderung, von mir ins Bildhafte übersetzt. Ich war der Fleisch gewordene Schandpfahl ihrer Erinnerungen an jene peinliche Nacht. Nicht so sehr dieser Ehebruch, so glaubte ich sie zu verstehen, hatte drückend auf ihrem Gewissen gelegen, als vielmehr ihre Schwäche, ihre unbedachte Wahl, die durch mich ein Gesicht bekam, konnte sie sich nicht verzeihen.
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