Die Zimmermädchen - Dietrich Schilling - E-Book

Die Zimmermädchen E-Book

Dietrich Schilling

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Beschreibung

Ein diamantenbesetzter Ehering ist verschwunden. Besitzer ist der Journalist Göhlich, der mit seinem Freund Schröder eine Reise nach Kambodscha unternimmt. Sie wollen sich die Tempel von Angkor anschauen und haben in der nahegelegenen Stadt Siem Reap zwei Hotelzimmer direkt am Pool gebucht. Doch als Göhlich von einem Morgenspaziergang zurück ins Hotel kommt, steht sein Safe offen. Alle Dokumente sind noch da, nur der Ring ist verschwunden. Nach "Der Raub der Himmlischen Tänzerin" ist dies der 2. Fall für den Amateurdetektiv Nhean... Die frei erfundene Geschichte ist geprägt von der großen Liebe des Autors zum Weltkulturerbe Angkor sowie den Menschen und ihren Lebensumständen in Kambodscha.

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Dietrich Schilling, Jahrgang 1945, hat nach seinem Germanistik-Studium fast 40 Jahre lang als Hörfunk-Redakteur beim NDR gearbeitet. Er ist verheiratet und lebt als freier Autor in Hamburg.

Inhaltsverzeichnis

Mittwochmorgen

Mittwochmittag

Mittwoch, früher Abend

Mittwochabend

Mittwoch, später Abend

Donnerstagmorgen

Donnerstagnachmittag

Donnerstagabend

Freitagmorgen

Freitag, später Vormittag

Sonnabendfrüh

Sonnabendmittag

Sonnabendnachmittag

Montagvormittag

Montagnachmittag

Dienstagvormittag

Dienstagnachmittag

Dienstagabend

1

Mittwochmorgen

Anfangs war es nur eine leichte Unruhe, die er sich nicht erklären konnte. Aber bald wurde sie stärker. Mit jedem Schritt. Nein, versuchte er sich einzureden, da ist nichts, was sollte schon sein? Und er ging weiter, entschlossener. Doch das änderte nichts. Im Gegenteil. Die Unruhe nahm zu, sie legte sich über ihn wie ein Netz, in dem er sich immer mehr verfing. Und sie ließ ihn nicht mehr los. Es dauerte nicht lange, bis ihn nur noch ein Gedanke beherrschte: Irgendetwas stimmt nicht!

Ohne sich dessen bewusst zu sein, verlangsamte er seine Schritte. Endlich blieb er ganz stehen, wandte sich zögernd um und schaute zurück. Dorthin, woher er gekommen war. Aber da war nichts. Niemand, der ihm folgte. Kein Auto, das etwa hinterrücks auf ihn zu raste. Keine wilden Hunde, die sich ihm näherten. Und nicht einmal eine Handvoll Menschen, die auf ihren Fahrrädern oder Mopeds unterwegs waren.

Es war früh am Morgen. Die meisten Läden, der Fahrradverleih, die kleinen Restaurants, die an der schmalen, wenig befahrenen Straße lagen, alle waren sie noch geschlossen. Nur in der Suppenküche herrschte Betrieb. Drinnen, in dem riesigen Topf, dampfte eine würzige Fleischbrühe, und draußen, an den Tischen entlang der Hauswand, saßen ein paar Männer und Frauen und löffelten, die Ellbogen vor sich auf die Tischkante geschoben, ihre Reissuppe. Das Tageslicht war noch mild und klar, in der Luft nur wenige Abgase. Beschaulich, hätte Göhlich normalerweise gedacht, beinahe idyllisch, jedenfalls ganz anders als abends nach Sonnenuntergang, wenn die Touristen in kleinen und größeren Gruppen zu den Restaurants und Discos in die Altstadt strömen, so wie er es gestern erlebt hatte.

Doch er ließ sich nicht täuschen: irgendetwas erschien ihm ungewöhnlich. Die Unruhe, die ihn quälte, wollte sich nicht legen. Er spürte so etwas wie eine Bedrohung, konnte sich aber nicht erklären, was sie ankündigte und woher sie kam. Und auf einmal spürte er auch sein Herz. Es klopfte, als wolle es davonlaufen. Er erschrak und dachte kurz an den Tuktuk-Fahrer, der ihn geärgert hatte. Aber das war es nicht, was ihn so bedrängte, da war er sich sicher.

Seine rechte Hand schloss sich fest um die Kreditkarte, als fürchtete er, dass man sie ihm aus der Hosentasche stehlen könnte. 300 Dollar wollte er aus dem Automaten ziehen. Amerikanische Dollar. Jedesmal, wenn er etwas bezahlen musste, wunderte er sich von neuem darüber, dass dieses Land seit seiner Unabhängigkeit zwar eine eigene Währung besaß, aber fast alles in amerikanischen Dollars bezahlt wird. Darüber, nahm er sich vor, müsse er irgendwann mal etwas für seine Zeitung schreiben. Riel nannte sich die Währung, was so viel wie ‚kleines Fischchen‘ bedeutet. Das hatte er gegooglet. Und auf fast allen Geldscheinen war der ganze, große Stolz dieses Landes abgebildet: die Tempel, die Tore und Türme von Angkor, die das eigentliche Ziel seiner Reise nach Kambodscha waren. Die meisterhafte Kultur eines Volkes, das vor 1000 Jahren mitten im Dschungel eine blühende Großstadt gebaut hatte. Heute ein Weltkulturerbe. Doch das Geld, so hübsch es aussah, war beinahe wertlos. ’Kleine Fischchen’ eben.

Beunruhigt, obwohl er nichts, aber auch gar nichts Auffälliges entdecken konnte, wandte Göhlich sich wieder um und ging zögernd weiter. Normalerweise genoss er diese Morgenstunden kurz nach Sonnenaufgang, wenn es noch angenehm kühl war. Und wenn sich die Blüten der Lilien, der Bougainvillea und des Hibiskus in der nächtlichen Frische von der brutalen Hitze des Vortages erholt hatten und von neuem entfalteten. Die Wasseroberfläche im Hotelpool hatte noch vollkommen glatt gelegen. Und die riesigen Blattwedel der Bananenstaude, die sich wie ein Dach über die kleine Terrasse vor seinem Zimmer beugten, waren noch feucht von der Nacht. Göhlich war nur kurz stehengeblieben und hatte beobachtet, ob einer der Tautropfen, die sich auf den hellgrünen Blättern gebildet hatten, abrollen und auf dem Boden zerplatzen würde. Er erinnerte ihn an Videos in Zeitlupe, die er gesehen hatte.

Doch für all das hatte er an diesem Morgen keine Augen. Irgendetwas trieb ihn voran. Er hatte das Gefühl, dass es ihn geradezu anschrie, um auf sich aufmerksam zu machen. Aber er konnte beim besten Willen nicht erkennen, was es war und woher es kam. Es war wie ein Wort, das einem auf der Zunge liegt, aber einfach nicht einfällt. Das kannte er von seiner täglichen Arbeit, wenn er an einem neuen Artikel schrieb. Doch dies hier war etwas anderes.

Als er vor dem Automaten stand, der nur zwei Minuten vom Hotel entfernt in die Hauswand eines 7-Eleven-Marktes eingelassen war, schaute er sich noch einmal um. Nein, er war allein, niemand in seiner Nähe. Er zögerte kurz, schob dann aber seine Karte in den grün leuchtenden Schlitz, tippte auf „English“, gab seine Pin ein, wählte ‚Withdrawal‘ und dann ‚300‘. Es dauerte einige Sekunden, in denen der Automat ein paar surrende und klackende Geräusche von sich gab. Dann spuckte er die Kreditkarte mit einem überraschenden Stoß, der etwas Überdrüssiges an sich hatte, wieder halb heraus, so dass Göhlich sie, wie aufgefordert, ‚entnehmen‘ konnte. Nachdem er das getan hatte, erschienen drei Hundert-Dollar-Noten im Ausgabe-Schlitz. Göhlich zog sie schnell heraus, steckte sie mit der Karte in seine Hosentasche und fragte sich kopfschüttelnd, wer ihm diese Scheine wechseln würde? Die kleinen Dollar-Noten, die Einer, Fünfer und Zehner, die er zwei Wochen vor der Abreise bei seiner Düsseldorfer Bank bestellt hatte, waren längst verbraucht; in Phnom Penh, wo sie die ersten Tage nach der Ankunft in Kambodscha verbracht hatten, wollten alle nur kleine Scheine nehmen. Und jetzt in Siem Reap, wo sie gestern nach einer ewig langen Busfahrt völlig verschwitzt angekommen waren, wäre es sicher genauso. Sein Freund Schröder, mit dem zusammen er den Urlaub verbrachte, hatte auch keine mehr. Schröder, der in Zimmer 32 untergekommen war, gleich neben dem von Göhlich, schlief gerne etwas länger.

Den Weg zurück ins Hotel legte er beinahe im Laufschritt zurück. Er hatte das unbestimmte Gefühl, als könne er der Unruhe, die ihn nicht mehr losließ, nur dort auf die Spur kommen. „Thirty-one“, rief er dem jungen Mann an der Rezeption schon von weitem entgegen. Er erhielt den Schlüssel zusammen mit einem freundlichen ‚thank you, Sir‘ und einer tiefen Verbeugung. Quatsch, dachte Göhlich, dem die unerschütterliche Freundlichkeit des Hotelpersonals übertrieben vorkam und unangenehm war; wenn sich einer bedanken muss, bin ich das. Die wissen ja gar nicht, was sie sagen! Kurz darauf tat es ihm leid, dass er so abfällig gedacht hatte. Doch er hatte keine Zeit mehr, heimlich um Vergebung zu bitten. Denn plötzlich hörte er jemanden reden, eine leise Stimme nur, aber eine mit großer Intensität. Sie kam aus der Richtung seines Zimmers und nahm sofort seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Es klang, als handele es sich um irgendetwas Dringliches.

Die Gästezimmer des Hotels waren rund um das Schwimmbecken angelegt, in Form eines Hufeisens. Wenn man eines betreten wollte, konnte man das nur von der Poolseite her. Dazu musste man zunächst von der Rezeption kommend durch einen kleinen, aber üppigen, tropischen Garten bis zu den Steinplatten gehen, die den Pool einfriedeten, und erst von dort konnte man in sein Zimmer gelangen.

Zu seiner Überraschung war es das Zimmermädchen, das da sprach. Das Mädchen, das sein Zimmer in Ordnung bringen wollte; es hatte schon vor der Tür gewartet, als er heraustrat um sich Geld vom Automaten zu holen. Eine noch sehr junge, zarte Person. Sie machte den Eindruck, als wolle sie nur ja nicht auffallen und am liebsten gar nicht gesehen werden; man hätte auf die Idee kommen können, dass sie lieber nur ein Schatten ihrer selbst gewesen wäre. Und vor lauter Respekt wagte sie kaum zu sprechen. Göhlich hatte genau hinhören müssen, als er sie gegrüßt und versucht hatte, ein paar freundliche Worte mit ihr zu wechseln, so leise sprach sie. Er hatte sich sehr darüber gewundert, denn diese schüchterne, beinahe ängstliche Zurückhaltung passte gar nicht zu ihrer äußeren Erscheinung: für eine Khmer war sie nämlich ziemlich groß gewachsen. Ihre matt glänzenden, schwarzen Haare hatte sie zu einem frechen Büschel zusammengebunden, das sich wie der Strahl eines Springbrunnens mitten auf ihrem Kopf keck in die Luft erhob, so dass ihre Ohren, ihr Nacken und ihr Gesicht völlig frei und offen lagen und sie noch größer wirkte als sie schon war. Ungewöhnlich war auch ihr Blick, der jedem anderen auszuweichen schien, aber dennoch etwas seltsam Bezauberndes hatte. So, als wolle sie mit ihren Augen dringend auf etwas hinweisen, das sie nicht auszusprechen wagte. Gestern, bei ihrer Ankunft im Hotel, hatte sie in der Rezeption gestanden und auf irgendetwas gewartet. Göhlich hatte seinem Freund gegenüber Zweifel geäußert, ob dieser Blick ganz natürlich oder vielleicht doch Ausdruck weiblicher Raffinesse war. „Nein, sie ist die Unschuld in Person!“, hatte Schröder gesagt. „Das kannst du schon daran erkennen, dass sie sich nicht schminkt.“ Er hatte es vollkommen überzeugt gesagt, so, als sei er in diesen Dingen sehr erfahren. Göhlich, den die schlichte Begründung seines Freundes amüsiert hatte, weil er Schröders leicht verklemmte Zurückhaltung gegenüber Frauen kannte, hatte bereits eine ironische Antwort auf der Zunge gelegen. Aber er unterdrückte sie. Es war ihm nicht wichtig.

Was das Zimmermädchen so aufgeregt in ihr Handy sprach, konnte er nicht verstehen. Sie sprach kein Englisch, sondern Khmer. Um diese Sprache hatte Göhlich bei den Reisevorbereitungen einen respektvollen Bogen gemacht. Diese zahllosen Kringel und Rundungen, die ihm so schwungvoll und wie gemalt erschienen, konnte er nur bei sehr genauem Hinsehen voneinander unterscheiden. Und wie man diese verspielten Gebilde aussprechen musste, konnte er sich noch weniger vorstellen. Er hatte sich erst gar nicht die Mühe gegeben, die Lautschrift anzusehen, die in seinem Reiseführer für die wichtigsten Wörter vermerkt war. Aber obwohl das Mädchen mit kaum vernehmbarer Stimme sprach, hörte es sich für Göhlich an, als stehe sie unter großer Spannung. Offenbar hatte sie Göhlichs Zimmer gerade verlassen. Jedenfalls stand die Tür offen, und sie hielt sich nur einen oder zwei Meter entfernt davon auf, in der einen Hand den Besen und auf dem Boden ein Putzeimer mit Lappen.

Eine ihrer Kolleginnen stand neben ihr und hörte neugierig zu. Sie war kleiner, was man aber auf einen flüchtigen Blick hin kaum erkennen konnte. Anders als die junge Frau, die Göhlichs Zimmer sauber machte und die sich ein Tuch um ihre Haarpracht gebunden und einen grauen Arbeitskittel anhatte, machte ihre Kollegin den Eindruck, als sei sie gerade unterwegs zu einem date. Sie trug eine eng anliegende, violette Hose und darüber ein mattgrünes T-Shirt, das zwar hochgeschlossen war, sich aber ebenso eng um ihren Körper legte wie die Hose. Ihr Make-up war sorgfältig aufgetragen; sie musste früh aufgestanden sein und geraume Zeit vor dem Spiegel verbracht haben. Auf ihren Wangen schimmerte dezent das Violett ihrer Hose, und damit waren auch ihre Fingernägel lackiert. Dass sogar ihre Lippen sehr zurückhaltend mit dieser Farbe getönt waren, sah man erst, wenn man sie aus der Nähe betrachtete und ihr direkt ins Gesicht schaute. Gänzlich ungewöhnlich für ein Zimmermädchen waren aber die auffällig hohen Absätze ihrer Schuhe, in denen sie keine Strümpfe trug und die sie vor jeder Zimmertür grundsätzlich abstreifte, bevor sie hinein ging.

Wenn man die beiden sah, wie sie da nebeneinander standen, konnte man nur schwer glauben, dass sie ein- und dieselbe Arbeit zu erledigen hatten. Was der einen an Selbstbewusstsein mangelte, hatte die andere eher zuviel. Sie unterschieden sich voneinander wie eine Mango von einer Kokosnuss: die eine war weich, hatte aber einen festen Kern, während die andere eine harte Schale rund um ein weiches Inneres hatte. Das wäre eine Vorlage für Rieder, ging es Göhlich durch den Kopf, als ihm dieser Vergleich in den Sinn kam. Rieder war der Karikaturist, dem jeden Tag etwas Neues fürs Blatt einfallen musste.

Göhlich wunderte sich darüber, dass ‚sein‘ Zimmermädchen so lebhaft und temperamentvoll redete. Sie erweckte den Eindruck, als sei sie mit irgendetwas nicht einverstanden und wehre sich aus tiefster Überzeugung dagegen. Alle paar Sekunden beugte sie sich weit vor und verlieh damit dem, was sie zu sagen hatte, unbewusst Nachdruck. Zwar sprach sie beherrscht und leise, aber überdeutlich und eindringlich und gestikulierte dabei mit der freien Hand hilflos in der Luft herum. Es sah aus, als gelänge es ihr trotz aller Bemühungen nicht ihrem Gesprächspartner zu vermitteln, was sie ihm mitteilen wollte. Dann hielt sie plötzlich inne und schwieg. Schwieg, tippte auf das Display ihres Handys und steckte es in die Tasche ihres Arbeitskittels.

Die andere grinste sie an. „Deine Mutter, oder?“

Die erste nickte. „Heute morgen hat sie noch gesagt, ich soll arbeiten gehen. Und jetzt auf einmal geht es ihr schlecht.“

„Was hat sie denn?“

„Kopfschmerzen. Und Fieber. Die Beine tun ihr weh.“

„Und was sagt sie?“

„Ich soll nach Hause kommen. Ihr helfen.“

„Und deine Zimmer? Was ist damit?“

Die erste zuckte mit den Schultern. Jedes Zimmermädchen hatte eine festgelegte Anzahl von Gästezimmern zu reinigen. Das musste bis spätestens 15.00 Uhr geschehen sein, denn um diese Zeit kamen erfahrungsgemäß die ersten Hotelgäste von ihren Tagesausflügen zurück und wollten ein gemachtes Zimmer vorfinden. Wollten ein sauberes, perfekt aufgeräumtes Zimmer betreten, sich unter die Dusche stellen und frisch machen.

„Kannst du die übernehmen?“

Ihr war klar, was sie ihrer Kollegin damit zumutete. Aber sie hatte keine Wahl. Und wenn man ohne Pause arbeitete, das wusste sie, wäre es zu schaffen. Aber die Kollegin zierte sich. Sie zögerte und schien ihre Antwort gründlich abzuwägen. Doch die Fragestellerin, die es eilig hatte, erriet, was im Kopf der anderen vorging. Und bevor die Frage, die kommen musste, tatsächlich gestellt wurde, gab sie schon die Antwort: „Ich geb dir den ganzen Tageslohn. Ohne Abzug.“

Göhlich verstand kein Wort von der Unterhaltung der beiden jungen Frauen. Aber als er beobachtete, dass die mit der Springbrunnen-Frisur ihrer Kollegin einen Schlüsselbund förmlich aufdrängte, sich ihre blaue, abgescheuerte Bangkok Airways-Tasche über die Schulter schwang und sich Hals über Kopf mit einem Moped davonmachte, konnte er sich an den Fingern abzählen, was die beiden besprochen hatten.

„Göhlich …“

Er zuckte zusammen, als laut sein Name gerufen wurde. Schröder, sein Freund, stand in der Tür von Zimmer 32 und winkte ihm zu. Seit ihrer Schulzeit am Humboldt-Gymnasium in Düsseldorf waren die beiden miteinander befreundet. In ihrer Klasse war es damals üblich, sich nur mit Nachnamen anzureden. Wie es dazu gekommen war, wusste niemand. Vielleicht, weil es etwas Männliches, ‚Gestandenes’ hatte. Jedenfalls fanden es alle schick. Und auch nach dem Abitur hatten sie sich weiterhin nur mit Nachnamen angeredet und waren bis heute dabei geblieben. Nach der Schule hatte Göhlich ein Volontariat bei einer Tageszeitung in Düsseldorf begonnen und dort auch eine Anstellung gefunden; Schröder war zum Studium nach Hamburg gegangen, hatte dort seine Frau kennengelernt, war als Gymnasiallehrer für Deutsch und Englisch verbeamtet worden und in der Hansestadt geblieben. Doch ihrer Freundschaft hatte das nicht geschadet. So verschieden sie in mancher Hinsicht waren, sie kamen immer wieder gerne zusammen. Irgendetwas am jeweils anderen reizte sie jedenfalls und verband sie miteinander.

Göhlich nahm das Leben von der sonnigen Seite. Er liebte es, nach Redaktionsschluss in die Altstadt zu gehen und dort in einer der zahllosen Kneipen ein ‚Alt’ zu schlabbern. Fast immer traf er irgendjemand, mit dem er quatschen konnte. Und dabei kam man grundsätzlich auf Fortuna zu sprechen, den Fußballverein der Stadt, der unberechenbar war und ein Spiel gewann, wenn alle eine Niederlage vorausgesagt hatten. Und umgekehrt.

Göhlich schien tausend Freunde und Bekannte zu haben, und überall, wo er auftrat, herrschte umgehend eine gute Stimmung. Vielleicht war es diese Leichtigkeit, die Schröder imponierte, und von der er gerne etwas übernommen hätte. Denn er selbst war - nein, hölzern konnte man nicht sagen, aber er war ordnungsliebend, ein wenig streng, manchmal zu kritisch. Machte es sich zuweilen selbst schwerer als nötig. Bevor er sich zu Wort meldete, zögerte er gewöhnlich, weil er das, was er sagen wollte, zuerst auf seine Bedeutung hin überprüfen wollte. Und manchmal verpasste er dann den richtigen Zeitpunkt. Aber er war immer umsichtig. Und wenn er sich schließlich doch äußerte, traf er oft ins Schwarze. Göhlich musste immer wieder neidlos anerkennen, zu welch überraschend einfachen und klugen Schlüssen Schröder manchmal gelangte.

Gerade, als Göhlich seinen Namen hörte, streifte das andere Zimmermädchen seine Schuhe ab, ließ sie vor der Nummer 31 liegen und betrat das Zimmer. Göhlich war etwas verdutzt, weil auch er dort hinein wollte. Aber als Schröder ihn im selben Augenblick ein zweites mal rief, wandte er sich um und ging erst einmal zu ihm hinüber, ließ sich an dem kleinen Bambustisch, wie er vor jedem Zimmer auf einer kleinen Terrasse stand, nieder und wartete darauf, was sein Freund ihm zu sagen hätte. Sie hatten für den Tag einen Ausflug zum Großen See gebucht. Und abends wollten sie sich auf ein Abenteuer einlassen: Rote Ameisen essen. „Die krabbeln mir jetzt schon im Bauch herum“, bemerkte Schröder weniger im Spaß als ernsthaft und versuchte, die Bedenken, die er hatte, unter einem Grinsen zu verbergen. Doch das gelang ihm nicht so recht. Er hatte sich keine Blöße geben wollen und ein bisschen zu schnell überreden lassen, als Göhlich den Vorschlag gemacht hatte, und ihm war nicht ganz wohl bei dem Gedanken, was da am Abend auf seinem Teller liegen könnte.

Göhlich kannte die kleinen Ängste seines Freundes genau. Normalerweise hätte er so eine Bemerkung mit Freude aufgegriffen und ihn gerne etwas provoziert, aber davor bewahrte ihn das Gefühl der Unruhe, das ihn urplötzlich wieder eingeholt hatte. Wie hatte er das vergessen können! Nervös rutschte er auf seinem Hocker hin und her, machte Anstalten, sich zu erheben, setzte sich wieder, stand erneut auf, klopfte, wie er es oft tat, seine Hosentaschen ab und fühlte das Geld und die Kreditkarte. Ja, das war es! Er wollte ja noch das Automatengeld in den Safe legen, jedenfalls den größeren Teil; 50 Dollar, hatte er sich vorgenommen, würde er in seinem Geldgürtel belassen.

„Moment“, sagte er zu Schröder gewandt, sprang schnell die wenigen Schritte hinüber zu seinem eigenen Zimmer und drückte die Tür auf. Vielleicht zu laut und zu überstürzt, denn das Zimmermädchen erschrak heftig. Sie zuckte zusammen und starrte Göhlich entsetzt an, so dass er zu einer Entschuldigung ansetzte; ihm war schlagartig klar geworden, dass er zu forsch und zu rücksichtslos in die ’31’ gestürzt war. Schließlich hatte er gewusst, dass sie sich darin aufhielt und hätte anklopfen sollen, auch wenn es sein eigenes Zimmer war.

Allerdings kam er dann doch nicht mehr dazu, sich zu entschuldigen. Denn kaum hatte er nur einen Schritt in sein Zimmer gemacht, fiel ihm wie Schuppen von den Augen, was ihn auf dem Weg zum Geldautomaten so unruhig gemacht und was er dann vorübergehend vergessen hatte, zweifellos abgelenkt durch das seltsame Telefonat, dessen Zeuge er eben erst geworden war. Wie eine glühend heiße Nadel schoss es ihm in den Kopf: Es war sein Safe! Auf den ersten Blick sah er, dass das massive Türchen nur angelehnt war. Schon vom Eingang aus konnte er es genau erkennen.

Die junge Frau, die gerade dabei war das Bett zu machen, wich erschrocken zur Seite, als Göhlich mit drei, vier Schritten sein Zimmer durcheilte und die Safetür vollständig aufriss. Mit fliegenden Fingern wühlte er die wenigen Dinge durch, die er in der metallenen Box abgelegt hatte: seinen Reisepass, das iPad, die Flugtickets, seine ausgetauschte SIM-Card, das Malaria-Medikament. Alles war da. Nur eines nicht: der Ring, der diamantenbesetzte Ehering, der war verschwunden. Immer wieder fuhr er hastig mit den Fingern durch die Ecken des halbdunklen Safes, zog schließlich alles heraus, was darin war, inclusive größerer Staubfussel. Aber es blieb dabei: der Ring war weg.

„Schröder!“

Göhlichs durchdringende Stimme klang wie ein Hilferuf, und Schröder war innerhalb weniger Sekunden da.

„Mein Ring ist weg!“

Schröder warf einen Blick auf den Safe und guckte Göhlich irritiert an.

„Aufgebrochen ist er aber nicht, soweit ich das erkennen kann.“

„Ich weiß.“

Jedes Mal, wenn er sein Zimmer verließ, hatte er vorher alles überprüft. Das hatte er sich schon in Phnom Penh angewöhnt. Er hatte die Klimaanlage abgestellt, das iPad sicherheitshalber in den Safe gelegt und ihn selbst verriegelt. Jedes Mal! Warum er es diesmal nicht getan hatte, war Göhlich ein Rätsel. Sicher war nur eines: er hatte es vergessen! Vielleicht war es der Tuktuk-Fahrer, der ihre Verabredung abgesagt hatte, als er gerade zu dem Geldautomaten aufbrechen wollte. Derselbe, der am Abend zuvor gut gelaunt vor dem Hotel auf Kundschaft gewartet und ein paar originelle Witzchen gemacht hatte, als sie vorübergingen. Er sprach gut englisch und Göhlich hatte sich länger mit ihm unterhalten. Hinterher hatte er das Gefühl, als sei so etwas wie eine kleine Bekanntschaft entstanden. Und die beiden hatten sich auf einen Preis geeinigt, zu dem der Tuktukfahrer sie heute zum Tonle Sap fahren sollte. Hin und zurück.

Göhlich hatte sich sehr über die Absage geärgert, denn nun musste er einen anderen beauftragen, der sie rechtzeitig zur Bootsanlegestelle fahren würde. Es gab zwar genug, die Arbeit suchten, und es würde kein Problem werden, einen anderen zu finden. Aber Göhlich hatte den Verdacht, dass ‚ihr‘ Fahrer einen lukrativeren Auftrag erhalten und ihnen deshalb abgesagt hatte. Darüber hatte er sich geärgert. Und das befriedigende Gefühl, dass er es geschafft hatte, schnell und unkompliziert Kontakt zu einem ‚echten‘ Einheimischen aufzubauen, war dahin. „Bilde dir doch nicht ein, dass er etwas anderes will als dein Geld“, würde Schröder vermutlich sagen und wahrscheinlich recht haben damit, „verstehen kann man das doch, oder?“

Das Zimmermädchen, dem der Schrecken über Göhlichs plötzliches Auftauchen deutlich anzusehen war, stand immer noch regungslos neben dem riesigen Bett. Inzwischen war auch ihr klar geworden, dass etwas Wichtiges oder Wertvolles aus dem Safe fehlte. Mit halb geöffnetem Mund und aufgerissenen Augen wich sie, als Schröder sie misstrauisch ansah, einen Schritt zurück. Wie zur Abwehr von etwas Bedrohlichem, das sie vor sich sah, bewegte sie den Kopf stumm verneinend hin und her und wies damit, ohne auch nur ein Wort zu sagen, jede Verantwortung von sich.

„Bleib hier!“, sagte Schröder, „ich hole Sok.“ Sok war der Hotelmanager im ‚Jayavarman VII‘.

Schröder lief etwas unsicher den schmalen, plattierten Weg zwischen den blühenden Büschen entlang in Richtung Rezeption; er hatte sich immer noch nicht an die Flip Flops gewöhnt, die er zu Hause in Deutschland nie getragen hätte. Das Zimmermädchen schaute durch die offen stehende Tür hinter ihm her, wagte es aber nicht den Raum zu verlassen.

Göhlich hatte sie bisher nur am Rande wahrgenommen, weil sie normalerweise die Zimmer auf der anderen Seite des Pools putzte und selten in die Nähe von ‚31‘ kam. Nun musterte er sie argwöhnisch. Einerseits tat sie ihm leid, so verschreckt und eingeschüchtert wie sie jetzt in seinem Zimmer stand, andererseits misstraute er ihr, war entrüstet und spürte Zorn. Hatte sie seinen Ehering genommen? Besser gesagt: geklaut? Wer sonst sollte es gewesen sein? Verstohlen schaute er auf ihre Hosentaschen. Doch selbst wenn sie ihn dort versteckt hätte: er war viel zu klein, als dass sich seine Konturen durch den Stoff gezeigt hätten.

Als sie, warum auch immer, eine unerwartete Bewegung in Richtung Zimmertür machte, stellte Göhlich sich ihr in den Weg. Instinktiv. Auf keinen Fall durfte er sie gehen lassen! Aber zugleich war es ihm peinlich, die junge Frau so offensichtlich zu verdächtigen und daran zu hindern, das Zimmer zu verlassen. Er empfand eine seltsame Scham dabei, und beinahe trotzig redete er sich ein, dass er doch im Recht sei so zu handeln. Er wagte es jedoch nicht, ihr ins Gesicht zu sehen oder gar den Versuch zu machen, mit ihr zu sprechen. Stattdessen guckte er wiederholt auf seine Armbanduhr und ein ums andere Mal in Richtung Rezeption. Wo blieb Schröder? Hatte er Sok nicht angetroffen?

Er dachte daran, dass seine Frau ihn immer wieder aufgefordert hatte den Ring nicht mitzunehmen auf die Reise. Aber er hatte es anders gewollt. „Eigentlich müsstest du doch froh darüber sein, dass ich meinen Status als glücklich verheirateter Ehemann so deutlich zeige!“, hatte er sie etwas ironisch besänftigt und dann doch halb im Ernst gefragt: „Was soll denn schon passieren? Meinst Du, irgendjemand hackt mir den Finger mit dem Ring ab?“ Aber dann hatte er, um nur ja kein Risiko einzugehen, das gute Stück sofort nach der Ankunft im Hotel ins Safe gelegt, zusammen mit den wichtigen Dokumenten und den anderen Wertgegenständen. Und genau das war ihm nun zum Verhängnis geworden. So dachte er.

Endlich kam Schröder zurück. Im Laufschritt und die Flip Flops in der Hand. Noch vor ihm lief Sok, der trotz einer gewissen Korpulenz einen ziemlich wendigen Eindruck machte.

„Mr. Gohlich, what has happened?“

Umlaute waren unüberwindbar für Sok.

„Mr. Schroder told me bad luck …“

Er baute sich vor Göhlich auf und starrte ihn, durchatmend, sekundenlang so entsetzt an, als säße dem Deutschen der Tod im Nacken. Dann grinste er plötzlich ‚so richtig saftig‘, wie Schröder es später ausdrücken sollte und klopfte Göhlich kumpelhaft auf die Schulter. „No problem, my friend! Vanna good girl!“

Göhlich roch Jasminduft, als der Manager so dicht vor ihm stand. Er wich einen Schritt zurück und informierte Sok mit wenigen Worten über das, was passiert war. Während er sprach, guckte Sok mehrfach abwechselnd zum Safe und hinüber zu dem Mädchen, das noch immer an derselben Stelle stand. Sie schien darauf zu warten, dass man ihr sagte, was zu tun sei.

„No problem, my friend!“, versicherte Sok noch einmal an Göhlich gewandt. Gab dem Mädchen dann eine Anweisung in Khmer, die, vom Ton her zu urteilen, einem Befehl gleich kam und schüttelte seine Hand in ihre Richtung aus. „Los, los!“, war damit wohl gemeint. Das Mädchen, das er Vanna genannt hatte, antwortete mit einem Blick, der, das fiel Schröder auf, einem ‚na warte, wir sprechen uns noch!‘ ähnelte, griff nach ihrem Putzeimer und verließ den Raum. Draußen stieg sie in ihre Schuhe und ging davon. Göhlich schaute verdutzt hinter ihr her.

„Please, go to my office!“, forderte Sok die beiden Freunde auf. „One minute only.“

Göhlich und Schröder schauten beide wie verabredet auf ihre Uhren, aber es blieb noch genug Zeit bis zur Abfahrt zum Großen See.

Soks Büro lag hinter der Rezeption. Ein kleiner, etwas muffiger Raum. Der Schreibtisch überladen mit etlichen Schriftstücken und Mappen, Broschüren, Notizblocks, Gläsern und Bechern, dazwischen ein Computer und ein Telefon. Eilfertig räumte Sok die beiden winzigen Korbsessel frei, auf denen ebenfalls alles mögliche deponiert war und bat die beiden Platz zu nehmen.

„Coffee?“

Göhlich und Schröder lehnten höflich ab. Sok ließ sich auf den Drehstuhl hinter dem Schreibtisch fallen und lächelte sie breit an. Entschuldigte sich wortreich für irgendetwas und bat sie, doch noch einmal in aller Ruhe zu erzählen, was passiert sei. Eines, und dabei erhob er den Zeigefinger seiner rechten Hand und machte ein nachdrückliches Gesicht, eines könne er ihnen aber gleich versichern: in seinem Hotel komme nichts weg. Und gestohlen worden sei noch nie etwas. Dafür lege er seine Hand ins Feuer. Sie sollten nur mal hören, wie zufrieden sich alle Gäste bei ihrer Abreise zeigten. Grundsätzlich! Aber bitte und noch einmal in Ruhe: was sei zu beklagen?

Göhlich staunte, dass der Manager mit seinen begrenzten Englisch-Kenntnissen offenbar in der Lage war, alles auszudrücken, was er wollte. Die englische Grammatik hatte er zwar auf wenige Basisregeln reduziert, aber sein Vokabular war erstaunlich reich. Göhlich tat, um was ihn der Manager gebeten hatte und fasste noch einmal geduldig zusammen, was zu sagen war.

„Und der Safe?“, fragte Sok, „der Safe war offen?“

Göhlich gestand ein, dass er wohl vergessen hatte ihn zu verriegeln.

„Und fehlt noch etwas anderes außer dem Ring?“

Nein, alles andere war noch da.

„Dann findet sich der Ring auch wieder“, versicherte Sok und gab sich überzeugt. „Heute Abend haben Sie ihn zurück.“