Digitale Plattformen als Staaten - Nils Ole Oermann - E-Book

Digitale Plattformen als Staaten E-Book

Nils Ole Oermann

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Beschreibung

Gewaltaufrufe in den sozialen Medien, »Fake News«, Vorwürfe des wirtschaftlichen Machtmissbrauchs durch Tech-Giganten, deren Strategien zur Steuervermeidung und ihr anscheinend grenzenloses Sammeln von Daten lassen immer wieder Stimmen laut werden, die vor der wachsenden Bedeutung der digitalen Plattformen und ihrer Gefahr für die Demokratie warnen. In ihrem Buch widmen sich Moritz Holzgraefe und Nils Ole Oermann den Machtkonflikten zwischen Staaten und Plattformen. Sie zeigen, dass bestehende Gesetze angesichts der disruptiven Kraft der Digitalisierung kaum Schutz bieten, und erarbeiten eine Reihe von Lösungsvorschlägen für eine der größten Herausforderungen für unsere freiheitliche Gesellschaft.

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Seitenzahl: 540

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Moritz HolzgraefeNils Ole Oermann

Digitale Plattformen als Staaten

Legitimität, Demokratie und Ethik im digitalen Zeitalter

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2023

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Verlag Herder GmbH

Umschlagmotiv: © vladystock / GettyImages

E-Book-Konvertierung: ZeroSoft SRL, Timișoara

ISBN Print: 978-3-451-39932-9

ISBN E-Book (EPUB): 978-3-451-84996-1

ISBN E-Book (PDF): 978-3-451-84992-3

Inhalt

Vorwort

Einleitung

Kapitel 1: Der Schauplatz des digitalen Geschehens

I. Begründung und Besonderheiten von Plattformmacht

II. Plattformen versus traditionelle Marktdominanz

    1. Schlüsseltechnologien und -funktionen

    2. Datenmacht

    3. Fehlende Raumbindung

    4. Weitere Spezifika: Verflechtung, Kapitalstärke und Reputation

    5. Gesamtschau: Rolle und Bedeutung der Plattformen

III. Damoklesschwerter für Big Tech und ihre Fallhöhe: Wirtschaftslage, Regulatorik und neue Technologien

IV. Die Rechtfertigung staatlicher Herrschaft: von Demokratie bis Libertarismus

V. Die Grundlagen demokratischer Legitimation

    1. Input- vs. Output-Legitimation

    2. Öffentlichkeit

    3. Vertrauen

    4. Erste Bilanz

VI. Der Wertbegriff im analogen und digitalen Raum

Kapitel 2: Die Beziehungs-Trias zwischen Plattformen und Territorialstaaten

I. Plattformen als Teil des Territorialstaates

    1. Staatliche Verwaltung, Politik und Sicherheit

    2. Daseinsvorsorge und „Universal Services“: vom Gesundheitswesen bis zum Bildungssystem

    3. Legitimatorische Folgen

II. Plattformen als Risiko für den Territorialstaat

    1. Neujustierung von Öffentlichkeit

    2. Wissen ist Macht

    3. Faire, freie und geheime Wahlen als Grundlage demokratischer Legitimität

    4. Vernachlässigte Schutzpflichten

III. Plattformen als eigenständige Staaten

    1. Der Staatsbegriff nach Jellinek

    2. Staatsgebiet und „Digital Space“

    3. Ein neuer Volksbegriff

    4. „Staatsgewalt“ von Plattformen

    5. Ausblick: Auswirkungen von künstlicher Intelligenz

IV. Ergebnisse und Folgen: Demokratie vs. Libertarismus

Kapitel 3: Schlussfolgerung

I. Wie sollte der demokratische Territorialstaat reagieren?

II. Update-Zwang

    1. (Wieder-)Herstellung von Öffentlichkeit und einer hinreichenden Input-Legitimation

    2. Vertrauen und Aktualisierung der Output-Legitimation

III. Legitimität und Legitimation von Plattformmacht

    1. „Katholische“ Zielbilder als Legitimitätsideen der Plattformen?

    2. Legitimität durch Kompetenz

    3. Ausgestaltung legitimer Plattformmacht

Conclusio: Zehn Maßnahmen, die der demokratische Staat jetzt umsetzen sollte

Literatur

Anmerkungen

Über die Autoren

High tech runs three-times faster than normal businesses. And the government runs three-times slower than normal businesses.

So we have a nine-times gap.

Andrew Grove, Mitbegründer von Intel, 1995

Die am besten zu regieren befähigt sind, die sollten regieren.

Aristoteles um 330 v. Chr.

Vorwort

Im Jahr 1995 prägte das US-amerikanische Marktforschungsunternehmen Gartner einen Begriff, der seitdem regelmäßig bemüht wird, um den Lebenszyklus von Innovationen zu bewerten: den sogenannten Hype Cycle. Das Modell unterteilt den Lebenszyklus einer Technologie in fünf grundlegende Phasen, namentlich den „technologischen Auslöser“, den „Gipfel der überzogenen Erwartungen“, das „Tal der Enttäuschungen“, den „Pfad der Erleuchtung“ und das „Plateau der Produktivität“.

Die Kernthese dahinter lautet, dass jede Innovation diese fünf Phasen durchläuft und Nutzer wie Investoren daher weder überzogene Erwartungen an sie stellen sollten noch bei Rückschlägen dauerhaft im Tal der Tränen zu verharren bräuchten. Nun existiert das Internet, der globale Verbund von zusammengeschalteten Netzwerken, seit mehreren Jahrzehnten, sodass man annehmen dürfte, dass es bereits jede der fünf Phasen durchschritten hat. Zugleich ist der Prozess der Digitalisierung so vielfältig und dynamisch, dass ein ganzheitlicher und umfassender Blick auf die mit ihr zusammenhängenden Entwicklungen schlichtweg unmöglich ist. Lediglich ausgewählte, digital ausgelöste Veränderungen, die die Gesellschaft erlebt, können daher den unterschiedlichen Perioden zugeordnet werden. Soziale Medien etwa scheinen derzeit am Tiefpunkt des Cycle angekommen, wenn man die Diskussionen rund um Elon Musks Twitter-Erwerb (inklusive der jüngsten Umbenennung in „X“), den „Sturm auf das Kapitol“ in den USA im Januar 2021, samt der damit zusammenhängenden Rolle von Facebook & Co., sowie die nicht abreißen wollende Kritik an der Verbreitung von Fake News und Hate Speech betrachtet. Beim Thema generative künstliche Intelligenz (Stichwort: ChatGPT) ist man hingegen offenbar auf dem Erwartungsgipfel angelangt. Wie so oft liegt die Wahrheit in der Mitte. Was sich allerdings wie ein roter Faden durch die gesamte Debatte zieht, sind die Sorgen um die Auswirkungen, die all das auf den Territorialstaat im Allgemeinen und die Demokratie im Besonderen hat und künftig haben könnte.

Eine signifikante Rolle spielen dabei die großen digitalen Plattformen. Dass diese Plattformen beziehungsweise die sie tragenden Großkonzerne im Hinblick auf ihre ökonomische und gesellschaftliche Relevanz mit Staaten vergleichbar sind und einen entsprechenden Einfluss haben, ist mittlerweile fast ein Allgemeinplatz. Eher selten finden sich demgegenüber Beiträge, die sich im Detail mit den damit einhergehenden staats- und demokratietheoretischen sowie philosophischen Fragestellungen zur Legitimitätsgrundlage ihres Agierens auseinandersetzen. Konkreter gesagt damit, inwieweit die einzelnen legitimatorischen Säulen des (demokratischen) Staates von den Digitalplattformen neugestaltet, relativiert, angegriffen oder schlussendlich gar ausgehöhlt werden.

All dies soll Thema des vorliegenden Buches sein. Die besondere Herausforderung dabei war es, gleich mehrere Themenbereiche und Fachgebiete miteinander zu vereinen, insbesondere Technologie, Staatstheorie sowie Praktische Philosophie/Ethik. Unser Ziel ist es, den Lesern einen verständlichen Überblick über die technologischen Entwicklungen samt ihren demokratietheoretischen und gesellschaftlichen Zusammenhängen zu verschaffen, aber auch einschlägigen Experten einen Mehrwert zu liefern. Als Autoren sehen wir uns weder im Lager eines unerschütterlichen Fortschrittsglaubens verortet, der das Internet per se als ein Instrument der Selbstverwirklichung und Freiheit versteht, noch teilen wir die Meinung jener technologischen Dystopisten, die mit der Digitalisierung im Wesentlichen neue Instrumente wirtschaftlicher und staatlicher Kontrolle verbinden und am liebsten das Rad der Geschichte zurückdrehen würden. Gleichwohl ist ein Ergebnis dieser Arbeit die Erkenntnis, die Digitalisierung noch intensiver als bislang entlang eines freiheitlichen Werte- und Legitimitätsverständnisses gestalten zu müssen, solange dies noch möglich ist, statt sich in Anerkennung einer normativen Kraft des Faktischen mit verbleibenden, immer engeren Spielräumen abzufinden. Die hier behandelten digitalen Plattformmechanismen sind daher auch eher als beispielhaft und sinnbildlich für eine grundsätzliche Entwicklung zu verstehen, um die es uns im Kern geht.

Die Dynamik und Vielschichtigkeit des Themas bringen es mit sich, dass ein Anspruch auf Vollständigkeit und Tagesaktualität nur ein hehrer Wunsch bleiben kann. Das liegt auch an dem hier verfolgten internationalen Fokus. Bis Ende Juli 2023 wurden die aus unserer Sicht wichtigsten Ereignisse aufgegriffen.

Im Interesse vollständiger Transparenz: Nils Ole Oermann hat nicht nur über Jahre als Hochschullehrer Wirtschafts- und Digitalisierungsethik unterrichtet, sondern auch Ministerien wie Unternehmen zu digitalen Themen umfänglich beraten. Moritz Holzgraefe ist im Anschluss an seine medien- und digitalrechtliche Dissertation seit über einem Jahrzehnt in der Digitalwirtschaft tätig, insbesondere in verschiedenen Management-Funktionen des Axel Springer-Verlags, zuletzt als Leiter des Brüsseler Büros. Er ist zudem Präsidiumsmitglied des Bundesverbands Digitale Wirtschaft e.V. Dieses Buch steht uneingeschränkt unter dem Zielbild einer akademisch-sachlichen und fairen Auseinandersetzung mit der Materie ohne jegliche Beeinflussungsversuche oder gar Beauftragung Dritter. Überschneidungen zu aktuellen Regulierungsthemen lassen sich naturgemäß nicht vermeiden. Die Ausführungen geben ausschließlich unsere persönliche Meinung wieder, um eine der größten Herausforderungen für unsere freiheitlichen Gesellschaften präzise zu analysieren und Lösungsvorschläge zu erarbeiten.

Moritz Holzgraefe und Nils Ole OermannBrüssel und Oxford, im Juli 2023

Einleitung

Wir sind nämlich überzeugt, dass in Zukunft auch virtuelle Staaten entstehen und die virtuelle Landschaft der existierenden Staaten erschüttern werden.1

Eric Schmidt und Jared Cohen,leitende Google-Manager, 2013

Es ist nun schon zehn Jahre her, dass Eric Schmidt, damaliger Executive Chairman von Google, und Jared Cohen, Gründer von Google Ideas, dem einstigen Technologie-Inkubator des Konzerns,2 unter dem Titel Die Vernetzung der Welt (im Original: The New Digital Age) ihre Vision der Zukunft veröffentlichten. Auf rund 400 Seiten wird dort beschrieben, wie das Internet, „das größte Anarchismusexperiment aller Zeiten“, die Welt beeinflussen werde. Der „umfangreichste unregulierte Raum der Welt“ werde weiter wachsen und unser ganzes Leben (positiv) verändern:3 von unserer Identität, unseren Beziehungen bis hin zu unserer Sicherheit. Unternehmen wie Google, Facebook, Amazon oder Apple käme zukünftig weitaus mehr Macht zu, als es die meisten Menschen ahnten.4 Und zwei Regelsysteme stünden sich dabei dauerhaft gegenüber: das der virtuellen und das der physischen Welt.

Erweist sich diese Analyse von Schmidt und Cohen als zutreffend, so beschreibt sie zumindest für jede rechtsstaatliche Demokratie westlichen Zuschnitts ein existenzbedrohendes Problem. Denn in unseren europäischen Staatsgebilden, deren Gesetzgebungsbefugnis seit dem Frieden von Münster und Osnabrück (1648) gemeinhin an deren Grenzen endet, stellen globale IT-Konzerne, die ihre eigenen Regelsysteme nicht nur national, sondern notwendig international implementieren, nicht weniger als die Machtfrage aufgrund der damit verbundenen, notwendigen Systemkonkurrenzen. Was bedeutet in diesem Zusammenhang der Terminus „Systemkonkurrenz“? Wer danach machtpolitisch fragt, landet fast zwangsläufig bei Wladimir Iljitsch Lenin, der dies 1921 – freilich mit Blick auf die Konkurrenz zwischen Kapitalisten und Kommunisten – wie folgt festhielt: „Die ganze Frage ist die: Wer wird wen überflügeln? […] Man muss diese Dinge nüchtern betrachten: Wer – wen?“5 Wie soll diese Systemkonkurrenz aber aufgelöst werden, wenn die großen Digitalunternehmen als privatwirtschaftliche Organisationen weder an herkömmlichen Wahlen teilnehmen noch ihre CEOs (bislang) Staatspräsidenten stellen? Wer wen? Die Antwort geben wieder Schmidt und Cohen in der Beschreibung des Selbstverständnisses der Digitalunternehmen: Während die weltweite Vernetzung ihren beispiellosen Siegeszug fortsetze, seien es die alten, staatlichen Institutionen und Hierarchien, die sich anpassen müssten, weil sie sonst Gefahr liefen, überflüssig zu werden.6

Etwa eine Dekade nach der Veröffentlichung von The New Digital Age hat sich der Umsatz von Google, dem Unternehmen also, das Schmidt und Cohen damals maßgeblich prägten und dessen Dachorganisation mittlerweile unter Alphabet firmiert, fast verfünffacht.7 Auch weitere Big Techs wie Apple, Amazon und Meta (die 2021 gegründete Konzernmutter unter anderem von Facebook, Instagram, WhatsApp und neuerdings dem Kurznachrichtendienst Threads) konnten ihre wirtschaftliche und gesellschaftliche Relevanz in den letzten Jahren noch einmal erheblich ausbauen. Dieser beeindruckende Erfolg verleitete Silicon Valley-Investoren wie Paypal-Gründer Peter Thiel bereits dazu, sich in einem „tödlichen Wettlauf zwischen Politik und Technologie“ zu wähnen.8 Damit sprach er vielen Vertretern des Libertarismus aus der Seele, jener im Silicon Valley verbreiteten politischen Philosophie also, die die Sicherstellung der individuellen Freiheit als alleinige Legitimation für staatliches Handeln anerkennt.9 Zwar verschafften sich derartige libertäre Stimmen zuletzt etwas seltener Gehör.10 Die von ihnen adressierte Entwicklung hat sich aber keineswegs verlangsamt. Im Gegenteil. Und die Systemfrage, wie nämlich das Zusammenspiel zwischen analogem und digitalem Raum, Mensch und Maschine und nicht zuletzt von Staat und Wirtschaft auszutarieren ist, stellt sich heute noch mit weit höherer Brisanz als vor zehn Jahren.

Verändert hat sich mit Blick auf diese Entwicklungen auch die Haltung. Nicht nur die der Staaten, sondern auch die vieler Bürger. Wo 2013 noch mit großem Optimismus in die Zukunft geschaut und digitale Technologien primär als Mittel zur Ausgestaltung der eigenen Autonomie und Freiheit interpretiert wurden, zeigt sich heute gesellschaftlich und bei vielen Entscheidungsträgern eine große Verunsicherung, wohin die Dominanz der digital economy noch führen könnte.11 Und was es bedeutet, wenn sehr viel Macht in sehr wenigen Händen landet. Das trifft nicht nur auf Europa zu, sondern zunehmend auch auf die USA. Besonders deutlich manifestierte sich dies in einer geschichtsträchtigen Anhörung im US-Repräsentantenhaus, in deren Zentrum die amerikanischen Volksvertreter angesichts einer immer offensichtlicher zu Tage tretenden Systemkonkurrenz nicht weniger als die Machtfrage stellten. Das, was am 29. Juli 2020 auf dem Capitol Hill in Washington, D.C. stattfand, war daher im Grunde auch keine bloße Anhörung. Es war vielmehr die womöglich bisher aggressivste staatliche Machtdemonstration gegen Big Tech, seit die US-Behörden vor über 20 Jahren versucht hatten, Microsoft zu zerschlagen. „Unsere Gründerväter haben sich vor keinem König verbeugt“, schloss David Cicilline, Vorsitzender des Unterausschusses für Kartellrecht des Repräsentantenhauses, in Washington, D.C. seine Eröffnungsrede, „und ebenso wenig sollten wir uns vor den Herrschern der Online-Wirtschaft verbeugen.“12 Gemeint waren die CEOs der Unternehmen Alphabet13 (Sundar Pichai), Amazon (Jeff Bezos14), Meta (Mark Zuckerberg) und Apple (Tim Cook), die erstmals gleichzeitig per Videokonferenz vor den amerikanischen Kongress geladen worden waren, um im Antitrust Subcommittee Hearing „Online Platforms and Market Power, Part 6: Examining the Dominance of Amazon, Apple, Facebook, and Google“ den US-Abgeordneten zu ihren Geschäftspraktiken Rede und Antwort zu stehen. Die Befragung entwickelte sich erwartbar emotional wie konfrontativ. Manche Abgeordnete schrien die Unternehmensführer an. Und spätestens am Abend war allen Beobachtern klar, dass die USA15 ihre uneingeschränkte Solidarität mit ihren größten Digitalunternehmen zumindest teilweise revidiert zu haben schienen.16

Keine sechs Monate sollten vergehen, bis es am selben Ort zu einem weiteren einschneidenden Ereignis kam. Am 6. Januar 2021 stürmten gewaltbereite Trump-Anhänger das US-Kapitol.17 Die Radikalisierung der Gruppe, die den Wahlsieg von Joe Biden nicht akzeptieren und dessen förmliche Bestätigung verhindern wollte, hatte sich den Ermittlern zufolge maßgeblich in sozialen Netzwerken vollzogen. Fünf Menschen starben infolge der Ereignisse, die wenig später als Angriff auf die Demokratie der USA qualifiziert wurden.18 Es waren wiederum jene großen Digitalunternehmen, die auf die Vorkommnisse umgehend reagierten.19 Facebook und Twitter sperrten die Konten des noch amtierenden US-Präsidenten wegen Beiträgen, in denen er die Aufständischen unterstützte; Amazon, Apple und Google verhinderten den Zugriff auf Parler, einer Alternative zu Twitter, die von Trumps Anhängern genutzt wurde, in ihren Web-Hosting-Diensten und App-Stores. Und die Finanz-Apps PayPal und Stripe stellten die Verarbeitung von Zahlungen für die Trump-Kampagne und für Konten ein, über die Reisekosten der Anhänger des 45. US-Präsidenten nach Washington, D.C., finanziert worden waren. Die Folgen waren für die aufständischen Gruppenaktivitäten weitreichend und hatten quasi-hoheitliche Auswirkungen. Und dies, obwohl es sich bei den Maßnahmen keineswegs um staatliche Anordnungen handelte – die zunächst ausblieben –, sondern ausschließlich um Entscheidungen privatwirtschaftlicher Tech-Konzerne.

Derartige Vorkommnisse werfen neue Fragen zur Bewertung staatlicher Legitimität auf. Legitimität im staatstheoretischen Sinne soll hier verstanden werden als gerechtfertigte Herrschaftsgewalt, während Legitimation den Rechtfertigungsprozess umfasst.20 Beide Begriffe werden aber oft synonym verwendet.21 Ohne eine hinreichende Rechtfertigung von Herrschaftsgewalt ist kein Staat langfristig überlebensfähig. Man könnte sogar behaupten: Was Daten für die Digitalisierung sind, das ist die Legitimität für den Staat. Sie ist die notwendige, wenn auch nicht hinreichende Basis für seine nachhaltige Funktionsfähigkeit. Ein Staat verliert seine Legitimität zwar nicht unmittelbar, aber doch im Laufe der Zeit, wenn entsprechende Umfeldveränderungen nicht hinreichend antizipiert werden. Die Folgen können politischer, ökonomischer oder auch sozialer Art sein. Immer aber bedeuten sie eine systemrelevante Gefahr für die aktuelle Herrschaftsordnung. Legitimität und die auf sie gründende Herrschaftsform wird daher gerade in Krisenzeiten, in denen sich traditionell die Machtfrage stellt, einen Praxistest bestehen müssen.22

Und an Krisen mangelt es dem 21. Jahrhundert wahrlich nicht. Eine wichtige Rolle spielen dabei die Chancen und Risiken der Digitalisierung, die diese Krisen entweder begleiten (etwa Änderungen von Herstellungsprozessen), befördern (beispielsweise Hate Speech in sozialen Medien) oder auch abmildern (zum Beispiel Home Office in der Corona-Krise). Dies gepaart mit der eng damit verbundenen sogenannten Plattformmacht der großen Digitalunternehmen stellt einen tagtäglichen Härtetest der staatlichen Autorität dar. Während nämlich Legitimität oft als bewahrend gedacht wird, um die aktuelle Herrschaftsausübung zu rechtfertigen,23 stehen global operierende Plattformunternehmen für einen diametral anderen Ansatz: für Disruption.24 Dies führt zu den zuletzt immer häufiger zutage tretenden Machtkonflikten, die auch am 29. Juli 2020 im US-Repräsentantenhaus thematisiert wurden und für die es in der Geschichte wenig Vergleichsmöglichkeiten gibt. Staatliche Souveränitätsfragen beschränken sich selbstverständlich nicht auf diese digitalen Themen. Im Gegenteil: In einer multilateralen Welt sind Souveränitätsfragen allgegenwärtig, was sich zuletzt in der Sicherheits-, Verteidigungs- und Energiepolitik am Beispiel des Ukraine-Krieges materialisierte. Es gibt allerdings kaum ein Phänomen, das sich auf so viele Lebensbereiche gleichzeitig bezieht und derart von spezifischen Teilen der Privatwirtschaft abhängt wie die Digitalisierung und damit zusammenhängend die Plattformökonomie.

Was genau ist mit Plattformmacht und Plattformunternehmen gemeint? In Ermangelung eines feststehenden Begriffs herrscht hierzu in Theorie und Praxis Uneinigkeit, und die Definition dieses Terminus fällt entsprechend heterogen aus. Der Grund liegt vor allem darin, dass Unternehmen, die traditionell unter diesen Sammelbegriff gefasst werden, in aller Regel mehrere parallel laufende Geschäftsmodelle betreiben und unterschiedliche Funktionen aufweisen.25 Hinzu kommt, dass unter „Plattform“ sowohl eine Geschäftsstrategie als auch eine Organisationsform gefasst werden kann.26 Diese Uneinheitlichkeit ist für die Übersichtlichkeit dieses Buchs wenig zufriedenstellend, sodass an dieser Stelle eine begriffliche Schärfung vorzunehmen ist:

Wir verstehen im Folgenden unter Digitalplattformen zunächst solche Unternehmen, die mittels Digitaltechnologie eine verbindende und standardisierte Schnittstelle schaffen, die Konsumenten und Nutzer auf der einen Seite und Anbieter, seien sie privater oder gewerblicher Art, auf der anderen Seite verbindet.27 Sie fokussieren sich nicht auf die Produktion, sondern auf die Distribution.28 Insbesondere der ökonomische Mehrwert solcher Plattformen, auf denen diese Produkte, Inhalte und Dienstleistungen zu finden sind, steigt mit wachsender Nutzerzahl (sogenannter Netzwerkeffekt).29 Ein Online-Marktplatz wie Amazon und ein soziales Netzwerk wie Facebook sind dafür klassische Beispiele.

Um den Kern dieser Plattformmodelle sind in der Folge globale Großkonzerne entstanden, deren Geschäftsmodelle vielfach verzweigt sind. Wir beschränken uns aufgrund ihrer gesellschaftlichen und ökonomischen Relevanz – Tageskursschwankungen von Big Tech-Unternehmen an der Börse können bisweilen durchaus den Wert eines großen DAX-Konzerns aufweisen!30  – auf diese bedeutendsten Plattformunternehmen, beziehen dann aber konsequenterweise im weiteren Verlauf auch ihre angrenzenden Geschäftsmodelle mit ein, da diese Betätigungen durch die Plattformaktivität teilweise erst ermöglicht werden und meist eng mit ihr verflochten sind. Dies trifft auf Unternehmen wie Alphabet, Meta und Amazon, aber auch Apple, Microsoft sowie ihre chinesischen Pendants (Baidu, Tencent und Alibaba) zu. In diesem Zusammenhang wird auch von sogenannten Plattform-Leviathanen gesprochen, also Unternehmen, die mehrere Plattformtypen in sich vereinen, gemessen an der Anzahl der über sie verbundenen Beteiligten zu den größten Vertretern ihrer Art zählen, (wie ein Staat) den gesellschaftlichen Alltag eines Großteils der Bürger und Nutzer mitprägen und zugleich über große und heterogene Datenbestände verfügen.31

Die mit dem globalen Wirkungsanspruch einhergehende kritische Begutachtung der wachsenden Plattformmacht ist eine vergleichsweise neue Entwicklung. Der anscheinend unaufhaltsame Aufstieg der Digitalplattformen schien jahrelang im öffentlichen Raum im Wesentlichen von zwei (nur scheinbar widersprüchlichen) Dingen begleitet: Bewunderung und Ignoranz. Noch im Jahr 2013 sprach die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Barack Obama vom Internet als „Neuland“. Aufgrund ihrer Durchdringung nahezu aller gesellschaftlichen Bereiche, ihrer antizipierten Unentbehrlichkeit im täglichen Leben, ihrer enormen Innovationskraft und ihrer schieren Größe verpuffte zugleich Kritik an den oftmals unentgeltlich zur Verfügung gestellten Dienstleistungen für lange Zeit, während sich Regierungen möglichen daraus folgenden Problemen gar nicht erst stellten. Einer der ersten Internetbeauftragten der deutschen Bundesregierung war dafür bekannt, dass er seine Mails von seinem Sekretariat noch ausdrucken ließ. Politisch erschien es ohnehin wenig opportun, sich ohne eigene Expertise gegen die Plattformen zu stellen, die sich bei den Wählern höchster Beliebtheit erfreuten.32 Im Falle der USA und von China, denen es als einzigen Nationen gelungen ist, eigene Plattformen von systemrelevanter Größe hervorzubringen, kamen auch ein gewisser Nationalstolz und geostrategisches Kalkül hinzu. All dies schien in der Vergangenheit trotz vereinzelter Kritik, die bereits vor etwa einer Dekade aufzuflammen begann,33 dem damit zusammenhängenden breiten politischen Diskurs nahezu den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Daran änderte auch nichts, dass sich viele Länder schrittweise in eine besorgniserregende Doppelabhängigkeit von chinesischer Informations- und Kommunikationstechnik sowie amerikanischen Informationsinfrastrukturen wie etwa Cloud-Diensten, Suchmaschinen und Computersoftware begaben.34 Hierauf wird noch im Detail einzugehen sein.

Die mit einigen Ausnahmen35 lang anhaltende stoische Hinnahme des Status quo gehört allerdings längst der Vergangenheit an. Nicht nur in der westlichen Welt, sondern auch in China mehrten sich zuletzt die mahnenden Stimmen gegenüber dem digitalen Machtzuwachs.36 Die weltweiten Reaktionen fielen freilich unterschiedlich aus. In den USA und Europa wurde zunächst die politische Debatte mit zunehmender Schärfe geführt.37 Insbesondere die Europäische Union, die sich mangels eigener systemrelevanter Plattformen leichter mit Kritik tut (getreu dem Motto: Wenn man schon nicht Teil der Mannschaft ist, dann sollte man zumindest als Schiedsrichter auf dem Platz auffallen), startete früh erste regulatorische Initiativen (etwa die seit dem 25. Mai 2018 wirksame Datenschutzgrundverordnung und jüngst den Digital Services Act).38 Kein Vergleich zu China: Dort wurden die Plattformen nicht nur einer immer engeren staatlichen Kontrolle unterworfen – 2021 wurden beispielsweise Alibaba, Baidu und Tencent mit empfindlichen Geldstrafen von der chinesischen Marktaufsichtsbehörde belegt39 –, sondern es verschwand auch Jack Ma, Gründer und langjähriger CEO des IT-Plattformunternehmens Alibaba Group, mutmaßlich auf Druck der Kommunistischen Partei für lange Zeit größtenteils aus der Öffentlichkeit, nachdem er im Jahr 2020 in Shanghai eine Rede gehalten hatte, in der er das chinesische Wirtschaftssystem scharf kritisiert hatte.40 Im Januar 2023 gab er schließlich die Kontrolle über große Unternehmensteile ab.41 Derlei Entwicklungen lassen die Sorgen gerade autoritärer staatlicher Systeme und ihrer Funktionsträger deutlich zu Tage treten, eine Entwicklung nicht mehr unter Kontrolle zu haben, die längst den (digitalen) Alltag eines Großteils der Menschen entscheidend prägt.

Die mit solchen Entwicklungen verbundenen Sorgen sind systemübergreifend und alles andere als unbegründet. Denn durch die ausufernde Plattformmacht ist der Staat zunehmend42 mit der Frage konfrontiert, inwieweit er die Fähigkeit zur Durchsetzung des staatlichen Monopols hoheitlicher Gewalt als sein konstituierendes „Regelsystem“ im Sinne von Schmidt und Cohen noch aufweist. Auch und gerade der demokratische Rechtsstaat muss seine Souveränität im Sinne des Westphalian Model von 1648 stets absichern können, um überhaupt als autonom gelten zu können. Er muss darum stets und ständig bereit und in der Lage sein, seine nationalen Interessen und seine Grenzen und damit all das, was in diesen Grenzen geschieht, rechtsstaatlich zu kontrollieren und zu verteidigen. Denn die erfolgreiche Infragestellung staatlicher Souveränität und des damit einhergehenden Gewaltmonopols führt in aller Regel zu einer Delegitimierung jeder Form von staatlicher Macht.43 Oder anders: Kann der Staat seine Herrschaftsgewalt nicht mehr effektiv durchsetzen, so kann er sie auch nicht mehr verfassungsrechtlich rechtfertigen. Wenn eine Staatsführung beispielsweise behauptet, sie könne die staatlichen Außengrenzen nicht mehr sichern, dann übersieht sie, dass der betreffende Staat im Sinne des Westphalian Model von 1648 damit aufhört, überhaupt ein souveräner Staat zu sein, kurz: zu existieren. Denn ein Staat hat völkerrechtlich wenig mehr als seine Grenzen und seine nationalen Interessen. Was aber, wenn er seine „digitalen Grenzen“ nicht mehr zu kontrollieren vermag? Dann stellt sich zuerst die Legitimitätsfrage und wenig später die Machtfrage. Wer wen?

Die beschriebenen Entwicklungen können folglich in absehbarer Zeit einerseits zu einer grundsätzlichen Zuspitzung der Machtfrage im Sinne der bereits beschriebenen Lenin’schen Systemkonkurrenz führen, bei der der Staat seinen Herrschaftsanspruch erfolgreich behaupten muss, um weiterhin als Staat zu existieren. Wirft man andererseits in die Waagschale, dass das Internet weltweit für viele Menschen einen enormen individuellen wie auch politisch-ökonomischen Freiheitsgewinn gebracht hat,44 gehen damit zugleich durchaus kontroverse Fragen einher, wie ausgeprägt die Rolle des Staates als demokratischer Rechtsstaat überhaupt sein darf. Angesichts der Vielschichtigkeit solcher Problematiken erstaunt wenig, dass die politische Debatte zu den Grenzen der Macht von Big Tech und der digitalen Plattformen zuletzt so erheblich wie rasend schnell an Brisanz gewonnen hat. Im Gegenteil: Es verwundert wenigstens retrospektiv vielmehr, dass der „physische Staat“ 45oder auch „klassische Territorialstaat“46 über viele Jahre wenig Bestrebungen gezeigt hat, sich mit den skizzierten digitalen Entwicklungen breitenwirksam proaktiv auseinanderzusetzen, die doch schon früh das Potenzial erkennen ließen, seinen eigenen Machtanspruch infrage zu stellen.

Wir möchten uns in diesem Buch diesen Macht- und Legitimitätskonflikten und digitalpolitischen Entwicklungen in drei Kapiteln ausführlich widmen und die immer wieder aufflammenden (oft jedoch eher oberflächlich verhandelten) Vergleiche von Digitalplattformen und Staaten samt der damit einhergehenden Bedrohung für die Demokratie anhand konkreter Kriterien prüfen:

Aufbauend auf den Wurzeln des Aufstiegs von Plattformmacht und ausgehend vom Grundkonzept der überkommenen demokratischen Legitimation (der verbreitetsten Herrschaftsform in der westlichen Welt, die zumindest anhand ihrer wichtigsten Kriterien konkretisiert werden muss47) gehen wir eingangs der Frage nach, was Plattformmacht und Legitimation in der digitalen Welt besonders macht und von klassischer Machtausübung abhebt (Kapitel 1). Ist das erste Kapitel somit notwendigerweise eher theoretisch und grundlagengeprägt, soll in Kapitel 2 auf dieser Basis dann konkret und anhand zahlreicher praktischer Beispiele die Beziehungs-Triade zwischen Staat und Plattform verdeutlicht werden:

Plattformen als Teil des Territorialstaates,

Plattformen als Risiko für den Territorialstaat,

Plattformen als Staaten.

Während im ersten Abschnitt dieses Kapitels diejenigen Fälle diskutiert werden, bei denen der Territorialstaat die Plattformen wissentlich und willentlich in seine Dienste stellt (zum Beispiel, wenn er im Bereich der Sicherheitspolitik mit ihnen kooperiert), ist im zweiten Abschnitt zu erörtern, wie sich eine mögliche Neubestimmung des öffentlichen Raumes reflexartig auf den (demokratischen) Staat auswirkt. Die Beziehungen zur Wirtschaft und die zahllosen wettbewerbsrechtlichen Fragestellungen werden auch, aber eher sekundär eine Rolle spielen, um den Fokus auf die staatliche Beziehungsebene nicht zu verlieren. Den Abschluss findet das Kapitel dann in der Frage, ob und wann Plattformen selbst die Eigenschaft eines Staates aufweisen, was es bedeutet, wenn sie dies wenigstens anstreben und wie eine Neuinterpretation der klassischen Staatsdefinition aussehen könnte.

Denn: So fernliegend der Brückenschlag von der Macht eines wirtschaftlichen Unternehmens zu staatlicher Herrschaft in der Vor-Plattform-Ära gewirkt haben mag,48 so deutlich zeichnet sich insbesondere in der letzten Dekade ein (teilweise expliziter, in jüngerer Vergangenheit vor allem impliziter) libertär geprägter, in- und externer Herrschaftsanspruch digitaler Gatekeeper über ihren (digitalen) Raum ab, der erhebliche Folgen für die Territorialstaaten und die Milliarden Plattformnutzer hat. Determiniert wird diese Entwicklung dadurch, dass die Bedeutung des „physischen Territoriums“ als machtdeterminierender Faktor hochentwickelter Länder bereits in der Vergangenheit erheblich relativiert wurde. Schon Ende des 20. Jahrhunderts betonte der US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Richard Rosecrance in einem das Feld prägenden Foreign Affairs-Aufsatz: „The world is embarked on a progressive emancipation from land as a determinant of production and power.“49 Er grenzte sich damit von althergebrachten Theorien ab, die Fläche und natürliche Ressourcen als Kernelemente staatlicher Macht hervorhoben.50 All dies führt dazu, dass die Frage, ob und in welchem Umfang die Lenker von Technologieunternehmen an die Stelle von Regierungen treten könnten,51 berechtigt ist und sich selbst die CEOs der Plattformen offen, wenn auch offiziell eher relativierend mit dieser Angelegenheit auseinandersetzen.52 Aufbauend auf der Analyse der Souveränität einer Digitalplattform, also ihrer Fähigkeit zur Selbstbestimmung nach innen und außen, verdeutlichen wir den sich zuspitzenden Machtkampf mit dem Territorialstaat.

Jede der von uns identifizierten drei Beziehungsebenen offenbart mit zunehmender Intensität das Beziehungsgeflecht zwischen Plattformen, staatlicher Autorität und der Gesellschaft, und zahlreiche Beispiele helfen dabei, besser zu verstehen, wie groß der Einfluss der Big Techs bereits heute ist und vor allem welche Konsequenzen dies zeitigt.

Diese Erörterungen bieten dann die Chance für Schlussfolgerungen und Lösungsansätze in Kapitel 3, um einen inhaltlich geführten Nachweis des berechtigten Bestehens von Herrschaftsgewalt mithilfe ethischer Kategorien zu erbringen.53 Wie genau sollen denkbare Anpassungen aber aussehen? Und unter welchen Voraussetzungen ist Plattformmacht an sich legitim respektive kann legitim ausgestaltet werden? Das sind die Fragen, die sich an die Szenarioanalyse unter der Überschrift eines legitimatorischen Anpassungsbedarfs anfügen. Ein Ausblick schließt die Untersuchung zu staatlichen und digitalen Systemkonkurrenzen ab.

Kapitel 1: Der Schauplatz des digitalen Geschehens

I. Begründung und Besonderheiten von Plattformmacht

Überhaupt hat der Fortschritt das an sich, daß er viel größer ausschaut, als er wirklich ist.

Johann Nepomuk Nestroy, Der Schützling, 1847

Wer sich eingedenk dieses Zitates, das Ludwig Wittgenstein als Motto über seine Philosophischen Untersuchungen stellt, der Frage der tatsächlichen oder vielleicht auch nur scheinbaren Dominanz, des tatsächlichen oder auch nur scheinbaren Fortschritts oder der tatsächlichen oder auch nur scheinbaren Unersetzbarkeit der Plattformen in ihrem Verhältnis zum Staat widmet, der sollte sich zunächst detailliert mit deren technischen und ökonomischen Charakteristika befassen. Was unter Plattformen zu verstehen ist, wurde – bei allen Abgrenzungsschwierigkeiten unter anderem aufgrund der Heterogenität ihrer Geschäftsmodelle – bereits in der Einleitung thematisiert: Plattformunternehmen verbinden mittels einer standardisierten Schnittstelle Konsumenten eines Produkts oder einer Dienstleistung mit ihren Anbietern und können auf diese Weise Angebot und Nachfrage besser und schneller als herkömmliche Unternehmen aufeinander abstimmen. Den betriebswirtschaftlichen Kern bildet dabei der Einsatz von Digitaltechnologien, auf deren Basis Großkonzerne mit weit verzweigten Geschäftsmodellen entstanden sind. Da wir die mannigfaltigen Geschäftsaktivitäten der betroffenen Großkonzerne in diesem Buch weniger disziplinär als ökonomisch ganzheitlich behandeln und von diesen Unternehmen als Gesamtheit ausgehen, lässt sich „Plattformunternehmen“ im Folgenden auch als Sammelbegriff verstehen.1 Doch was macht den Erfolg und die Besonderheit dieser Konzerne aus? Wie unterscheiden sie sich von bekannten Monopolen der Geschichte? Und ist ein Ende ihres anscheinend unaufhaltsamen Aufstiegs absehbar?

Angesichts der unterschiedlichen Geschäftsmodelle und Historien der einzelnen Plattformunternehmen würde es den Rahmen dieses Buches sprengen, an dieser Stelle die genannten Big Techs bis ins letzte Detail zu beleuchten und ihre Entwicklung feingliedrig nachzuzeichnen.2 Oberflächlich ist Apple beispielsweise historisch eher ein Hardware-Unternehmen, Amazon baut auf einem weit verzweigten analogen Distributionsnetzwerk für physische Produkte auf und Alphabet, Microsoft und Meta haben vor allem zahlreiche weltweit dominierende digitale Produkte und Dienstleistungen geschaffen.3 Zugleich haben all diese Unternehmen ihre Geschäftsfelder über die Jahre erheblich erweitert und massiv verändert, sodass sie längst in vielen Bereichen miteinander konkurrieren, ob bei Kommunikation, Zahlungsdienstleistungen, E-Commerce, künstlicher Intelligenz, Cloud-Services, Navigation, Betriebssystemen, Suchmaschinen oder vielen weiteren Geschäftsfeldern. Entsprechendes gilt für die asiatischen Angebote von Alibaba über Tencent oder Baidu bis hin zu Huawei.4 Von der Alibaba Group als „dem chinesischen Amazon“5 zu sprechen, greift daher ebenso zu kurz wie Tencent als „asiatisches Meta“ zu charakterisieren, allzu viele Parallelen zwischen Huawei und Apple zu ziehen oder Baidu mit Google gleichzusetzen.6 Derlei wird der komplexen Faktenlage schon deshalb nicht gerecht, weil die asiatischen Unternehmen ihre Marktaktivitäten kontinuierlich außerhalb Chinas ausbauen, während sie auf ihrem Heimatmarkt in der Vergangenheit von einer gezielten Blockade einzelner westlicher Digitalangebote durch die chinesische Regierung profitierten.

Unbeschadet dieser Vielschichtigkeit lassen sich dennoch Parallelen und gemeinsame Erfolgsfaktoren der genannten Konzerne benennen.7 Hierzu gehören zunächst die bereits beschriebenen, der Plattformlogik inhärenten Netzwerkeffekte:8 Plattformen und die auf ihnen stattfindenden Interaktionen werden umso besser, je mehr Nutzer sie aufweisen.9 Zugleich führt dies – gepaart mit einer wachsenden Verflechtung zwischen dem analogen und dem digitalen, oft jeweils an einen bestimmten Anbieter gekoppelten, Ich – zu einem hohen Wechselaufwand und -nachteil für die Nutzer, einer steigenden Bindung an das System (Lock-in-Effekt)10 und damit einhergehend zu hohen Markteintrittsbarrieren für Dritte.11 Dies sind auch die Gründe für eine besondere Neigung der besetzten Märkte zur Monopolisierung.12

Eine weitere Gemeinsamkeit der Unternehmen sind deren zuweilen schillernde Gründer und CEOs, die die Geschicke des Unternehmens langfristig strategisch lenken.13 Hinzu kommen proprietäre digitale Infrastrukturen, von denen Verbraucher und andere Unternehmen zunehmend abhängen, und stark skalierende Geschäftsmodelle zur Monetarisierung der erlangten Marktmacht.14 Auch Schmidt und Cohen wiesen bereits 2013 auf die besondere Bedeutung dieser „economies of scale“ und der damit verbundenen Dominanz der Plattformen hin:

Ihre Macht beruht auf der Fähigkeit, exponentiell zu wachsen. Mit Ausnahmen von biologischen Viren gibt es nichts, was sich mit derartiger Geschwindigkeit, Effizienz und Aggressivität ausbreitet wie diese Technologieplattformen, und dies verleiht auch ihren Machern, Eigentümern und Nutzern neue Macht.15

Hinzu kommt, dass die Inhalte für die Plattformen keine oder nur geringe Kosten verursachen und ihre Haftung oftmals stark eingeschränkt ist (sogenanntes Plattformprivileg).16 Die Mischung all dieser Faktoren sichert die Dominanz der Unternehmen für die Zukunft ab, um auch angrenzende Geschäftsfelder Schritt für Schritt zu übernehmen. So wird beispielsweise aus dem Hersteller eines Smartphone-Betriebssystems der Betreiber eines digitalen Marktplatzes oder aus einer Suchmaschine ein Vermittler für Flugreisen. Typische Strategien von Big Tech sind unter anderem die Schaffung eigener Standards, die Bündelung von Produkten und strategische Übernahmen.17 Doch auch die Gesamtheit dieser – vor allem ökonomischen – Charakteristika beschreibt nur unzureichend die besondere Rolle der Plattformen. Denn es gibt zahlreiche zusätzliche Unterschiede zu herkömmlicher Marktmacht, wie sie aus der Wirtschaftsgeschichte bekannt sind. Für das Verständnis der gesamtgesellschaftlichen Bedeutung und nicht zuletzt des Verhältnisses zum Staat sind daher weitere prägende Kriterien der Plattformen Gegenstand der folgenden, tiefergehenden Analyse.

II. Plattformen versus traditionelle Marktdominanz

Ihre Fähigkeit, Bedingungen zu diktieren, das Sagen zu haben, ganze Branchen umzukrempeln und Angst zu schüren, stellt die Macht einer privaten Regierung dar.

David Cicilline, Demokratischer US-Kongressabgeordneter, 202018

Marktdominanz ist keine neue Entwicklung. Im Gegenteil. Monopole, Duopole und Oligopole ziehen sich wie ein roter Faden durch die gesamte Wirtschaftsgeschichte. William Vanderbilt und Amasa Leland Stanford (Eisenbahnsektor), John D. Rockefeller (Ölindustrie), John Pierpont Morgan (Finanzbranche) oder Andrew Carnegie (Stahlmarkt) sind nur einige der klangvollen nordamerikanischen Namen, die sich im historischen Zusammenhang einer Marktdominanz aufzählen lassen.19 Die Bildung von Monopolen wird in der Wirtschaftstheorie sogar als klassisches Phänomen der vierten der 1960 von dem US-amerikanischen Ökonomen Walt Rostow entwickelten und nach ihm benannten fünf Wirtschaftsstufen20 eingeordnet.21 Und das gilt nicht nur innerhalb eines Sektors, sondern auch sektorenübergreifend: Dem französischen Wirtschaftswissenschaftler François Perroux22 zufolge kann selbst eine ganz neue, führende Industrie, die eine bestimmte Größe erreicht hat, für sich genommen eine Monopolstellung einnehmen, umfangreiche Verflechtungsbeziehungen mit der übrigen Wirtschaft begründen, Verhandlungsmacht ausüben und damit die restliche Wirtschaft dominieren.23

In diesen großen Zusammenhang sind auch die Technologiemonopole der 1970er, 1980er und 1990er Jahre einzuordnen, die den damaligen (amerikanischen) kartellrechtlichen Diskurs bestimmten: von der American Telephone and Telegraph Company (AT&T) über die International Business Machines Corporation (IBM) bis hin zu Microsoft.24 Alle drei Unternehmen sahen sich in deren Folge mit unterschiedlich großem Erfolg – und trotz der wirtschafts- und geostrategischen Dimension25 – Zerschlagungsbestrebungen der US-Regierung ausgesetzt. Insbesondere wurden entsprechende Pläne im Hinblick auf Microsoft schlussendlich ad acta gelegt: Der Konzern legte den Streit mit dem Justizministerium im November 2001 bei, indem er zustimmte, seinen Konkurrenten die Integration ihrer jeweiligen Software in das Windows-Betriebssystem zu erleichtern.26 Gleichzeitig belegen die Fälle nachdrücklich die dauerhafte Brisanz der Dominanz einzelner Marktteilnehmer – auch und gerade im Bereich der Informationstechnologie.27

Also alles schon einmal dagewesen? Wiederholt sich hier Geschichte, nur – in Anlehnung an Karl Marx – dieses Mal als Farce? Dagegen spricht einiges. Denn die historischen Referenzen dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich zahlreiche Unterschiede der genannten historisch-monopolitischen Beispiele zu den digitalen Plattformunternehmen und dem derzeitigen Lagebild feststellen lassen. Das betrifft auch die Microsoft Corporation, deren Geschäftsaktivitäten sich in den letzten 20 Jahren erheblich weiterentwickelt haben. Diese Besonderheiten führen zu einer Singularität der Situation und verkomplizieren die Lage zugleich erheblich. Drei Gründe scheinen dafür – neben dem charakteristischen Netzwerkeffekt – besonders relevant: erstens die Besetzung von Schlüsseltechnologien, zweitens die Datenmacht der Digitalunternehmen und drittens die Besonderheit ihrer fehlenden physischen Raumbindung.28 Weitere Ursachen kommen hinzu, insbesondere die komplexen Verflechtungen der Geschäftsmodelle von Big Tech. Es sind genau diese prägenden Eigenschaften, aufgrund derer es sich bei der Marktdominanz im digitalen Zeitalter um ein neues Phänomen handelt, das mit Fällen der Vergangenheit schwerlich vergleichbar ist. Beginnen wir die Analyse mit den Schlüsseltechnologien.

1. Schlüsseltechnologien und -funktionen

Technology is a useful servant, but a dangerous master.

Christian Lange, norwegischer Politiker, 192129

Wer heute die Frage stellt, in welchen Industrien Unternehmen wie Alphabet, Amazon, Apple, Baidu oder Tencent aktiv sind, kann darauf keine eindeutige Antwort erwarten. Zwar handelt es sich bei den genannten Konzernen oberflächlich um IT-Unternehmen. Da aber die Digitalisierung mittlerweile nahezu jeden Lebensbereich erobert hat, die Plattformunternehmen dabei jeweils eine zentrale Rolle einnehmen und sie gewissermaßen die digitale Grundlage zahlreicher Services bilden, diversifizieren sich auch ihre jeweiligen Tätigkeitsfelder. Cloud-Services, Kartendienste, Sprachassistenten, Betriebssysteme, Kommunikationsnetzwerke, Streaming-Portale oder auch eigene physische Infrastrukturen sind nur einige Beispiele, auf die wir im weiteren Verlauf noch zu sprechen kommen werden. Eine beispielhafte Betrachtung des Alphabet-Ökosystems mit seinen zahlreichen Aktivitäten verdeutlicht schnell die Vielschichtigkeit: Die dominierende Suchmaschine Google Search, das am meisten verbreitete mobile Betriebssystem Android,30 der erfolgreichste Browser Chrome,31 das Werbesystem Google Ads, der Kartendienst Google Maps, das Videonetzwerk YouTube, der E-Mail-Provider Gmail und der Online-Speicher Google Drive sind nur ein Auszug und Ausdruck der faktischen Omnipräsenz Googles in der Internetwirtschaft, ohne dabei die weiteren Aktivitäten des Mutterkonzerns wie Nest (Smart Homes, Internet of Things), Waymo (autonomes Fahren) oder Verily (Biowissenschaften) auch nur annährend gewürdigt zu haben. Auch ein Anbieter wie Amazon ist nicht nur im E-Commerce-Geschäft als Vermittler tätig, sondern mit Angeboten wie Amazon Video (Video-Portal), Twitch (Live-Streaming) und Audible (Hörspiele) beispielsweise im Mediensektor aktiv, mit Devices wie Kindle, fireTV und Echo ein wichtiger Mitspieler in der Endgeräteproduktion und mit Amazon Payments ein relevanter Zahlungsdienstleister. Hinzu kommt, dass Amazon längst weite Teile der Lieferinfrastruktur besetzt und schrittweise auf eigenen Vertrieb umstellt.32 Auch diese Aufzählung ist keineswegs abschließend. Besonderes Augenmerk ist auf das Cloud-Geschäft zu legen, bei dem Amazon mit rund einem Drittel Marktanteil zum führenden Anbieter geworden ist. Gefolgt von Microsoft und Google, die Platz zwei und drei belegen. Alle drei Unternehmen haben das lukrative und margenstarke Geschäft geteilter Computerressourcen in Form von Servern, Datenspeichern und Applikationen zu einem Kernpfeiler ihrer Geschäftsaktivitäten gemacht, die weltweit für etwa zwei Drittel des globalen Umsatzes für Cloud-Infrastruktur stehen.33 Damit haben sie signifikante Relevanz auch für andere Geschäftskunden weltweit, die auf die Cloud-Speicher zugreifen und sich nach den jeweiligen Vorgaben der im Ausland sitzenden Unternehmen richten.34

Diese horizontalen wie industrieübergreifenden Dienstleistungen und Technologien werden nicht nur Konsumenten und Geschäftskunden, sondern auch Staaten angeboten. Die Breite der Angebote der Tech-Unternehmen, ihre feste Verankerung im Alltag der Menschen und ihre sektorübergreifende Expansion lassen einen Vergleich der Plattformunternehmen mit herkömmlicher Marktdominanz kaum zu. Hinzu kommt, dass sich für viele Big-Tech-Angebote – ob Business-to-Consumer (B2C) oder Business-to-Business (B2B) – auch und gerade wegen des beschriebenen Netzwerkeffektes wenig oder gar keine Alternativen am Markt finden lassen. Konnte man außerdem in der Vergangenheit auf einzelne marktdominante Unternehmen noch ansatzweise verzichten, ist dies heute bei einer unterstellten Teilhabe am modernen, sprich digitalen Leben kaum noch denkbar. Notabene: Eine Kolumnistin der New York Times versuchte bereits 2019 in einem Selbstexperiment, die großen Plattformen aus ihrem Leben zu verbannen und kam nach kurzer Zeit zu dem Schluss, dass dies schlichtweg nicht mehr möglich sei. Das liege nicht nur an ihren omnipräsenten B2C-Produkten, sondern insbesondere daran, dass diese Unternehmen ein „Dickicht von undurchsichtigen Produkten und Dienstleistungen kontrollierten“, die quasi die Grundlage zahlreicher Angebote bildeten, auf die man sich im täglichen Leben verlassen müsse.35 Oder einfacher: Selbst wer versucht, Plattformdienste zu umgehen (etwa indem bewusst auf soziale Netzwerke verzichtet wird) und heute noch persönlich ein Bürgeramt aufsucht, um etwa einen Angelschein zu beantragen, muss am Ende doch damit rechnen, automatisch zumindest mittelbarer Nutzer von Platttform-Diensten wie Microsoft und seiner Produktpalette in der Verwaltung zu werden – ob er will oder nicht.

Zwar hatten große Unternehmen auch in der Vergangenheit hohe Relevanz für die Gesellschaft, für das Funktionieren von Wirtschaft und Staat. So unterhielt AT&T neben seinem Monopol im Telekommunikationsmarkt enge Beziehungen zur amerikanischen Regierung, betrieb einige der Nuklearlabors des Militärs in New Mexico und hatte ein Frühwarnsystem für interkontinentale ballistische Raketen (ICBM) im Norden Kanadas und Alaskas installiert.36 Zudem war und ist der Einfluss von Wirtschaft und Staat seit jeher wechselseitiger Natur.37 Dennoch gibt es einen entscheidenden Unterschied zu herkömmlicher Marktmacht, den der US-amerikanische Politikwissenschaftler Ian Bremmer Ende 2021 in seinem sehr lesenswerten Foreign Affairs-Artikel How Big Tech will reshape the Global Order wie folgt treffend zusammenfasste:

Before the biggest banks became „too big to fail“, that phrase was applied to the U.S. defense company Lockheed Corporation (now Lockheed Martin) during the Cold War. But Lockheed just made the fighter jets and missiles for the U.S. government. It didn’t operate the air force or police the skies. The biggest technology companies are building the backbone of the digital world and policing that world at the same time.38

Insgesamt nehmen die Plattformen daher in der Reihe der Wirtschaftsunternehmen gegenwärtig und historisch eine Rolle sui generis ein. Und dabei ist ihre zentrale Bedeutung für das demokratische Zusammenleben, die Herstellung von Öffentlichkeit sowie die Meinungsbildung noch gar nicht in die Waagschale geworfen – ein weiterer noch aufzugreifender Umstand, für den es vor dem Zeitalter der Digitalisierung kaum Parallelen gibt.

2. Datenmacht

There were five Exabytes of information created between the dawn of civilization through 2003, but that much information is now created every two days.

Eric Schmidt, damaliger CEO von Google, 201039

Es gibt zahlreiche Möglichkeiten, Macht über andere Personen auszuüben. Die US-amerikanischen Psychologen John French und Bertram Raven fassten 1959 fünf besonders verbreitete Quellen zusammen: Erstens: Macht durch (in Aussicht gestellte) Belohnung; zweitens: Macht durch Zwang; drittens: Macht durch Recht und Legitimität; viertens: Macht durch Identifikation und fünftens: Macht durch Wissen.40 Auf Letzterem fußt der zweite Grund, der Plattformen von herkömmlichen dominierenden Großkonzernen unterscheidet: die sogenannte Datenmacht.41 Daten führen zu einem erheblichen Vorsprung, um das Verhalten anderer Menschen zu beeinflussen.42 Daten wurden zwar selbstverständlich schon zu analogen Zeiten erhoben und ausgewertet. Und bereits in den 1940er Jahren gab es erste Versuche, die Wachstumsrate von Datenaufkommen zu quantifizieren. Es dauerte aber bis in die 1990er Jahre, bis der Begriff Big Data und die damit zusammenhängende Sammlung und Auswertung enormer Datenmengen breitere Verwendung fand.43 Auch die Popularität des Data Mining, also des Prozesses zur Extrahierung und Entdeckung von Mustern in großen Datensätzen, nahm erst zur Jahrtausendwende erheblich zu, da die verfügbare Rechenleistung der Computer nun die Verarbeitung großer Datenmengen möglich machte. Mithilfe des technologischen Fortschritts, der voranschreitenden Digitalisierung und des Durchbruchs des Internets konnte Big Data schließlich seinen heute bekannten Siegeszug antreten.44 Digitale Technologien ermöglichen heute die Sammlung und automatische Analyse von riesigen Datenmengen in Echtzeit, die sowohl taktisch als auch strategisch genutzt werden können, insbesondere zur kontinuierlichen Produktverbesserung und Personalisierung.45 Das einleitende Zitat von Eric Schmidt verdeutlicht die Rasanz der Entwicklung.

Diese in- und extensive Sammlung und Analyse von Daten und ihre Verarbeitung sind ein weiterer wesentlicher Unterschied, der Plattformmacht von der traditionellen Marktbeherrschung unterscheidet. 2019 wies Shoshana Zuboff, Autorin des Buches The Age of Surveillance Capitalism, auf die umfassende Datennutzung samt der Ubiquität der Plattformservices hin46 und betonte die auf der Analyse der Verhaltensdaten beruhende Vorhersagemacht der Plattformen.47 In einem Forschungsprojekt zeigte die Sozialwissenschaftlerin Veronica Barassi auf, wie bereits die persönlichen Informationen von Babys48 und Kindern gesammelt und zu Profilen zusammengefasst werden können.49 Und Youyou Wu, Michal Kosinski und David Stillwell belegten bereits vor rund einem Jahrzehnt in einer wissenschaftlichen Untersuchung, dass Algorithmen die in der Psychologie als universelles Standardmodell genutzten sogenannten Big-Five-Dimensionen der Persönlichkeit (Aufgeschlossenheit, Gewissenhaftigkeit, Geselligkeit, Empathie und Verletzlichkeit50) erstaunlich genau bewerten können, indem sie einfach die Likes eines Facebook-Nutzers untersuchen.51 Mit zehn Likes konnte die Modellierung die betreffende Person ungefähr so gut einschätzen wie ein Arbeitskollege, mit 70 Likes wie ein Freund und mit 300 besser als der Ehepartner der Person.52 Facebook wird aus diesem Grunde beispielsweise attestiert, aus den öffentlich zugänglichen „Gefällt mir“-Klicks mit 88-prozentiger Wahrscheinlichkeit die sexuelle Orientierung eines Nutzers erkennen zu können und mit 75-prozentiger Genauigkeit zu prognostizieren, ob die Person Drogen konsumiert.53 Selbstverständlich sind diese Aussagen und entsprechende Prognosen mit Vorsicht zu genießen. Sie zeigen jedoch auf, in welche Tiefen die Datennutzung vordringt und welche gesellschaftliche Relevanz damit einhergeht. Sie ermöglicht Vorhersagen von politischen Wahlpräferenzen bis hin zu wirtschaftlichen Verhaltensweisen wie einem Produktkauf. Über die Sucheingabe weiß Google, wofür sich ein Nutzer konkret interessiert, Alibaba kennt die Kaufgewohnheiten seiner Nutzer, und bereits 2015 patentierte Facebook ein System,54 das es Banken ermöglichte, die Kreditwürdigkeit ihrer Kunden aus deren Facebook-Kontakten abzuleiten.55 Der gesamte Konsumzyklus ist damit datenseitig erfasst.

Die beschriebene Datenmacht, auf die wir im Verhältnis zum Staat noch näher zurückkommen werden,56 wächst dabei kontinuierlich: einerseits durch die Ausweitung von Geschäftsbereichen der Plattformen, andererseits durch den Versuch, die Intensität der Nutzung weiter zu erhöhen, etwa durch die Verankerung weiterer Interaktionsanreize in Form des Teilens von Beiträgen oder von Reaktionen auf ebendiese (etwa per Like-Button).57 Und sie führt so weit, dass sich daraus sogar eine eigene Ideologie namens „Solutionismus“ ableitet, deren Bezeichnung auf den belarussischen Publizisten Evgeny Morozov zurückgeführt wird und die im Silicon Valley durchaus verbreitet ist: die Annahme nämlich, dass sich alle globalen Herausforderungen lösen ließen, wenn man nur ausreichend viele Daten einem Algorithmus übergibt, der dann daraus die beste Lösung errechnet.58 Inwieweit das bereits heute erfolgt, dazu später mehr.

3. Fehlende Raumbindung

The internet is becoming the town square for the global village of tomorrow.

Bill Gates, Gründer von Microsoft, 199959

Die global wirkenden Plattformen sind im Wesentlichen in den Vereinigten Staaten und China beheimatet. Beide Länder haben eine konträre, beinahe spiegelbildliche Geschichte und Kultur. Dies führt nahezu zwangsläufig zu einer vollkommen unterschiedlichen digitalen Bewertung und Herangehensweise. Ein Beispiel: Nach amerikanischem Verständnis sind Daten in erster Linie ein Wirtschaftsgut, das Unternehmen sammeln und für sich nutzen können. Für China sind Daten aufgrund der eigenen politischen Tradition ein Gemeinschaftsgut und Instrument sozialer und politischer Kontrolle.60 Und im europäischen Rechtskreis könnte man angesichts der scharfen Datenschutzregeln wohl am treffendsten von Daten als einem persönlichen Gut sprechen.61 Nun agieren die Plattformen aber so wenig grenzenlos wie nur an einem Ort. Ihre Geschäftsaktivitäten sind international und umfassen gleichzeitig mehrere nationale wie transnationale Rechtskreise oder – eine vollkommen andere Betrachtungsweise zugrunde legend – einen großen virtuellen Raum, der eigenen Regeln folgt. Ende 2022 gehörten Google.com, YouTube.com und Facebook.com weltweit zu den meistbesuchten Websites mit monatlichen Zugriffswerten in zweistelliger Milliardenhöhe, die sich über eine Vielzahl an Ländern verteilen. Soziale Netzwerke wie Instagram, WeChat und TikTok verzeichneten zehnstellige Werte bei den monatlichen Global Active Users, wovon allein Facebook fast drei Milliarden Nutzer pro Monat auf sich vereinen konnte. Über 70 Prozent der weltweiten Webseitenanfragen von Mobiltelefonen wurden zuletzt über ein Smartphone mit dem Android-Betriebssystem von Google gestellt.62 Und in Europa wird die Suchmaschine von Google von etwa 75 Prozent aller Einwohner der EU aufgerufen;63 sie ist in über 100 Ländern die am häufigsten besuchte Website überhaupt, in Deutschland erreicht Google zusammen mit seinen übrigen Diensten sogar bis zu 100 Prozent aller Internetnutzer.64 Kurz: Es gibt offensichtlich keine Grenzen – zumindest im übertragenen Sinne.

Dies führt zum dritten prägenden Unterschied zwischen traditioneller Wirtschaftsdominanz und der Plattformmacht des 21. Jahrhunderts: der fehlenden geografischen und damit notwendigen politischen Raumbindung der großen Digitalplattformen und der damit wiederum einhergehenden Konkurrenz verschiedener Systeme, in denen sie agieren oder die sie selbst schaffen. Zwar waren auch große Monopole der älteren Wirtschaftsgeschichte wie die Standard Oil Company in mehreren Ländern aktiv und nutzten globale Standortvorteile zu ihren Gunsten. Allerdings waren diese geschäftlichen Aktivitäten grundsätzlich getrennt beziehungsweise (ab-)trennbar und richteten sich entweder nach den Regeln des Heimatortes oder des jeweiligen Gastlandes. Für digitale Plattformunternehmen ist die grenzüberschreitende Aktivität demgegenüber nicht nur ein Teil der Wertschöpfungskette, sondern Regelfall und Kern der digitalen Produkte, wie sich etwa an der Datennutzung und dem Abrufen von Inhalten zeigt. Plattformunternehmen agieren letztlich ohne nationale Grenzen und ohne nationales Interesse. Ihre Globalität und Grenzenlosigkeit kann aus Souveränitätsgesichtspunkten zum Problem werden, da staatliche Gesetze und Regeln vor allem national wirken. Schon transnational beziehungsweise in angrenzenden Ländern mit ähnlichem Kulturkreis geht dies möglicherweise mit Schwierigkeiten einher, was die komplexe Konsensfindung in der Europäischen Union in der Vergangenheit bereits eindrücklich belegte. Zugleich erlauben unterschiedliche nationale Gesetze ein race to the bottom, wie etwa die bewusste Unternehmensansiedlung im besonders plattform- und wirtschaftsfreundlichen Irland durch digitale Unternehmungen und ihre European Headquarters zeigt: Man expandiert von dort aus, wo man sich am wenigsten national belästigt glaubt – und genau als solche Belästigung scheinen nationale Regeln empfunden zu werden, die darum bei globalen Unternehmungen ein immer stumpferes Schwert zu werden drohen.

Einen Gegenentwurf bietet der Blick in die angelsächsische Wirtschaftsgeschichte. Eine der wesentlichen Stärken des British Empire war nämlich, dass man sich als Unternehmen darauf verlassen konnte, dass in Indien dieselben durchsetzbaren Regeln des eigenen Rechtskreises galten wie in England. Ein Monopol der wirtschaftlichen Stärke korrespondierte mit einem Monopol der rule of law. Die Regeln, unter denen eine East India Company operierte und verlässlich Gewinne erwirtschaftete, wurden weitestgehend unabhängig in London gemacht und eben nicht in den Kolonien autonom verändert.65 Dies ist heute aufgrund der unterschiedlichen Rechtsräume und der verzweigten Geschäftsaktivitäten der Plattformunternehmen anders. Zugleich besteht offenbar eine Sehnsucht nach dieser Einheitlichkeit in der virtuellen Welt. Wenn Shoshana Zuboff den Vergleich zwischen Googles Agieren im digitalen Raum und der Eroberung des neuen, vermeintlich besitzerlosen amerikanischen Kontinents durch die spanischen Eroberer zieht,66 greift auch sie auf diese Weise kritisch das damit einhergehende Problemfeld staatlicher Souveränität und Herrschaftsgewalt unter etwas anderem Vorzeichen auf. Die fehlende Raumbindung ist aber für das herkömmliche Staatsverständnis und letztlich den Staat selbst eine besondere Herausforderung, ja ein veritables Problem. Denn solange sich demokratisch organisierte Gesellschaften für die Legitimität an staatlicher Herrschaftsgewalt orientieren und sich die staatliche Souveränität auf den Raum, also das analoge Territorium, bezieht,67 werden digitale Prozesse beinahe notwendigerweise diesem Vorstellungsbild nur unzureichend gerecht.68

4. Weitere Spezifika: Verflechtung, Kapitalstärke und Reputation

[The platforms’] economic value accretion seems to be defying the law of big numbers.

Scott Galloway, Unternehmer und Professor an der NYU, 201769

Mit dem Dreiklang aus Schlüsseltechnologien, Datenmacht und fehlender Raumbindung, die die beschriebenen Netzwerk-, Lock in- und Skalen-Effekte ergänzen, sind die wichtigsten, aber freilich nicht alle prägenden Besonderheiten der Plattformunternehmen genannt. Hinzu treten weitere Faktoren: die Verwobenheit ihrer Geschäftsaktivitäten, das vergleichsweise enorme Kapital, auf das sie Zugriff haben, und nicht zuletzt ihre bemerkenswerte Beliebtheit bei den Nutzern.

Wie eng all die unterschiedlichen Aktivitäten der Plattformen miteinander verwoben sind, lässt sich am Online-Werbemarkt exemplarisch darstellen. Es handelt sich hierbei um ein ökonomisch, gesellschaftsrechtlich und technisch komplexes Gebilde von zahlreichen Intermediären, die miteinander kommunizieren und aufeinander aufbauen.70 Google hat sämtliche für sein Geschäft relevanten Stufen dieser digitalen Wertschöpfungskette besetzt: Das Google-Displaynetzwerk gilt weltweit als das größte Netzwerk für Displaywerbung, Googles Analysesoftware Google Analytics wertet die Reichweite des Internet Traffics aus, und mithilfe seiner Tracker ist Google allein in Europa über mehr als 80 Prozent des Surfverhaltens von Internetnutzern informiert – ob sie nun Google-Produkte verwenden oder nicht.71 Die Suchmaschine stellt das Herzstück dieses Systems dar.72 Durch sein verschachteltes System besetzt und verbindet der Konzern gleichzeitig die Verkaufsseite (Werbeflächen), die Angebotsseite (werbende Unternehmen) und die Intermediärsseite (Vermittlung) der digitalen Werbung. Google bildet mit anderen Worten für alle Seiten den „One-Stop-Shop“.73 Und so würdigte auch das deutsche Bundeskartellamt in einer Sektoruntersuchung der Online-Werbung im Mai 2023 die Rolle des Unternehmens mit der Beschreibung eines „hoch komplexen und verwobenen Systems“, das nicht nur aus Nutzersicht eine hervorgehobene Rolle einnehme, sondern ebenso die technischen Grundlagen für die Auslieferung von Online-Werbung an sich lege.74

Dies ist nur ein Beispiel für die Verwobenheit der einzelnen Plattformdienste. Googles Suchdienst ist beispielsweise in dem mobilen Sprachassistenten Google Assistant, der digitalen Bilderkennung Google Lens und der nativen Website-Suche Google Programmable Search Engine integriert. Der kostenpflichtige Abo-Service Prime von Amazon verbindet verschiedene Dienstleistungen des E-Commerce-Anbieters miteinander, von der versandkostenfreien Lieferung ausgewählter Produkte über den Abruf von Videos bis hin zum Musik-Streaming. Und Apples Produktpalette, vom Mobilgerät iPhone über das Smartphone-Betriebssystem iOs, den iTunes Store zum Erwerb digitaler Inhalte, den Zahlungsdienst Apple Pay bis hin zum digitalen Speicher iCloud, gilt als besonders markantes Beispiel eng verzahnter Services. Hinzu treten ein dichtes Kooperationsgeflecht mit verschiedenen Partnern weltweit75 und ein weit verzweigter Datenfluss. Wenn von den großen Plattformen als „Ökosysteme“ gesprochen wird, soll dies ebenjene Verwobenheit und Interdependenz beschreiben.76 Dies erschwert zugleich eine getrennte Betrachtung jener branchenübergreifenden Plattformdienste, die durch die beschriebenen Netzwerkeffekte ohnehin bereits eine Sonderstellung haben, aus der teilweise gar die Schlussfolgerung gezogen wird, dass Monopole auf derartigen Märkten notwendigerweise existieren müssten.77 All dies führt ökonomisch wie ordnungspolitisch zu der Schlussfolgerung, dass eine „sektorspezifische Regulierung“, wie sie etwa 1920 eine Lösung für das deutsche Eisenbahnwesen darstellte, zwar eine Option, aber allein kein Patentrezept ist, um der sich abzeichnenden Probleme der Marktdominanz Herr zu werden. Denn digitale Plattformen lassen sich sektoral faktisch kaum einhegen.

Zur Besonderheit dieser Verwobenheit der Plattformaktivitäten tritt die Kapitalstärke von Big Tech. Anfang 2022 gelang beispielsweise Apple etwas, was bis dahin noch kein Unternehmen in der amerikanischen Wirtschaftsgeschichte geschafft hatte:78 Die Börsenbewertung des Unternehmens überstieg zeitweilig die Marke von drei Billionen US-Dollar. Der Grund für den neuen wirtschaftlichen Höhenflug war allerdings nur teilweise in der Beliebtheit seiner Produkte zu finden. Stattdessen hatten die zahlreichen Aktienrückkäufe, die der Konzern seit 2013 durchführte, daran einen großen Anteil.79 Mit dieser Maßnahme ist Apple nicht allein. Auch Alphabet nutzte die Niedrigzinszeiten genauso wie weitere Unternehmen dafür, um Rückkäufe in großem Stil durchzuführen, und kündigte zuletzt ein „Buyback“ von 70 Milliarden US-Dollar an.80 Und ähnlich äußerte sich schließlich auch Meta Anfang 2023.81 Bedingung für einen solchen umfangreichen Rückerwerb eigener Aktien ist in der Regel ein mehr als auskömmlicher Cashflow beziehungsweise eine enorme Bonität.82 Man könnte auch sagen: Die Unternehmen wissen gar nicht mehr wohin mit ihrem Geld. Sie investieren es daher einfach (wieder) direkt in eigene Anteile.83 All dies zeigt im Verein mit den jährlichen Gewinnen in signifikanter Milliardenhöhe die Kapitalstärke und Finanzkraft der Plattformen auf, die ein weiterer Grund für ihre besondere Marktdominanz sind. Und es führt zugleich dazu, dass die großen Plattformunternehmen den ökonomischen Spielraum haben, Konkurrenten vom Markt aufzukaufen und/oder auf lange Sicht in verlustreiche Geschäftsbereiche zu investieren,84 was wiederum negative Auswirkungen auf den Kapitalzugang von neuen Marktteilnehmern hat.85

Last, but not least ist der Blick auf das Image und die Reputationspflege als charakteristischer Faktor der Digitalplattformen zu richten. Während marktdominante Unternehmen der Wirtschaftsgeschichte nicht selten einen ausgesprochen schlechten Ruf hatten, finden sich 2022 auf den ersten fünf Plätzen des Rankings der wertvollsten Marken ausschließlich Big-Tech-Unternehmen: Apple, Google, Amazon, Microsoft und Tencent.86 Ähnlich positiv fällt ein Blick auf die Beliebtheit der Plattformen aus: Google, YouTube und WhatsApp sind jeweils in den Top Zehn der populärsten Marken weltweit vertreten.87 Dies belegt einen enormen gesellschaftlichen Rückhalt von Big Tech, der durch Imagekampagnen und sonstige PR-Investitionen weiter unterstützt wird. Ein wesentlicher Grund für diesen Rückhalt (der zwar in jüngerer Vergangenheit aufgrund der obig bereits angerissenen Entwicklungen unter Druck geraten, aber weiterhin sehr hoch ist) dürfte neben ihrer tiefen Verankerung im Nutzer-Alltag sein, dass zahlreiche Services der erwähnten Unternehmen unentgeltlich zur Verfügung gestellt werden. Eine Reihe wissenschaftlicher Studien hat bereits untermauern können, wie unwiderstehlich Verbraucher ein kostenloses Gut finden, selbst wenn sie im Grunde wissen, dass dafür (irgend-)ein Preis gezahlt werden muss, beispielsweise mit Daten oder späteren Gebühren für Zusatzdienste.88 Hinzu kommt: Für viele Menschen ist die Nutzung der Plattformservices ein wichtiger Teil ihrer persönlichen Freiheit. Und so kommt es nicht von ungefähr, wenn Vermutungen formuliert werden, dass eine mögliche Gegenreaktion der Bevölkerung ein Grund sei, dass selbst der russische Präsident Wladimir Putin wahrscheinlich nie so weit gehen würde, den Zugang der Bürger zu den entsprechenden Internet-Services zu beschränken.89 Diese Reputation unterscheidet die Plattformunternehmen wie gesehen von anderen mächtigen Unternehmen der Wirtschaftsgeschichte. Quasi den Gegenentwurf markierte die Tabakindustrie, deren marktmächtige Konzerne Ende des 20. Jahrhunderts in den USA im Zentrum der regulatorischen Aufmerksamkeit standen. Während sich Big Tobacco mit dem Vorwurf auseinandersetzen musste, dass es Produkte herstellte, die für seine Kunden buchstäblich tödliche Folgen haben konnten (mit dem Ergebnis, dass der öffentliche Druck schließlich zu einer Regulierung von Nikotin führte), betreffen die ins Feld geführten Schäden, um die es bei der aktuellen Big-Tech-Untersuchung geht, entweder konkurrierende Unternehmen oder schwer greifbare Konzepte wie „Demokratie“, „fairer Wettbewerb“ oder „offene Märkte“.90 Und wie soll man jemandem in absehbarer Zeit juristisch nachweisen, eine Gefahr für die Demokratie oder die demokratische Meinungsbildung zu sein, wenn es offensichtlich schon Jahrzehnte brauchte, die Kausalität von Rauchen und dessen gesundheitlichen Folgen gerichtsfest zu belegen?

5. Gesamtschau: Rolle und Bedeutung der Plattformen

It’s more fun to be a pirate than to join the Navy.

Steve Jobs, Mitbegründer von Apple, 198391

Dieses 40 Jahre alte Zitat des langjährigen CEOs von Apple bringt auf den Punkt, dass es sich bei Plattformunternehmen nicht um herkömmliche Teilnehmer der Wirtschaftsgeschichte handelt. Sie wähnen sich offenbar gewissermaßen in ihrer eigenen Liga. Richtig daran ist, dass ihre Rolle und ihr Gestaltungsanspruch signifikant weiterreichen als das, was im Vor-Plattformzeitalter als „Wirtschaftsmacht“ galt. Das haben die obigen Ausführungen deutlich gezeigt und werden die weiteren Teile noch untermauern. Auch die Europäische Union realisiert zunehmend, dass sie hier keinen bloßen sektoralen Regulierungsfragen gegenübersteht, sondern dass sie vielmehr diejenigen regulieren soll, die zugleich die Infrastruktur bereitstellen, mit der die eigenen Regeln überwacht werden, was letzlich bedeutet: to police the policeman. Einerseits.

Andererseits: Gänzlich neu sind die Mechanismen solch fundamentaler, technischer Umwälzungen nicht. Sie lassen eine Parallele zu der Zeit der industriellen Revolution zu.92 Schon die Menschen im frühen 19. Jahrhundert erlebten technische Disruption (Dampfkraft, Elektrizität), innovative Medien (Schallplatten, Telegraphen) und neue politökonomische Herausforderer (die USA, Deutschland), die den gewohnten Alltag teils bereicherten, teils bedrohten. Das gilt genauso heute: von den geschilderten technologischen Entwicklungen über neue Medien bis hin zu einem sich zuspitzenden Machtkampf einer zunehmend bipolaren Weltordnung (USA vs. China). Das Tempo der Veränderungen hat freilich erheblich zugenommen:93 Der wissenschaftliche und technologische Fortschritt der letzten 30 Jahre, etwa in den Biowissenschaften, sprengt die bisherige Vorstellungskraft. Im Alltag am stärksten fassbar sind für die meisten Menschen die Veränderungen im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnik (IKT). 1989 wirkte in vielen deutschen Büros der Wunsch eines Mitarbeiters nach einem eigenen Computer noch so extravagant wie ein Antrag auf Vorhänge mit Goldkante. Nur drei Dekaden später hatten in Deutschland fast 60 Millionen Menschen mit dem Smartphone ein Gerät in der Tasche, das um ein Vielfaches leistungsfähiger war als ein damaliger Hochleistungsrechner.94 1989 wurde das World Wide Web überhaupt erst erfunden.95 Heute haben mehr als fünf Milliarden Menschen einen Zugang dazu.96 In den Bereichen mobile Robotik werden immer raschere Fortschritte erzielt. Immer leistungsfähigere Speicher- und Rechenkapazitäten ermöglichen die immer schnellere Sammlung und Analyse riesiger und hochkomplexer Datenmengen und treiben die Entwicklung lernfähiger künstlicher Intelligenz (KI) und Kreativität nach dem Vorbild biologischer Nervensysteme voran. Die IKT erobert Bereiche wie Gesichtserkennung, medizinische Diagnostik, Finanzdienstleistungen und Rechtsberatung. Miniaturisierte Sensorik erlaubt die ständige Überwachung von Batterieständen, Turbinen, Wasserqualität, digital gesteuerter Feldbewässerung und Medizintechnik. Sie erleichtert das Management von Lieferketten, weil jederzeit klar ist, welche Teile demnächst gebraucht werden und wo in der Zulieferung sich welcher Halbleiter gerade befindet – ob in Taipeh oder Dresden. Sie ermöglicht es, schon während der Herstellung und dann im laufenden Betrieb eines Produkts dessen Funktionsdaten zu sammeln und für Verbesserungen zu nutzen. Die Preise für Roboter sind in den vergangenen Jahrzehnten um zehn Prozent pro Jahr gefallen, und es wird erwartet, dass sich der Preisverfall beschleunigt. Moderne Industrieroboter „lernen“ neue Bewegungsabläufe inzwischen dadurch, dass ein Mitarbeiter ihnen den Arm führt. In der Fabrik von morgen sind Arbeitnehmer, Roboter, Maschinen und Werkzeuge ganz selbstverständlich miteinander vernetzt. Datenbrillen erweitern die Realität um Warn- und Montagehinweise, und Bauelemente und Hilfsmittel wandeln elektrische Signale in mechanische Bewegung um und beteiligen sich dadurch aktiv an der Produktion.97 Auch das selbstfahrende Auto könnte nach zahlreichen Feldversuchen schon bald breitenwirksame Realität auf öffentlichen Straßen werden.

Bei alledem spielen die Plattformunternehmen eine maßgebliche Rolle. Beispiele wie Amazon und Google zeigen, wie rasch Anbieter von Software-Lösungen auch in die Hardware-Welt vorstoßen: Amazon entwickelte sich innerhalb weniger Jahre vom Online-Buchhändler zum Internetkaufhaus zum Anbieter komplexer Logistikdienstleistungen zum Anbieter von Tablets und Smart-Home-Geräten zur Video- und Musikplattform zum Cloud-Services-Provider und zum Lebensmittelhändler. Google begann als Internet-Suchmaschine, bietet heute Echtzeit-Navigation über Google Maps an, betreibt Drohnenprojekte (Project Wing), testet autonome Fahrzeuge, hat einen Hersteller lernfähiger Thermostate für Smart-Home-Anwendungen (Nest) erworben und strebt nach einer Standardisierung von Betriebssystemen und Software für Robotik-Produkte, die Google in Kombination mit seinen übrigen Services eine starke Stellung in fast allen Industrien gäbe. 3D-Drucker kann man inzwischen beim Discounter an der Ecke kaufen,98 und auch an 4D-Technologie – an Werkstoffen, die sich selbst zusammenbauen und die selbständig ihre Form wechseln können – wird längst gearbeitet.99 Schon jetzt kommen wichtige Teile von Passagierflugzeugen aus 3D-Druckern, und deren Bedeutung wird überall rasant zunehmen. Alles das wird die heutigen Produktionsweisen und Wertschöpfungsketten zerstören und neu konfigurieren. Die Produktion wird noch weniger arbeitsintensiv,100 und die Bedeutung der Lohnkosten für die Standortwahl sinkt. Am Horizont erscheint die Vision vom Hersteller, der per Knopfdruck die verschlüsselten Konstruktionsdaten seines Produkts an Drucker in aller Welt schickt und die Teile von Roboterhand zusammenbauen lässt – falls sie sich nicht gar selbst zusammenfügen.

Die Digitalisierung war bisher einer der stärksten Treiber der weltweiten Arbeitsteilung, der Globalisierung, des (Welt-)Finanzsystems und der Verflechtung der Volkswirtschaften. Und einen zentralen Anteil daran haben seit Jahren die Plattformunternehmen. All dies könnte künftig ein ebenso wichtiger Treiber der Entflechtung und des Reshoring (der Rückverlagerung) von Fabriken und Arbeitsplätzen in die Industrienationen sein. Das könnte Afrika um seine „demografische Dividende“ bringen und dort den Migrationsdruck erhöhen, China wider Erwarten mit einem Überangebot an Arbeitskräften konfrontieren und dazu beitragen, die Vereinigten Staaten und das alternde Europa tendenziell zu re-industrialisieren. Unabhängig von solchen Spekulationen: Es ist künftig im Wortsinn existenziell wichtig, die digitalen Lebensbahnen in allen Bereichen der Daseinsvorsorge und von Wirtschaft, Gesellschaft und Politik gegen Cyberspionage und Sabotage zu schützen und effektiver zu kontrollieren – wie auch die Diskussionen um die Zulassung von Huawei beim Ausbau des europäischen oder ozeanischen 5G-Netzes belegen. Dies fordert den Staat auf zahlreichen Ebenen.

Zur selben Zeit erschwert eine derlei gewachsene Komplexität, bereits eingefahrene Machtverhältnisse der Digitalwirtschaft herauszufordern. Dies gilt auch, weil die Eintrittsbarrieren aufgrund der beschriebenen Plattformeffekte immer weiter steigen und zu einem in sich geschlossenen, kontinuierlich wachsenden System führen. Dieses System, das die unterschiedlichen Komponenten zur Begründung und Festigung von Plattformmacht beschreibt, lässt sich wie folgt visualisieren:

Abbildung 1: Schwungrad der Plattformmacht

Das Schaubild zeigt, dass es den Big-Tech-Unternehmen aufgrund des technologischen Fortschritts möglich war und ist, neue Schlüsseltechnologien und -funktionalitäten zu besetzen. Diese Technologien vergrößern ihre Angebotsvielfalt und führen zugleich zu einer wachsenden gesellschaftlichen Relevanz. Diese wachsende gesellschaftliche Relevanz wiederum zieht mehr Nutzer in das Ökosystem, was nicht nur zu Skaleneffekten und mehr Umsatz, sondern auch zu einer höheren Datenmacht führt. Durch den Zugang zu riesigen Mengen an Nutzerdaten sind die Plattformunternehmen zusätzlich in einer hervorragenden Position, um Trends frühzeitig zu erkennen, und ihre Größe und Rentabilität geben ihnen reichlich Kapazität, um in neue Unternehmen und Technologien zu investieren und diese zu erwerben,101 wenn sie sie nicht schon bereits selbst kreieren können (oder wollen). Hier schließt sich der Kreis und beginnt von neuem: Weitere Schlüsseltechnologien werden besetzt, das Angebot wird weiter ausgebaut. Das visualisierte Schwungrad nimmt, einmal in Fahrt, immer mehr an Geschwindigkeit auf.

Diese Dynamik der nachhaltigen Besetzung neuer Schlüsseltechnologien durch Big Tech wird teilweise hinterfragt. In ihrem die Debatten bedrängenden Buch Machtmaschinen