Der Baum steht schief - Dietrich Schilling - E-Book

Der Baum steht schief E-Book

Dietrich Schilling

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Beschreibung

Weihnachten. Ausnahmezustand! Die Gefühle fahren Achterbahn: Der beste Freund lässt nichts von sich hören, ein hautfarbenes Kleid macht glücklich, Erwin rettet sich vor der Ewigkeit, Kusshände versöhnen, die Erziehung der Kinder scheitert - und eine Kuh wird zum Ungetüm. Dietrich Schilling legt in diesem Bändchen 14 heitere und nachdenkliche, allesamt ungewöhnliche Weihnachtsgeschichten vor. Illustriert von Stephan Zörnig.

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Dietrich Schilling, Jahrgang 1945, hat nach seinem Germanistik-Studium fast 40 Jahre lang als Hörfunk-Redakteur beim NDR gearbeitet. Er ist verheiratet und lebt als freier Autor in Hamburg.

Stephan Zörnig, Jahrgang 1947, hat in Hamburg als Lehrer am Gymnasium gearbeitet; heute ist er Dozent an einer Berufsschule. Er reist gern und spielt Rock’N’Roll.

Inhaltsverzeichnis

Erwins Genesung

Es brennt!

Der kanadische Freund

Hedwig ruft an

Oh, du Fröhliche!

Der Mann in der Sparkasse

Der Baum steht schief

Den Einsamen eine Freude machen

Die Kuh im Schneetreiben

Weihnachten wie immer

Alles Gute kommt von oben

Kusshände

Alter Freund

Erwins großer Wunsch

Erwins Genesung

Nach dem Tod seiner Frau hatte Erwin noch ein paar schöne Jahre. Kaum war sie unter der Erde – in einer der hinteren Grabzeilen auf dem Kirchenfriedhof –, bestellte er die Handwerker und gab die kleine Terrasse vor der Küche in Auftrag, die er sich zeitlebens gewünscht hatte.

„Kommt nicht in Frage!“, hatte Friedel jedes Mal gesagt, wenn Erwin einen neuen Versuch unternahm, die kleine Terrasse durchzusetzen. Er hätte so gerne vor der Küche gesessen und über die Felder geguckt. „Da trägst Du nur Dreck in die Küche. Kommt nicht in Frage. Nur über meine Leiche.“

Genau so kam es.

Schon beim Leichenschmaus verhandelte Erwin mit der ortsansässigen Firma „Rolf und Söhne – Steine und Platten“. Man wurde sich schnell einig über das „Wann“ und „Wie“. Zu aller Überraschung schienen auch die Kosten keine große Rolle zu spielen. Alle im Dorf fragten sich, woher Erwin die Summe nehmen wollte, die „Rolf und Söhne – Steine und Platten“ veranschlagt hatte. Denn dass er und seine Friedel nicht wie die Maden im Speck gelebt hatten – das wussten alle, die auch nur einmal an ihrem maroden Häuschen vorübergegangen waren.

Die alte Anne von gegenüber hatte sie jeden Herbst aufgefordert, wenigstens neue Fenster einzusetzen. Im Alter soll man vorsichtig sein mit Kälte vom Fenster her!

Pastor Holzgrefe hatte behutsam darauf hingewiesen, dass der Preis für die Reparatur der Regenrinne auch nach irdischen Maßstäben nicht unerschwinglich sei – und für den Giebel, der seit Jahren vor sich hin bröckelte, bestimmt eine Wohltat.

Vergeblich.

Da waren Friedel und Erwin sich ausnahmsweise einig.

Ihr Häuschen verfiel immer mehr.

Und als Friedel sich ins Sterbebett legte, machten sich alle im Dorf große Sorgen um Erwin.

Was sollte aus ihm werden ganz allein?

Konnte er überhaupt kochen?

Alle Sorgen waren fehl am Platz.

Erwin blühte auf, kaum dass Friedel begraben war.

Zum ersten Mal seit vielen Jahren band er sich eine Krawatte um, setzte sich in den Bus und fuhr in die Kreisstadt. Als er mit dem Nachmittagsbus zurückkam, trug er zwei prall gefüllte Einkaufstüten.

Am Abend trat er in die Gaststube des Hotels „Zum Finken“, bestellte Schlachtplatte mit allem und ein großes Pils. Beim dritten Pils geriet der Finkenwirt ins Grübeln, und als Erwin mit dem vierten auch noch einen doppelten Korn verlangte, setzte er sich zu ihm an den Tisch, um der Sache auf den Grund zu gehen. Das war nicht weiter schwierig, denn Erwin befand sich im Zustand fortgeschrittener Seligkeit und erzählte dem Finkenwirt auf dessen geschickt formulierte Fragen ohne Umstände, dass er, Erwin, heute belohnt worden sei für manches magere Jahr, und dass seine Friedel sich im Grab umdrehen würde, wenn sie wüsste, dass er alles herausbekommen hat. Prost!

Der Wirt schwieg, denn er wusste, dass Schweigen eine Aufforderung zum Weitererzählen ist.

Also berichtete Erwin mit schwerer Zunge, dass er sein geheimes Sparkonto bei der Kreissparkasse aufgelöst habe. Und dass der Leiter der Sparkasse ihn von der Existenz eines weiteren ansehnlichen und ebenfalls geheimen Sparkontos auf den Namen seiner Frau in Kenntnis gesetzt hätte, über das er selbstverständlich verfügen könnte, sobald er einen Erbschein vorgelegt habe. Das hätte sich die - was dann folgte, war wegen des Bieres und einer heftig aufschäumenden Emotion nur schwer zu erraten – das hätte sie sich wohl nie träumen lassen, dass er jetzt davon als erstes die kleine Terrasse bezahle.

Und die wurde ein Prachtstück!

Der Blick über die Felder entschädigte für manches verlorene Jahr. Erwin saß dort, stundenlang, die Küche im Rücken, vor Augen die Felder.

Manchmal, wenn er an seine Frau dachte, holte er ein Bier aus dem Kühlschrank und freute sich seines Lebens. Machte Pläne. Ging regelmäßig in den „Finken“, wurde gesprächig, besuchte seine Nachbarn und lud sie ein.

Die Regenrinne wurde repariert, die Fenster erneuert.

Als der Bürgermeister zu Spenden für einen Spielplatz aufrief, übernahm Erwin die Kosten für eine Rutschbahn.

Als für einen Weihnachtsbaum vor dem Rathaus gesammelt wurde, trug er großzügig dazu bei.

Und regelmäßig montagmorgens erschien er auf dem Kirchenfriedhof und sah nach dem Rechten. Die Buchsbaumhecke war zu jedem Zeitpunkt akkurat gestutzt, die Inschrift der Grabplatte stets makellos sauber: „Meiner Friedel in ewiger Dankbarkeit!“

So vergingen die Jahre.

Und als er eines schönen Sommerabends wieder auf seiner kleinen Terrasse vor der Küche saß und sich nicht fühlte, nahm er das nicht sonderlich ernst. Er ging nur ein halbes Stündchen früher als gewöhnlich zu Bett. Stand auch am nächsten Morgen ein bisschen später auf, weil er ein wenig matt war. Den Montag darauf musste er zum ersten Mal, seit Friedel ihn verlassen hatte, auf die Grabpflege verzichten. Und als es Herbst wurde, ging er in die Sprechstunde von Dr. Müller. Der machte ein nachdenkliches Gesicht. Und tags darauf wusste das halbe Dorf Bescheid.

Am 1. Advent stand Erwin nicht mehr auf. Die alte Anne von gegenüber war aber bald zur Stelle und kümmerte sich. Was sie nicht schaffte, übernahm die Frau vom Finkenwirt. Und als für den Weihnachtsbaum vor dem Rathaus gesammelt wurde, drückte Erwin dem Pastor, der ihn besuchte, einen Schein in die Hand.

Dr. Müller, der jeden Nachmittag zur Visite erschien, wusste allerdings bald keinen Rat mehr. Obwohl – er fand es eigenartig, dass sich an Erwins Zustand so recht nichts veränderte. Er lag auf den Tod – und doch wiederum nicht. Als ob er zögere. Oder noch etwas Wichtiges bedenken müsse.

So kam der 2. Advent – und ging auch wieder.

Genauso der dritte.

Erst am vierten, als Pastor Holzgrefe ans Krankenbett trat, fiel die Entscheidung.

Alle waren sie dabei. Die alte Anne, die Frau vom Finkenwirt, Dr. Müller – alle konnten sie später bezeugen, was niemand glauben wollte.

Der Pastor, bezeugten sie, habe Erwins rechte Hand gestreichelt und ihm etwas ins Ohr geflüstert. Daraufhin sei ein Ausdruck tiefen Schreckens auf dessen Gesicht erschienen. Er habe sich mühsam aufgerichtet und eine Stulle mit Wurst verlangt…

Am nächsten Tag verließ Erwin zum ersten Mal seit Wochen das Bett. Und als der Heiligabend kam, machte er sich auf den Weg in Holzgrefes Kirche. Dort sang er „Oh du fröhliche“, schloss Friedel in sein Dankgebet ein und betrat pünktlich um sieben die Gaststube im Hotel „Zum Finken“, wo er mit Gänsefleisch, Klößen und Rotkohl ein weiteres Mal die Geburt feierte.

Dr. Müller allerdings, der sich später zum ihm gesellte, und der sich über die schier unglaubliche Genesung seines Patienten eigentlich hätte freuen müssen, quälte nur ein Gedanke: Was zum Teufel hatte Pastor Holzgrefe dem todkranken Erwin ins Ohr geflüstert?

Es brennt!

„Erziehung ist Glücksache“, sagt man.

Für uns sind solche Sätze der blanke Hohn. Als Eltern mit Prinzipien kennen wir unsere Verantwortung und haben sie niemals dem Glück überlassen. Wir sind überzeugt, dass Kinder klare Richtlinien brauchen. Denn woher soll ein Zehnjähriger wissen, was gut für ihn ist? Und was kann nicht alles passieren, wenn man ein zwölfjähriges Mädchen sich selbst überlässt?

Das gilt natürlich auch für Weihnachten.

Nur ein einziges Mal die Zügel schleifen zu lassen, bedeutet den Verlust der Kontrolle. Und warum sollen Kinder nicht auch an gutem Spielzeug ihre Freude haben? Die anderen arbeiten doch nur an ihren Defiziten, wenn sie pausenlos auf ihr Handy starren.

Gestern Abend allerdings waren wir etwas hilflos. Auf dem Weg zur Christmette schienen Julia und Justus noch ganz erwartungsfroh zu sein. In der Kirche saßen sie still neben uns und störten nicht. Selbst als während der Weihnachtsgeschichte – „ein jeglicher machte sich auf, dass er sich schätzen ließe“ – mein Handy in die Stille hinein vibrierte, blieb Justus ruhig; normalerweise feixt er bei solchen Sachen sofort los. Im Prinzip ist er ja ein eher stiller Junge, doch manchmal bricht er aus wie ein kleiner Vulkan, ganz unerwartet. Dann ist es, als würde er aus irgendwelchen Träumen in die Realität geschubst. Sein ganzer kleiner Körper gerät dann in Unruhe, und seine Augen blitzen. Als ob er eine bedeutende Entdeckung gemacht hätte, die er unbedingt sofort mitteilen müsste. Seine Lehrer haben sich schon darüber beklagt. Justus verliere dann die Kontrolle über sich, sagen sie. Und als Eltern achten wir jetzt natürlich darauf, dass das nicht passiert. Wir haben gelernt, Justus nicht so ernst zu nehmen, wenn er wieder mal ausbricht. Als mein Handy während der Christmette rumorte, guckte er mich aber nur kurz an und beherrschte sich. Ich legte ihm anerkennend meine Hand aufs Knie; Kinder brauchen auch mal ein Lob!

Doch als wir zu Hause eine befriedigende Anzahl von Weihnachtsliedern gesungen hatten und ich vor dem Lichterbaum stehend die kleine Ansprache hielt, wie sie in unserer Familie Sitte war, seit mein Urgroßvater an einem Heiligabend sein erstes Kind getauft hatte, beschlich mich das Gefühl, dass dieser Abend anders werden könnte. Ein Hinweis darauf war Julias enttäuschtes Gesicht; wahrscheinlich hatte sie bereits bemerkt, dass auf ihrem Gabentisch ein elektrischer Hand-Webstuhl auf sie wartete und nicht der kleine Fernseher, den sie sich gewünscht hatte.

Julia ist in einem schwierigen Alter. Darauf waren wir vorbereitet. Trotzdem ist es nicht immer leicht, ihre Angriffe auf uns zu tolerieren. Doch meine Frau und ich sind wohl auf dem richtigen Weg, wenn wir unserer Tochter in schwierigen Momenten zwar verständnisvoll zuhören, andererseits aber die Zügel nicht zu locker lassen. Dass sie dann öfter herumschreit und wutentbrannt die Tür zu ihrem Zimmer hinter sich ins Schloss wirft, nehmen wir in Kauf.

Das wird vorbeigehen.

Für uns Eltern besteht Weihnachten natürlich nicht aus Geschenken, sondern aus der Freude an der Geburt des Jesuskinds. Und so hatten wir unter dem Baum auch diesmal die Krippe mit allen Figuren aufgebaut, die das ganze übrige Jahr in einem uralten Karton, sorgfältig eingewickelt in Seidenpapier, auf dem Boden liegen. Maria kommt mir übrigens von Jahr zu Jahr jünger vor, genauso Josef. Das Jesuskind liegt in einer Krippe, die jedes Jahr repariert werden muß; es gelingt uns leider nie, das eine Bein der Krippe wieder so anzukleben, dass es dauerhaft hält. Prunkstücke sind natürlich die drei Könige, die reichlich Weihrauch und Myrrhe auf ihren vorgestreckten Armen tragen. Zum Dreikönigsfest nehmen sie dann alles wieder mit zurück in den Karton. Und um diese zentralen Figuren herum gruppiert sich zwischen Tannenzweigen das restliche Personal: die Hirten, Esel, Kamele und Hunde und was sonst noch dazugehört.

Dass die heilige Familie unter einer gewissen Armut gelitten hat, ist an unserem Ensemble leicht wiederzuerkennen. Die meisten Figuren sind in irgendeiner Weise lädiert; manchen fehlt schon seit vielen Jahren ein Arm oder ein Bein. Überzeugenden Ausdruck hat die Armut aber vor allem in dem Stall gefunden, der im Wesentlichen aus einigen dürren Sperrholzresten besteht. Ich hatte jedoch aus der Not eine Tugend gemacht und ihn diesmal – wenn auch nur spärlich – mit Hilfe eines sogenannten Beleuchtungssockels erhellt, den ich noch aus den Zeiten der Märklin-Eisenbahn besitze. Den Sockel mit der Glühbirne hatte ich unter Stroh versteckt und das Zuleitungskabel und den Trafo unter Tannenzweigen. Es sah aus wie ein kleines Feuerchen, das für bescheidene Wärme sorgte, und auf diese Weise machte der Stall einen sehr realistischen Eindruck. Der einzige Schmuck war am Dachfirst der Weihnachtsstern. „Authentisch“, würde man neuhochdeutsch sagen, aber dazu neigen wir Eltern nicht. Wir nennen es eher die Größe der Bescheidenheit.

Den Kindern ist dieser ideelle Wert noch nicht klarzumachen. Sie lassen sich leicht von Äußerlichkeiten täuschen, zum Beispiel von dieser Porzellankrippe, die seit dem 1. Advent bei einem Kaffeeröster angeboten wurde. Vor allem Julia hatte immer wieder versucht uns zum Kauf dieser Krippe zu bewegen. Unsere alte Krippe sei Schrott, argumentierte sie. Alles tausendmal geklebt. Irgendwie langweilig. Total verstaubt. Die aus Porzellan sei viel farbenfreudiger. Die Maria aktueller, wie sie es nannte, und der Josef männlicher, nicht so schlaff und abgearbeitet. Außerdem: alles spülmaschinenfest.

Das konnte uns natürlich nicht überzeugen. Julias Zimmertür hat sehr darunter gelitten, unsere Geduld auch, aber wir haben durchgehalten. Dass Julia ab sofort unsere schöne Familienkrippe keines Blickes mehr würdigen würde, nahmen wir auf uns.

Vollkommen neu für uns war allerdings, dass Justus sich mit seiner älteren Schwester solidarisierte. Auch er, der sich ein Handy gewünscht hatte, was in seinem Alter wirklich fehl am Platz ist, schien erheblich beleidigt. Er nahm weder die kleine Geige und das dazugehörige Lehrbuch in Augenschein noch die Krippe. Meinem versöhnlich gemeinten Hinweis, dass der Stall diesmal sogar ein kleines Feuerchen habe, an dem sich die Jesus-Eltern ein bisschen aufwärmen konnten, und dass er sich das doch mal ansehen möge, begegnete er mit der Bemerkung, auch er sehe sich diese Krippe nie wieder an. Seinetwegen, sagte er wörtlich, könne sie ruhig abbrennen. Julia kicherte. Hätte meine Frau uns in diesem Augenblick nicht ins Esszimmer gerufen – „Die Pastetchen sind fertig!“ – naja…

Meine Frau war übrigens die einzige, die beim Essen fröhlich das Gespräch suchte. Ich selbst sezierte stumm meinen Blätterteig und schob die Spargelabschnitte und das Hühnerfleisch auf meinem Teller hin und her, weil ich aus irgendeinem Grund zuviel Worcester-Sauce darüber geschüttet hatte. Justus war sichtlich froh, dass er trotz seiner unverschämten Bemerkung verschont worden war, und Julia spielte die Selbstbewusste. „Wenn ich von Oma Geld bekomme, kaufe ich mir die Krippe selbst und stelle sie in meinem Zimmer auf!“, sagte sie.

Schmecken tat es so richtig, glaube ich, niemandem von uns.