Digitale Schule – Was heute schon im Unterricht geht - Jöran Muuß-Merholz - E-Book

Digitale Schule – Was heute schon im Unterricht geht E-Book

Jöran Muuß-Merholz

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Beschreibung

Mit dem Internet können wir Schule, Unterricht und Lernen nicht nur optimieren, sondern in neuen Dimensionen denken. Es geht nicht einfach nur um ein paar digitale Tools und Methoden. Es geht um richtig guten, fortschrittlichen Unterricht. Das heißt: Arbeiten in Projekten und an Produkten, eigenständiges und personalisiertes Lernen, Orientierung an Real-World-Aufgaben und an echten Kompetenzen. Das Buch beschreibt solchen Unterricht nicht theoretisch, sondern an zehn Beispielen aus der realen Praxis, jenseits von Leuchtturm-Schulen oder Pilotprojekten. Jöran Muuß-Merholz porträtiert zehn Lehrer innen und ihre Praxis, klar und konkret, anschaulich und ungeschönt. Jöran Muuß-Merholz ist Diplom-Pädagoge mit Schwerpunkt auf Fragen von digitalen Medien und Lernen. Als Experte für diese Fragen war er bei ARD, ZDF, N3, 3 Sat zu sehen. Er schreibt Bücher und Fachartikel, podcastet und twittert, hält Vorträge und Workshops v.a. im deutschsprachigen Raum, aber auch in Boston und Brno, Cape Town und London, Stockholm und Tokio.

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Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Unbenommen davon gilt für das Gesamtwerk eine Creative Commons Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international Lizenz. Als Namensnennung ist Jöran Muuß-Merholz vorgesehen.

ISBN 9789463869089

© 2019 Verlag ZLL21 e.V.

Schmilinskystraße 45

20099 Hamburg

Einige Rechte vorbehalten

Lektorat/Korrektorat: Gabi Fahrenkrog, Sonja Borski

Layout/Umschlaggestaltung: witt-gestaltung.de

Herstellung: Gabi Fahrenkrog

Satz: Blanche Fabri

Die 10 Praxisbeispiele in diesem Buch wurden erstmals 2015 in der Publikation "Chancen der Digitalisierung für individuelle Förderung im Unterricht - zehn gute Beispiele aus der Schulpraxis" im Auftrag der Bertelsmann Stiftung veröffentlicht.

Digitale Schule

Was heute schon im Unterricht geht - Das Praxisbuch zum individualisierten Lernen mit digitalen Medien

Jöran Muuß-Merholz

DIE INSEL UND DAS INTERNET

Ich hatte eine echte Erleuchtung, als ich im Sommer 2015 in einem kleinen Hotelzimmer auf der ostfriesischen Insel Langeoog saß. Mir gegenüber saß die Lehrerin Christiane Schicke und erklärte, was das Internet im Klassenzimmer ihrer Grundschule bedeutet. Schnell wurde klar, dass die digitale Welt nicht "nur ein Werkzeug" ist, wie in Diskussionen oft, gerne und falsch behauptet wird. Es gibt überhaupt nur 48 Schüler im Grundschulalter auf der Insel - und damit im Wesentlichen auch nicht mehr gleichaltrige Menschen in der "analogen Welt". Das Internet erweitert die Welt dramatisch. Lehrerin Christiane Schicke formulierte es so: "Wir können damit buchstäblich die Welt auf unsere Insel und in unsere Klasse holen."

Ich malte mir das weiter aus. Wer auf dieser Insel eine andere Sprache lernen möchte als es der Lehrplan vorsieht, der findet ohne Internet keine Mit-Lerner. Wer sich auf dieser Insel für ein Thema interessiert, von dem die drei Lehrkräfte der Insel und die eigenen Eltern noch nie gehört haben, findet außerhalb des Internets wahrscheinlich keine Gesprächspartner. Wer auf dieser Insel mit 15 Jahren merkt, dass er oder sie sexuell irgendwie anders tickt als die anderen 15-Jährigen, kann ohne das Internet kaum erahnen, dass dieses Anderssein ganz normal ist.

Auf der Nordseeinsel wird im Extrem sichtbar, was im Grundsatz auch für das Festland und die Großstadt gilt: Mit dem Internet können wir Schule, Unterricht und Lernen nicht nur optimieren, sondern tatsächlich in neuen Dimensionen denken.

Ich war nach Langeoog gekommen, weil die Bertelsmann Stiftung mich gebeten hatte, für eine Publikation Praxisbeispiele von "digitaler Schule" zusammenzustellen. Ich sprach dafür im Juli und August 2015 mit insgesamt 10 Lehrerinnen und Lehrern. Während der Auswertung meiner Notizen wurde klar, dass ich nicht einfach nur ein paar digitale Methoden und Tools für den Unterricht vorstellen, sondern ein Porträt der Lehrer*innen und ihrer Arbeit schreiben wollte. So entstand die Publikation "Chancen der Digitalisierung für individuelle Förderung im Unterricht - zehn gute Beispiele aus der Schulpraxis". Die gedruckte Broschüre wurde freundlich aufgenommen, aber die Resonanz blieb überschaubar, auch nachdem ich die Texte auf meiner Website www.joeran.de veröffentlicht hatte. Dann kam das Jahr 2018 und irgendwann fiel mir in den Abrufstatistiken meiner Website auf, dass die Texte 2018 mehr Nachfrage fanden als in den Vorjahren zusammen. Offenbar ist das Thema Digitale Schule 2018 im Mainstream angekommen.

Das war der Anlass, die Texte aus der (inzwischen vergriffenen) Publikation in einem neuen Buch zu veröffentlichen. Dank der freien Lizenz, unter der die Texte veröffentlicht sind, war das relativ leicht machbar. Vor allem aber auch wegen der unkomplizierten Kooperation mit den zehn Lehrkräften und der Möglichkeiten, die digitale Plattformen für einen kleinen, unkommerziellen Verlag bieten, ist eine erneute Veröffentlichung möglich.

Wer dieses Buch also 2019 in der Hand hält, der liest etwas über den Stand von 2015. Obwohl der digitale Wandel rasant voranschreitet, sind alle grundlegenden Fragen und Ideen heute genauso aktuell wie vor vier Jahren. Manche Tools und Websites mag es nicht mehr geben, aber die großen Fragen gelten unverändert. Ich wollte für die Neuauflage nicht einfach diejenigen Arbeiten löschen, die nicht mehr im Netz erreichbar sind. Deswegen sind tote Links mit einem Kreuz als Fußnoten-Zeichen† markiert. Man sieht: das Internet vergisst Vieles. Aber das Wettrennen um eine gute Pädagogik bleibt zweifellos offen, aktuell und virulent.

Jöran Muuß-Merholz

Hamburg, Oktober 2018

ZEHN THESEN ZU DIGITALEN MEDIEN IM UNTERRICHT

Pioniere und Avantgarde

Eine Anmerkung für alle, die diesen Text in ferner Zukunft lesen: 2015 war es in Deutschland die Ausnahme von der Regel, wenn digitale Medien im Schulunterricht genutzt wurden. Fast alle anderen gesellschaftlichen Bereiche waren vom digitalen Wandel erfasst worden - alleine das Bildungswesen und insbesondere die Schule zögerten. 2015 war die Entscheidung für digitale Medien im Unterricht maßgeblich davon abhängig, ob sich einzelne Schulleitungen und vor allem Lehrkräfte mit individuellem Engagement auf neue Wege wagten.

Vor diesem Hintergrund kann man die vorliegenden zehn Beispiele nicht nur als Fallstudien von Unterricht verstehen, sondern auch als Porträt und Anerkennung der konkreten Lehrkräfte, die als Pioniere und Avantgarde gelten können.

Selbstverständlich sind zehn Gespräche keine ausreichende Grundlage, um daraus allgemeingültige Folgerungen zu ziehen. Einige übergreifende Beobachtungen sollen aber im Folgenden skizziert werden, auch um Diskussionsanstöße zu liefern, die die Debatte vorantreiben. Sie sollen einen kleinen Baustein für den Weg von der Avantgarde hin zur Etablierung in der Breite liefern.

These 1:Auf den Pädagogen kommt es an!

Um es vorweg zu nehmen: Alle interviewten Lehrkräfte wären sicherlich auch ohne digitale Medien tolle Pädagogen und Pädagoginnen. Ihr Unterricht ist klar strukturiert und von einem hohen Anteil an Lernzeit gekennzeichnet. Ihre Methoden sind abwechslungsreich und aktivierend. Mit digitalen Medien erweitern sie ihr professionelles Handlungsrepertoire und die Lernwelt der Schüler. Umgekehrt gilt (auch wenn dafür kein Beispiel in den zehn Fallstudien vorliegt): Auch mit digitalen Medien kann man schlechten Unterricht machen.

Insofern sind die zehn Praxisfälle nicht nur Beispiele für den Einsatz digitaler Medien, sondern auch Beispiele für guten Unterricht. Die Grundfrage lautet nicht: "Wie können wir digitale Medien einsetzen?", sondern vielmehr: "Wie gestalten wir Unterricht, in dem individuell und selbstgesteuert gelernt werden kann?" Daran erkennt man guten Unterricht mit digitalen Medien: Die digitale Medien sind Teil der Antworten, nicht Teil der Frage.

These 2:Digital und analog sind Teile derselben Welt.

Wenn andernorts grundsätzlich und bisweilen ideologisch über die "totale Digitalisierung", die "Virtualisierung" oder eine "Revolution" gestritten wird, gehen die interviewten Lehrkräfte sehr pragmatisch vor. Es geht nicht um die Abschaffung der Schule durch E-Learning, sondern um die Erweiterung der Möglichkeiten im Unterricht. Selten werden 100 Prozent digitale Lösungen angestrebt. Vielmehr werden analog und digital pragmatisch gemischt und kombiniert, wenn zum Beispiel handgeschriebene Arbeiten per Smartphone-Kamera digitalisiert und verschickt werden. "Das Digitale ist kein Selbstzweck" - dieser Satz ist für die interviewten Lehrkräfte vermutlich eine Binsenweisheit.

These 3:Digitale Medien unterstützen den Rollenwandel für Schüler und Lehrkräfte.

Blickt man auf das Gesamtbild, das sich aus den zehn Beispielen ergibt, so erkennt man den Wandel der Lernkultur, wie er auch unabhängig vom Medieneinsatz in Deutschland diskutiert und gefordert wird. Die Rolle der Lehrer*innen ist nicht mehr (in erster Linie) Wissensvermittler*in, sondern (auch) Lerncoach und -berater*in. Die Lehrkraft unterstützt die Schüler*innen dabei, ihre eigenen Lernprozesse erfolgreich zu gestalten. Gleichzeitig werden die Schüler*innen von eher passiven Empfängern von Unterricht zu aktiven Lernenden. Ein Satz, der in den Interviews häufiger fiel, lautet: "Die Schüler können nicht mehr abtauchen." Positiv gewendet: Bei einer intelligenten Individualisierung und dem Einsatz digitaler Medien können Schüler ihre eigenen Interessen, Fähigkeiten und Begabungen stärker einbringen. Die digitalen Medien erhöhen die Verbindung zu ihrer Lebenswelt. So wurde in den Interviews mehrmals davon berichtet, dass Schüler bei der Arbeit mit Videos oder in einem Blog Talente einbringen konnten, von denen die Lehrkräfte vorher nichts ahnten.

Digitale Medien unterstützen dabei potentiell alle anstehenden Aufgaben. In den präsentierten Beispielen stehen dabei häufig die Informationsbeschaffung und die Produktion von Lernergebnissen im Vordergrund. Auch Übungen und Feedback mit digitalen Medien werden häufig hervorgehoben. Andere Themen wie adaptive Lernsoftware, Big Data oder Serious Games spielen bislang allenfalls eine untergeordnete Rolle.

These 4:Der Arbeitsaufwand für die Lehrkräfte verschiebt sich.

Keiner der interviewten Lehrer*innen hat über den zusätzlichen Aufwand geklagt, den die Nutzung digitaler Medien für ihren Arbeitsalltag bedeutet. Vielmehr besteht ein Konsens, dass sich der Aufwand für die Vorbereitung von Unterricht erhöht, dass sich diese Investition aber im Unterricht selbst auszahlt, weil dann die Schüler*innen "die Arbeit machen". Die Lehrer*innen werden bei schülerzentrierten Methoden davon entlastet, Inhalte vorzubereiten und zu präsentieren. Bei Input und Übungen liegen zwei Stärken digitaler Medien.

Digitale Medien machen die Lehrkraft nicht überflüssig. Sie entlasten sie von bestimmten Aufgaben, vor allem beim Input und bei der Kontrolle von Schülerübungen. Die gewonnene Zeit wird in einem solchen Unterricht benötigt, um Schüler individuell begleiten und beraten zu können, sowie um gemeinsame Phasen in Gruppen und im Plenum zu strukturieren. Eine Aktivierung der Schüler*innen bedeutet also nicht eine passivere Rolle der Lehrkraft. In einem guten Unterricht sind alle Beteiligten aktiv.

These 5:Kleine Dinge machen große Unterschiede.

Sehr häufig finden sich in den Fallbeispielen Aussagen, dass eine hochgradige Differenzierung von Materialien, Aufgabenstellungen, Kommunikation oder Lernprodukten auch ohne digitale Medien möglich war, nur dass der Aufwand um ein Vielfaches höher war. Daraus könnte man ableiten, dass mit digitalen Medien vor allem "mehr vom Selben" möglich ist. Doch dieser Schluss greift zu kurz. Aus dem graduellen Unterschied kann ein qualitativer Unterschied werden. Der Physik-Nobelpreisträgers P. W. Anderson hat im naturwissenschaftlichen Bereich die Beobachtung "More is different" dokumentiert. Wenn der quantitative Unterschied eine bestimmte Größe erreicht, so verändert sich auch die Qualität eines Gegenstands. Mit digitalen Medien lässt sich nicht (nur) das Gleiche wie vorher einfacher oder schneller machen. Die informationelle Welt funktioniert mit digitalen Medien so radikal anders, dass auch die Welt von Lernen und Lehren grundsätzlich davon betroffen ist.

Häufig sind es die vermeintlich kleinen Dinge, die große Unterschiede für die Praxis bedeuten. Das gilt auf der Ebene der Technik wie auch für den methodischen Unterrichtseinsatz. Ein Grund für die Beliebtheit von Tablet-Computern könnte darin liegen, dass sie die Zuverlässigkeit der Technik von 95 Prozent auf 99 Prozent steigern. Diese Veränderung macht einen entscheidenden Unterschied, ob eine Lehrkraft sich auf die Technik verlässt oder sie nur als optionale Möglichkeit einplanen kann. Das gilt auch für die zeitliche Ebene: Für die Unterrichtspraxis macht es einen großen Unterschied, ob ein Schüler beim Nachschlagen erst drei Minuten warten muss, bis ein Laptop hochgefahren ist, oder drei Sekunden, die sein Smartphone braucht. Es ist der Unterschied zwischen Nicht-Nachschlagen und Nachschlagen.

Bisweilen braucht es gar nicht die weltweite Vernetzung, die ein Smartphone mit sich bringt. Alleine der einfach verfügbare Bild-/Video-/Audio-Rekorder im Smartphone ermöglicht eine ganze Reihe neuer Anwendungsmöglichkeiten.

Umgekehrt darf man nicht unterschätzen, welche Rolle gutes Design und klare Funktionalität spielen. Schon verhältnismäßige niedrige Hürden wie das wiederholte Eintippen von Zugangsdaten in einem Lernmanagementsystem können dafür sorgen, dass Systeme nicht in die schulischen Abläufe und die individuellen Nutzungsgewohnheiten passen - und dann einfach nicht genutzt werden.

Auf der methodischen Ebene betonen mehrere Lehrkräfte, dass kleine Vereinfachungen große Auswirkungen haben, z.B. auf logistischer Ebene. "Heft vergessen gibt es nicht mehr" ist ein Satz, der immer wieder zu hören ist. So sind es häufig kleine Vereinfachungen, die Unterricht grundsätzlich verändern können. Beispiel Nachschlagewerke: Wer einen digitalen Text zusammen mit einem digitalen Wörterbuch liest, kann Wörter in einem Bruchteil der Zeit nachschlagen, die es im papierenen Wörterbuch benötigte. Damit ändert sich grundlegend auch die Auswahl der Texte für den Unterricht. Schüler können nun selbstbestimmt Texte lesen, die sie ihren individuellen Interessen entsprechend im Web finden.

These 6:Es gibt eine große Vielfalt bei Hardware und Software.

Schaut man quer über die zehn Fallbeispiele, findet man die ganze Bandbreite unterschiedlicher Technik. Bei der Hardware sind es Tablets, Notebooks, Smartphones, PC-Ecken oder auch der Computerraum. Es gibt nicht "die beste Hardware" für den Einsatz in der Schule. Wenn man einen Trend identifizieren sollte, wäre es wohl das Konzept BYOD, das mal mehr, mal weniger offiziell Einzug in Schulen hält. BYOD steht für "Bring Your Own Device", also für die Nutzung der Geräte, die Schüler ohnehin schon in ihrem privaten Besitz haben.

Dieselbe Vielfalt findet sich auch auf der Ebene der Software wieder. Hier werden oft die vom Schulträger gestellten Lernmanagementsysteme wie Moodle oder iServ genutzt. Dort wo es erlaubt ist, kommen auch Dienste wie Google Drive, Dropbox oder Evernote zum Einsatz. Für die kollaborativen Arbeiten gibt es Blogs und Wikis, Etherpads und Google Docs. Hinzu kommen Programme und Webangebote für Inputs und Übungen. Auch hier gilt: Das perfekte System für die Schule gibt es nicht. Die Lehrkräfte entscheiden individuell, abhängig von ihren Rahmenbedingungen und Zielsetzungen.

Dabei ist der Stellenwert von generischen Angeboten häufig mindestens genau so hoch wie der von speziellen Lehr-Lern-Angeboten. "Generisch" meint hier, dass die Software / Services nicht speziell für Unterricht und Schule gedacht sind, sondern zu verschiedenen Zwecken genutzt werden können. Eine Textverarbeitung ist ein klassisches Beispiel für eine generische Software. Diese Beobachtung mag banal klingen, aber sie bildet ein deutliches Gegengewicht zur vorherrschenden Debatte, in der es fast nur um "Learning Apps", "e-learning-Anwendungen" oder "Lern-Management-Systeme" geht.

These 7:Datenschutz bleibt ein ungelöstes Problem.

Gerade wenn es um die Nutzung von Online-Angeboten geht, bleibt die Frage nach dem Datenschutz eine zentrale Herausforderung. Viele Praktiker bemängeln, dass ihnen institutionelle bzw. staatliche Stellen strikte Vorgaben machen, was alles nicht zu nutzen sei, dass ihnen aber gleichzeitig Alternativen fehlen. So bleibt die Verantwortung letztlich bei der einzelnen Lehrkraft oder der Schule, die damit zwangsläufig überfordert sein muss. Dabei gibt es vereinzelt durchaus Initiativen, bei denen Schulen, Schulträger und Schulaufsicht Hand in Hand gehen, um Rechtssicherheit und einen geschützten Raum für die Nutzung digitaler Medien zu schaffen.

These 8:Die EVA-Didaktik vernachlässigt den Mittelpunkt - das Lernen.

Das EVA-Prinzip stammt aus der Informatik. EVA steht für die drei Phasen Eingabe - Verarbeitung - Ausgabe, in die sich die Informationsverarbeitung eines Computers untergliedern lassen kann. Ein Beispiel: Nach der Eingabe über die Tastatur findet die Verarbeitung der Daten im Prozessor statt und resultiert in der Ausgabe eines Ergebnisses auf dem Bildschirm.

In vielen Beispielen findet sich ein EVA-Prinzip auch für den Unterricht mit digitalen Medien. In der Eingabe-Phase recherchieren die Schüler nach Informationen, wofür sich digitale Medien und vor allem das Web außerordentlich gut eignen. In der Ausgabe-Phase werden Lernergebnisse als digitale Produkte entwickelt. Auch hier gibt es im digitalen Bereich großartige Möglichkeiten, von der Textverarbeitung oder Hypertexten in Blogs und Wikis, über Videos und Hörstücke bis zu interaktiven Formaten wie Zeitstrahl, Landkarte oder Geocache. Dazwischen liegt die Phase der Verarbeitung, in der vermutlich das Entscheidende stattfindet: das Lernen.

Zu dieser mittleren Phase finden sich weniger Überlegungen als zu Eingabe und Ausgabe, sowohl zur Methodik als auch zu den Werkzeugen. Die Phase der Verarbeitung, also die individuellen Lernprozesse, die mögliche Unterstützung durch Lehrkräfte und das Potential von digitalen Werkzeugen, verdienen besondere Aufmerksamkeit in der Weiterentwicklung von Unterricht mit digitalen Medien.

These 9:Digitale Medien fördern Teamarbeit.

Alle interviewten Lehrkräfte teilen ihre Ideen und Konzepte und berichten offen von ihren Schwierigkeiten und Fehlschlägen - online und offline. Die (digitale) Vernetzung ist für sie auch Teil ihrer Profession. Fast alle betreiben eigene Blogs oder sind auf Twitter aktiv. Sie treffen sich auf selbst organisierten Veranstaltungen wie den Educamps und anderen Barcamps. Und häufig stellen sie ihre Arbeiten nicht nur öffentlich zur Verfügung, sondern versehen sie auch mit einer Lizenz zur Weiternutzung als Open Educational Resources (OER).

Und wenn Lehrkräfte Kooperation kennen, können und leben, dann scheint es fast einen Automatismus zu geben, dass sie auch ihre Schüler*innen zusammenarbeiten lassen. Kommunikation und Kooperation haben einen hohen Wert beim Lernen und Lehren. Mit digitalen Medien vervielfachen sich hier die Möglichkeiten, sowohl für Teams in einem Raum als auch für die Vernetzung rund um die Welt.

These 10:Das Wettrennen um eine bessere Pädagogik ist eröffnet.

In den Praxisbeispielen finden sich häufig Methoden einer "anderen Päda- gogik". Das Arbeiten in Projekten und an Produkten, das eigenständige und personalisierte Lernen, die Orientierung an "real-world"-Aufgaben und an echten Kompetenzen stehen im Vordergrund.

Gleichzeitig wird deutlich, dass auch bei Input und Übungen zwei Stärken digitaler Medien liegen. Es lassen sich also auch die zwei großen Säulen der "alten Pädagogik" mit digitalen Mitteln optimieren.

Niemand wird bezweifeln, dass es sowohl die progressiven Ansätze wie auch die soliden Grundlagen braucht, am besten untereinander verbunden und miteinander verwoben. Aber digitale Medien fördern nicht automatisch die eine oder andere Pädagogik. Vielmehr gilt: Digitale Medien sind große Verstärker. Mit digitalen Medien lässt sich eine progressive Pädagogik stärken und ausbauen, wenn man eine progressive Pädagogik stärken und ausbauen möchte. Und mit digitalen Medien lässt sich eine Drill-and-Practice-Pädagogik mit starker Steuerung und intensiver Kontrolle verstärken, wenn man Drill-and-Practice mit starker Steuerung und intensiver Kontrolle will.

Es ist von entscheidender Bedeutung, welche pädagogischen Leitbilder wir mit der Diskussion um die digitale Schule verbinden. Man kann auch mit digitalen Medien eine sehr altmodische Schule machen. Das Rennen um eine bessere Pädagogik ist weiterhin offen. Die Digitalisierung fungiert dabei wie Steroide oder Brandbeschleuniger. Umso wichtiger ist es, dass wir in allen Debatten um Digitalisierung auch immer unsere Bilder und Ziele in Sachen Pädagogik mitdiskutieren.

ZEHN LEHRKRÄFTE VON DER NORDSEEINSEL BIS ZUR SCHWEIZ

Zehn Beispiele können keinen Anspruch auf Vollständigkeit geben. Aber anders herum gilt: Schon zehn Beispiele zeigen, wie groß die Vielfalt ist, mit der digitale Medien im Unterricht eingesetzt werden können.

Das erste Beispiel führt in eine Realschule nach Bayern, wo Schulleiter Markus Bölling Unterricht demonstriert, in denen 100 Prozent der Schüler aktiv sind. Wie genau das aussieht, zeigen Beispiele aus den Fächern Biologie, Mathe, Englisch und Deutsch.Von Bayern springen wir zur Insel Langeoog, auf der es insgesamt 48 Schüler im Grundschulalter gibt. Ihre Lehrerin Christiane Schicke macht deutlich, dass digitale Medien nicht "nur ein Werkzeug" sind: "Wir können damit buchstäblich die Welt auf unsere Insel und in unsere Klasse holen."In Hamburg arbeitet Lisa Rosa, die mit verschiedenen Schulen groß angelegte Blogprojekte durchgeführt hat, zum Beispiel zur KZ-Gedenkstätte Neuengamme. Rosa argumentiert gegen die in Schulen verbreitete Filtersoftware und für eine Ersetzung des Begriffs "Individualisierung" durch "Personalisierung" des Lernens."Digitale Medien helfen nicht bei der Individualisierung - sie ermöglichen die konsequente Individualisierung erst!" Das sagt Daniel Bernsen, Lehrer für Geschichte, Französisch, Spanisch an einem Gymnasium in Koblenz. Seine Beispiele zeigen, dass Geschichte und Medienbildung vieles gemeinsam haben.Wenn Monika Heusinger Spanisch und Französisch in Saarbrücken unterrichtet, dann setzt sie konsequent auf digitale Medien. Die Digitalisierung steigert Effizienz, Authentizität und nicht zuletzt die Motivation der Schüler: "Das ist ihr natürlicher Weg, den sie auch zu Hause gehen, wenn sie Informationen suchen. Das fördert die Motivation enorm!"Achim Lebert