Gemeindefest - Dietrich Schilling - E-Book

Gemeindefest E-Book

Dietrich Schilling

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Beschreibung

In der Kirchengemeinde St. Lukas deutet sich ein Skandal an, die sehr engagierte und bei vielen beliebte Pastorin will sich von ihrem wesentlich älteren Mann trennen, weil sie sich in einen jüngeren verliebt hat. Dazu bekennt sie sich öffentlich. Doch nicht alle Gemeindemitglieder wollen das tolerieren. Eine Pastorin sollte moralisch unantastbar sein, sagen manche. Und kurz vor dem alljährlichen Gemeindefest tauchen im Umfeld der Kirche anonyme, hässliche Schmierereien auf, 2. Mos. 20,14 (Du sollst nicht ehebrechen). Nach dem Gottesdienst am Tag des Gemeindefestes wird die Pastorin vermisst.

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Seitenzahl: 254

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

1

Lisa stutzte. Sie hatte ihn gefragt, aber Jan hatte nur zögernd geantwortet. ‚Wenn du meinst’, hatte er gesagt. Dann hatte er sich ihr zugewandt und sie, auf den Ellbogen gestützt, angeschaut.

Lisa lag auf dem Rücken und starrte hinauf zur Zimmerdecke. Sie spürte seinen Blick; ihn zu erwidern, war sie aber nicht bereit. Irgendetwas hielt sie zurück.

So lagen sie eine ganze Weile, beide schweigend, beide abwartend. Es war spät. Aus der Fontaneallee drangen nur noch wenige Geräusche hinauf in den zweiten Stock, ins halb dunkle Zimmer. Ein Auto fuhr vorbei. Ein paar Menschen, die sich unterhielten, zogen vorüber. Sonst nichts. Das CAFÈ gegenüber hatte längst geschlossen.

Der Geruch war noch da. Er war schwächer geworden mit den Wochen, doch es riecht noch immer nach Farbe, dachte sie. Gut, dass sie für den kleinen Flur nicht den hellen Teppichboden ausgesucht hatte; die Wände waren weiß genug. Aber die Frage nach einer passenden Garderobe war noch nicht gelöst. Am einfachsten wäre es vielleicht, ein hübsches Tuch aufzuhängen und darüber nur ein paar passende Haken in die Wand zu schrauben.

Unter der Decke suchte Jans Hand nach ihrer und strich dann langsam, denn er war sich seiner Sache nicht sicher, den Arm hinauf. Hielt inne über der Mulde ihres Ellbogens, wobei die Fingerspitzen, während sie sich über die zarte Haut bewegten ohne sie wirklich zu berühren, immer dieselbe Frage zu stellen schienen.

So verging eine lange Minute.

„Ich möchte nicht“, sagte Lisa schließlich und guckte ihn, Verständnis suchend, an.

Sofort zog Jan seine Hand zurück.

„Nicht böse sein.“

„Nein.“

Lisa drehte sich auf die Seite, ihm zu. Legte ihre Hand für einen kurzen Moment besänftigend auf seinen Arm. Lächelte, wie um Verzeihung bittend, und zog sich die Decke über die Schulter. Zog die Beine an. Und dachte wieder, genau wie er, an das Gespräch, das sie am Nachmittag geführt hatten. „Bis dass der Tod euch scheidet“, hatte die Pastorin gesagt, als sie über die Trauzeremonie gesprochen hatten. Und Lisa meinte, in Jans Augen ein Zurückweichen, etwas wie Abwehr wahrgenommen zu haben.

„Dass sie uns gleich das Du angeboten hat ...“ Sie schien diesen Augenblick noch einmal nachzuerleben.

„Ja, das ist komisch.“

„Nein, komisch finde ich das nicht. Sie ist so, glaube ich. Sie sucht Nähe.“

„Aber sie kennt uns doch gar nicht. Ich jedenfalls habe zum ersten Mal mit ihr gesprochen. Da bleibt man doch erst mal ein bisschen auf Distanz, findest du nicht?“

Das ist Jan, dachte Lisa. Immer so vorsichtig. Bevor er etwas von sich selbst preisgibt, will er zuerst wissen, wer der andere, der Mensch ihm gegenüber ist. Von Anfang an war es so. Als sie sich kennengelernt hatten, auf der Party einer Kommilitonin, war das ihr erster Eindruck von ihm. Zunächst war sie ein wenig auf Distanz gegangen. Aber dann hatte sie gemerkt, dass es keine Aufdringlichkeit war. Und je länger sie miteinander gesprochen hatten, desto wohler hatte sie sich gefühlt. Sie hatte sich nur gewundert, was er alles von ihr wissen wollte. Aber mit seiner Art zu fragen hatte er sie auf eine Weise berührt, wie sie es noch nie erlebt hatte. Er fragt wie ein guter Psychologe, hatte sie gedacht, aber nicht, um etwas hinter mir aufzuspüren. Er meint wirklich mich. Er will wissen, wer ich bin.

„Mir hat es gut getan“, sagte Lisa. „Wir haben so viel von uns erzählt. So viel Persönliches. Du doch auch. Warum sollte sie uns nicht das Du anbieten?“

Jan schwieg. Selbst im Bett, mir so nah, ist er sich treu! Lisa gingen die vielen Momente durch den Kopf, in denen ihr seine Gradlinigkeit aufgefallen war. Seine unbeirrbare Besonnenheit. ‚Jan wird bestimmt Vorstand der Ärztekammer‘, hatte mal irgendjemand gesagt. Das sollte nicht mehr sein als eine kleine, neckische Bemerkung am Rande. Doch Lisa, die alles, auch das Nichtgesagte aufnahm, hatte mehr aus dieser Anspielung herausgehört. Zuerst, ja, die Anerkennung, aber dann auch die Ironie. Und heimlich teilte sie diese versteckte Einschätzung.

Weit wichtiger war ihr aber immer die Klarheit, mit der Jan sprach und handelte. Sie gab ihr Rückhalt, Schutz, Geborgenheit. Das hatte sie von Anfang an gespürt. Zwar hatte sie nicht nur einmal darüber nachgedacht, ob sie sich mit ihrer stillen Bewunderung nicht zu einem typischen Weibchen machte, aufblickend zu ihm, dem Mann. Doch sie konnte sich an keine Situation erinnern, in der er sie nicht ernst genommen hatte. Nie hatte sie einen Grund gesehen, seinen Respekt, seine Achtung in Zweifel zu ziehen.

„Das Duzen geht heute viel zu schnell. Vielleicht sorgt es tatsächlich für mehr Nähe. Aber man muss sich doch überlegen, wen man duzt. Der Moment, in dem man sich einander nahe fühlt, kann schnell vorbei sein. Und später bereut man es vielleicht.“

„Vielleicht. Aber es kann auch sehr befreiend sein.“

Lisa richtete sich etwas auf, stützte sich auf den Ellbogen.

„Gerade in so einem Gespräch, wie wir es heute geführt haben.“ Sie griff nach seiner Hand. „Als du vor der Pastorin gesagt hast, dass du mich … dass Du mich liebst …“

Sie wich seinem Blick aus, weil sie einen Augenblick lang befürchtete, dass ihr nun, verspätet, doch noch die Tränen kämen. Jan gab den Druck, den ihre Hand ausübte, genauso innig zurück. „Wenn ich dich nicht liebte, würde ich dich ja nicht heiraten. Insofern ...“

Als er den begonnenen Satz nicht weiter fortsetzte, sondern Lisa ein wenig verschämt anschaute, tippte sie ihm mit dem Zeigefinger auf die Nasenspitze. „Was: insofern? Sei doch nicht so ... nicht so korrekt.“

„Naja, insofern habe ich der Pastorin eigentlich nichts Neues oder Intimes verraten. Ich habe ja dich gemeint, nicht sie.“

Lisa ließ sich wieder zurückfallen auf den Rücken. „Mir hat es jedenfalls gut getan, von uns zu erzählen. Du bist manchmal so schweigsam, Jan, so still. Und es war so wunderbar, wie du heute über mich geredet hast. Verstehst du das?“

„Ja.“

„Wie du von deinem Besuch in meiner Klasse erzählt hast. Dass du gestaunt hast, wie liebevoll und zugleich fordernd ich mit den Kindern umgehe. Das hat mich gerührt.“

„Ja ...“

Das Gespräch stockte. Beide hatten sie wieder die Momente des Traugesprächs vor sich. Und die Stimme von Heike Osterweil, der Pastorin, die sie behutsam nach ihrem bisherigen Leben gefragt hatte. Die sich so begeistert gezeigt hatte von ihrer Arbeit in der Gemeinde. Jan hatte vieles davon weggefiltert, wie er es nannte. Lisa dagegen hatte sich schnell anstecken lassen von der offensichtlichen Leidenschaft dieser Frau. Hatte sogar mit dem Gedanken gespielt, ob Heike eine Freundin für sie sein könnte. Obwohl sie fast 10 Jahre älter war und zwei Kinder hatte.

Erst vor drei Monaten war Lisa nach Hause zurückgekehrt. Ihr Studium war abgeschlossen, und sie hatte, ganz unerwartet, in ihrer Heimatstadt eine Stelle als Referendarin bekommen. Dass ihr auch noch diese wunderbare Wohnung in der Nähe ihrer Eltern fast in den Schoß gefallen war, damit hatte sie nicht rechnen können; sie wusste ja nicht, dass ihr Vater ein bisschen an diesem Glück ‚gedreht‘ hatte. Das Examen, die Referendarsstelle, drei Zimmer in dieser schönen Straße und bald die Hochzeit: manchmal ging ihr das alles zu schnell, zu glatt.

„Hast du es eigentlich ernst gemeint, als du so nebenbei erwähnt hast, dass dir meine Eltern gefallen?“

Jan zögerte. „Warum sollte ich das nicht ernst gemeint haben?“

„Weil mein Vater so gewissenhaft ist, so penibel. Weißt du doch. Als müsste er sich um alles kümmern und dürfte nicht davon ablassen, bis es geregelt ist. Er fühlt sich für alles verantwortlich. Und wenn andere nicht so sind wie er, fühlt er sich getroffen. Manchmal, wenn wir bei meinen Eltern sind, habe ich ein bisschen Angst, dass du etwas Falsches sagen könntest …“

„Was denn?“

„Ach Jan, du weißt doch, dass du manchmal ein bisschen direkt bist ...“

„Und dass dein Vater dann nichts mehr von mir halten könnte …“

„Nein, das nicht. Aber manchmal habe ich den Eindruck, dass du eine Situation zu schnell beurteilst. Du willst immer alles eindeutig geklärt haben und in Kästchen einteilen. Als ob du nie den Überblick verlieren wolltest. Wenn das nicht geht, bist du unzufrieden.“

„Aber dein Vater ist doch genauso“, warf er ein.

Lisa schaute ihn an. Und als er schließlich anhob sich genauer zu erklären, noch ohne eigentlich zu wissen, was er sagen sollte, fiel sie ihm ins Wort. ‚Wenn du meinst‘, hatte er gesagt! Und auf einmal wusste sie wieder, was ihr keine Ruhe gelassen hatte.

„Du“, sie zog das ‚u‘ zärtlich in die Länge und stupste ihn noch einmal mit dem Zeigefinger auf die Nasenspitze. Jan wusste sofort, dass ihre Angewohnheit, die er so gern hatte, in diesem Fall eine Ungeduld anzeigte. „Sei ehrlich: warst du überrascht von dem Satz ‚Bis dass der Tod euch scheidet‘“?

Obwohl Jan ahnte, dass ihr seine Antwort nicht gefallen würde, sagte er ohne zu zögern: „Ehrlich gesagt: ja!“

„Warum?“

Jan dachte lange nach, verwarf eine Antwort nach der anderen und meinte schließlich: „Weil wir doch heute noch gar nicht sagen können, wie sich alles entwickelt.“

Mit einem Ruck richtete Lisa sich wieder auf und lehnte sich an die Rückwand des Bettes.

„Nein, das können wir nicht. Aber wir gehen doch nicht davon aus, dass wir uns irgendwann trennen. Oder tust du das?“

„Nein, natürlich nicht. Aber wissen können wir es nicht.“

„Das stimmt natürlich. Es macht mich aber traurig, überhaupt an die Möglichkeit zu denken.“

„Lieschen!“ Jan beeilte sich, die drohende, allzu große Ernsthaftigkeit aus ihrem Gespräch zu nehmen; die Verniedlichung ‚Lieschen’ benutzte er nur in zärtlichen Momenten. Lisa ließ es zu, dass er zu ihr heranrückte und sich an sie schmiegte; das Gefühl, das er dabei empfand, übertrug sich auf sie.

„Willst du es denn nicht sagen?“

Er dachte darüber nach, was diese Formel ursprünglich zu bedeuten hatte, ‚Bis dass der Tod euch scheidet’, aber mehr als eine ungefähre Ahnung kam ihm dabei nicht in den Kopf. Es musste aber, so glaubte er, damit zusammenhängen, dass die Frau an den Mann gebunden war. Ja: nur die Frau an den Mann, nicht er an sie. Das wollte er aber auf gar keinen Fall sagen.

„Ich muss darüber nachdenken“, antwortete er. Und fügte nach einer Weile hinzu: „Eigentlich hat sie nur dich dabei angesehen. Sie hat meine Antwort ja gar nicht abgewartet.“

„War das so? Hast du das vermisst?“

Die unterschwellige Enttäuschung, die aus der scheinbar so nebenbei dahergesagten Bemerkung klang, kannte Lisa noch nicht. Sie passte nicht zu dem Bild, das sie von Jan hatte. Sie klang, als läge da doch ein winziger Schatten auf seiner Selbstsicherheit.

„Dir fällt das alles viel leichter, diese Art Gespräch. Du bist so offen, so unkompliziert. Das mag ich ja auch so an Dir, weil das etwas ist, das mir fehlt. Aber ...“

Lisa wartete nicht lange.

„Was ‚aber‘?“, fragte sie.

„Ich hatte das Gefühl, dass ihr beide miteinander gesprochen habt und ich so ... so eine Art drittes Rad am Wagen war.“

„Versteh ich nicht!“

„Naja, ihr habt euch sofort gut miteinander verstanden.“

„Fandest du sie denn nicht nett?“

„Doch, natürlich. Sie hat sich dann ja auch dafür interessiert, was ich beruflich mache und so; das war alles gut. Aber es war anders als bei dir. Als du von deinen Schülern erzählt hast, hat sie ganz anders zugehört. Sie wollte viel mehr wissen von dir. Sie hat nachgefragt. Bei mir war da so eine kleine Distanz. Anders kann ich es nicht sagen. Und dann…“

Jan unterbrach sich selbst. Das hatte Lisa selten erlebt.

„Dann …“

„Ja?“

Es war dunkel geworden im Zimmer; trotzdem meinte Lisa, in Jans Gesicht eine Anstrengung zu entdecken. Den Versuch, eine unsichtbare Hürde zu überwinden. Sie stupste ihn noch einmal auf die Nasenspitze.

„Sie hat so oft von Gott gesprochen!“

Damit hatte Lisa nicht gerechnet.

„Ich kann damit nicht soviel anfangen.“

Ganz plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie und Jan nie ernsthaft darüber geredet hatten, warum sie kirchlich heiraten wollten. Für sie war es immer selbstverständlich gewesen.

„Bei uns zu Hause hat Kirche kaum eine Rolle gespielt. Und wenn ich mal in einem Gottesdienst war, hatte ich jedes Mal das Gefühl, dass alles so verkrustet und leblos ist. Immer dieselben Formeln und Strukturen, als hätte man Angst vor Neuem. Oder davor, neu nachzudenken. Die Sprachlosigkeit untereinander. Predigten, bei denen ich mich behandelt fühlte wie ein Kind. Kein wirklicher Bezug zu unserem Alltag. Und dann, andererseits, die Liebe Gottes, die bei jeder Gelegenheit so heraufbeschworen wird, die man aber nicht wirklich spürt. Ich jedenfalls nicht. ‚Gottes Liebe‘, darunter kann ich mir nicht viel vorstellen.“

Jan suchte nach den richtigen Worten.

„Vielleicht ist es mir deshalb immer ein bisschen unangenehm, wenn in meinem Beisein das Wort Gott fällt. So als würde ich auf ein Defizit bei mir selbst gestoßen. Oder als würde an mein Gewissen appelliert.“

Lisa spürte, dass sie Jan sehr ernst nehmen musste mit dem, was er da sagte. „Hast du denn gar keine Vorstellung von Gott?“

„Doch: alter, gütiger Mann mit grauen Haaren und Bart!“

Jan lachte, doch das Lachen klang gezwungen.

„Nein, so natürlich nicht“, nahm er seine Ironie zurück, „ich hab mir noch nie ernsthafte Gedanken darüber gemacht. Und du?“

„Auf jeden Fall ist Gott für mich nicht als Person vorstellbar. Eher als eine Idee. Als ein Vorschlag.“

„Ein Vorschlag?“

„Ja, wie wir leben sollten. So eine Art ethisches Modell.“

Beide schwiegen. Jan war erleichtert; er hatte ausgesprochen, was ihn beschäftigt hatte. Und Lisa war überrascht. Sie glaubte ihm, aber zugleich hatte sie das Gefühl, dass das nicht alles war. Sie versuchte, sich das Gespräch mit der Pastorin in Erinnerung zu rufen und was Jan wohl wirklich darüber dachte.

„Wenn ich mich richtig erinnere, hat Heike doch gesagt, dass Zweifel an Gott oft durch ein paradiesisches Gottesbild entstehen. Oder ein naives.“

Und dabei stieß sie wieder auf die Formel, mit der Jan nicht glücklich zu sein schien.

„Ich finde auch, dass man im Augenblick des größten Glücks nicht an den Tod denken möchte“, sagte sie. „Aber du kannst es doch auch anders sehen. Ich glaube, dass ich mir in dem Moment wünsche, dass ich lange, lange mit dir zusammensein werde. Und das macht mich glücklich.“

„Das weiß ich“, antwortete Jan, „mir geht es doch genauso. Aber trotzdem kann ich mir nicht vorstellen, dazu einfach ‚ja‘ zu sagen, obwohl ich nichts lieber möchte als immer mit dir zu leben. Dieser Satz kommt mir so schwer vor, und dazu einfach nur schlicht ‚ja‘ zu sagen, das passt nicht zusammen. Wir können doch beide nicht wissen, wie sich unser Leben entwickelt. Und trotzdem versprechen wir, ‚bis dass der Tod uns scheidet‘“?

Er hat ja recht, dachte Lisa, aber eben auf seine logische Art. Sie betrachtete sein Gesicht. Jan hatte sich wieder auf den Rücken gelegt und die Augen geschlossen. Er atmete ruhig. Und so, wie er da lag, konnte sie sich nicht vorstellen, dass es wegen dieses kleinen Satzes Schwierigkeiten geben würde.

Nach einer Weile ließ sie sich ebenfalls auf den Rücken hinabgleiten und griff nach seiner Hand. Plötzlich war sie müde. Aber sehr froh. In drei Monaten würden sie ein großes Fest feiern. Freitags die standesamtliche Hochzeit, nur mit ihren Familien, und zwei Tage später die in der Kirche. Und danach der Abend mit allen Freunden und Verwandten. Sie sah die Kirche vor sich, in der sie schon mit ihren Freundinnen zum Kindergottesdienst gegangen war. So lange war das noch gar nicht her. Und jetzt auf einmal Braut …

„Jan?“, sagte sie leise. Aber Jan war eingeschlafen.

2

Die Lukas-Gemeinde lag nahe am Stadtzentrum, in der Mörikestraße, einem sozial gemischten Viertel. Von Lisas Wohnung in der Fontaneallee zu Fuß 10 Minuten entfernt. Sie präsentierte sich unauffällig und zurückgezogen hinter einer mannshohen Buchenhecke, die sie von der Straße trennte. Manche lästerten darüber, aus gutem Grund! Denn auch ohne bösen Willen hätte man die Kirche durchaus als hässlich bezeichnen können, ohne dafür kritisiert werden zu müssen: sie war ein in den ersten Nachkriegsjahren gebauter, hell getünchter, im Lauf der Zeit aber grau und grünlich gewordener Betonklotz mit Fenstern wie Bullaugen und einem Glockenturm, den irgendein Architekt mit dunklen Holzbohlen verkleidet hatte. Von der Straße aus gesehen links daneben, jedoch ein paar Meter zurückgesetzt, das Gemeindehaus. Auch das aus Beton. Im Erdgeschoss Kindergarten, Büro- und Gruppenräume, im ersten Stock ein Gemeindesaal, ebenfalls im Flair der 50er Jahre. Flohmarkthändler hätten sich, wenn überhaupt, nur für die gläsernen Leuchten interessiert, die in zwei Reihen von der Saaldecke herabhingen. Auch die große Küche daneben war stark in die Jahre gekommen, dank aufopferungsvoller Pflege eines ehrenamtlichen Damen-Geschwaders aber immer noch in Betrieb. Der einzige Lichtblick des ganzen Ensembles war die Grüne Hölle, wie der große Garten von allen genannt wurde. Er umwucherte Kirche und Gemeindehaus und blühte in Frühling und Sommer so eindrucksvoll, dass selbst die Ordnungsliebe des Küsters nichts gegen das wunderbare Durcheinander von Blumen, Büschen und Bäumen ausrichten konnte. Allein die große Rasenfläche wurde regelmäßig gemäht.

Das Aushängeschild der Gemeinde war ihre gesellschaftliche Aktivität. Im Stadtteil war sie so etwas wie ein kleines, kulturelles Zentrum. Besonders beliebt waren die ‚Offenen Dialoge‘, zu denen an den Donnerstag Abenden regelmäßig Persönlichkeiten aus dem Stadtteil eingeladen wurden. Der Einsatzleiter der Feuerwehr etwa. Oder die Direktorin des Gymnasiums. Sie durften sich jeweils 10 Minuten lang vorstellen und mussten dann Fragen des Moderators und aus dem Publikum beantworten. „Waren Sie selbst schon einmal richtig krank?“ Das hatte ein älterer Herr einmal die Chefärztin des Krankenhauses gefragt. Aus dem Ton, in dem er seine Frage stellte, konnte man leicht einen gewissen, leicht gehässigen Vorbehalt heraushören. Und man hätte eine Stecknadel fallen gehört, als die Ärztin, eine Frau Anfang 50, ihn daraufhin erschrocken anguckte und lange nachdachte, ohne etwas zu sagen. Diese oder eine ähnliche Frage hatte ihr wohl noch niemand gestellt. Als sie endlich antwortete, tat sie das sehr leise. Sie erzählte von dem Krebs, den sie vor einigen Jahren gehabt hatte. Welche Angst sie gehabt habe, eine Brust zu verlieren. Dass ihr Mann ihr Halt und Kraft gegeben habe, aber dass sie immer noch zur Nachsorge müsse und jedes Mal wieder Angst davor habe, dass der Krebs zurückkehre. Dieser Abend war immer noch vielen Zuhörern im Gedächtnis. Und er hatte dazu geführt, dass das Krankenhaus einen ausnehmend guten Ruf genoss. „Da wird man wie ein Mensch behandelt“, hieß es.

Bei den „Offenen Dialogen“ erfuhr man vieles, was nirgendwo zu lesen oder zu hören war. Das Besondere war eine Art öffentliche Intimität, die jedes Mal entstand, ein Gefühl der Zusammengehörigkeit. Auf diese Weise sorgte der Gemeindevorstand geschickt für eine persönliche Vernetzung in der Nachbarschaft. Im Anschluss an manche dieser Dialoge hatten sich sogar Initiativen gebildet. Das ‚Hilfsbüro‘ zum Beispiel. Dieses ehrenamtlich geführte ‚Büro‘ stellte Kontakte her zwischen Menschen, die etwas Bestimmtes suchten, etwa ein Möbelstück oder einen gebrauchten Kinderwagen oder eine handwerkliche Fähigkeit, und denen, die das Gesuchte anzubieten hatten. So gut dieses ‚Büro‘ funktionierte, so blind war es aber in Hinsicht auf die eigenen Bedürfnisse der Gemeinde, etwa was eine Erneuerung der Bestuhlung im Gemeindesaal betraf. Das ständige Scharren und Poltern der Stühle, das auf ihr biblisches Alter zurückzuführen war, war ein häufig diskutierter Beweis dafür. „Es gibt Wichtigeres“, erklärte Gert Winter jedes Mal, wenn irgendjemand mal wieder murrte über diese anscheinende Unveränderlichkeit.

Gert Winter, das war der Vorsitzende des Kirchenvorstandes, dessen Ruf dem der Gemeinde nur wenig nachstand. Ein ehemaliger Finanzbeamter, der seit einigen Jahren im Ruhestand lebte. „Ich will das Schiff auf Kurs halten“, war seine Devise, „aber schwerer See kann man ausweichen.“ Die Fähigkeit zu überzeugen oder bei Konflikten auszugleichen war tatsächlich nicht seine Stärke. Sobald ihm die Argumente ausgingen und er in Schwierigkeiten geriet, zog er seine ‚Gumsters‘ aus der Tasche und schob sich unauffällig einen in den Mund. ‚Gumsters‘, das waren winzige Kaugummis, die nach Mangos rochen; woher er die bezog, hatte noch niemand herausbekommen. Unschätzbar für die Gemeinde war jedoch sein Geschick, Kontakt zu den Geschäftsleuten der Umgebung herzustellen und zu pflegen. Wenn Winter zum Neujahrsempfang der Gemeinde einlud, kamen sie fast alle. Nicht allein, um den Dank des Kirchenvorstands für ihre Spenden entgegenzunehmen, sondern auch, um sich sehen zu lassen. Diese Neujahrsempfänge hatten sich nämlich mit den Jahren zu einem Treffen entwickelt, auf dem man unbedingt präsent sein musste, wenn man auf sich aufmerksam machen wollte. Und wer guten Kontakt zu St. Lukas hielt, war anerkannt im Stadtteil.

Besonderer Antrieb für das bewegte Leben in der Gemeinde war seit zwei Jahren aber die Pastorin, Heike Osterweil. Eine Frau etwas über 30, verheiratet mit einem wesentlich älteren Architekten, mit dem sie zwei Kinder hatte. Sie war es, die die ‚Offenen Dialoge’ ins Leben gerufen hatte. Ihre Predigten, bei denen man immer mit Überraschungen rechnen musste, zogen viele Besucher in die Gottesdienste, und im anschließenden Kirchencafé wurden die Thesen der Pastorin oft heftig diskutiert. Für reichliche Kontroversen hatte auch ihre jüngste Initiative, regelmäßig ökumenische Gottesdienste zu feiern, gesorgt. Heike Osterweil jedenfalls war schon bald nach ihrer Einstellung das unbestrittene, wenn auch nicht unumstrittene Zentrum von St. Lukas.

Seit Monaten heftig umstritten war zum Beispiel ihr Versuch, eine mobile Tonanlage anzuschaffen. Besseres technisches Equipment, das sowohl in der Kirche als auch im Freien zu verwenden wäre. ‚Sie will sich bloss an die Jugend ranschmeißen!“, hielten ihr einige ältere Kritiker entgegen und dachten dabei an die ihrer Meinung nach völlig indiskutablen Auftritte einer kleinen Band ehemaliger Konfirmanden. ‚Die Jugend gehört genauso zur Gemeinde wie die Senioren‘, hatte die Pastorin darauf geantwortet. Woraufhin Gerhild Runde, Mitglied des Kirchenvorstandes, irgendetwas vom 23. Psalm als Rap gemurmelt hatte. ‚Und? Was spricht dagegen?’, wollte die Pastorin wissen, hatte aber keine Antwort bekommen.

Was sie sich vorgenommen hatte, versuchte sie zu ende zu bringen. Allerdings verführte sie ihr Engagement manchmal dazu, ungeduldig, ja: undiplomatisch aufzutreten. Dass sie dem einen oder anderen damit auf die Nerven fallen konnte, wusste sie; das hinderte sie aber nicht daran, ihr Ziel konsequent zu verfolgen. Hin und wieder wurde sogar getuschelt, dass sie ihre Gemeinde mehr liebe als ihre Familie, aber warum es so sei und woher man das wissen wollte, dazu wollte sich niemand klar äußern.

Hier in St. Lukas war Lisa Anlass getauft und konfirmiert worden. Hier war sie zum Konfirmandenunterricht gegangen, damals noch bei einem älteren Pastor, der längst pensioniert war. Ihre Eltern, der Vater Rektor der Grundschule Wielandweg im selben Stadtteil, die Mutter Bibliothekarin, hatten über die Zahlung ihrer Kirchensteuern hinaus immer nur das Notwendige getan, um nicht als ‚kirchenfern‘ zu gelten. Ab und zu der Besuch eines Gottesdienstes oder einer Veranstaltung und selbstverständlich der des Neujahrsempfangs, das reichte ihnen. Allein und ohne besondere elterliche Aufforderung, hatte Lisa als Kind und später als Jugendliche aber nie festen Anschluss an die Gemeinde gefunden. Die Spielnachmittage und Singabende, die der Pastor und die Diakonin anboten, gefielen ihr nicht; es steckte immer etwas dahinter, das sie nicht benennen konnte und das sie abschreckte.

Das änderte sich schlagartig, als sie aus dem Studium zurückgekehrt war in ihre Heimatstadt. Denn als sie dort nach langer Zeit zum ersten Mal wieder einen Gottesdienst in St. Lukas besuchte und eine Predigt von Heike Osterweil hörte, war sie beeindruckt. Das war nicht mehr die Lukas-Gemeinde, die sie aus ihrer Konfirmandenzeit kannte.

„Gott hat die Welt nicht geschaffen, damit wir sie verbrauchen!“, verkündete die Pastorin in dieser Predigt. Sie sagte es mit einem Lächeln und nicht vorwurfsvoll oder gar mit Schaum vor dem Mund, sondern als handele es sich um die größte Selbstverständlichkeit. „Doch genau das tun wir. Wir haben uns die Erde untertan gemacht. Nur anders, als es von Gott gedacht war.“

Solche Töne hatte Lisa noch nie gehört. Woran sie sich erinnern konnte, waren Orgelklänge, die sich von der Empore auf die Gläubigen unten im Kirchenschiff stürzten und sie vor sich herjagten, vor denen man sich wegducken wollte, die kein Entkommen zuliessen, die sie prügelten und zurechtwiesen. Die ihnen ihre Sünden vorhielten und die Erinnerung quälten, um sich dann auf einmal in höchste Piepser zu verwandeln, als hätten sie eingesehen, dass sie zu hart gewesen seien. Aber auch da hatte sich etwas verändert, seit Ännchen Taste Kantorin geworden war.

Als hinten im Kirchenraum ein Kind anfing zu weinen und die Mutter es nicht beruhigen konnte, geschah, was Lisa noch nie erlebt hatte: die Pastorin unterbrach ihre Predigt. „Einen Augenblick!“, bat sie die überraschte Gemeinde, verließ die Kanzel, ging durch den Mittelgang nach hinten und wandte sich an die Mutter. „Sie müssen sich nicht dafür schämen, dass Ihr Kind weint“, sagte sie leise, so dass niemand außer der Mutter selbst es hören konnte. „Es langweilt sich nur; das ist ganz normal.“

Die Gemeinde hatte sich beinahe geschlossen umgedreht um zu beobachten, was da vor sich ging; so etwas hatte es in St. Lukas noch nie gegeben.

„Ich habe selbst zwei Kinder“, sagte die Pastorin, „ich weiß, dass das nicht immer einfach ist. Deshalb freue ich mich, dass Sie trotzdem in den Gottesdienst kommen, obwohl es nicht leicht ist für Sie. Wissen Sie was? Ich werde mit dem Kirchenvorstand darüber nachdenken, einen Spielkreis für die Kinder einzurichten. Während der Gottesdienste.“

Als die Mutter sie scheu, aber dankbar anlächelte, lächelte die Pastorin zurück. Ging dann durch den Mittelgang wieder nach vorne, die paar Stufen hinauf auf die Kanzel und setzte ihre Predigt fort.

„Gott hat uns die Erde anvertraut. Wasser zum Leben. Luft zum Atmen. Und genügend fruchtbares Land, um es zu beackern. Trotzdem gucken wir tatenlos zu, wenn tropische Wälder gerodet werden, um immer mehr Land für unsere fragwürdigen Bedürfnisse zu bekommen, nur damit unsere Industrien genügend Palmöl zur Verfügung haben und wir Fleisch essen können, soviel wir wollen. Lange Zeit hat keiner von uns wahrgenommen, wohin das führt. Da kann man niemand einen Vorwurf machen. Es gibt ja auch keine Institution, die uns das verbieten könnte. Noch nicht! Aber inzwischen wissen wir mehr. Ab sofort kann niemand mehr behaupten, er wisse nicht, wie und warum die Erde langsam schlapp macht. Wir wissen“, sie hob das Wort ‚wissen’ immer deutlich heraus und gab ihm damit eine gewissen Schärfe, „wir wissen, dass wir es nicht zuletzt selbst sind, die etwas ändern können. Jeder von uns kann versuchen, auf den Verbrauch von Kunststoffen zu achten und ihn, wo es geht, zu reduzieren. Jeder könnte auf einen Teil seines Fleischkonsums verzichten, ohne dass es ihm schadet. Das ist keine Frage des Gewissens oder des Glaubens, wie man meinen könnte, nur weil wir hier in einer Kirche sind. Es ist eine Frage der Vernunft. Diese Vernunft haben wir! Wir haben sie von Gott. Lasst uns dafür danken - und sie vor allem nutzen!“

Als die Pastorin die Kanzel verließ, war es sehr still in der Kirche. Und als Lisa, wie fast alle anderen auch, der Pastorin am Ausgang die Hand gab und ihr einen schönen Sonntag wünschte, spürte sie Wärme. Unausgesprochen war da eine Gemeinsamkeit. Doch Lisa dachte nicht daran, dass die Ursache dieses Gefühls für andere ein Grund zur Ablehnung sein könnte.

3

An einem Montagabend Ende Mai tagte der Vorstand der Gemeinde; am Morgen danach saß die Pastorin im Gemeindebüro. Es duftete nach frisch aufgebrühtem Kaffee.

„Sie haben sich ja viel vorgenommen“, sagte Frau Rückert, die Gemeindesekretärin, und spielte damit auf die Sitzung am Vorabend an. „Gottesdienst, Trauung und dann das Gemeindefest, das wollen Sie alles an einem Tag …“

Der Bürostuhl, auf dem Frau Rückert bewundernswert aufrecht saß, war im Laufe der Jahre schon mehrmals von Ehrenamtlichen repariert worden; nicht ein einziger von ihnen war gelernter Möbeltischler. Aber der Stuhl war ebenso heilig gesprochen und damit der Ewigkeit überantwortet wie das Porträt des Engels, das an der kahlen Wand hinter Frau Rückert hing. Vom ersten Tag an hatte es niemand so richtig gemocht. Doch wie im richtigen Leben war auch dieser Engel ‚unberührbar‘. Er stammte nämlich von einer wohlhabenden, alten Dame, die der Gemeinde sehr zugetan war und sie immer wieder mit größeren Geldzuwendungen unterstützt hatte. Diese Dame hatte die 90 längst überschritten und war vor einigen Jahren in ein Seniorenheim übergesiedelt. Allerdings befanden sich unter den wenigen Gegenständen, die sie aus ihrer privaten Wohnung hatte mitnehmen können, auch eine Staffelei und ein Koffer mit Ölfarben; auf ihr Hobby, das Malen, konnte sie nämlich nicht verzichten. Und so hatte sie dann bei einem der vergangenen Gemeindefeste eines ihrer Produkte, den Engel, überreicht: ein stark verhuschter, geheimnisvoller Nebel in zartrosa und himmelblau, aus dem zwei riesige, schneeweiße Flügel herausragten. Als sie das Bild feierlich überreichte, lag ein fast ebenso engelhaftes Strahlen auf ihrem Gesicht. Und sie hatte darauf gedrängt, ihr Geschenk sofort und ebenso feierlich im Kirchenbüro aufzuhängen. Niemand wollte da widersprechen. Und seitdem hatte auch niemand gewagt, den Engel infrage zu stellen oder gar abzuhängen, obwohl bei einer anonymen Umfrage alle sofort und ohne zu zögern dafür plädiert hätten.

„Stimmt“, entgegnete die Pastorin, „wahrscheinlich haben Sie recht. Das ist alles ein bisschen viel.“

Sie machte einen unruhigen, angespannten Eindruck auf die Sekretärin.

„Aber ich konnte doch schlecht ‚nein‘ sagen. Lisa Anlass hat sich diesen Termin so gewünscht, weil an dem Wochenende ihre beste Freundin aus den USA kommen kann. Und die kirchliche Trauung ist ihr wichtiger als die standesamtliche; es gibt nicht mehr allzu viele, die so denken. Außerdem möchte sie gerne im Gottesdienst heiraten, vor der ganzen Gemeinde, und anschließend mit Familie und Freunden und allen, die es möchten, im großen Saal feiern. Oder in der Grünen Hölle, wenn das Wetter gut ist.“

Frau Rückert kommentierte das nicht; sie dachte an das Protokoll der Vorstandssitzung, das sie noch schreiben musste.

„Kennen Sie die junge Frau?“, fragte die Pastorin. Sie sprach schnell, obwohl sie nicht in Eile war. Schnell sprechen und schnell denken, das waren ihre Markenzeichen. Dass sie nicht in jedem Fall auch ebenso schnell handelte, durfte man ihr nicht vorwerfen. Da mussten ja auch noch andere mitspielen. Aber von morgens bis abends steckte sie voller Pläne und Ideen, und nicht selten gelang es ihr, andere für etwas zu begeistern.

„Nein, das nicht. Aber ich weiß, wer sie ist. Ich kenne ihre Eltern. Den Vater jedenfalls, er ist Rektor der Grundschule Wielandweg; da geht meine Enkelin auch hin. Die Mutter kenne ich nicht, nur vom Sehen.“